“Der Band Postnazismus revisited versammelt Beiträge, die grundlegende Überlegungen zum Nachleben des Nationalsozialismus in den postfaschistischen Gesellschaften anstellen. Sie setzen sich sowohl mit der modernisierten Vergangenheitspolitik in Deutschland als auch den Erfolgen der FPÖ unter und nach Jörg Haider auseinander. Die Aufsätze beinhalten Gedanken zur Kritik des Postnazismus im Zeitalter des Djihadismus und formulieren eine Kritik am “Islamophobie”-Begriff vor dem Hintergrund der Diskussionen über den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik.
Eine global orientierte Kritik der postnazistischen Konstellation muß konstatieren, daß sich das Zentrum der offenen antisemitischen Agitation nach 1945 von Europa in den arabisch-islamischen Raum verschoben hat. Nachdem die Deutschen und ihre Hilfsvölker nicht nur bewiesen hatten, daß man einen wahnhaft-projektiven Antikapitalismus bis zum industriell betriebenen Massenmord steigern kann, sondern auch, daß man dafür selbst nach der totalen militärischen Niederlage keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten hat, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, was für eine ungemeine Attraktivität eine derartig pathologische, sowohl mörderische als auch selbstmörderische Krisenlösungsstrategie für antisemitische Massenbewegungen und Banden in anderen Weltregionen haben mußte.” (Text: http://www.ca-ira.net/verlag/buecher/… | Quelle & MP3: https://www.mixcloud.com/milchkaese/p…)
Transformation der postnazistischen Demokratie – Postfaschismus als Begriff der Kritik
Zur Einleitung
Stephan Grigat
Während in der Protestbewegung gegen die blau-braun-schwarze Bundesregierung in Österreich oder auch in der Staatsantifa der Bundesrepublik Deutschland samt ihres aufständisch-anständigen Anhangs manche Haider und seine deutschen Kopieversuche als Antidemokraten bekämpfen und mitunter auch den Rassismus und Antisemitismus thematisieren, aber beharrlich über Staat und Kapital schweigen, wissen andere zwar einiges über Kapital und Staat zu sagen, schweigen dafür aber umso beharrlicher über die deutsche und österreichische Volksgemeinschaft. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen – beides thematisiert: Kapital und Staat als die Voraussetzungen jeder Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung, sowie die Spezifik der österreichischen und deutschen Tätergemeinschaft, ohne deren Berücksichtigung die Kritik an Staat und Kapital zur Geschichtsentsorgung und Volksapologie im kommunistischen Gewand gerät. Die Begriffe ›Postfaschismus‹, ›Postnazismus‹ und ›demokratischer Faschismus‹ stehen bei der Kritik der österreichischen und deutschen Zustände nicht gerade auf der Tagesordnung. Dennoch handelt es sich dabei nicht um völlig neue Begriffe. Es stellt sich die Frage, wie solche Kategorien bisher verwendet wurden und in welchem Kontext sie entstanden. In der BRD (in Österreich fanden solche Diskussionen kaum statt) verstand man in der Nachkriegszeit unter Postfaschismus in erster Linie personelle Kontinuitäten, also die ungebrochene Karriere ehemaliger Nazis in der Demokratie, kaum jedoch strukturelles Fortwesen. Um das Jahr 1968 herum kam es zu einigen Diskussionen, in denen der Begriff des Postfaschismus etwas mehr an Konturen gewann. Man denke etwa nur an einen der wohl am 9 meisten gelesenen Aufsätze Theodor W. Adornos, nämlich Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. Dort weist Adorno nachdrücklich darauf hin, daß er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher erachte als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Er schreibt: »Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.« (GS 10.2, 554) Zu den frühen, auch heute noch relevanten Auseinandersetzungen mit Postfaschismus und Postnazismus gehören auch einige Ausführungen des Adorno-Schülers Hans-Jürgen Krahl (1977, 21 ff.). Ebenfalls in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist Johannes Agnoli, der die Linke bereits in den 1960er Jahren mit seinen Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Faschismus konfrontiert hat (1990, 21 ff.). Große Teile der Linken in den deutschsprachigen Ländern haben sich jedoch in den 1970er und 1980er Jahren kaum für radikale Gesellschaftskritik, sei es in der Adornoschen, sei es in der Agnolischen Ausprägung interessiert, sondern sich lieber dem Naturromantizismus der Neuen Sozialen Bewegungen oder den autoritären Plattheiten des Marxismus-Leninismus gewidmet. Aber selbst bei Marxisten- Leninisten und bei gemäßigten Maoisten kam man nicht ganz um die Diskussion über das Nachwirken des Nationalsozialismus herum, was seinen Niederschlag vor allem in den Diskussionen über eine mögliche Faschisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1970er Jahren fand. Der Begriff der Faschisierung war und ist aber immer auch ein Gegenbegriff zu den Kategorien Postfaschismus und Postnazismus, da er zwangsläufig die Momente des Bruchs von 1945 überbetonen muß. Überlegungen zur Faschisierung, denen stets eine gewisse Distanz zur Kritischen Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos anzumerken war, fanden sich vor allem im und im Umkreis des vergleichsweise einflußreichen Kommunistischen Bundes, zeitweise auch im linksakademischen Bereich. (Steffen 2002; Weber 1999, 142) Andere Texte, in denen Postfaschismus und Postnazismus jenseits der langwierigen Auseinandersetzungen über die Faschisierungsthese 10 thematisiert wurden, haben zur Zeit ihres Erscheinens kaum zu Diskussionen geführt. Zu erinnern wäre diesbezüglich beispielsweise an Joachim Bruhns Ausführungen zur Kritik des demokratischen Antifaschismus und zur Sozialpsychologie des Postfaschismus (1983, 42 ff.), die zwar den Ruf der Initiative Sozialistisches Forum in der infantilen Autonomenszene der 1980er Jahre als »Psychosekte mit viel Geld« befördern halfen, aber selbst in der theoretisch interessierten Linken kaum für Irritationen gesorgt haben. Eine wichtige Auseinandersetzung über die postnazistische Demokratie fand nochmals Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der auch von vielen Linken begrüßten deutschen Wiedervereinigung statt. Damals ging es mit Bezug auf die Faschisierungsdebatten der 1970er Jahre um die Frage, ob es im Zuge der Renationalisierung zu einer Faschisierung der Demokratie komme, oder aber ob diese sogenannte Faschisierung im Postfaschismus nicht schon längst vollzogen sei und man heute viel eher von einer Demokratisierung des Faschismus reden müßte. (Nachtmann 1995, 25 ff.; Möller 1995, 28 ff.) Diese Debatte ist in den letzten Jahren weitgehend eingeschlafen. Gerade die Entwicklung in Österreich mit dem Siegeszug der Freiheitlichen Partei (FPÖ) bis zu den Nationalratswahlen 1999 und der postfaschistisch- wie postnazistisch-demokratischen Geschichte seit 1945 einerseits und der in der BRD zu beobachtenden Kampagnenpolitik, die durch die rot-grüne Regierung forciert wird und – flankiert durch Äußerungen von Figuren wie Stoiber oder Schill – auf einen selbstbestimmten Autoritarismus abzielt, erfordert es, die Diskussion über Faschisierung der Demokratie oder Demokratisierung des Faschismus nochmals aufzunehmen. Das Nach- und Fortleben des Nationalsozialismus tritt am Beginn des neuen Jahrtausends nicht mehr in der gleichen Weise in Erscheinung wie noch in den fünfziger und 1960er Jahren. Allein schon der partielle, in der BRD sehr viel deutlicher und konsequenter als in Österreich vollzogene Wandel vom Beschweigen oder Schönreden der NS-Vergangenheit hin zur offensiven Auseinandersetzung mit den »eigenen« Verbrechen im Dienste und zum Wohle des gegenwärtigen Souveräns, macht es notwendig, die Transformation der postnazistischen Demokratie in den Blick zu rücken. Der Begriff des ›demokratischen Faschismus‹, den der Schriftsteller Michael Scharang bereits in den 1980er Jahren noch weitgehend 11 unbeeindruckt vom Aufstieg der FPÖ verwendete (1986), versucht das, was für das bürgerliche Bewußtsein das vollkommen Unvereinbare repräsentiert, zusammenzudenken. Gerade in Österreich hat der Begriff zudem den Vorteil, daß er das Augenmerk nicht nur auf die Nazi- Zeit, sondern auch auf den Austrofaschismus und dessen Aktualität lenkt. Zugleich beinhaltet er das Problem, daß der unabdingbare, mal explizite, mal implizite Hauptbezugspunkt der deutschen und österreichischen Politik, der Nationalsozialismus, zugunsten des Faschismusbegriffs verschwindet. Schon deswegen wurde für den Haupttitel der vorliegenden Publikation anstatt der bisher geläufigeren Bezeichnung ›Postfaschismus‹ der Begriff des Postnazismus gewählt, der in mehreren Beiträgen, in denen auch der Frage nachgegangen wird, inwiefern mit der Rede vom ›demokratischen Faschismus‹ tatsächlich etwas Neues versucht wird zu fassen, oder ob der Faschismus und im Speziellen der Nationalsozialismus nicht schon immer eine reichlich demokratische Schlagseite hatten, genauer ausgeführt wird. Daß allein die Verwendung von Begriffen wie Postfaschismus oder Postnazismus nicht zwangsläufig zu einer vernünftigen, also radikalen Kritik führt, haben bereits mehrere Autoren vorgeführt. Einige in der Linken glauben etwa, Postfaschismus als positiven Begriff setzen zu können. Christoph Spehr beispielsweise schreibt davon, daß die »Erfahrung des überwundenen Faschismus, der postfaschistische Konsens, … einen unfertigen Emanzipationsprozeß« darstelle. Dementsprechend wird dann auch eine »Radikalisierung des postfaschistischen Konsenses« gefordert (1997, 16). Das Positive des Postfaschismus wäre demnach also einfach, daß er immerhin kein Faschismus ist. Postfaschismus wird hier als gelungene Ablösung vom Faschismus verstanden, ähnlich wie bei der italienischen Alleanza Nationale, die lange um die Titulierung als »postfaschistische Partei« gerungen hat. In die gleiche Richtung zielt der Wiener Krisis-Redakteur Franz Schandl. Auch für ihn bezeichnet der Begriff des Postfaschismus lediglich den gelungenen Ablösungsprozeß vom Faschismus und vom traditionellen Rechtsextremismus. Deshalb charakterisiert er die Freiheitlichen in Österreich als »das erste gelungene postfaschistische Projekt der Rechten in Europa« (1998, 19) und verkennt damit in einem sowohl das Wesen der postnazistischen Demokratie als auch jene ein- 12 flußreichen Strömungen innerhalb der FPÖ, die sich relativ offen auf den Nationalsozialismus beziehen. Als Begriffe der Kritik zielen Postfaschismus und Postnazismus gerade auf die modifizierte Fortsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie und sind als positive Kategorien nicht denkbar. Sie beabsichtigen die Denunziation des aktuellen politischen Souveräns mittels des Hinweises, daß jeder Staat auf den Erfahrungen seines Vorgängers aufbaut: »Nichts von dem, was der Souverän je tat und antat, ging verloren… Undenkbar wäre die ›soziale Marktwirtschaft‹ ohne die nazistische Vernichtungsgemeinschaft …; unmöglich die Sozialpartnerschaft von heute ohne die ›Betriebsgemeinschaft‹ des Faschismus; unvorstellbar schließlich die gegen Jugoslawien angewandte Taktik, das ›Recht auf nationale Selbstbestimmung‹ zur Zerschlagung des letzten Systemfeindes in Anschlag zu bringen, ohne die geschichtliche Erfahrung der Okkupation etwa des Sudetenlandes.« (ISF 2001, 67) Daß selbst noch der Postfaschismusbegriff zur Identifikation mit der Nation taugt, hat beispielsweise die Grazer Philosophin Elisabeth List demonstriert. Sie spricht von der postfaschistischen Politik der FPÖ, nicht etwa von der postfaschistischen österreichischen Gesellschaft, und fordert alle Patrioten zum Kampf gegen diese postfaschistische FPÖ auf. »Niemand«, schreibt sie allen Ernstes, »der sein oder ihr Land liebt und bei Verstand ist«, könne die Politik dieser Partei gutheißen. (2001) Die Beschäftigung mit Postfaschismus findet hier statt aus Sorge um die Nation. Eine Sorge, um die es den Autoren dieses Bandes mit Sicherheit nicht geht, die es aber auch anderen Demokratieidealisten wie beispielsweise Armin Thurnher, dem Herausgeber der Wiener Wochenzeitung Falter, angetan hat, für den Postfaschisten einfach »nichts anderes als Demokraten mit zweifelhaftem Verständnis des Rechtsstaates« sind, gegen die man etwas tun müsse, um »Schaden für das Land« (2002, 8 ff.) abzuwenden. In der BRD ist der Begriff des ›Postfaschismus‹ aus öffentlichen, nicht nur in der radikalen Linken wahrnehmbaren Debatten weitgehend verschwunden. In Österreich hat er kurzzeitig durch eine Intervention von außen eine merkwürdige Renaissance erlebt. Die Charakterisierung der FPÖ durch Milos Zeman im Rahmen der Streitereien über das AKW Temelin und die Sudetendeutschen als »post- 13 faschistische Partei« löste in Österreich einen kollektiven Proteststurm aus. Der tschechische Premierminister wurde Anfang des Jahres 2002 sowohl vom Bundespräsidenten als auch von Alfred Gusenbauer, dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten, scharf zurechtgewiesen. An diesen Reaktionen läßt sich auch das Problematische von Zemans Charakterisierung erkennen. So wie in der BRD die rot-grüne Koalition nach den Wahlen 2002 mit der Ernennung von Wolfgang Clement zum neuen ›Superminister‹ für Arbeit und Wirtschaft abermals unter Beweis gestellt hat, daß es für das Anknüpfen an der korporatistischen Tradition der institutionellen und administrativen Verwaltung von Arbeit und Kapital keiner Koalition aus Nachfolgeorganisationen faschistischer Bewegungen wie der Österreichischen Volkspartei und der FPÖ bedarf, verdeutlichen diese Reaktionen nochmals, daß das Problem in Österreich nicht nur eine postfaschistische oder postnazistische Partei ist, sondern es sind ebenso wie in der BRD die postfaschistischen gesellschaftlichen Strukturen und das postnazistische gesellschaftliche Bewußtsein, das keineswegs nur bei den Freiheitlichen, deutschen und österreichischen Neonazis, Edmund Stoiber oder Ronald Schill zu finden ist. Zur Erklärung dessen, warum das so ist, möchten die Aufsätze dieses Buches einen Beitrag leisten. Selbstverständlich sind viele jener Entwicklungen, die in der vorliegenden Publikation beschrieben werden, auch in anderen Ländern als Deutschland und Österreich zu beobachten. Gerade die Wahlerfolge rechtsextremistischer und neo- oder altfaschistischer Parteien in den Niederlanden, der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Belgien oder Frankreich lassen es merkwürdig anmuten, die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus gesondert zu behandeln. Der permanente Hinweis gerade deutscher und österreichischer Autoren, an der Entwicklung in Österreich und der BRD sei doch gar nichts besonderes, die anderen Demokratien hätten schließlich auch ihre Rassisten und Antisemiten, blendet die unterschiedlichen historischen Ausgangslagen bewußt aus. Die Entwicklungen in zahlreichen, durchaus nicht nur europäischen Gesellschaften, verweisen zwar darauf, daß sich das deutsche Krisenlösungsmodell und die deutsche Ideologie zusehends als verallgemeinerungsfähig erweisen. Genau darauf zielt der relativierende Einwurf der Warner vor einem neuen »europäischen Rechtspopulismus«, wie der Siegeszug des faschistischen Ressenti- 14 ments verharmlosend genannt wird, aber gerade nicht. Gegen die etablierte Rechtspopulismusforschung, die zur Verwohlfeilerung der Demokratie und zur Normalisierung der postnazistischen Gesellschaften angetreten ist, bleibt darauf zu beharren, daß ähnliche Entwicklungen schon auf Grund der unterschiedlichen historischen Bezüge nicht die gleiche Bedeutung haben. In Deutschland ist der Nationalsozialismus als massenhaft legitimierte Volksbewegung an die Macht gekommen und die deutsch-österreichische Volksgemeinschaft hat gerade im zur Tat schreitenden Antisemitismus zu sich gefunden. In den Niederlanden hingegen hat die Bevölkerung einen Generalstreik zum Schutz der holländischen Juden organisiert und in Dänemark fanden groß angelegte Fluchthilfeaktionen statt. Auch wenn die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft und die Verlängerung eines wertverwertungsimmanenten antikapitalistischen Ressentiments zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, an einem zugleich abstrakten und biologisch konkretisierten inneren wie äußeren Feind, allen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als Möglichkeit innewohnt – in Deutschland ist sie Realität geworden. Nationalismus bedeutet immer ideologische Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der deutsche Nationalismus, dessen ideologischer Gehalt sich heute nicht nur unter der Fahne der Bundesrepublik breit macht, impliziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: die in Auschwitz und anderswo praktizierte Übersetzung der irrationalen, nahezu pathologischen Rationalität fetischisierter kapitalistischer Warenproduktion und staatlicher Herrschaft in ebenso industriell wie handwerklich betriebenen und bürokratisch geplanten Massenmord, der Ausdruck des nicht verwirklichbaren Wunsches ist, die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses abzuschaffen, um das Kapitalverhältnis als solches zu retten. Bis auf den Beitrag Österreichische Normalität. Postfaschismus, Postnazismus und der Aufstieg der Freiheitlichen Partei Österreichs unter Jörg Haider handelt es sich bei den Aufsätzen um Referate, die auf dem Kongreß Vom Postfaschismus zum demokratischen Faschismus im April 2001 in Wien gehalten wurden. Der Kongreß wurde von der Basisgruppe Politikwissenschaft und jenem Teil des Kritischen Kreises organisiert, der sich mittlerweile Café Critique nennt. Bei der Konzeption des Kongresses wie auch des Buches ging es nicht dar- 15 um, dem üblichen pluralistischen Meinungsaustausch ein weiteres Podium zu bieten. Das Anliegen war nicht, eine möglichst große Vielfalt von Standpunkten zu versammeln oder diverse mehr oder weniger interessante ›Ansätze‹ zu präsentieren, sondern Personen zu Wort kommen zu lassen, die in ihrer Kritik mit Begriffen wie Postfaschismus oder Postnazismus explizit oder implizit operieren und eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung dieser Kritik verfolgen. Dennoch entstammen die Autoren keineswegs einem einheitlichen Spektrum, was nicht zuletzt in den unterschiedlichen Akzentsetzungen der Beiträge zu merken ist. Bei den Beiträgen von Johannes Agnoli und Ulrich Enderwitz handelt es sich um die Originalreferate des Kongresses, wobei ersterer einen freien Vortrag gehalten hatte, der für diesen Sammelband transkribiert wurde. Die anderen Beiträge wurden mehrfach stark überarbeitet. Insbesonders nach dem dschihadistischen Massaker vom 11. September, der sich daran anschließenden kollektiven Regression der Linken und des drohenden globalen Siegeszuges der deutschen Ideologie und des deutschen Krisenlösungsmodells, erschien es den Autoren notwendig, umfangreiche Ergänzungen vorzunehmen. Es bleibt darauf hinzuweisen, daß schon auf Grund des eingeschränkten Autorenkreises selbstverständlich nicht alle Aspekte, die im Zusammenhang mit Postfaschismus und der Transformation der postnazistischen Demokratie von Interesse wären, thematisiert werden. 1 Vorläufige Fassungen und Vorabdrucke einiger der in diesem Band zusammengefaßten Aufsätze sind in den Zeitschriften Alaska, Jungle World, Bahamas, Konkret, Streifzüge und Utopie Kreativ erschienen. Zu danken ist der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin sowie der Studienrichtungsvertretung Politikwissenschaft und der Fachschaft Informatik in Wien, ohne deren finanzielle Unterstützung das Erscheinen dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre.
1 Zum Postfaschismus in der populären Kultur vgl. Georg Seeßlen (1994; 1996). 16
Die nachnationalsozialistischen Demokratien haben Struktur- und Ideologieelemente des Faschismus und des Nationalsozialismus in sich aufgenommen. So sind beispielsweise der deutsche Korporatismus und die österreichische Sozialpartner- und Sozialpartnerinnenschaft ohne die nationalsozialistische ‚Betriebsgemeinschaft‘ nicht zu verstehen; die spezifischen Ausprägungen des Antisemitismus und Antiamerikanismus oder auch die Gleichzeitigkeit von Antikommunismus und Antiliberalismus in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus können ohne Reflexion auf die real gewordene Volksgemeinschaft vor 1945 nicht sinnvoll analysiert werden.
In der Nachkriegszeit wurden unter dem Begriff Postfaschismus in erster Linie personelle Kontinuitäten gefasst, also die massenhaft ungebrochenen Karrieren ehemaliger Nazis in der Demokratie, kaum jedoch ein strukturelles Fortwesen des Nationalsozialismus. Erst in den 1960er Jahren kam es zu Diskussionen, in denen der Begriff des Postfaschismus etwas mehr an Konturen gewann. Man denke nur an einen der wohl meistgelesenen Aufsätze Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1959: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. Dort weist der Mitbegründer der Kritischen Theorie nachdrücklich darauf hin, dass er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie für potentiell bedrohlicher erachte als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“ 1
Der lange gebräuchliche Begriff Postfaschismus beinhaltet allerdings das Problem, dass der Nationalsozialismus zugunsten eines falsch verallgemeinernden Faschismusbegriffs verschwindet. Deshalb wird seit etwa zehn Jahren der Bezug auf das nazistische Erbe in den Vordergrund gerückt.2 Als Begriffe der Kritik zielen Postfaschismus und Postnazismus auf die modifizierte Fortsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie und sind als positive Kategorien nicht denkbar. Sie beabsichtigen die Denunziation des aktuellen politischen Souveräns mittels des Hinweises, dass jeder Staat auf den Erfahrungen seines Vorgängers aufbaut; und sie kritisieren das gegenwärtige Massenbewusstsein als Ausdruck einer nicht oder falsch aufgearbeiteten Vergangenheit.
Was ‚deutsch‘ ist
Selbstverständlich sind viele jener Entwicklungen, an denen mit dem Begriff des Postnazismus Kritik geübt werden soll, auch in anderen Gesellschaften als der deutschen und österreichischen zu beobachten. Gerade die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wie auch das erschreckende Ausmaß eines sich oftmals als links begreifenden Israelhasses in anderen Ländern lassen es merkwürdig anmuten, die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus gesondert zu behandeln. Der permanente Hinweis gerade deutscher und österreichischer Autoren und Autorinnen, dass an der Entwicklung in Österreich und der BRD doch gar nichts besonderes sei – in anderen Demokratien gäbe es schließlich auch Rassismus und Antisemitismus – blendet allerdings die unterschiedlichen Ausgangslagen bewusst aus. Die Entwicklungen in zahlreichen, durchaus nicht nur europäischen Gesellschaften, verweisen zwar darauf, dass sich zusehends das als verallgemeinerungsfähig erweist, was in einem ideologiekritischen Sinne als ‚deutsch‘ bezeichnet werden kann. Darauf zielen die relativierenden Einwürfe aber gerade nicht. Entgegen der etablierten Rechtspopulismusforschung bleibt darauf zu beharren, dass ähnliche Entwicklungen schon auf Grund der unterschiedlichen historischen Bezüge nicht die gleiche Bedeutung haben. In Deutschland ist der Nationalsozialismus als massenhaft legitimierte Volksbewegung an die Macht gekommen und die deutsch-österreichische Volksgemeinschaft hat gerade im zur Tat schreitenden Antisemitismus und im Vernichtungskrieg an der Ostfront zu sich gefunden. In den Niederlanden hingegen hat die Bevölkerung einen Generalstreik zum Schutz der holländischen Juden und Jüdinnen organisiert und in Dänemark fanden groß angelegte Fluchthilfeaktionen statt. Dies ist selbstverständlich kein Grund, die massenhafte Kollaboration mit den Nazis, die es in fast allen europäischen Ländern gegeben hat, nicht ebenfalls zu thematisieren.
Anders ausgedrückt: Auch wenn als Möglichkeit allen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft und die Radikalisierung des Antisemitismus zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, das heißt an einem imaginierten inneren wie äußeren Feind, innewohnt – in Deutschland und Österreich ist sie Realität geworden. Zwar bedeutet Nationalismus immer eine ideologische Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der Nationalsozialismus impliziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: den in Auschwitz und all den anderen Orten praktizierten, aufs Ganze gehenden, industriell wie handwerklich betriebenen, bürokratisch geplanten und von der Welt hingenommenen Massenmord.
Globale Konstellation
Doch wenn heute über Postnazismus geredet wird, darf nicht nur über die Nachfolgegesellschaften des Nazismus gesprochen werden: Eine global orientierte Kritik der postnazistischen Konstellation muss konstatieren, dass sich das Zentrum der offenen antisemitischen Agitation nach 1945 von Europa in den arabisch-islamischen Raum verschoben hat, in den auch schon die Nazis hervorragende Beziehungen unterhalten haben. Die Deutschen haben gemeinsam mit ihren ‚Hilfsvölkern‘ agiert: vornehmlich mit jenen Osteuropäern und -europäerinnen, die sich redlich bemüht haben, sich in das deutsch-österreichische Vernichtungswerk zu integrieren. Dies findet seinen Widerhall heute unter anderem in Ungarn, wo die Nachfahren der Horthy-Faschisten und -Faschistinnen an der Regierung sind und die Erben und Erbinnen der Pfeilkreuzler-Nazis eine der wichtigsten Oppositionsparteien stellen. Die Deutschen und ihre Verbündeten haben nicht nur bewiesen, dass rassistische Weltbeherrschungsfantasien und ein wahnhaft-projektiver antisemitischer Antikapitalismus zur Rettung des Kapitals bis zum industriell betriebenen Massenmord an der jüdischen ‚Gegenrasse‘ und zum rassistischen Vernichtungskrieg gegen die slawischen ‚Untermenschen‘ gesteigert werden kann. Sie haben auch gezeigt, dass man dafür selbst nach der totalen militärischen Niederlage keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten hat. Danach kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie attraktiv eine derart pathologische, sowohl mörderische als auch selbstmörderische Krisenlösungsstrategie für antisemitische Massenbewegungen und Banden in anderen Weltregionen sein musste und bis heute ist.
Weil das so ist, gilt es heute neben der unversöhnlichen Denunziation der ‚deutschen Zustände‘, von denen schon der junge Karl Marx wusste, dass sie „unter dem Niveau der Geschichte“ und „unter aller Kritik“ sind,3 insbesondere jene Kollaboration Österreichs und des Rechtsnachfolgers des ‚Dritten Reiches‘ mit dem antisemitischen iranischen Regime ins Visier zu nehmen, aus der dem Staat der Shoah-Überlebenden und ihrer Nachkommen eine existenzielle Gefahr zu erwachsen droht. Israel wird mit dieser Gefahr weitgehend alleine gelassen und die EU weigert sich beispielsweise bis heute, die djihadistische Mörder- und Mörderinnenbande Hisbollah oder die iranischen Pasdaran als Terrororganisation einzustufen. Das zeigt einmal mehr, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im heutigen Postnazismus zu Gedenkroutine und Erinnerungsrhetorik verkommen ist, aus der kaum Konsequenzen zur Bekämpfung des aktuellen ubiquitären Antisemitismus gezogen werden.
Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 554.
2 Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Begriff durch den 2003 erschienenen Band „Transformation des Postnazismus“ bekannt, der 2012 in stark erweiterter und geänderter Fassung unter dem Titel „Postnazismus revisited“ im ça ira-Verlag neu aufgelegt wurde.
3 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1988 [1844], S. 380.
Von Giuseppe Gracia. Politiker reden im Moment gern von „Wertegemeinschaft“ oder „Leitkultur“. Als wolle man uns in bewegten Zeiten mit harmonisierenden Werten und Ansichten beglücken. Was bedeutet der Versuch, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln?
Im Klassiker „L’etranger“ von Albert Camus (1942) wird der Fremde, eine Figur von verstörender Ehrlichkeit, hingerichtet: letztlich nicht deshalb, weil er auf jemanden schiesst, sondern weil er an der Beerdigung seiner Mutter nicht weint und sich auch sonst weigert, mehrheitsfähige Gefühle und Ansichten an den Tag zu legen. Er verstösst gegen die moralische Konformität, das wird ihm zum Verhängnis.
Wie sieht es heute aus mit dem Zwang zur moralischen Konformität? Kürzlich sprach die Publizistin Cora Stephan hier von „Denkverboten statt Debatte„. Sie beschreibt das Phänomen einer sich verengenden Meinungsäusserungsfreiheit in Europa, bei Reizthemen wie Islam, Migrationspolitik oder Gender. Tatsächlich scheinen nicht wenige Leute das Gefühl zu haben, irgendwo da draussen gäbe es eine fürsorgliche Aufklärungs-Gendarmerie, die zwar nicht über totalitäre Strukturen verfügt, doch aber über eine massenmediale Schwarmintelligenz. Was bedeutet das für unser Selbstverständnis als säkulare Gesellschaft? Säkularismus meint ja nicht nur die Trennung von Staat und Religion, von Gesetzgebung und persönlicher Weltanschauung. Sondern die Erkenntnis, dass eine liberale Gesellschaft allen Mitgliedern eine gedanklich-moralische Sphäre der Freiheit garantieren muss. Das geht nicht ohne Trennung von Macht und Moral.
Und dennoch reden Politiker im Moment gern von „Wertegemeinschaft“ oder „Leitkultur“. Als wolle man uns in bewegten Zeiten mit harmonisierenden Werten und Ansichten beglücken. Der Mitte-Links-Block tut dies gewöhnlich mit einem merkwürdig missionarischen Relativismus, der zwar nichts wissen will von einer zivilisatorischen Überlegenheit des Westens, aber trotzdem danach strebt, möglichst viele in diesen Westen hinein zu erziehen. Im bürgerlichen Mitte-Block dominiert ein geglätteter Pragmatismus zwecks Machterhalt, verkauft als angebliche Vernunft der Mehrheit. Während man im rechten Block von der Wiedergeburt einer patriotischen Gesinnungsgemeinschaft träumt – von einer Gemeinschaft, die auch als gedanklicher Grenzzaun gegen fremdländische Identitätsverwirrungen taugt.
Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft – wir sollten uns davon fernhalten
Was ist davon zu halten? Was bedeutet der Versuch, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln? Dazu der Philosoph Robert Spaemann 2001: „Es ist gefährlich, vom Staat als ‚Wertegemeinschaft‘ zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zu Gunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben. Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft. Die Werte – Nation, Rasse, Gesundheit – hatten dem Gesetz gegenüber immer den Vorrang. Das Europa von heute sollte sich von diesem gefährlichen Weg fernhalten.“
Und wie sieht es mit unseren Medien aus? Gewiss ist die Rede von der „Lügenpresse“ übertrieben und führt in den Nebel der Verschwörungstheorien. Trotzdem darf man feststellen, dass einige Medienschaffende, sei es beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder in der Presse, . Statt für Meinungsfreiheit kämpfen sie lieber gegen die „Hetze“ politischer Gegner. Statt einen Pluralismus der Anschauungen zuzulassen schüchtern sie lieber mit der Diskriminierungs-Keule ein – Seite an Seite mit Politikern und ausgewählten Sozialingenieuren. Das Ziel ist offenbar nicht mehr die Vermittlung umstrittener Sachverhalte, sondern die Formung eines moralisch erwünschten Volkskörpers.
Nur folgerichtig, wenn es dann zur journalistisch verpackten Propaganda für gesinnungsverwandte Regierungsprogramme kommt, wie eine aktuelle Studie der Hamburg Media School zeigt. Die Auswertung von 34 000 Pressebeiträgen zwischen 2009 und 2015 zum Thema Flüchtlinge ergab: 82 Prozent der Beiträge waren positiv, nur 6 Prozent hinterfragten kritisch die Flüchtlingspolitik der Regierung. Leider gibt es keinen Grund zur Annahme, dass eine solche Regierungsnähe nur in deutschen Medien oder nur beim Thema Migration vorkommt. So wenig wie die Verfolgung des sogennaten „Hate speech“ nur bei Facebook stattfindet.
Die Kirchen dienen sich dem Staat als Moralinspender an
Dazu erklärt die Amerikanische Anwaltskammer sinngemäss: Äussert sich jemand heutzutage über eine Gruppe von Menschen, die sich deswegen beleidigt fühlt, ist das bereits „Hate Speech“. Mit anderen Worten: es werden Gefühle und Anschauungen kriminalisiert und aus der Öffentlichkeit verbannt, mit Regierungsbeteiligung. Ein Beispiel aus Deutschland ist Bundesjustizminister Heiko Maas: dieser arbeitet seit 2015 mit Facebook und anderen Organisationen an „Vorschlägen für den nachhaltigen und effektiven Umgang mit Hasskriminalität“. Das geht in Richtung einer Mind Police, die ihre Einsatzwagen bestimmt nicht nur durch die sozialen Medien fahren lassen wird.
Dass diese Probleme zur Zeit durch einen anti-säkularen Islam verschärft werden, ist bekannt. Aber wie verhalten sich eigentlich die christlichen Kirchen? Im Moment empfehlen sie sich der Gesellschaft weniger durch den Anspruch, den geoffenbarten Willen Gottes kundzutun und die Auferstehung von den Toten zu bezeugen, als durch das Angebot, die Gesellschaft durch Wertevermittlung zu stabilisieren. Also auch hier eine Liebschaft zwischen Macht und Moral? Es sieht leider danach aus, wenn man sich dem Staat als zivilreligiöser Moralinspender anbietet.
Und dann gibt es ja auch bei den Christen das Lager der Fundamentalisten, die den Säkularismus überhaupt ablehnen und die Moderne dämonisieren. Das ist eine tragische Entwicklung. Nicht nur deshalb, weil damit der freiheitliche Staat ohne genuin christliche Verteidigung bleibt. Sondern auch deshalb, weil Jesus selbst die Unterscheidung zwischen Gott und Kaiser gemacht hat, zwischen weltlicher Macht und persönlicher Weltanschauung.
Christen, die das ernst nehmen, könnten für die Verteidigung des Rechtsstaates heute sehr wertvoll sein. Sie müssen den Säkularismus nicht als Gegensatz zum Christentum oder als Feind des Glaubens sehen, sondern als Kind aus der gleichen Familie. Dazu erklärt der Oxford-Professor Larry Siedentop im Buch „Die Erfindung des Individuums„, wie das christliche Denken den Weg zum Liberalismus nicht nur geebnet, sondern überhaupt erst ermöglicht hat und warum der Säkularismus aufgrund seiner religiösen Wurzeln gerade von Christen verteidigt werden sollte.
Ein Stein, den wir im Einsatz für die Freiheit immer wieder hochrollen müssen
So scheint die Trennung zwischen Macht und Moral immer weniger Verbündete zu finden. Sei es aufgrund eines Staates, der sich als Wertegemeinschaft versteht, oder aufgrund der Volkstherapeutik einer humanistisch erleuchteten Elite. Aber vielleicht gehört es gerade zum Wesen der individuellen Freiheit, dass ihre Verteidgung so anspruchsvoll ist. Denn der Einsatz für diese Freiheit schliesst stets die Freiheit dessen mitein, der mir Widerstand leistet, der mich ärgert und abstösst. Das bedeutet laufende Toleranzzumutungen und eine Pflicht zur Selbstdisziplinierung.
Natürlich darf man sich in einer Demokratie wünschen, dass die Mehrheit der Menschen, die zum Gesetzesgehorsam verpflichtet sind, die Wertintuitionen teilen, die den Gesetzen zugrunde liegen. Sonst haben auf die Dauer die Gesetze selber keinen Bestand. Aber diese Intuitionen zu teilen, kann nicht selbst wiederum erzwungen oder zur Bürgerpflicht erhoben werden. Denn das wäre ein Verrat an der Freiheit, die es ja gerade zu verteidigen gilt. Eine Verteidigung, die ohne Generallösungen auskommen muss und nie aufhört.
Das bringt uns zu Albert Camus zurück. Im „Mythos von Sysiphos“ (1942) beschreibt er, wie Sysiphos von den Göttern dazu verdammt wurde, auf dem Rücken eines unbesiegbaren Berges auf Ewig einen Stein hochzurollen, nur um ihn jedes Mal wieder hinabrollen zu sehen. Camus sieht darin ein Sinnbild der Existenz: den ebenso absurden wie grossen Kampf um die Freiheit. Camus schlägt vor, dass wir uns Sysiphos als glücklichen Menschen vorstellen, weil er trotz seiner Lage nicht aufgibt und dadurch grösser wird als sein Schicksal. Eine bis heute treffende Parabel. Zumindest dann, wenn wir uns vorstellen, dass unser aktuelles Ringen um die Trennung von Macht und Moral sich so anfühlt wie dieser Stein, den wir im Einsatz für die Freiheit immer wieder hochrollen müssen, auf den Berg menschlicher Schwächen und Bedrohungen.
Giuseppe Gracia ist freier Autor und Infobeauftrager des Bistums Chur
Anmerkungen zum Verhältnis von „Spaß haben“ und Gesellschaft
Die Botschaft des Hedonismus, welcher behauptet, das Ziel des Menschens sei die Lust, sowie daß es nur auf den Genuß ankomme, klingt ja erstmal nach einer feinen Sache. Widersetzt sie sich doch scheinbar den nur allzu bekannten Prämissen des Alltags, unter denen mensch sein Leben zu fristen hat. Im Bild des bonvivant erscheint das Gegenüber des/der strebsamen, lustfeindlichen, vom Untertanengeist beseelten Bürgers/Bürgerin. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob der/die sich dem Hedonismus ergebende Individualist/in, das Gegenteil des konformistischen, das Kollektiv reproduzierenden „Massenmenschen“ darstellt. Dieses Gespenst des widerständigen Konsums geistert durch die zeitgenössischen Subkulturen und ihr ideologisches Beiwerk. Beharrlich wird nach Emanzipations- und Widerstandspotentialen gefahndet, die die Grundlage einer alternativen Vergesellschaftung bilden sollen. Während über die Verortunng der widerständigen Phänomene kontrovers diskutiert wird, ist man sich über einen Punkt vorbehaltlos einig: die Existenz eines unmittelbar Freiheit verkörpernden Prinzips, das sich nur noch angeeignet werden müsse. Jede Kritik an diesen Annahmen fängt sich leicht den Vorwurf der Lustfeindlichkeit und Unmenschlichkeit ein. Doch gerade das Beharren auf der Totalität des falschen Ganzen bewahrt den Gedanken an die Möglichkeit des Besseren: Glück und Genuß bedürften zu ihrer Verwirklichung der Freiheit und der Autonomie.
Der Hedonismus unterstellt die unmittelbar vorhandene Freiheit der Individuen. Er reflektiert nicht auf die gesellschaftliche Verfaßtheit dieser Individuen und der Dinge, die sie konsumieren sollen. Erstere sollen in ihrer gegebenen Gestalt letztere unmittelbar zum Gegenstand des Genusses machen. Bereits Marcuse wandte gegen die Hypostasierung des unmittelbaren Genusses ein, daß dieser den vorgegebenen Strukturen der Gesellschaft folge und so niemals aus dieser herausführen könne: „In dieser Form der Gesellschaft kann die Welt, wie sie ist, zum Gegenstand des Genusses nur werden, wenn alles in ihr, Menschen und Dinge, so hingenommen werden, wie sie erscheinen, ohne daß ihr Wesen (…) dem Genießenden gegenwärtig werden.“[1] Unbegriffen bleibt dem Hedonismus das Formprinzip der Ware sowie die gesellschaftliche Bestimmung des bürgerlichen Subjekts, dessen Freiheit der abstrakte Individualimus der Konkurrenz ist. Die Existenz dieser Freiheit ist keine unbedingte, sondern dient der Selbstrverwertung des Individuums unter den Prämissen des freien und gleichen Tausches. Die Affirmation der Charaktermaske der warenförmigen Vergesellschaftung, durch Affirmation ihrer Bedürfnisse, führt zur Verewigung der elenden Realität, die jene hervorbringt. Derart auf die real existierende Subjektivität fixiert, kann der Hedonismus seine eigenen Bedingungnen und Beschränkungen nicht reflektieren und so das objektive Moment des Glücks nicht fassen.
Staat und Kapital stellen die Schranken des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl an Menschen dar; jede Flucht in die Möglichkeiten, die die bürgerliche Gesellschaft bietet, geht somit zwangsläufig mit der Reproduktion dieser Schranken einher und kann sich nicht aus der Verfangenheit in dieser Vergesellschaftung befreien. Das Glück wird nicht zufällig in der Sphäre der Konsumtion verortet, die unzulässigerweise von der der Produktion abgespalten wird. Hier verwirklicht sich jedoch nur die bürgerliche Freiheit, sich als Waren- und Geldmonade zu betätigen – nicht mehr und nicht weniger. Jeder Versuch, das hedonisitische Individuum als unabhängig von der Gesamtstruktur der Gesellschaft zu begreifen, und als ein von deren Zwängen befreites zu denken, muß an der Totalität der wertverwertenden Gesellschaft scheitern. Das bürgerliche Subjekt ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, weswegen Freiheit und Glück unter bestehenden Bedingungen nur negativ gedacht werden können: als Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen, die jene verhindern.
Die in der herrschenden Ordnung vorgefundenen Gegenstände sind ebenso nicht zur direkten Bedürfnisbefriedigung hergestellt, sondern haben die Form der Ware, deren Bestimmung es ist, ihren Wert zu realisieren. Die menschlichen Bedürfnisse sind je schon von dieser Formbestimmtheit geprägt. „In diesen Bedürfnissen und Interessen selbst (und nicht erst in ihrer Befriedigung) steckt schon die Verkümmerung, Verdrängung und Unwahrheit, mit der die Menschen in der Klassengesellschaft aufwachsen.“[2] Der Prozeß der Gesellschaft ist also die Produktion des Immergleichen, und Langeweile ist der subjektive Reflex auf die Deformation, welche der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang den Menschen widerfahren läßt. Die Dynamik der ständigen Pseudo-Aktivität (Adorno) aktueller Subkulturen ist die ebenso deformierte Reaktion, die dazu dient, den Gedanken an an eben jene Statik zu verdrängen. So wird sich eine Identität geschaffen, um der dumpfen Ahnung um die eigene Ohnmacht zu entgehen.
Der unmittelbare Genuß ist also keineswegs widerständig, sondern eine Möglichkeit, die die bestehende Vergesellschaftung selbst hervorbringt, und die in zunehmender Weise deren Reproduktion garantiert. Als der riesige Supermarkt, zu dem die warenproduzierende Gesellschaft sich entwickelt hat, ist sie auf die konsumtive Vereinnahmung und Vertilgung des ungeheuren Warenangebots angewiesen. Das Kapital knüpft die Ausbeutung der produktiven Arbeit zusehends direkt an die Ausbeutung der konsumtiven Bedürfnisse, wodurch die ProduzentInnen zugleich an ihre Rolle als staatlich protegierte KonsumentInnen gekoppelt werden.[3] Insofern ist es kein Wunder, daß mit dem Aufkommen des Massenkonsums im postfaschistischen „fordistischen Zeitalter“ die bis dahin geforderte puritanische Libidokontrolle zum Hemmschuh der umfassenden Wertrealisierung wurde. Es wurde zur Notwendigkeit, neue Bedürfnisse zu wecken, bis dahin unterdrückte freizugeben und die unmittelbare Wunschbefriedigung als Selbstzweck zu propagieren, also der KundInnennation die Lebensanschauung des Hedonismus einzupauken.[4] Mensch muß keinE ExpertIn für Sozialpsychologie sein, um zu erkennen, daß diese Transformation, die sich durch sämtliche Lebensbereiche zog, vor den sexuellen Tabus nicht halt machen konnte und diese notwendig nachhaltig verändern mußte. Insofern muß man die 68er und ihre sogenannte sexuelle Revolution als subjektive Verdoppelung der objektiven Entwicklung sehen.
In diesem Prozeß wird ersichtlich, was der Hedonismus seinem Begriffe nach auch immer schon war. In der warenproduzierenden Gesellschaft ist die Konsumtion und damit der Genuß nie als Zweck gesetzt, sondern stets als Mittel der Verwertung. Sowie der Gebrauchswert nur als Träger von Wert existiert, genauso existiert Individualität nie ohne gesellschaftliche Vemittlung, also den Zwang sich als bürgerliches Subjekt begreifen zu müssen. Das Besondere existiert nur als Inkarnation des Allgemeinen, Bedeutung kommt ihm nur insofern zu als es eben da sein muß. Die Menschen müssen ihre individuelle Reproduktion mit dem Zwang zur Kapitalakkumulation vermitteln, ihr eigenes Glück liegt also in ihrer Nützlichkeit für den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft. Der unmittelbare Konsum kann so nur als Anhängsel der Verwertung, sprich als Wertrealisation begriffen werden; jeder Versuch etwas anderes in ihm zu erkennen ist Sinnstiftung, zwanghafte Rationalisierung des gesellschaftlichen Unwesens. Dieser Form der Kritik an der Kulturindustrie geht es nicht darum, den Menschen Genuß zu mißgönnen, sondern die Verschränktheit des Konsums mit der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung aufzuzeigen, die permanant das Versprechen von Glück hintertreibt.
Der Hedonismus als Philosophie des unmittelbaren Genusses will sich über seine eigenen Bedingungen keine Gedanken machen. Zwar ist in der Forderung nach der Erfüllung der individuellen Bedürfnisse ein Moment der Freiheit enthalten, dieses aber unmittelbar mit deren Existenz gleichzusetzen, bedeutet die Verewigung der Unfreiheit. Der unreflektierte Genuß entsagt dem, was möglich wäre, er enthält Resignation. „Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid.“[5] Alles andere wäre bloßer Schein von Glück, Absenz des Bewußtseins von Unglück und damit Versöhnung mit dem falschen Ganzen.
[1]Marcuse Herbert: Zur Kritik des Hedonismus (1938); in: Ders.: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt/M. 1965, S.132
Jeder, der das Stück „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch liest, schüttelt den Kopf und denkt, je nach persönlicher Sprachgewohnheit: „Wie kann man nur so blöd/so naiv sein!“ Und genau das mag auch mancher Zeitgenosse denken, der den Aufstieg Hitlers und der NSDAP in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachzuvollziehen versucht. Genau wie die beiden Brandstifter Schmitz und Eisenring hat auch Hitler aus seinen Absichten keinen Hehl gemacht. Doch „die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Das glaubt niemand“ (Eisenring).
Was das jetzt soll? Nun, genau das passiert seit Jahren in Deutschland und Europa mit der Ausdehnung des Islam, kurzerhand als „Islamisierung“ bezeichnet. In der „wirklichkeitsleeren Welt der Politiker“ (Jürgen Leinemann) findet diese natürlich nicht statt, sondern ist lediglich die Kopfgeburt überdrehter „Panikmacher“ (Patrick Bahners), wie Broder, Kelek und anderer.
Güner Yasemin Balcı, die engagierte Journalistin, Autorin und frühere Sozialarbeiterin in Berlin-Neukölln, hat gerade in einem „Welt“-Interview zum wiederholen Mal auf das „rückwärtsgewandte, extrem konservative Religionsverständnis der gängigen Islamverbände in Deutschland“ hingewiesen. Doch warum sollte ein Mann wie Aiman Mazyek diese Haltung des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) ändern, wo er doch am 13. Januar 2015 bei der „Mahnwache“ vor dem Brandenburger Tor vom deutschen Staatsoberhaupt vor aller Welt umarmt wurde und anschließend untergehakt zwischen dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin stand. Mehr Anerkennung durch Angela Merkel genießen allenfalls noch die Mitglieder der deutschen Fußballnationalmannschaft.
Schauen wir uns die Position der „gängigen Islamverbände“ näher an, wie sie in der Geschäftsordnung des Koordinierungsrats der Muslime in Deutschland (KRM) vom 28. März 2007 zum Ausdruck kommt. In § 1 Absatz 4 bekennt sich der Koordinierungsrat zwar zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“. Doch schon im nächsten Absatz heißt es:
„Koran und Sunna des Propheten Mohammed bilden die Grundlagen des Koordinierungsrats. Dieser Grundsatz darf auch durch Änderungen dieser Geschäftsordnung nicht aufgegeben oder verändert werden.“ Dieser zweite Satz erinnert stark an die „Ewigkeitsgarantie“ in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG), wonach eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig ist, durch die dessen tragende Grundsätze (Föderalismus, Menschenwürde, Demokratie, Sozialstaat, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowie das Widerstandsrecht) berührt würden. Diese Parallelität beruht offenbar auf dem gleichen Kalkül wie die Wahl des deutschen Nationalfeiertages am 3. Oktober zum „Tag der offenen Moschee“.
Die Erklärung von Koran und Sunna zu den unveränderlichen Grundlagen des KRM und damit aller von ihm vertretenen Muslime in Deutschland wirft Fragen auf, die weder die Innenminister (Schäuble, Friedrich, de Maizière) in der Deutschen Islamkonferenz (DIK) noch Bundespräsident Wulff („Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“) noch Bundeskanzlerin Merkel (die den Wulff-Satz beim Besuch des damaligen türkischen Premiers Ahmet Davutoğlu bekräftigte) den Verbänden je gestellt haben.
10 Fragen, die gestellt und beantwortet werden müssen
Frage 1: Sieht der KRM im Koran das unmittelbar geoffenbarte Wort Allahs mit der Folge, dass jede Kritik an einer Sure todeswürdige Gotteslästerung ist (in Nr. 3 der Charta des ZMD von 2002 wird der Koran „als unverfälschtes Wort Gottes“ bezeichnet)? Oder ist der Koran das von Menschen niedergeschriebene Wort Gottes, das eine Auslegung aus dem historischen Kontext erfordert? Letzteres vertritt beispielsweise das Muslimische Forum Deutschland (MFD, in Nr. 3 seiner Berliner Thesen , zu dessen Gründungsmitgliedern Güner Yasemin Balcı gehört.
Frage 2: Steht die Scharia, also die Gesamtheit des islamischen Rechts, wie sie in Koran und Sunna zu Ausdruck kommt, über dem weltlichen Recht? Welche Position hat der KRM zu der Äußerung des früheren Großmufti von Bosnien und Herzegowina Mustafa Cerić, dass die Scharia „ewig, nicht verhandelbar und unendlich“ ist (vergleiche Wikipedia, die Originalfundstelle ist mittlerweile unauffindbar, jedenfalls für mich)?
Frage 3: Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung umfasst auch das Bekenntnis zu universellen Menschenrechten, wie sie in der Erklärung der UNO vom 10. Dezember 1948 niedergelegt sind . Warum haben dann die Staaten der Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC, seinerzeit noch Organisation der Islamischen Konferenz) am 5. August 1990 die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam verabschiedet, die alle Menschenrechte unter Schariavorbehalt stellt (vgl. insbesondere Artikel 24 und 25) bzw. wie steht der KRM zu dieser Kairoer Erklärung? In der Charta des ZMD heißt es lediglich (in Nr. 13) „Zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen (sic!) Menschenrechtserklärung besteht kein Widerspruch.“
Frage 4: Nach Nr. 8 der islamischen Charta des ZMD „ist der Islam Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise zugleich“. Nach Artikel 4 Absatz 1 GG sind aber nur die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Wie grenzen die Verbände den Bereich der geschützten Religionsfreiheit von den übrigen Bereichen ab?
Frage 5: Wie interpretiert der KRM die Suren des Koran, die der Frau ein untergeordnete Stellung in der islamischen Gesellschaft zuweisen (beispielsweise 2, 223; 4, 34)? Über den zuletzt genannt Vers schreibt die gläubige niederländische Muslimin ägyptischer Herkunft Nahed Selim: „Der Schaden, den Vers 4:34 den Frauen überall auf der Welt zugefügt hat, ist nicht zu ermessen“ (Nehmt den Männern den Koran, Seite 66).
Frage 6: Wenn der Islam die Religion des Friedens ist, wie es in Nr. 1 der Charta des ZMD heißt, wie konnte er sich dann innerhalb kurzer Zeit bis nach Spanien (al-Andalus) ausbreiten? War Mohammed Islamist, der die eigene von ihm begründete friedliche Religion missbrauchte?
Frage 7: Wie kann jemand, der nach muslimischen Quellen 43 Morde in Auftrag gegeben hat, „ein schönes Vorbild“ für alle Muslime sein( (Sure 33, 21) und für die Friedfertigkeit dieser Religion stehen?
Frage 8: Nach Nr. 14 der Charta des ZMD anerkennt der Koran religiösen Pluralismus. Wieso hat Mohammed dann verkündet: „Ich wurde angewiesen, die Menschen zu bekämpfen, bis sie bezeugen, dass es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad der Gesandte Gottes ist, bis sie das Gebet verrichten und die gesetzliche Abgabe bezahlen. Kommen sie diesen Forderungen nach, so sind ihr Leben und ihre Habe vor mir sicher. Sie unterstehen dann einzig dem Gesetz des Islams, und Gott wird sie richten.“
Frage 9: Bei der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor am 13. Januar 2015 hat der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek sich vom Antisemitismus distanziert und von „unseren Geschwistern in dem jüdischen Supermarkt“ (in Paris) gesprochen. Welche Haltung nehmen Herr Mazyek und die islamischen Verbände dann zu diesem Hadith (Ausspruch) Mohammeds ein: „Ihr werdet die Juden bekämpfen, bis einer von ihnen Zuflucht hinter einem Stein sucht. Und dieser Stein wird rufen: ‚Komm herbei! Dieser Jude hat sich hinter mir versteckt! Töte ihn!'“ Dieses Zitat findet sich übrigens wörtlich in der Hamas-Charta von 1988 wieder (Art. 7 Absatz+ 3).
Frage 10: Wieso werden im Islam alle Nicht-Muslime als Ungläubige bezeichnet: „Die Gläubigen sind nur diejenigen, die an Allah und seinen Gesandten glauben“ (Sure 24, 62)? Schließlich heißt es über die Ungläubigen im Koran (Sure 8,55): „Wahrlich, die schlimmsten der Geschöpfe vor Allah, die auf der Erde laufen, sind jene, die ungläubig sind.“ In anderer Übersetzung: „Siehe, schlimmer als das Vieh sind bei Allah die Ungläubigen.“
Und wenn sich unter den Politikern (beiderlei Geschlechts) niemand findet, der den islamischen Verbänden solche Fragen stellt, was passiert dann in dem viel beschworenen „Dialog der Religionen“? Warum fragt kein Vertreter der beiden christlichen Kirchen oder des Zentralrats der Juden in Deutschland einfach mal nach, was denn Mazyek und seine muslimischen Schwestern und Brüder zu diesen Punkten sagen.
Und die Journalisten der so genannten Qualitätsmedien – haben sie tatsächlich solche Angst, in die Nähe der AfD oder gar – horribile dictu – von Pegida und den Glatzen in Springerstiefeln gerückt zu werden? Alle erklären übereinstimmend und zu Recht, dass die Terroristen es nicht schaffen, unsere freiheitliche „offene Gesellschaft“ (Karl Popper) zu zerstören. Sie übersehen allerdings, dass das gar nicht nötig ist. Vor lauter Angst vor dem Tod, der überall „rechts“ lauert, begehen wir Selbstmord, indem wir das Feld immer mehr den Ideologen des Islam überlassen.
Während in der Protestbewegung gegen die blau-braun-schwarze Bundesregierung in Österreich oder auch in der Staatsantifa der Bundesrepublik Deutschland samt ihres aufständisch-anständigen Anhangs manche Haider und seine deutschen Kopieversuche als Antidemokraten bekämpfen und mitunter auch den Rassismus und Antisemitismus thematisieren, aber beharrlich über Staat und Kapital schweigen, wissen andere zwar einiges über Kapital und Staat zu sagen, schweigen dafür aber umso beharrlicher über die deutsche und österreichische Volksgemeinschaft. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen – beides thematisiert: Kapital und Staat als die Voraussetzungen jeder Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung, sowie die Spezifik der österreichischen und deutschen Tätergemeinschaft, ohne deren Berücksichtigung die Kritik an Staat und Kapital zur Geschichtsentsorgung und Volksapologie im kommunistischen Gewand gerät. Die Begriffe ›Postfaschismus‹, ›Postnazismus‹ und ›demokratischer Faschismus‹ stehen bei der Kritik der österreichischen und deutschen Zustände nicht gerade auf der Tagesordnung. Dennoch handelt es sich dabei nicht um völlig neue Begriffe. Es stellt sich die Frage, wie solche Kategorien bisher verwendet wurden und in welchem Kontext sie entstanden. In der BRD (in Österreich fanden solche Diskussionen kaum statt) verstand man in der Nachkriegszeit unter Postfaschismus in erster Linie personelle Kontinuitäten, also die ungebrochene Karriere ehemaliger Nazis in der Demokratie, kaum jedoch strukturelles Fortwesen. Um das Jahr 1968 herum kam es zu einigen Diskussionen, in denen der Begriff des Postfaschismus etwas mehr an Konturen gewann. Man denke etwa nur an einen der wohl am meisten gelesenen Aufsätze Theodor W. Adornos, nämlich „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. Dort weist Adorno nachdrücklich darauf hin, daß er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher erachte als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Er schreibt: »Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.« (GS 10.2, 554) Zu den frühen, auch heute noch relevanten Auseinandersetzungen mit Postfaschismus und Postnazismus gehören auch einige Ausführungen des Adorno-Schülers Hans-Jürgen Krahl (1977, 21 ff.). Ebenfalls in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist Johannes Agnoli, der die Linke bereits in den 1960er Jahren mit seinen Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Faschismus konfrontiert hat (1990, 21 ff.). Große Teile der Linken in den deutschsprachigen Ländern haben sich jedoch in den 1970er und 1980er Jahren kaum für radikale Gesellschaftskritik, sei es in der Adornoschen, sei es in der Agnolischen Ausprägung interessiert, sondern sich lieber dem Naturromantizismus der Neuen Sozialen Bewegungen oder den autoritären Plattheiten des Marxismus-Leninismus gewidmet. Aber selbst bei Marxisten- Leninisten und bei gemäßigten Maoisten kam man nicht ganz um die Diskussion über das Nachwirken des Nationalsozialismus herum, was seinen Niederschlag vor allem in den Diskussionen über eine mögliche Faschisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1970er Jahren fand. Der Begriff der Faschisierung war und ist aber immer auch ein Gegenbegriff zu den Kategorien Postfaschismus und Postnazismus, da er zwangsläufig die Momente des Bruchs von 1945 überbetonen muß. Überlegungen zur Faschisierung, denen stets eine gewisse Distanz zur Kritischen Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos anzumerken war, fanden sich vor allem im und im Umkreis des vergleichsweise einflußreichen Kommunistischen Bundes, zeitweise auch im linksakademischen Bereich. (Steffen 2002; Weber 1999, 142) Andere Texte, in denen Postfaschismus und Postnazismus jenseits der langwierigen Auseinandersetzungen über die Faschisierungsthese thematisiert wurden, haben zur Zeit ihres Erscheinens kaum zu Diskussionen geführt. Zu erinnern wäre diesbezüglich beispielsweise an Joachim Bruhns Ausführungen zur Kritik des demokratischen Antifaschismus und zur Sozialpsychologie des Postfaschismus (1983, 42 ff.), die zwar den Ruf der Initiative Sozialistisches Forum in der infantilen Autonomenszene der 1980er Jahre als »Psychosekte mit viel Geld« befördern halfen, aber selbst in der theoretisch interessierten Linken kaum für Irritationen gesorgt haben. Eine wichtige Auseinandersetzung über die postnazistische Demokratie fand nochmals Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der auch von vielen Linken begrüßten deutschen Wiedervereinigung statt. Damals ging es mit Bezug auf die Faschisierungsdebatten der 1970er Jahre um die Frage, ob es im Zuge der Renationalisierung zu einer Faschisierung der Demokratie komme, oder aber ob diese sogenannte Faschisierung im Postfaschismus nicht schon längst vollzogen sei und man heute viel eher von einer Demokratisierung des Faschismus reden müßte. (Nachtmann 1995, 25 ff.; Möller 1995, 28 ff.) Diese Debatte ist in den letzten Jahren weitgehend eingeschlafen. Gerade die Entwicklung in Österreich mit dem Siegeszug der Freiheitlichen Partei (FPÖ) bis zu den Nationalratswahlen 1999 und der postfaschistisch- wie postnazistisch-demokratischen Geschichte seit 1945 einerseits und der in der BRD zu beobachtenden Kampagnenpolitik, die durch die rot-grüne Regierung forciert wird und – flankiert durch Äußerungen von Figuren wie Stoiber oder Schill – auf einen selbstbestimmten Autoritarismus abzielt, erfordert es, die Diskussion über Faschisierung der Demokratie oder Demokratisierung des Faschismus nochmals aufzunehmen. Das Nach- und Fortleben des Nationalsozialismus tritt am Beginn des neuen Jahrtausends nicht mehr in der gleichen Weise in Erscheinung wie noch in den fünfziger und 1960er Jahren. Allein schon der partielle, in der BRD sehr viel deutlicher und konsequenter als in Österreich vollzogene Wandel vom Beschweigen oder Schönreden der NS-Vergangenheit hin zur offensiven Auseinandersetzung mit den »eigenen« Verbrechen im Dienste und zum Wohle des gegenwärtigen Souveräns, macht es notwendig, die Transformation der postnazistischen Demokratie in den Blick zu rücken. Der Begriff des ›demokratischen Faschismus‹, den der Schriftsteller Michael Scharang bereits in den 1980er Jahren noch weitgehend unbeeindruckt vom Aufstieg der FPÖ verwendete (1986), versucht das, was für das bürgerliche Bewußtsein das vollkommen Unvereinbare repräsentiert, zusammenzudenken. Gerade in Österreich hat der Begriff zudem den Vorteil, daß er das Augenmerk nicht nur auf die Nazi- Zeit, sondern auch auf den Austrofaschismus und dessen Aktualität lenkt. Zugleich beinhaltet er das Problem, daß der unabdingbare, mal explizite, mal implizite Hauptbezugspunkt der deutschen und österreichischen Politik, der Nationalsozialismus, zugunsten des Faschismusbegriffs verschwindet. Schon deswegen wurde für den Haupttitel der vorliegenden Publikation anstatt der bisher geläufigeren Bezeichnung ›Postfaschismus‹ der Begriff des Postnazismus gewählt, der in mehreren Beiträgen, in denen auch der Frage nachgegangen wird, inwiefern mit der Rede vom ›demokratischen Faschismus‹ tatsächlich etwas Neues versucht wird zu fassen, oder ob der Faschismus und im Speziellen der Nationalsozialismus nicht schon immer eine reichlich demokratische Schlagseite hatten, genauer ausgeführt wird. Daß allein die Verwendung von Begriffen wie Postfaschismus oder Postnazismus nicht zwangsläufig zu einer vernünftigen, also radikalen Kritik führt, haben bereits mehrere Autoren vorgeführt. Einige in der Linken glauben etwa, Postfaschismus als positiven Begriff setzen zu können. Christoph Spehr beispielsweise schreibt davon, daß die »Erfahrung des überwundenen Faschismus, der postfaschistische Konsens, … einen unfertigen Emanzipationsprozeß« darstelle. Dementsprechend wird dann auch eine »Radikalisierung des postfaschistischen Konsenses« gefordert (1997, 16). Das Positive des Postfaschismus wäre demnach also einfach, daß er immerhin kein Faschismus ist. Postfaschismus wird hier als gelungene Ablösung vom Faschismus verstanden, ähnlich wie bei der italienischen Alleanza Nationale, die lange um die Titulierung als »postfaschistische Partei« gerungen hat. In die gleiche Richtung zielt der Wiener Krisis-Redakteur Franz Schandl. Auch für ihn bezeichnet der Begriff des Postfaschismus lediglich den gelungenen Ablösungsprozeß vom Faschismus und vom traditionellen Rechtsextremismus. Deshalb charakterisiert er die Freiheitlichen in Österreich als »das erste gelungene postfaschistische Projekt der Rechten in Europa« (1998, 19) und verkennt damit in einem sowohl das Wesen der postnazistischen Demokratie als auch jene einflußreichen Strömungen innerhalb der FPÖ, die sich relativ offen auf den Nationalsozialismus beziehen. Als Begriffe der Kritik zielen Postfaschismus und Postnazismus gerade auf die modifizierte Fortsetzung faschistischer und nationalsozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie und sind als positive Kategorien nicht denkbar. Sie beabsichtigen die Denunziation des aktuellen politischen Souveräns mittels des Hinweises, daß jeder Staat auf den Erfahrungen seines Vorgängers aufbaut: »Nichts von dem, was der Souverän je tat und antat, ging verloren… Undenkbar wäre die ›soziale Marktwirtschaft‹ ohne die nazistische Vernichtungsgemeinschaft …; unmöglich die Sozialpartnerschaft von heute ohne die ›Betriebsgemeinschaft‹ des Faschismus; unvorstellbar schließlich die gegen Jugoslawien angewandte Taktik, das ›Recht auf nationale Selbstbestimmung‹ zur Zerschlagung des letzten Systemfeindes in Anschlag zu bringen, ohne die geschichtliche Erfahrung der Okkupation etwa des Sudetenlandes.« (ISF 2001, 67) Daß selbst noch der Postfaschismusbegriff zur Identifikation mit der Nation taugt, hat beispielsweise die Grazer Philosophin Elisabeth List demonstriert. Sie spricht von der postfaschistischen Politik der FPÖ, nicht etwa von der postfaschistischen österreichischen Gesellschaft, und fordert alle Patrioten zum Kampf gegen diese postfaschistische FPÖ auf. »Niemand«, schreibt sie allen Ernstes, »der sein oder ihr Land liebt und bei Verstand ist«, könne die Politik dieser Partei gutheißen. (2001) Die Beschäftigung mit Postfaschismus findet hier statt aus Sorge um die Nation. Eine Sorge, um die es den Autoren dieses Bandes mit Sicherheit nicht geht, die es aber auch anderen Demokratieidealisten wie beispielsweise Armin Thurnher, dem Herausgeber der Wiener Wochenzeitung Falter, angetan hat, für den Postfaschisten einfach »nichts anderes als Demokraten mit zweifelhaftem Verständnis des Rechtsstaates« sind, gegen die man etwas tun müsse, um »Schaden für das Land« (2002, 8 ff.) abzuwenden. In der BRD ist der Begriff des ›Postfaschismus‹ aus öffentlichen, nicht nur in der radikalen Linken wahrnehmbaren Debatten weitgehend verschwunden. In Österreich hat er kurzzeitig durch eine Intervention von außen eine merkwürdige Renaissance erlebt. Die Charakterisierung der FPÖ durch Milos Zeman im Rahmen der Streitereien über das AKW Temelin und die Sudetendeutschen als »postfaschistische Partei« löste in Österreich einen kollektiven Proteststurm aus. Der tschechische Premierminister wurde Anfang des Jahres 2002 sowohl vom Bundespräsidenten als auch von Alfred Gusenbauer, dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten, scharf zurechtgewiesen. An diesen Reaktionen läßt sich auch das Problematische von Zemans Charakterisierung erkennen. So wie in der BRD die rot-grüne Koalition nach den Wahlen 2002 mit der Ernennung von Wolfgang Clement zum neuen ›Superminister‹ für Arbeit und Wirtschaft abermals unter Beweis gestellt hat, daß es für das Anknüpfen an der korporatistischen Tradition der institutionellen und administrativen Verwaltung von Arbeit und Kapital keiner Koalition aus Nachfolgeorganisationen faschistischer Bewegungen wie der Österreichischen Volkspartei und der FPÖ bedarf, verdeutlichen diese Reaktionen nochmals, daß das Problem in Österreich nicht nur eine postfaschistische oder postnazistische Partei ist, sondern es sind ebenso wie in der BRD die postfaschistischen gesellschaftlichen Strukturen und das postnazistische gesellschaftliche Bewußtsein, das keineswegs nur bei den Freiheitlichen, deutschen und österreichischen Neonazis, Edmund Stoiber oder Ronald Schill zu finden ist. Zur Erklärung dessen, warum das so ist, möchten die Aufsätze dieses Buches einen Beitrag leisten. Selbstverständlich sind viele jener Entwicklungen, die in der vorliegenden Publikation beschrieben werden, auch in anderen Ländern als Deutschland und Österreich zu beobachten. Gerade die Wahlerfolge rechtsextremistischer und neo- oder altfaschistischer Parteien in den Niederlanden, der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Belgien oder Frankreich lassen es merkwürdig anmuten, die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus gesondert zu behandeln. Der permanente Hinweis gerade deutscher und österreichischer Autoren, an der Entwicklung in Österreich und der BRD sei doch gar nichts besonderes, die anderen Demokratien hätten schließlich auch ihre Rassisten und Antisemiten, blendet die unterschiedlichen historischen Ausgangslagen bewußt aus. Die Entwicklungen in zahlreichen, durchaus nicht nur europäischen Gesellschaften, verweisen zwar darauf, daß sich das deutsche Krisenlösungsmodell und die deutsche Ideologie zusehends als verallgemeinerungsfähig erweisen. Genau darauf zielt der relativierende Einwurf der Warner vor einem neuen »europäischen Rechtspopulismus«, wie der Siegeszug des faschistischen Ressentiments verharmlosend genannt wird, aber gerade nicht. Gegen die etablierte Rechtspopulismusforschung, die zur Verwohlfeilerung der Demokratie und zur Normalisierung der postnazistischen Gesellschaften angetreten ist, bleibt darauf zu beharren, daß ähnliche Entwicklungen schon auf Grund der unterschiedlichen historischen Bezüge nicht die gleiche Bedeutung haben. In Deutschland ist der Nationalsozialismus als massenhaft legitimierte Volksbewegung an die Macht gekommen und die deutsch-österreichische Volksgemeinschaft hat gerade im zur Tat schreitenden Antisemitismus zu sich gefunden. In den Niederlanden hingegen hat die Bevölkerung einen Generalstreik zum Schutz der holländischen Juden organisiert und in Dänemark fanden groß angelegte Fluchthilfeaktionen statt. Auch wenn die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft und die Verlängerung eines wertverwertungsimmanenten antikapitalistischen Ressentiments zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, an einem zugleich abstrakten und biologisch konkretisierten inneren wie äußeren Feind, allen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften als Möglichkeit innewohnt – in Deutschland ist sie Realität geworden. Nationalismus bedeutet immer ideologische Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der deutsche Nationalismus, dessen ideologischer Gehalt sich heute nicht nur unter der Fahne der Bundesrepublik breit macht, impliziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: die in Auschwitz und anderswo praktizierte Übersetzung der irrationalen, nahezu pathologischen Rationalität fetischisierter kapitalistischer Warenproduktion und staatlicher Herrschaft in ebenso industriell wie handwerklich betriebenen und bürokratisch geplanten Massenmord, der Ausdruck des nicht verwirklichbaren Wunsches ist, die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses abzuschaffen, um das Kapitalverhältnis als solches zu retten. Bis auf den Beitrag Österreichische Normalität. Postfaschismus, Postnazismus und der Aufstieg der Freiheitlichen Partei Österreichs unter Jörg Haider handelt es sich bei den Aufsätzen um Referate, die auf dem Kongreß Vom Postfaschismus zum demokratischen Faschismus im April 2001 in Wien gehalten wurden. Der Kongreß wurde von der Basisgruppe Politikwissenschaft und jenem Teil des Kritischen Kreises organisiert, der sich mittlerweile Café Critique nennt. Bei der Konzeption des Kongresses wie auch des Buches ging es nicht darum, dem üblichen pluralistischen Meinungsaustausch ein weiteres Podium zu bieten. Das Anliegen war nicht, eine möglichst große Vielfalt von Standpunkten zu versammeln oder diverse mehr oder weniger interessante ›Ansätze‹ zu präsentieren, sondern Personen zu Wort kommen zu lassen, die in ihrer Kritik mit Begriffen wie Postfaschismus oder Postnazismus explizit oder implizit operieren und eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung dieser Kritik verfolgen. Dennoch entstammen die Autoren keineswegs einem einheitlichen Spektrum, was nicht zuletzt in den unterschiedlichen Akzentsetzungen der Beiträge zu merken ist. Bei den Beiträgen von Johannes Agnoli und Ulrich Enderwitz handelt es sich um die Originalreferate des Kongresses, wobei ersterer einen freien Vortrag gehalten hatte, der für diesen Sammelband transkribiert wurde. Die anderen Beiträge wurden mehrfach stark überarbeitet. Insbesonders nach dem dschihadistischen Massaker vom 11. September, der sich daran anschließenden kollektiven Regression der Linken und des drohenden globalen Siegeszuges der deutschen Ideologie und des deutschen Krisenlösungsmodells, erschien es den Autoren notwendig, umfangreiche Ergänzungen vorzunehmen. Es bleibt darauf hinzuweisen, daß schon auf Grund des eingeschränkten Autorenkreises selbstverständlich nicht alle Aspekte, die im Zusammenhang mit Postfaschismus und der Transformation der postnazistischen Demokratie von Interesse wären, thematisiert werden.1
Vorläufige Fassungen und Vorabdrucke einiger der in diesem Band zusammengefaßten Aufsätze sind in den Zeitschriften Alaska, Jungle World, Bahamas, Konkret, Streifzüge und Utopie Kreativ erschienen. Zu danken ist der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin sowie der Studienrichtungsvertretung Politikwissenschaft und der Fachschaft Informatik in Wien, ohne deren finanzielle Unterstützung das Erscheinen dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre.
[1] Zum Postfaschismus in der populären Kultur vgl. Georg Seeßlen (1994; 1996).
Rudolf Hickel und Wolf Gunter Brügmann untersuchten Ideologie und Praxis der Harzburger Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft
Jedes Jahr kommen rund dreißigtausend junge Angestellte, Beamte und Unternehmer nach Bad Harzburg, um sich dort auf Höheres vorbereiten zu lassen. Seit ihrer Gründung am 15. März 1956 haben über 250 000 Führungsanwärter die Akademie passiert – und es werden immer mehr: Zwischen 50 000 und 2 000 000 Mark geben westdeutsche Großbetriebe für die Schulung inzwischen schon aus.
Zu den Kunden der Akademie gehören unter anderen: AEG-Telefunken, Barmenia Versicherungen, Farbwerke Bayer, BMW, C & A, Continental, Deutsche Angestellten-Krankenkasse, ‚Grundig, Hoesch, Karstadt, Kaufhof, Mannesmann, Esso, Oetker, Opel, Phönix Rheinrohr, August Thyssen, VW. Auch die öffentliche Hand hat ein paar Finger drin: Es werden Seminare für Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung organisiert – mit Beamten der Berliner Kriminalpolizei, der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr und der Forstbehörden von Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel. Die Harzburger „Wirtschaftsakademie für Lehrer“ besorgt den Rest. Und wenn sich jemand auf Führer umschulen lassen will, finanziert das Arbeitsamt die Akademie mit.
Gründer, Leiter und Chefideologe der Akademie ist der Professor Dr. Reinhard Höhn, ein Mann, der das Führungsproblem von der Pieke auf studiert hat: Schon 1934 hatte Höhn als Spezialist für „Gegner-Ermittlung“ eine Schlüsselstellung in einer der wichtigsten Terrorzentralen der Nazis, dem SD-Hauptamt in Berlin. Die Protektion von Heydrich und Himmler verhalf ihm zum Aufstieg vom einfachen SS-Mann über den SS-Standartenführer (1939) zum SS-Oberführer (etwa Rang eines Obristen).
Auf Empfehlung Himmlers wurde für Höhn ein „Institut für Staatsforschung“ eingerichtet. Außerdem war Höhn als Leiter der Zentralabteilung 11/1 im SD tätig. Im SD-Hauptamt wechselte Höhn von der „Gegnerermittlung“ zur „Lebensbereichsarbeit“ über.
Fest steht, daß Prof. Dr. phil. Franz Alfred Six, im 3. Trimester 1971 Dozent für „Marketing“ an der Harzburger Akademie, als SS-Oberführer Experte für Judenfragen war und von 1936 bis 1941 als Chef der „Gegnerbekämpfung“ im SD-Hauptamt fungierte. 1948 wurde er wegen Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Fest steht auch, daß der derzeitige Pressechef der Harzburger Akademie, Dr. Roger Diener, der in der NS-Zeitschrift „Deutschen Reich“ die Parolen „Was der Führer spricht, ist Recht“ und Höhns Satz: „Unsichtbar steht hinter jedem Richterstuhl der Führer“ rechtfertigte, damals am Berliner „Institut für Staatsforschung“ unter Höhn beschäftigt war.
Wenige Tage nach der Ermordung Röhms haben Höhn und Diener in der Zeitschrift „Das Recht -Zentralorgan des Bundes nationalsozialistischer Juristen“ erklärt: „Faschistische Führung kennt keine Individuen, soziale Gruppen und Klassen mehr, es kennt nur die
Volksgemeinschaft.“ Und diese Gemeinschaft wollte Höhn so herstellen: Die „Praxis neuen Gemeinschaftslebens . . . rührt von dem großen Erleben des Krieges her und setzt sich fort im Arbeitsdienst, der SA, SS und anderen Gemeinschaftsbindungen, die wir in unserer Zeit stehen sehen.“ Durch Fettdruck die Bedeutsamkeit der Aussage unterstreichend, fuhr Höhn fort: „Die neue, auf Gemeinschaftsboden fußende Welt stürmte mit ihren Begriffen Gemeinschaft, Führer, Volk, Rasse gegen eine Welt an, die auf einem anderen Boden stand.“ Und weiter: „In einem SA-Sturm gibt es kein Problem der Rechtssicherheit des Einzelindividuums gegenüber dem Sturm. Jeder ist Glied dieser Gemeinschaft und als solcher Träger von Gemeinschaftsgeist.“
Zusammen mit dem SS-Obersturmführer Helmut Seydel verfaßte er eine „Festgabe“ an Heinrich Himmler, die diesem an seinem 40. Geburtstag am „5. Jahrestag der Übernahme der deutschen Polizei am 17. 1. 1941 überreicht“ wurde und den Titel trug: „Der Kampf um die Wiedergewinnung des deutschen Ostens, Erfahrungen der preußischen Ostsiedlung 1886 bis 1914.“
Zitat: „Die westlichen Ideen des liberalen Kapitalismus, der Überbewertung der Wirtschaft und des Finanzkapitals, der ungehemmten Freiheit der Person hatten zugleich mit dem System des demokratischen Parteienspiels von Führung und Volk Besitz ergriffen und hatten ihre Abwehrkraft gelähmt.“
Die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen und die teroristisch erzwungene Eingliederung der Arbeiter in das faschistische System rechtfertigt Höhn 1938 mit dem Hinweis: „Die neue deutsche Rechtslehre braucht nicht mehr vom Chaos und von Interessenkonflikten auszugehen, sie hat in der vom Führer geschaffenen Volksgemeinschaft . . . eine feste Grundlage . . . Deutlich tritt dies in der Bestimmung der Betriebgsgemeinschaft im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit hervor.“
Als der große Führer ausgeführt hatte, mußte Höhn „neue Kräfte“ der sozialen Integration aufspüren, denen er sein Modell nationaler Arbeit überstülpen konnte. Er entdeckte sie in einem sozialen Kontext, den der NS-Staat hinterlassen hatte. Denn der Nationalsozialismus, so fand Höhn, stellte „die Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen unter neue Vorzeichen, indem er das Führerprinzip und die Führer-Gefolgschaftsideologie auf den Betrieb übertrug und so den alten Gegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern zweifellos etwas überspielt und gemildert hat.“
In anderen Worten: Die Liquidierung der Organisation der Arbeiterbewegung in der faschistischen „Betriebsgemeinschaft“ wird zur Voraussetzung der Sozialpartnerschaft im Nachkriegsdeutschland.
Jedoch auch die Wiederaufbau-Nöte selbst erzwangen die nationale „Notgemeinschaft“: „die akute Notsituation zwang zu einer grundlegenden Änderung zwischenmenschlicher Beziehungen. Der Klassenkampfgedanke hatte jede Anziehungskraft verloren.“ Und: „innerhalb der Arbeiterschaft hatte sich im stillen eine Umwandlung vom klassenbewußten Proletarier zum industriellen Kleinbürger vollzogen, der persönlich an dem Gedeihen der Wirtschaft interessiert war. „Vernichtung Deutschlands, Verlust der Ostgebiete und Flüchtlingsschicksale“ hatten ebenfalls noch „das starre Denken der Gegensätzlichkeit von Besitzenden und Nichtbesitzenden ad absurdum geführt.“
Als sich’s der Dr. Reinhard Höhn so schön zurechtgelegt hatte, erkannte er, daß der ganze Gegensatz zwischen der Lebensbereichsarbeit im SD-Hauptamt und der Managerausbildung im Nachkriegsdeutschland eigentlich nur eine Sache der Wortwahl war. Den „Führer“ ersetzte er durch die „Unternehmensführung“, die Volksgemeinschaft durch den Betrieb – und fertig war der Grundriß des „Harzburger Modells“.
Das heißt, zuvor muß noch ein bißchen demokratisch abgeschmeckte Sauce drüber: Die Mitarbeiter werden nicht mehr durch Einzelaufträge geführt, sondern dürfen innerhalb ihres festumrissenen Bereichs (im Rahmen der Gesamtziele des Unternehmens) selbständig tätig werden. Die Vorgesetzten führen ihre Bereiche demnach nur noch durch Erfolgskontrolle und Dienstaufsicht. Der Mitarbeiter hat die Handlungsverantwortung, der Vorgesetzte die Führungsverantwortung.
Alle wichtigen Entscheidungen müssen freilich dem Reichsführer, d. h. der Unternehmensführung selbst vorbehalten bleiben, dürfen also keinesfalls delegiert werden. Dazu gehören:
„Die Entscheidung über die Gesamtzielsetzung des Unternehmens und ihre Anpassung an veränderte Situationen; die kurz-, mittel-, und langfristige Unternehmensplanung und die dementsprechende Strategie; die Festlegung der Organisationsstruktur des Unternehmens; die Bestimmung der Produktionspolitik; die Entscheidung über die Richtlinien für Forschungs- und Entwicklungspolitik; Marketingkonzeption; der Einkaufs- und Finanzpolitik, Personal- und Sozialpolitik und Organisation und Verwaltung; die Koordinierung der verschiedenen ihr unterstehenden Bereiche; die Auswahl der Mitarbeiter auf der nächsten betrieblichen Ebene bzw. in den der Unternehmensführung zugeordneten Stäben.“
Führung und Stäbe sind Höhns General-Thema. In seinen militärhistorischen Schriften, die Höhn vor allem zu „Schamhorsts Vermächtnis“ und in „Sozialismus und Heer“ (drei Bände) niedergelegt hat, hält der inzwischen wegen seiner Kritik am „Staatsbürger in Uniform“ aus der Bundeswehr ausgeschiedene Brigadegeneral Heinz Karst für so bedeutsam, daß die „deutsche Bundeswehr“, eine neue Armee in unserem freiheitlichen Rechtsstaat, die Arbeiten Höhns bald in ihre Bibliotheken eingestellt hat.“
In diesen Schriften rekonstruiert Höhn die Anwendung des Führerprinzips „Delegation von Verantwortung“ an der preußischen Armeereform: „Der Unterbefehlshaber wird von der Fessel der starren Befehlsform gelöst und ihm ein weiterer Bereich für seine eigene Entscheidung überlassen. Selbständig soll er im Rahmen der ihm gestellten Aufgabe die Mittel und Wege finden, die zum Ziel führen.“
Dieses Prinzip ist übertragbar und beliebt. Zum Beispiel beim Arbeitgeber-Sprecher Hanns Martin Schleyer: „Der Begriff Führung bringt ein in allen Gesellschaftssystemen der Vergangenheit und Gegenwart festzustellendes Baugesetz zum Ausdruck.“ Oder bei W. Schall, einem ehemaligen Harzburger und Generalstabsoffizier, jetzt Generalsekretär der CDU in Baden-Württemberg: „Die Menschen und ihr Verhalten sind in allen Bereichen vergleichbar. Sie zu führen verlangt Anwendung bestimmter Führungsprinzipien, ganz gleich, ob man Politik erfolgreich gestalten, Schlachten gewinnen oder ein leistungsfähiges Wirtschaftsunternehmen aufbauen und leiten will.
Das freilich wußte schon Karl Marx: „Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld.“
Die Absicht der preußischen Armeereform demonstriert Höhn anhand einer Schrift von E. Preuß über „Die höheren Aufgaben des jungen Offiziers für Armee und Volk“: Aufgabe der Armee sei es, aus „einem Rekruten, der durch Nahrungselend und Agitation gereizt und aufgestachelt ist, einen Soldaten zu machen, der auf dem Boden staatsbürgerlicher Gesinnung steht und jeden Augenblick bereit ist, für Kaiser und Reich sein Leben hinzugeben.“
Das genau ist der Kern des Harzburger Modells: Statt Befehl- und Gehorsam vertrauensvolle Führung. Oder, wie Höhn es 1942 in seinem Buch „Reich-Großraum-Macht“ beschrieben hat: „An diese Stelle des Staat-Untertanen-Verhältnisses und der parlamentarisch verfassungsrechtlichen Organisation der Staatsgewalt waren Führer und Volksgemeinschaft getreten . . .“Aus dieser Volksgemeinschaft entstand „ein neues politisches Weltbild, aufbauend auf den Grundgesetzen des Lebens, der Rasse, dem Boden und einer artmäßigen Führung und Gefolgschaft. Sie schuf ein dementsprechendes soziales Weltbild, aufbauend auf der Eingliederung des Arbeiters in die Leistungsgemeinschaft des ganzen Volkes.“
Wenn Höhn heute von der Integration der Arbeiterklasse in „unserer modernen Leistungsgesellschaft“ spricht, meint er im Grunde immer noch die „Eingliederung des Arbeiters in die Leistungsgemeinschaft des ganzen Volkes“. Nur traut er es heute – anders als vor 30 oder 40 Jahren – dem entwickelten Kapitalismus zu, Harmonisierungsstrategien und Formierungsmittel zu finden, um die Arbeiter ohne Terror einzugliedern.
Parteien und Gewerkschaften, die diese Eingliederung nicht wollen, stehen bei Höhn im Arsenal „ideologischer, doktrinärer Voreingenommenheit“, da sie ihren eigentlichen sozialen Integrationsbeitrag ,überziehen`.
Schon in der gar nicht revolutionären Forderung nach Teamarbeit vermutet Höhn einen die Hierarchie der Führung zerstörenden Sprengsatz, er ahnt „organisatorische Bilderstürmerei“: „Der Gedanke, die gesamte Hierarchie abzuschaffen und an ihre Stelle Teams zu setzen, die die jeweils notwendigen Entscheidungen treffen und andere mit der Durchsetzung zu beauftragen, ist völlig
sie ihren eigentlichen sozialen integrationsbeitrag ,überziehen`.
utopisch.“
Was 1965 der „Industriekurier“ in aller Deutlichkeit preisgegeben hat – „Eine Demokratisierung der Betriebe ist genauso unsinnig wie die Demokratisierung von Zuchthäusern, Schulen und Kasernen“ – drückt Höhn nur ein bißchen verhaltener aus: „Ein Unternehmen kann nicht nach demokratisch parlamentarischen Regeln geführt werden, darüber ist man sich seit langem im klaren.“
Verrottete Psychoanalyse. Psychoanalyse in Deutschland als Kunst und als Beutekunst.
Wie die postnazistische Psychokratie in Deutschland Freudsche Psychoanalyse gekapert und entmannt hat.
Psychoanalyse ist eine Kunst, zu erkennen und zu erklären, was Menschen wissen aber nicht wissen wollen. Dieses Erklären, dieses Klären nennt man Deutung. Dieses Nicht Wissen Wollen nennt man Verdrängung. Das Verdrängte nennt man das Unbewußte. Das Unbewußte zu erkennen und zu deuten ist die Aufgabe der Psychoanalyse. Der Vorgang geschieht als Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten. Das alle klingt sehr einfach, ist aber sehr kompliziert. Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freund begründet und entwickelt, sie wird Freudsche Psychoanalyse genannt. Sie vertritt die Vernunft und das unbedingte Wissen wollen.
Dieses Wissen wollen leitete mich in letzten Jahrzehnten mit Psychoanalytikern und Psychoanalytikern ins Gespräch zu kommen, über Psychoanalyse und Psychotherapie zu diskutieren und stellte zu meinem Erstaunen fest, daß diejenigen die angeblich Psychoanalyse vertreten wollen, alles tun um jegliche Diskussion, jegliche Erkenntnis zu verhindern. Ich fand niemanden, der daran interessiert wäre, über Psychoanalyse zu diskutieren. Es wird seit langem in der Psychoanalyse und Psychotherapie nur darüber breit gesprochen, was sowieso alle wissen und meinen zu wissen, daß an allem die Eltern schuld seien, oder der Kapitalismus oder Israel, usw. Es sind Platitüden und gesellschaftlich verbreitete Banalitäten, die in der Psychoanalyse und Psychotherapie breitgetreten werden. Es ist nicht nur so, daß Erkenntnisse nicht gefördert werden, sie werden verhindert, Menschen die Kontroverses zur herrschenden Meinung äußern, werden medial erledigt, diffamiert und aus psychoanalytischen und psychotherapeutischen Gruppierungen (Communities) ausgeschlossen.
Ich bin diesem Prozeß der Verdummung der Psychoanalyse und der Psychotherapie in Deutschland nachgegangen und fand Erstaunliches, wie immer wenn man Unbewußtes entdeckt.
Im ersten Teil meiner Arbeit über die Gekaperte Psychoanalyse zeige ich, wie die Psychoanalyse von der Deutschen Volksgemeinschaft zwischen 1933 und 1945 die jüdischen Psychoanalytiker physisch und psychisch ausgemerzt und wie die deutschen Psychoanalytiker und Psychotherapeuten die Psychoanalytische Kunst als Raubkunstin mumifizierten Rest als Totem und Tabu verwandelt, d.h. vernichtet haben. Das was sich seither Psychoanalyse nennt, war, ist und wird keine sein, wenn Psychoanalytiker nicht die Freudsche Psychoanalyse wiederentdecken, annehmen und weiterführen. Seit der Vernichtung von Freud, von Freudschen Psychoanalytikern, von Judentum in Deutschland, ist das was sich hier Psychoanalyse nennt, keine psychoanalytische Kunst sondern Kitsch als Sozialporno.
(Zurückgabe des Geraubten. Anm. JSB) einer kritischen Theorie, nämlich der Psychoanalyse.
Helmut Dahmer
Sehr geehrte Damen und Herren, Freundinnen und Freunde der kritischen Theorie,
ich bedanke mich für die Einladung, heute zu Ihnen sprechen zu können im Rahmen von einer von Berliner Studierenden organisierten Veranstaltung.
Dass Sie so zahlreich jetzt schon den zweiten Tag hier hergekommen sind, zeigt, dass es sich hier nicht nur um ein, was auch schon was wäre, universitäres Event handelt, sondern ich sehe darin eine politische Manifestation. Mein Thema ist heute das, was Max Horkheimer vor 80 Jahren als eine Hilfswissenschaft der Geschichte, also der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung bezeichnet hat. Er hat später freilich darin sehr viel mehr gesehen, sich aber, was vielleicht eben nicht so deutlich ist, Jahrzehnte lang immer wieder mit den Freud‘schen Schriften und Theoremen beschäftigt.
Die Freud’sche Psychoanalyse, um das vorweg zu nehmen, ist, was wenig bekannt ist und oft auch geleugnet wird, eine Schwester der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie.Beider Genealogien weisen zurück auf die von Schelling und Ludwig Feuerbach vorgetragene Kritik der Hegel’schen idealistischen Philosophie und beide sind Kritiken jener Institutionen, die unser Leben einschränken, statt es zu fördern. Seien dies Institutionen der persönlichen Lebens- und Seelengeschichte oder seien es Institutionen unserer Sozialgeschichte. Ich denke, wir brauchen die Marx’sche und die Freud’sche Kritik, um die Sphinxrätsel unserer Gegenwart, vor allem das Scheitern der Revolutionen, also das was Marcuse den psychischen Thermidor nannte, den fanatischen Nationalismus, den zur Xenophobie verallgemeinerten Antisemitismus, um diese Rätsel zu lösen und die Sphinx, die Menschenfresserin, die Ödipusmythos in den Abgrund zu stürzen. Ich habe als Titel gewählt: Restitution einer kritischen Theorie, nämlich der Psychoanalyse.
Wenn wir heute von Restitution sprechen, denken wir kaum zuerst an das vielleicht aus dem Schulunterricht bekannte Restitutionsedikt, mit dem Ferdinand II. während des 30-jährigen Religionskriegs versucht hat, die konfessionellen Machtverhältnisse entsprechend der 1629 bestehenden militärischen Situation im Deutschen Reich noch einmal entscheidend zugunsten des Katholizismus zu verschieben, nämlich vor allem durch die Rückgabe der von den Protestanten eingezogenen geistlichen Gütern. Uns kommt vielmehr zuerst die schmähliche und noch nicht abgeschlossene Geschichte der Verschleppung einer Rückgabe von Kunstwerken und anderem Beutegut in den Sinn, jüngst der Fall Gurlitt, über den Sie gelesen haben. Jenes Beutegut, das arische Holocaust Gewinnler von ihnen verfolgten Juden vor und während des zweiten Weltkriegs geraubt oder abgepresst haben. Gehen wir zurück auf die Geschichte der Psychoanalyse, weil auch sie das Schicksal jener Raubgüter geteilt hat, als 1933 findige Freudschüler, wie vor allem Carl Gustav Jung sich beeilten, das Instrument der Freud’schen Psychoanalyse umzuwidmen zur Unterstützung der rassistischen völkischen Erhebung.
„Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung verteidigt im Januar-Heft 1934 des in Berlin erscheinenden, gleichgeschalteten Zentralblatts für Psychotherapie sogar „das arische Unbewußte“ gegen „den Juden Freud“, der „die germanische Seele nicht kannte, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten“, und behauptet: „Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische.“[1b]
Gehen wir zurück auf die Anfänge des psychoanalytischen Unternehmens. Freud und sein etwas älterer Kollege Josef Breuer sprengten damals den Rahmen der naturwissenschaftlich-technischen Medizin ihrer Zeit, indem sie die befremdlichen hysterischen Phänomene, also die somatischen Leiden ohne organischen Befund, nicht als Simulationen abtaten, sondern ihre Patientinnen und die bedeutendsten waren Bertha Pappenheim und Anna von Lieben, die in den Hysteriestudien unter Pseudonymen beide erscheinen, Freud hat von ihnen stets hochachtungsvoll als von seinen eigentlichen Lehrmeisterinnen gesprochen und ebenso ihre männlichen Patienten, wie den Wolfsmann und viele andere, dass sie ihre Patienten/Klienten als Partner und Aus-kunftsgeber ernst nahmen und sich auf einen anamnestischen, einen erinnernden Dialog mit ihnen einließen.Freud ist darüber, wie vor allem seine Briefe an Wilhelm Fließ zeigen, von einem Objektwissenschaftler zu einem Subjektwissenschaftler geworden. Der Naturwissenschaft entwachsen, machte die Psychoanalyse als eine Kritik von Pseudonatur, also der zweiten Natur der lebens- und sozialgeschichtlich konstituierten Institutionen Furore. Man muss hier anmerken, dass Freud aus verschiedenen taktischen und strategischen Gründen darauf beharrt hat, auch und gerade das von ihm entwickelte neuartige Verfahren das Rätsel von Institutionen zu lösen, die die vergesellschafteten Individuen einschränken und niederhalten, statt ihre Potenziale zur Entfaltung zu bringen, auch dieses Rätsellösungsverfahren Psychoanalyse gehöre zur recht verstandenen Naturwissenschaft. Freud gebraucht hier den Begriff Naturwissenschaft nicht in dem längst eingeschränkten Sinn der sogenannten Helmholtzschule, eine Spielart von physiologischem Materialismus, sondern er schätzte über alles den Renaissance-Philosophen Francis Bacon, der 1620 ein neues Organon der Wissenschaften entwickelt hat, das charakteristischer Weise beginnt und das ist das, was aus dem Organon von Francis Bacon überlebt hat mit der sogenannten Idolenlehre, modern gesprochen der Ideologiekritik. Der Freud’sche Zusammenhang der Therapie, die darauf abzielt, Neurotiker wieder zu Autoren der eigenen Lebensgeschichte zu machen mit der in der Traumdeutung entwickelten neuartigen Psychologie des Unbewussten, der sogenannten Metapsychologie und der Zusammenhang mit der Suche nach einer Kultur, die keinen mehr erdrückt, wie Freud in einer grandiosen minimalistischen Formulierung schreibt. Dieser Zusammenhang zwischen Therapie, Psychologie des Unbewussten, Kulturkritik erschien den freudianisch orientierten Ärzten und Psychologen, die sich als Therapeuten in zunftmäßig organisierten Vereinen zusammenfanden, als bald wenig plausibel. Als bald heißt hier 1915/1925/1930. Vor allem das Junktim von Therapie und Kulturkritik, also das Verständnis der Therapie als einer praktischen Kulturkritik in der Mikrosituation der psychoanalytischen Kur galt Freuds Nachfolgern in der Ära der totalitären Bewegungen und Regime als ein politisches Risiko und wurde stillschweigend fallengelassen. Ideologen wie Carl Müller-Braunschweig beeilten sich 1933, um der Rettung, so schien es ihnen, der Psychoanalytikerorganisationwillen ihre therapeutische Technik in den Dienst der nationalsozialistischen Erhebung zu stellen.Vor dem kampflosen Sieg der Hitlerbewegung, der in den Folgejahren sowohl die psychoanalytische als auch die revolutionäre Arbeiterbewegung zum Stillstand brachte, hatten die Freudianer sich als eine liberale philanthropische sozialpädagogisch pazifistische therapeutisch aktive Interpretationsgemeinschaft verstanden und sich im Parteienspektrum am ehesten noch der reformistischen Mehrheit Sozialdemokratie oder manche von ihnen deren linkssozialistischer Opposition nahe gefühlt. Die kulturkritische Grundtendenz, der wissenschaftstheoretische Status und der politische Gehalt der Freud’schen Therapeutik wurden eben erst gegen Ende der Weimarer Republik zum Problem. Die Stilisierung zu einer Naturwissenschaft wie andere auch und die Reklamierung politischer Neutralität ging dann zu Lasten der sozialistischen Minderheit der psychoanalytischen Internationale. Fortan galt die, ich zitiere Ernest Jones, den Sekretär der internationalen psychoanalytischen Vereinigung aus dem Nachkriegskongress 1949: „Die soziologische Interpretation psychoanalytischer Befunde galt als Erzketzerei.“ Die politische Aktivität in linken Organisationen galt von da an für Psychoanalytiker als unstatthaft, weil sie den Bestand der psychoanalytischen Vereine gefährde. Nahmen nun freudianische Therapeuten den Antiautoritarismus der freien Assoziation oder des Abbaus des Überichs, wie Sándor Ferenczi das ausgedrückt hat, Freuds vielleicht bedeutendster Kollege, nahmen sie das ernst und wollten dem auch außerhalb der psychoanalytischen Kur Geltung verschaffen, wandten sie sich also gegen den politischen Status quo, dann drohten ihnen, wie Wilhelm Reich, Isolierung und Ausschuss. Kooperierten sie hingegen mit Instanzen des totalitären Staats und fanden sich bereit, ihr ärztliches Wissen zur Heilung von Funktionären, zur Bekämpfung von Regimegegnern oder gar Euthanasie zur Eliminierung von Missliebigen zur Verfügung zu stellen, dann verstanden sie sich als Spezialisten und glaubten, sie seien weder für die jeweiligen Zwecke, für die ihre Technik eingesetzt wurde, verantwortlich, noch für das humantechnische Rahmenprogramm des faschistischen Menschenfresserstaates. Die Auflösung des Zusammenhangs von Kulturreform, Metapsychologie und Therapie hatte die Isolierung der psychoanalytischen Technik und deren nachfolgende Indienstnahme auch durch den faschistischen Terrorstaat, dem Berliner Goering Institut, möglich gemacht.Im Zuge des Aufschwungs der arisierten Psychotherapien, im Plural, in den Vorkriegs- und Kriegsjahren wurde das, was Paul Parin die Medizinalisierung der Psychoanalyse genannt hat zum verschwiegenen Programm der Psychoanalytikermehrheit. Die Unwilligkeit und Unfähigkeit sowohl der in Deutschland Verbliebenen als auch der ins Ausland Geflohenen und der französischen und angelsächsischen Psychoanalytiker sich mit dem deutschen Behemoth, der sie zu verschlingen drohte, theoretisch auseinanderzusetzen. Das war die Folge der selbst auferlegten Neutralisierung der Psychoanalyse. Dies Schweigen, das bis 1940 angehalten hat, auch auf Seiten der Immigranten, den einen Reich ausgenommen, dies Schweigen war für die psychoanalytischen Therapeuten von Vorteil. Blieb der politische Kontext des therapeutischen Handelns außer Betracht, schien die Unschuld der beruflichen Praxis gewahrt und die, die sie ausübten, boten keinen Anlass für Kritik und Verfolgung.Die innerverbandliche Festschreibung der Notmaßregeln, also Stilisierung der Psychoanalyse zu einer Naturwissenschaft, für andere politische Neutralisierung um der Verfolgung auszuweichen, diese innerverbandliche Ad-hoc-Normen haben in der Folge zu einer Verbandsnorm mutiert, direkt und indirekt die Auswahl und Ausbildung der nachfolgenden Generationen von Psychoanalytikern bestimmt. So bildete sich der heute vorherrschende Typus des politisch Abstinenten, timiden (schüchternen, ängstlichen, zaghaften Anm.JSB) Psychoanalytikers heraus, der mit den bestehenden Verhältnissen seinen Frieden gemacht hat und brennenden Zeitfragen, so gut es immer geht, ausweicht.Heutzutage umfasst die freudianische Fraktion der Intelligenzija nicht mehr nur ein paar hundert Menschen, sondern ca. 12.000 Therapeuten, die freilich weltweit in den politischen Kämpfen unserer Zeit so gut wie nie ihre Stimme erheben.Sprechen wir von Restitution, dann ist Provenienzforschung das Mittel sie zu ermöglichen. Der Provenienzforschung, im Hinblick auf die Psychoanalyse, gilt Freud als ein nachhegelscher Philosoph, ein Erbe Ludwig Feuerbachs, der es sich zur Aufgabe machte, das Rätsel zu lösen, das obsolete Institutionen der Lebensgeschichte und der Kulturgeschichte uns aufgeben, ohne sich explizit darauf zu beziehen. Das hing zusammen mit seinen Philosophielehrern in Wien, das heißt vor allem Franz Brentano und was die antike Philosophie anging Theodor Gomperz, ohne sich also auf diese Vorläufer explizit zu beziehen. Er tat das sehr wohl manchmal, indem er das einfach umschrieb. Er sagt zum Beispiel zu Beginn der vielleicht politischsten Schrift von Freuds Zukunft einer Illusion von 1927, er wolle mit dieser Schrift seinen großen materialistischen Vorgängern nur ein wenig psychologisches Salz hinzufügen, gemein war Ludwig Feuerbach, sein Lieblingsphilosoph in seiner Jugend. Also Freud, ohne sich explizit auf diese Vorgänger zu beziehen, erneuerte das in Schellings und Feu-erbachs Hegelkritik ausgebildete Verfahren dialogischer Rekonstruktion der Entste-hungsgeschichte pseudonatürlicher, darum als niederdrückendes Schicksal erfahrener Institutionen, ein Verfahren, das das Auffinden des verborgenen Sinns im vermeintlich Unsinnigen ermöglichen soll. Dass es sich bei der Freud‘schen Traumdeutung wie bei der Marx‘schen Kritik der Mehrwerttheorien und bei Nietzsches Genealogie der Moral um drei miteinander verwandte Versionen von nachmetaphysischen Sozialphilosophie handelt, blieb Freudianern wie Marxisten freilich die längste Zeit verborgen. Die von dem Ökonomen Fritz Sternberg, einem Schüler Luxemburgs, 1932 aufgeworfene Frage, warum die Psychoanalyse denn gerade am Ausgang des 19. Jahrhunderts, also nicht früher oder später erfunden wurde, macht auf deren historisch-spezifischen Charakter aufmerksam. Freuds Theorie beschreibt die Psychologie bürgerlicher Subjekte im Augenblick ihrer Krise. Im Maße, wie sich die Gesellschaft der kleinen und mittleren Selbständigen in eine Gesellschaft verwandelte, in der kleinen Gruppen von Kapitalmagnaten zahllose abhängig Beschäftigte und Almosenempfänger gegenüberstehen, die 99 Prozent, wie wir heute sagen, in dieser Situation wurde das Ideal autonomer Lebensführung zu einer Überforderung und
dies Unbehagen an der Kultur machte sich in Gestalt zuvor unbekannter sozialer Leiden (Ferenczi) geltend. Freuds privilegierte Patienten suchten ihr Heil in Neurosen, die Freud auch kurzerhand als Privatreligionen bezeichnete, , während gleichzeitig depossedierte (aus dem Besitz vertriebene, enteignete entthronte Anm.JSB) und von Verelendung bedrohte Mehrheiten sich nur allzu gern, wir haben das heute Morgen gehört, der Einbindung in Massen überließen, falschen Propheten Gefolgschaft leisteten und deren politischen Heilsversprechen Glauben schenkten.
Im Anschluss an Gustav Theodor Fechner und eines Sinnes mit der hedonistischen Anthropologie der Aufklärungsphilosophen von Helvétius bis Nietzsche verstand Freud den Menschen als einen unermüdlichen Lustsucher. Das ist die einzige anthropologische Bestimmung, die sich in seinem Oevre finden lässt und er behauptet dort übrigens auch, das ist in dem Buch über den Witz, er habe dies bei einem Autor, der ihm leider entfallen sei, gefunden. Er war sehr vorsichtig in dieser Frage. Infolge der wechselseitigen Abschottung der arbeitsteilig spezialisierten Sozialwissenschaften haben weder Freud selbst noch seine Leser bemerkt, dass die in der Metapsychologie der einzig bewussten, weil sprachmächtigen Ich-Instanz im ansonsten bewusstlos arbeitenden Reizbewältigungsapparat, wie Freud unfreundlicher Weise die Seele nannte, also dass die in der Metapsychologie dem Ich zugeschriebenen Aufgaben denjenigen gleichen, die die Wirtschaftssubjekte der zeitgenössischen Grenznutzentheorie, unter anderem einer anderen Wiener Schule, wenn ich an Menger und andere Ökonomen der Zeit denke, also das, was Freud als Funktion der Ich-Instanz beschreibt, gleicht aufs Haar dem, was die Grenznutzenschule der Ich-Instanz der Wirtschaftssubjekte gleichzeitig zugeschrieben hat, sofern sie nämlich unter Konkurrenzbedingungen überleben wollen.
Die Gewinn- und Verlustrechnung wirtschaftlicher Akteure ist bekanntlich an Markt-chancen orientiert, also wesentlich reaktiv. Dem entspricht die Rolle des Ichs in der von Freud geschilderten psychischen Ökonomie der Subjekte. Als ein Clown, der Autonomie fingiert, indem er vorgibt, alles, was ihm in der Manege zustößt, sei von ihm selbst veranstaltet, denken Sie an die Chaplinfilme, vor allem Circus oder auch Goldrausch, als ein solcher Clown, der Autonomie nur mehr fingiert, muss das Ich sich mit lauter geliehenen Energien gegenüber den beiden einander widerstreitenden, untergründig liierten, blinden Mächten im Seelenhaus, Es und Über-Ich, behaupten. Es muss prekäre Kompromisslösungen finden, um unter Berücksichtigung der nur von ihm wie immer unzureichend erfahrenen extrapsychi-schen Realität die Selbsterhaltung des Organismus zuwege zu bringen. Soweit das sogenannte Freud’sche Strukturmodell. Ich fahre ein bisschen damit fort, um dessen innere Widersprüchlichkeit oder wenn sie wollen Dialektik ein Stück weit zu entfalten. Das Ich ist der intrapsychische Repräsentant der sogenannten Außenwelt bei Freud. Das aber ist die außermenschliche Erste wie die kulturelle zweite Natur, die uns vor eben der ersten schützt. Das Ich ist Freud zufolge ein Diener zweier Herren, ein Organ sowohl der Erfahrung als auch deren Zensur. Soll es die Außenwelt in der Binnenwelt der Psyche vorstellen, muss es sich ihr assimilieren. Auf der Rindenschicht des Es als ein Organ zur Bewältigung innerer und äußerer Reize entstanden, soll es Lust suchen und Unlust vermeiden. Dem stellen sich in der Welt der harten Notwendigkeit, Freud liebte den Ausdruck Ananke, den griechischen dafür, dem stellen sich die Ananke-Welt der ersten ebenso wie die Zwänge der zweiten Natur entgegen. Sich, das Ich, gegen sich selbst wendend, mutiert vom Lust- zum Real-Ich und schließlich gar zum Ideal-Ich. Lässt nun sich das Prinzip, das Freud von Fechner übernommen hatte, der Lustsuche und Unlustvermeidung in Freuds Seelenmodell zunächst als ein rein intrapsychisches Regulationsprinzip verstehen, so befähigt dessen notgeborene Modifikation, das Realitäts-Prinzip, das Ich zum lebenserhaltenden Befriedigungsaufschub und zur befristeten Unlust-Toleranz. Lust- und Realitäts-Prinzip sind in Freuds Metapsychologie als abstrakte Funktions- und Handlungs-Prinzipien angesetzt, deren Geschichte zunächst ganz außer Betracht bleibt. Nun sind aber die Sensationen Lust und Unlust, wie Nietzsche wusste, nicht Letztgegebenheiten, sondern verkappte Urteile und sie setzen einander voraus, denn was den Teilhabern der einen Kultur als Lust gilt, mag in einer anderen als Unlust erlebt werden, und was wir als Unlust vermeiden, ist oft nur die uns vergällte Lust der Kin-dertage oder der Vorfahren, der wir insgeheim nachtrauern. Schließlich kann, wie Sie alle wissen, was heute noch als Lustbarkeit gilt, uns vielleicht morgen schon beschämen oder anwidern. Für die menschliche Lust gilt, wie für die Witzlust, dass sie dem Verstoß gegen ein Tabu entspringt. Die kürzeste Formel für diesen Gedanken aus der Dialektik der Aufklärung keine Lust ohne Verbot.
Vermöge des Realitätsprinzips, dass sie sich zu eigen macht, partizipiert die ansonsten als monadisch geschlossen vorgestellte Seele an der außermenschlichen Natur und an der Gesellschaft, der sie ihre Existenz verdankt. Die Ich-Instanz besorgt die stets prekäre Anpassung der vereinzelten Einzelnen ihrer Bedürfnisse und Wünsche, an die Realität der historisch variablen gesellschaftlichen Lebenswelt, also ihre Eingliederung in die Arbeits- und Herrschaftsverhältnisse ihrer Zeit. Die gesellschaftliche Realität ist aber das vorläufige Resultat der vergangenen Kulturgeschichte, und die Interpretation, die das Ich den Triebwünschen und den Geboten des Gewissens gibt, entnimmt es der Tradition. Darum tendiert die Freud‘sche Theorie, die zunächst nur als eine Spielart des biologischen Materialismus auftrat, zum Historischen. Die psychoanalytische Therapie soll Patienten dazu verhelfen, sich ihre verhohlene Lebensgeschichte wieder anzueignen, um deren Relikte, neurotische Reaktionsmuster, dechiffrieren und dann revidieren zu können. Der Therapeut verpflichtet seine Patienten zu Beginn der Behandlung auf die sogenannte psychoanalytische Grundregel, sich selbst und dem Analytiker zuliebe alles frei herauszusagen, was ihnen eben einfällt. Er verspricht ihnen, das Gehörte für sich zu behalten und animiert sie, ihre Selbstzensur, die allem Unschicklichem den Eingang in Gespräch und auch ins Selbstgespräch verwehrt, zu lockern. Ihre Chance ist es, sich im Schutzraum der Kur Freiheiten herauszunehmen, die im sozialen Milieu der Ärzte und Patienten noch verpönt sind und sanktioniert werden. Der Therapeut, ihr Komplize, re-präsentiert seinen Klienten eine virtuelle, tolerantere Öffentlichkeit, wie es sie in der Gesellschaft, in die seine Praxis eingebettet ist, noch nicht gibt. Die Therapie soll, so Freud, das Besondere Elend des Neurotikers auf das allgemeine Elend seiner Zeit-genossen reduzieren, die selbst widerstrebende Träger einer Kultur sind, die diesen Namen noch kaum verdient.
Und nun erzähle ich in Kurzfassung mit Freud-Zitaten Ihnen einen hochinteressante Parade, die er selbst gegen Ende seines Lebens schon im Londoner Exil geschrieben hat. Sie finden das im sogenannten Abriss der Psychoanalyse in der großen Werkausgabe im Band 17. „Der analytische Arzt und das geschwächte Ich des Kranken (Freud) sollen, an die reale Außenwelt angelehnt, eine Partei bilden gegen die Feinde, die Triebansprüche des Es und die Gewissensansprüche des Überichs.“ Diese Partei kämpft zum einen gegen die luxurierenden Triebwünsche, die sich über Selbsterhaltungsinteressen hinwegsetzen. Zum andern versucht sie, das Über-Ich, also den intrapsychischen Agenten gesellschaftlicher Gewalt, zu schwächen. An der realen Außenwelt aber soll das therapeutische Duo Halt finden wie zwei Fechter, die ihre Gegner ins Auge fassen und sich an eine Wand lehnen, die ihnen den Rücken freihält. Freuds Gleichnis vereinfacht offensichtlich die Situation der therapeutischen Partei. Zudem bleibt darin eine Alternative außer Betracht: Könnte doch das Ich, die Schwächung des Über-Ichs ausnutzend, nicht nur Halt an der äußeren, gesellschaftlichen Realität suchen, sondern im Hinblick auf deren Variabilität sein
Verhältnis zu den – in der Parabel schlicht als Feind figurierenden – Triebwünschen revidieren. Es ist, als habe Freud hier für einen Augenblick seine kritische Theorie der kulturellen Entwicklung, also die Genealogie der modernen Seele außer Acht gelassen. Was als reale Außenwelt firmiert und im therapeutischen Kampf Halt geben soll, ist zum einen die durch Jahrtausende gesellschaftlicher Arbeit zu einem Habitat umgestaltete außermenschliche Natur, zum andern aber das Ensemble kultureller Institutionen, die das sozialisatorisch und technisch erreichte Niveau der Distanzierung von der vorgefundenen Natur, unserer eigenen, sichern, also gleichermaßen der Natur- und der Menschenbeherrschung dienen. Das Über-Ich ist der intrapsychische Anwalt (Staatsanwalt. Anm. JSB) dieser realen Außenwelt der Institutionen, das Über-Ich ein Satrap, der die Individuen durch Entbindung von Gewissensangst zum Gehorsam gegenüber den Normen der naturbeherrschenden Kultur zwingt und diese Kultur ist selbst, sagen Engels wie Nietzsche wie Freud, selbst von Natur durchherrscht. Dem Despotismus des Über-Ichs, das seine Energie aus dem Reservoir des Es schöpft, sagt die therapeutische Partei, wir hörten das, den Kampf an. . Will sie die introspektive Blindheit und die ihr korrespondierende loyale Denkhemmung (Freud) aufheben, die Diktatur des inneren Tyrannen mäßigen oder mit Ferenczi stürzen, dann muss sie eine dritte Front eröffnen. Denn die Kritik des Über-Ichs ist identisch mit der Kritik des normativen Überbaus der realen Außenwelt, mit der Kritik der Tradition, die die Gegenwart an die Vergangenheit bindet, sie dem Wiederholungszwang unterwirft. Kurz gesagt:
: Die Kritik des Über-Ichs ist die Kritik der bestehenden Kultur und ihrer Vorläufer.Von dieser Kultur, auf die sich, Freuds Parabel zufolge, Seelenarzt und Patient stützen sollen, sagt er andernorts, dass sie, ich zitiere ihn „die eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und sie zur Auflehnung treibt, dass eine solche Kultur weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient“. Soweit Freud.
Der Kampf der therapeutischen Partei gegen das besondere Elend ist potentiell ein Kampf gegen das Allgemeine, das im Patienten sich besondert. Der historische Pro-zess der Selbst-Kultivierung der Menschengattung ist, Freud zufolge, in der Ge-genwart in eine Krise geraten: Die aktuelle gesellschaftliche Form, so seine Ar-gumentation, in der dieser Prozess sich abspielt, überfordert die Menschen, da das Leben der privilegierten Minderheiten und das der zu Dürftigkeit und Unwissenheit verdammten Mehrheiten unterschiedlicher nicht sein könnte. Dadurch, sagt Freud, kommt es zur Triebentmischung, nämlich zur Freisetzung ungeheurer Quanten, nicht beherrschbarer destruktiver Energien, die, so Freud, das Ausgangsmaterial, das energetische Material für immer neue Massaker und Kriege ermöglichen und schließlich ein jähes Ende der Menschheitsgeschichte herbeiführen können. Freuds Therapeutik war darauf gerichtet, durch die Kritik obsoleter Institutionen deren Abschaffung vorzubereiten. Wir haben das gerade gehört, noch es verdient, sagt er. Das betraf vor allem die Religionen, die die gesellschaftliche Ungleichheit ebenso wie die leibfeindliche Sexualmoral nicht nur rechtfertigen, sondern heiligen und die den Hass der Gläubigen auf Anders- und Ungläubige lenken.Wolle man, ich fasse ihn nur zusammen, wolle man der Schrecken unserer zweiten Natur, also der man-made-disasters, Herr werden, müsse man mit dem Verzicht auf eine religiöse Fundierung der Sozialmoral beginnen.Freud hoffte, eine irreligiös erzogene, künftige Generation werde imstande sein, das tradierte Sittengesetz in Frage zu stellen, neuartige, jedermann einleuchtende soziale Regeln auszuhandeln und zu befolgen, ohne sich angstvoll an die Illusion zu klammern, diese neuen, frei paktierten und revidierbaren Sozialnormen stünden im Einklang mit den Geboten eines machtvollen, außerweltlichen Gottes. Freie Assoziation ist das Schibboleth der Psychoanalytiker und es ist von nicht geringem Interesse, dass Karl Marx denselben Terminus zur Bezeichnung einer künftigen Gesellschaft jenseits der Klassenteilungen wählte, eines Vereins freier Menschen. Freud war darauf bedacht, sein Phalanstère, so hießen die Mustersiedlungen, die sich der ingeniöse Frühsozialist Charles Fourier ausgedacht hat, Freud also war darauf bedacht, sein Phalanstère das kleine Utopia der Kur, in dem Patient und Therapeut sich mehr Gefühls- und Gedankenfreiheit herausnehmen, als in ihrem sozialen Milieu normalerweise gestattet ist, dieses Utopia im Rahmen der herrschenden Verkehrsformen zu halten. Die Entwirrung verworrener Lebensgeschichten, das Hervorlocken freier Einfälle und deren Deutung, also die therapeutische Anleitung zur Selbstreflexion wird von ihm (Freud) als eine Dienstleistung definiert, die, wie andere Waren, zwecks Gelderwerbs auf dem Markt angeboten wird und deren Tauschwert sich nach dem Quantum Zeit bestimmt, das zu ihrer Reproduktion erforderlich ist. „Wichtige Punkte zu Beginn der analytischen Kur (Freud) sind die Bestimmungen über Zeit und Geld. In betreff der Zeit befolge ich ausschließlich das Prinzip des Vermietens einer bestimmten Stunde.
Jeder Patient erhält eine gewisse Stunde meines verfügbaren Arbeitstages zugewiesen; sie ist die seine und er bleibt für sie haftbar, auch wenn er sie nicht benützt.“ Freud 1913 zur Einleitung der Behandlung.
Gelingt es, die Produktion von Einfällen und den Dialog zwischen Kunde und Fachmann der verinnerlichten sozialen Zensur beider zu entziehen, dann wird in der Tat die Therapie zur Antizipation freierer Lebensverhältnisse. Ob sich das Quäntchen Freiheit, das Therapeut und Klient um der Therapiewillen sich herausnehmen, dann auch extra muros (in der Öffentlichkeit Anm. JSB) in beider Alltagsleben bewährt, steht freilich dahin. Es hängt zum wenigsten von den Wünschen der therapeutischen Partei ab, mehr schon von ihrer Zivilcourage, vor allem aber von den Verhältnissen, in die sie eingespannt ist. Die Psychoanalyse ist keine Heilslehre, sondern eine Anleitung zur Selbst- und Kulturerkenntnis.Die dialogisch beförderte Kritik am Über-Ich, dem Hüter der seelischen und der sozialen Blindheit, mindert den Verdrängungsaufwand und ermöglicht im Prinzip eine freiere Kommunikation zwischen Ich und Es.Ob die Neurosen-Kritik in Kulturkritik übergeht, ob also die therapeutische Partei also eine dritte Front eröffnet, hängt nicht von der analytischen Technik ab, sondern von den politisch-sozialen Verhältnissen, unter denen sie jeweils praktiziert wird. Die Bedingung der Möglichkeit, sich in der Kur über die Konventionen von Zeit und Milieu hinwegzusetzen, besteht darin, dass in der Gesellschaft, der Arzt und Patient angehören, oppositionelle Strömungen und widerständlerische Gruppierungen aufkommen, die darauf hinarbeiten, den realen Status quo, die ungleiche Verteilung von Lasten und Lüsten, um das locker zu formulieren, zu verändern. In Freuds Lebenszeit bestand eine solche innergesellschaftliche Opposition in Gestalt der europäischen sozialistischen Arbeitermassenbewegung und der libertären Intelligenzija. Wie Sie wissen, ist die Arbeiterbewegung seither infolge einer langen Reihe furchtbarer Niederlagen mehr oder weniger zum Stillstand gekommen und die enttäuschte und eingeschüchterte Intelligenzija meidet das politische Engagement. Diese Schwächung der innergesellschaftlichen Opposition hat auch die Praxis und das Selbstverständnis der freudianischen Therapeuten verändert. Die Kritik der bestehenden Kultur erschien ihnen Jahrzehnt um Jahrzehnt mehr als eine nur mögliche und höchstproblematische, ja auch riskante Anwendung der Therapie.An die Stelle des von Ferenczi formulierten Behandlungsziels der Befreiung, wie er schrieb, von unnötigem inneren Zwang, die den Wunsch weckt, sich auch von unnötig gewordenem äußerem Zwang zu befreien, an deren Stelle trat das Ersatzziel, natürlich vor allem im Rahmen der sogenannten deutschen Seelenheilkunde nach 1933, das Ersatzziel also den Patienten aus der Verstrickung in seine Neurose zu lösen, um ihn für den Kampf aller gegen alle in der Arena des Finanzkapitals wieder fit zu machen. Tüchtigkeit rückte an die Stelle von Mündigkeit und die Alloplastik, wie Ferenczi das genannt hat, ohne die bloße Autoplastik Selbstveränderung nicht bestehen kann, geriet in Vergessenheit.
Diese Zweck-Mittel-Verkehrung führte zum Verfall der Freud‘schen Aufklärung.Sie erlaubte es der großen Mehrheit der organisierten Psychoanalytiker, mit der bestehenden Kultur der Ungleichheit, des Aberglaubens und der Massaker ihren faulen Frieden zu machen.Übersehen wurde, dass zwischen Mitteln und Zielen eine Wechselwirkung besteht: Die Wahl der Mittel impliziert immer eine Vorentscheidung über die damit überhaupt erreichbaren Ziele und die Verwirklichung bestimmter Ziele schließt die Verwendung bestimmter Mittel entweder aus oder erzwingt deren gründliche Modifikation.Dies vorausgeschickt, wundert es nicht, dass es in der Ära des triumphierenden Faschismus nicht nur Psychoanalytiker im geheimen und offenen Widerstand, in Konzentrationslagern und im Exil gab, sondern auch solche, die im Braunhemd auftraten, als Euthanasie-Gutachter über Leben und Tod von psychisch Kranken und Behinderten entschieden und sich wenig irritiert zeigten, wenn Kollegen und Kolleginnen fliehen mussten, deportiert oder hingerichtet wurden.
In der Geschichte der Psychoanalyse, das versuchte ich zu skizzieren, ist die Therapie aus der sie begründenden Theorie herausgeschält und ihr gegenüber verselbständigt worden.Die eine ist den Ärzten zugefallen, die andere den Laienanalytikern, Sozialphilosophen und Gedächtnishistorikern. Die neuzeitliche, von kirchlicher Bevormundung emanzipierte Naturwissenschaft hat die Voraussetzungen für die vom Kapital-Verwertungsinteresse angetriebene, permanente technische Transformation der außermenschlichen Natur geschaffen, der technische Eingriffe in die menschliche Natur und deren Habitat korrespondieren, deren Folgen für die Lebenden kaum absehbar sind. Der technische Wandel ist so beeindruckend, dass darüber andere Weisen der Selbst- und Weltveränderung in Vergessenheit geraten sind. Als Wissenschaft schlechtweg gilt zunächst einzig diejenige, die einer Steigerung der technischen Naturbeherrschung zugutekommt. Neben dieser Objektwissenschaft wird allenfalls noch die Relevanz einer anderen, der Geisteswissenschaft, zugestanden, die es mit der Auslegung der überlieferten Welt- und Menschenbilder, also mit Kulturobjektivationen zu tun hat, die in ihrer Bedeutung von jeder Generation neuerlich erschlossen werden müssen. Welche Richtung aber
der technische Fortschritt einschlägt, welche kulturellen Traditionen aktualisiert und welche vergessen werden, das hängt von den Institutionen ab, in deren Rahmen die gesellschaftliche Entwicklung, mit Freud zu reden: der Kulturprozess, verläuft. Diese Institutionen (die Formen des Eigentums und der Arbeit, des Staats, des Rechts, der Moral, die Klassen- und Schichtstruktur begünstigen bestimmte Entwicklungen und blockieren andere. Institutionen können veralten und wünschbare Neuerungen blockieren. In diesem Fall werden nicht nur die obsolet gewordenen, sondern die Institutionen überhaupt zum Problem. Auf der Suche nach einem Ausweg aus einer Sackgasse der Entwicklung bildet sich eine neuartige Theorie der Entstehung, der Modifikation und der Überwindung von Institutionen heraus. Karl Marx und Sigmund Freud können als die Begründer dieser dritten Art von Wissenschaft gelten, die sich mit Institutionen der Seele und der Sozietät befasst, die den vergesellschafteten Individuen als natürliche erscheinen und sich dadurch gegen Veränderung immunisieren. Die Kritik solcher pseudonatürlichen Produktionen zielt darauf ab, sie durch Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte, denken Sie an Marx‘ Theorie der Gesellschaftsformationen, die dem Kapitalismus vorangehen, sie also durch solche Rekonstruktionen zu defetischisieren, um sie reformieren oder
auflösen zu können. Die Institutionenkritik ist also die Wissenschaft von den Subjekten der Lebens- und Sozialgeschichte. Sie verfährt, in äußerster Kürze formuliert, so dass sie, wo das Verstehen versagt, provisorisch auf Erklärungen zurückgreift, die sich daran bewähren, dass die davon betroffenen Subjekte sie adoptieren
können, also die Erklärung ihres Verhaltens ihrem Selbstverständnis integrieren und damit die Erklärung als Erklärung gegenstandslos machen. Sucht man nach einer prägnanten Charakteristik des Freud‘schen Projekts, findet sich keine bessere als diejenige, die Adorno für das Marx‘sche reklamierte: Anamnesis der Genese.
Erinnerung der Entstehungsbedingungen der gegenwärtigen Situation.
Freud wollte die Psychoanalyse einem Stand übergeben, schreibt er, den es noch nicht gibt, nämlich weltlichen Seelsorgern, die, wie er schrieb, Ärzte nicht sein müssen und Priester nicht sein dürfen. Sie ist aber zunftmäßig organisierten Therapeuten mit naturwissenschaftlicher, nämlich medizinischer oder psychologischer Ausbildung in die Hände gefallen, die sich seit Jahrzehnten gegenüber den Laienanalytikern oder auch wilden Analytikern genannten abschotten und Dissidenten ausschließen. Denken Sie an Lacan und viele andere. In Wahrheit gehört die Psychoanalyse allen, die, wie Freud, an einer Kultur interessiert sind, die keinen mehr erdrückt, allen, die Freud lesen und dabei unversehens in eine Selbstanalyse hineingeraten, also beginnen, die Rätsel ihrer Lebensgeschichte und der sie beherrschenden Institutionen zu lösen.
Ich komme zum Schluss. Hinter uns liegt ein barbarisches Jahrhundert voll der entsetzlichsten Verbrechen, für die niemand verantwortlich sein wollte. Den Weg zu einer freien Assoziation, in der, wie die alte Formulierung heißt, die weiß Gott unabgegolten ist, in der also die demokratische Verwaltung von Sachen an die Stelle der Herrschaft über Menschen getreten ist, den Weg dorthin, sperren monströse Sphingen, deren Rätsel wir noch immer nicht gelöst haben. Die Geschichte der Psychoanalyse war bisher vor allem eine Geschichte der Verkennung, Verfemung und Selbsteinschränkung.Darum ist es an der Zeit, denke ich, sich der eigentlichen Intention der psychoanalytischen Aufklärung zu erinnern, eben obsolet gewordenen Institutionen der Lebens- und Kulturgeschichte ihren Naturschein abzustreifen, um ihre Revision zu ermöglichen. Ich bedanke mich.
Helmut Dahmer
Helmut Dahmer, Prof. Dr., studierte Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft an den Universitäten Bonn, Göttingen und Frankfurt am Main. 1968-1992 redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er dem Gründungsbeirat des „Hamburger Instituts für Sozialforschung“ 1974-2002 lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Gegenwärtig lebt er als freier Publizist in Wien.
EINE AUFSCHLUSSREICHE EPISODE IN DER GESCHICHTE DER NACHKRIEGS-PSYCHOANALYSE
HELMUT DAHMER (WIEN)
„Die Psychoanalyse überlebte, aber in völlig veränderter Gestalt. (Als kranker Mutant, als Zombie, als Mumie? Anm.JSB)
(Eli Zaretsky)
Die Jahre 1933-1945 bilden die unheilvollste Phase der Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Andreas Peglau hat sie in seinem Buch „Unpolitische Wissenschaft?“ (2013) am gründlichsten „aufgearbeitet“. Der gescheiterte Versuch derjenigen Freudianer, die in den dreißiger Jahren nicht — wie ihre jüdischen und antifaschistischen Kolleginnen und Kollegen — aus Hitlers Machtbereich fliehen mussten, durch Mimikry zu überdauern, hat nicht nur die Kriegsgeneration gezeichnet, sondern auch die von ihr ausgebildete Nachkriegsgeneration (west-)deutscher Psychoanalytiker. Mit diesen politisch gebrannten Kindern stieß ich zusammen, als ich vor drei Jahrzehnten (angeregt durch G. C. Cocks und einige andere) versuchte, Licht in das Dunkel zu bringen, das die Vorgeschichte der in der „Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft“ (DPG) und in der „Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung“ (DPV) organisierten Freudianer im „Dritten Reich“ verbarg. Alexander Mitscherlich hatte mir 1968 die Redaktion seiner psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche anvertraut, deren Ausgestaltung zu einem Forum für Psychoanalytiker und Intellektuelle, die sich für die Freudsche Theorie (samt ihren Derivaten) interessieren, mir am Herzen lag.2 Die Geschichte der psychoanalytischen Organisationen und Theorien war in den frühen achtziger Jahren noch nicht en vogue. Umso mehr interessierte unsere Redaktion das 1975 erschienene Buch des amerikanisch. Historikers Geoffrey C. Cocks, Psyche and Swastika, in dem erstmals das Schicksal der in Deutschland verbliebenen Psychoanalytiker in den Jahren 1933-1945 geschildert wurde. Ein diesem Thema gewidmetes Themenheft der Psyche erschien in November 1982, ohne dass das besondere Aufmerksamkeit erregt zu haben schien. Anders verhielt es sich, als wir ein Jahr später das Thema neuerlich aufgriffen. Im Zusammenhang meiner Recherchen zu Wilhelm Reich war ich schon ein Jahrzehnt zuvor auf einen Artikel v. C. Müller-Braunschweig[i] aufmerksam geworden (vgl. Dahmer 1973 [20133, S. 480 und 538), den dieser im Oktober 1933 in der faschistisch. Zeitschrift Reichswart unter dem Titel Psychoanalyse und Weltanschauung veröffentlicht hatte (vgl. C. Braunschweig, 1933). Es handelte sich dabei um den (zum Scheitern verurteilten) Versuch, sich bei den neuen Herren Deutschlands in der Hoffnung anzubiedern, auf diese Weise ein Verbot der Psychoanalyse (und somit den Verlust ihrer Pfründe. Anm.JSB) zu vermeiden. Ich dokumentierte den Artikel aus dem Jahr 1933 in dem im Dezember 1983 erschienenen Themenheft Psychoanalyse unter Hitler und schrieb einen ausführlichen Kommentar dazu (vgl. C. Müller-Braunschweig, 1983; Dahmer, 19831), in dem ich die beunruhigende Frage nach den Voraussetzung aufwarf, die es einem der damals „führenden“ deutschen Freudianer ermöglicht hatten, den Nazis die Psychoanalyse als eine Art „Stahlbad“ zu empfehlen, das für die Akteure der „nationalen Erhebung“ (und Kämpfer in künftigen Stahlgewittern) von Nutzen sein könne. Meine Antwort: Orientiert an der damals vorherrschenden Ideologie akademischer Mandarine, der neukantianischen Wissenschaftslehre, hatten einige psychoanalytische Theoretiker in den zwanziger Jahren die Psychoanalyse mehr oder weniger auf eine „Technik“ reduziert, was implizierte, man könne sie fürr ganz unterschiedliche, von außen vorgegebene Ziele einsetzen, über die sie, als „Wissenschaft“, weder befinden könne noch solle. Diese ideologische Weichenstellung — der Verzicht auf die kritische Befragung der in Staat und Gesellschaft jeweils vorherrschenden „Werte“ — ermöglichte (unter anderem) Kniefälle wie den von C. Müller-Braunschweig vor den Nazis und ihrer „Weltanschauung“ (vgl. Dahmer, 1983a). Müller-Braunschweig (der ein Jahr später dann auch selbst Vorstandsmitglied der DPG wurde) hatte im Sommer 1933 auf Bitten von Felix Boehm — dem (von Freud selbst) designiert. „arischen“ Vorsitzend. der DPG — ein „Memorandum“ formuliert, in dem er zu zeigen versuchte, dass die Psychoanalyse und die NS-Ideologie durchaus kompatibel seien. Am 1. Oktober 1933 kam es (auf Wunsch von Boehm) in Den Haag zu einer etwa sechsstündigen Unterredung mit dem amtierenden Präsidenten der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ (IPV), Ernest Jones, an der auch Müller-Braunschweig und der Schatzmeister der IPA, Johann van Ophuijsen, teilnahmen. (Van Ophuijsen wurde später, in den Jahren 1936-1938, auch Vize-Präsident der IPV) Im folgenden Jahr schrieb Boehm in einem (für die Leitung der IPV bestimmten) Bericht über diese Zusammenkunft Folgendes: Müller-Braunschweig verlas „das von ihm verfasste Memorandum; die Unterredung führte zu einer vollkommenen Übereinstimmung. Alle von uns unternommenen Schritte wurden von Jones gutgeheissen. Er versprach {uns] weitestgehende Förderung und Unterstützung und schrieb sofort in diesem Sinne an Anna Freud“ (Boehm, 1985, S. 8t vgl. Boehm, 1978).3 Peglau vermerkt, dass sich, „wesentliche Passagen“ des Müller-Braunschweigschen Memorandums „dann, nahezu wörtlich unter der Überschrift >Psychoanalyse und Weltanschauung< am 22. 10. 1933 in dem [Reichswart-]Artikel Müller-Braunschweigs“ fand. (Peglau, 2013, S. 426). Im Unterschied zu den Emigranten Wilhelm Reich4, und Otto Fenichel5 nahm an diesem — zuvor mit der damaligen Leitung der IPV abgestimmten — Reichswart-Text Müller-Braunschweigs offenbar keiner der in Deutschland und Österreich verblieben. Psychoanalytiker Anstoß. Ein halbes Jahrhundert lang schlummerte er in den Bibliotheken, die den 14. Jahrgang der Wochenzeitschrift des Grafen Ernst zu Reventlow oder den 1. Jahrgang von Reichs (in Kopenhagen erschienene, Exil-Zeitschrift, politische Psychologie und Sexualökonomie verwahrten6. Nach der Veröffentlichung des Artikels von 1933 samt meinem Kommentar in der Zeitschrift Psyche (vgl. C. Müller-Braunschweig, 1983; Dahmer, 1983a), brach nun aber unter den etablierten westdeutschen Psychoanalytikern ein Sturm der Entrüstung los. Doch sie und ihre Freunde in der IPV empören sich keineswegs über den Reichswart-Artikel Müller-Braunschweigs, den ich der Vergessenheit entrissen hatte, sondern über dessen Dokumentation und, vor allem, über den ihn begleitenden Kommentar, durch den dieser Text als ein skandalöser markiert wurde. Personalisierend lasen sie meine Textkritik als eine bloße Schmähung des Autors Müller-Braunschweig. Die von mir aufgeworfene Frage (Wie war das möglich?) wollten und konnten sie so wenig verstehen wie deren Beantwortung. Und so ließ sich kaum einer meiner damaligen Kontrahenten überhaupt auf dieses Problem ein.7
Was bei den Verfassern der mich adressierten Briefe zur Verteidigung Müller-Braunschweigs (und dann auch Ulrich Ehebalds) helle Empörung auslöste, war die Widerlegung der von ihnen und ihren Vorgängern komponierten, identitätsstiftenden Vereinslegende, die eigentlich aus zwei einander widersprechenden Behauptungen bestand: Entweder hatte es in den Jahren der NS-Diktatur in Deutschland gar keine „richtige“ Psychoanalyse mehr gegeben, oder sie hatte, von Wenigen getragen, im Untergrund überdauert. Beide Apologien hielten keiner näheren Überprüfung stand.
Carl Müller-Braunschweig und sein Kollege Felix Boehm waren hauptverantwortlich für die Geschicke der deutschen Psychoanalyse zwischen 1933 und 1945. Nach dem Krieg, 1950, löste Müller-Braunschweig sich von dem wiederhergestellten DPG-Verein (der im folgenden Jahr aus der IPV ausgeschlossen wurde) und errang mit seiner eigenen Gruppe, die als DPV firmierte, alsbald die Anerkennung durch die Psychoanalytische Internationale (die IPV). Mit dem kommentierten Wiederabdruck des Müller-Braunschweig-Artikels vom Herbst 1933 hatte ich das Tabu, das das Totemtier der DPV bis dahin schützte, gebrochen. War es doch Müller-Braunschweig, der sich in der Nachkriegszeit von der (unter Kollaborationsverdacht stehenden) DPG und ihrem Theoretiker Harald Schultz-Hencke abgesetzt hatte und dem es dann gelungen war, das DPV-Fähnlein mehr oder weniger vom Odium der Verstrickung in die NS-Ideologie und -Praxis zu befreien. Der vergessene beziehungsweise sorgsam verhohlene Reichswart-Artikel des Stammvaters der DPV schien nun aber diejenigen seiner alten und neueren Kollegen zu bestätigen, die im Stillen der Meinung waren, die IPV habe mit ihm 1950 einen Bock zum Gärtner gemacht8. Plötzlich stand die Reputation des DPV-Gründers wie die seiner Schüler und Zunftgenossen in Frage.
Kurt Lewin, der bedeutende Gestaltpsychologe, charakterisierte Gruppen als den „sozialen Boden, auf dem einer steht“ (vgl. Lewin, 1948, S. 242). Den Gruppenzusammenhalt gewährleisten vor allem „Familienromane“ (Freud), Stammes- und nationale Mythen. Über Identifikationsprozesse eignet sich eine jede nachfolgende Generation die Geschichtslegenden ihrer Altvordern an. Sozialisation zielt darauf ab, sie zu Wiederholern zu machen, doch bleiben sie zum Glück, wie Freud wusste, widerstrebende Wiederholer. Solange sie aber nicht skeptisch zurückblicken, sitzt ihnen die unbefragte Geschichte der Gruppen, denen sie sich zurechnen (oder denen sie zugerechnet werden), im Nacken. Sie werden Delegierten ihrer Vorgänger und reinszenieren deren tröstliche Legenden unter Umständen ein Leben lang — so, wie es die von Diktatur, Krieg und NS-„Weltanschauung“ versehrte (und korrupte Anm.JSB) Generation hielt, der auch die Psychoanalytiker angehörten, mit deren Sprechern ich es 1984 (und in den Folgejahren) zu tun bekam.[ii]
Durch die Publikation des verräterischen Textes des Gründervaters waren die Legitimation der DPV und damit auch die mühsam errungene Identität ihrer Mitglieder in Frage gestellt. Für deren Verwirrung und Wut fand sich alsbald ein Medium in Gestalt eines angesehenen Hamburger Lehranalytikers[iii], der sich zum Sprecher und Verteidiger der schweigenden Mehrheit der etablierten DPV-Mitglieder machte, von denen in der Folge dann auch etliche — als Chor der Söhne und Töchter Müller-Braunschweigs — ihre Stimme zur Verteidigung des Verewigten erhoben. Nur Wenige von ihnen waren imstande, aus diesem Chorus auszuscheren und auch kritische Anmerkungen zu Ehebalds Brief vorzubringen. Spezialisten für die Analyse von Wahnbildugen und Träumen, konnten sie doch den Wahn ihres Kollegen Ehebald nicht als solchen erkennen, weil sie ihn mehr oder weniger teilten, weil sie „mit gleichveranlagten Augen von gleichen Standpunkten in der gleichen Richtung in den gleichen Ausschnitt der Welt“ blickten (Schumpeter, 1927, S. 152).
Ulrich Ehebald (1921-2010) war durch die Lektüre des Dezemberhefts des Jahrgangs 1983 der Psyche nicht nur verunsichert, sondern in Panik geraten. C. Müller-Braunschweig, dessen Sohn Hans, die DPV und die IPV, also die ganze „psychoanalytische Heimat“ schien ihm in größter Gefahr, und er eilte, um sie gegen das, was er (wider besseres Wissen) für „üble Anwürfe“ hielt (Ehebald, 1998, S. 126), zu verteidigen. Anfang Februar 1984 konzipierte er einen an und gegen mich gerichteten „Offenen Brief“ voll von wilden Phantasien und wüsten Aggressionen den er an die Mitglieder der DPV versandte. Der oppositionell gesonnene Marine-Sanitätsoffizier Ehebald hatte, wie er schreibt, im Kriegswinter 1945 durch Carlo Schmid „vom Nazi-Terror [W]eiteres erfahren. Das ganze Ausmaß jedoch dieses Terrors wurde mir erst durch Kogons [1946 veröffentlichte Analyse] >Der SS-Staat< bekannt“ (Ebd., S. 87). Jede neuerliche Konfrontation mit der fatalen Vergangenheit, mit der die große Mehrheit der Generation Ehebalds längst ihren (faulen) Frieden gemacht hatte, ohne sie recht zu begreifen, appellierte an deren latentes Schuldbewusstsein und mobilisierte all ihre Abwehrmechanismen10. In diesem Fall ging es nun um die besonderen Schicksale der Psychoanalyse im „Dritten Reich“, und davon war Ehebald, der sich aus dem Krieg in die (Nachkriegs-)Psychonalyse gerettet hatte, direkt betrafen. Darum bezog er meine „Kritische Glosse“ Ja-Sager und Weißwäscher (Dahmer 1983b), die einem Text von Hermann Lübbe galt und ebenfalls im Dezember-Heft 1983 der Psyche abgedruckt war, automatisch auf Müller-Braunschweigs Sohn Hans und ander von dessen „Söhnen“, zu denen er selbst sich ja auch zählte. Lotte Köhler, eine seiner „Schwestern“, schrieb ihm: „Herr Dahmer hat in Herrn Müller-Braunschweig einen Sündenbock geschaffen“ (Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 38 [Brief von L. Köhler U. Ehebald vom 21.3.1984]). Doch um wessen Schuld ging es da eigentlich? Und welche Sünden trug dieser keineswegs von mir „geschaffene“, sondern von Freud eingesetzte „Bock“ aus der finsteren Zeit des „Dritten Reichs“ in die Nachkriegswüste (vgl. Dahmer, 2009, S. 308-313 [„Freuds Legat,), wenn nicht die des Stammes DPG und seines auf Distanz bedachten Ablegers, der DPV? Die „Kinder“ Müller-Braunschweigs fühlten sich freilich frei von Schuld. Und weil man die Stimme des Gewissens (wenigstens auf Zeit) zum Schweigen bringen kann, indem man Sünden, von denen man weiß, oder Sünden, von denen man nichts wissen will, externalisiert, sie also einem nicht zum Stamm Gehörigen, einem Fremden aufbürdet (siehe so populäre „Israelkritik“ und gleichzeitige Ermangelung einer Islam-Kritik Anm.JSB) , warf Ehebald der Müller-Braunschweig Gemeinde nun den Psyche-Redakteur zum Fraß vor. Den nämlich und nicht den Müller-Braunschweig von 1933 präsentierte er als den wahren Schurken im Stück11. Um das plausibel zu machen, bedurfte es der Verwandlung eines kritischen Soziologen in das Schreckgespenst des großen Verfolgers, dessen von langer Hand vorbereiteter „Kampagne, wie Ehebald wähnte, nun die Müller-Braunschweigs zum Opfer gefallen waren12“ Ehebald, der sich in Tagträumen gern als Tyrannenmörder sah,13 fiel das nicht schwer. Die „lange Fahrt“ seines Lebens führte ihn in dieser Etappe durch eine Geisterbahn, in der an jeder Ecke angsteinflößende Unholde lauerten, „furchtbare Juristen“ und Hinrichtungskommandos. Dergleichen Figuren schossen ihm unversehens zu einer Mischperson14 zusammen und so konnte er seinen Verfolger abwechselnd einen „Inquisitor“, „Nazijäger“, „Exekutor“ und „marxistischen McCarthy“ nennen. Nun war kein Halten mehr, und alsbald stellten sich allerlei Schreckensvision ein17, Gesichte von Treibjagden, Verhaftungen und Exekutionen, ein höllisches Treiben, bei dessen Schilderung sich der Autor des Öfteren in seinen eigenen Sätzen und Argumenten verhedderte. Lauschen wir diesem Geisterseher noch einmal: „Wer dieses Heft liest […], kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie geschickt den Boden vorbereiten ließen, um nunmehr posthumen Exekution Müller-Braunschweigs und seines Sohnes zu schreiten.“ „Das, was Sie hier getan haben und noch immer tun, ist schlimm genug. Aber das, was ich Ihnen persönlich mit tiefem Abscheu vorwerfen muss, ist, dass Sie es wagen mit ihrer ideologisch verblendeten Nazijägerei, [Hans,] den Sohn Müller-Braunschweig[s] in >Sippenhaft< zu nehmen und der Weißwäscherei indirekt zu bezichtigen!“ Dieser konnte — so Ehebald — nicht wissen, „dass sein Versuch, den Vater zu verteidigen“ (H. Müller-Braunschweig, 1983), durch die Glosse Ja-Sager und Weißwäscher „beschmutzt [werden würde]. Ich nehme an, dass er [sonst] erkannt hätte, dass dieser Versuch angesichts der bereitstehenden Schergen nur Entsetzen hervorrufen würde.“ Es falle (ihm) schwer, heißt es weiter in Ehebalds Brief an mich zu exkulpieren; dazu „ist Ihre Kampagne zu perfide gekonnt eingefädelt, mit der Sie nach Art eines marxistischen McCarthy jetzt nach Nazisündenböcken auf der Jagd sind, um dem (womöglich jüdischen? Anm.JSB)Gott Ihrer Ideologie Opfer (und was ist mit den tatsächlichen Opfern der Nazi-Ideologie und ihren willigen Nachfahren, der „Gutmenschen“ jeglicher Coloeur? Anm.JSB) heranschleppen zu können. Vielleicht wäre auch dies noch irgendwie hinzunehmen, aber dass Sie, noch dazu als Außenseiter, es wagen, das Andenken eines von uns so hoch geschätzten Kollegen zu verunglimpfen, dass Sie nach Nazimanier dessen Sohn in >Sippenhaft< nehmen, das ist unverzeihlich, weil unmenschlich.“ Mit all dem sei ich im Übrig. drauff und dran, „eine ganze Generation junger Analytiker zur Denunziation anzustiften“ (Ehebald, 1984, S. 5 und 6). Klärungsbedürftig blieb, was eigentlich den großen Verfolger — den Ehebald für einen Götzendiener und Opferpriester des „Marxismus“ hielt (vgl. ebd., S. 6) — motivierte, was ihn zu seiner Kritik an dem alten Text von Müller-Braunschweig bewogen hatte. Warum ließ er die Müller-Braunschweigs und ihre Freunde, die Ehebalds, nicht einfach in Ruhe? Wie mochte es sich mit seiner „inneren Haltung“ (vgl. ebenda, S. 5), mit seiner „Interessenlage“ (vgl. Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 37 [Brief von L. Köhler an U. Ehebald vom 213.1984]) verhalten? 18 Als Soziologe gehörte er ja der psychoanalytischen Zunft nicht an und wollte in diesem Verein auch nichts werden. Seine Kritik kam von draußen, aus der Fremde, mutmaßlich von dort, „wo die wilden Kerle wohnen“. Als solche galten in Deutschland seit 1918 vor allem die Kommunisten (nach 1945 dann auch die Faschisten). (Am 08 Mai 1945 gab es in Deutschland ca. 50 Millionen NSDAP-Mitglieder, am 10 Mai 1045 gab es gar keine mehr. Plötzlich sind die Nazis überzeugte Demokraten geworden – glaube es, wer will. Anm.JSB) Einerseits wurde die Kritik an Müller-Braunschweigs „Memorandum“ darum als eine quasi-faschistische diffamiert („nach Nazimanier“ (vgl. Ehebald, 1984, S. 6), „autoritär und intolerant wie im Dritten Reich“ (vgl. Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 38 [Brief v. L. Köhler an U. Ehebald vom 21.3.1984])), anderseits fürchteten Ehebald und andere vor allem, es gehe dem Kritiker darum, „die Psychoanalyse für den Marxismus (na und, auch wenn es wäre? Anm.JSB) zu requirieren und genau in extremer Weise das [zu] tun, was Sie Müller-Braunschweig meinen vorwerfen zu müssen, nämlich die Psychoanalyse den Dienst einer Weltanschauung [zu] nehmen, mit der diese übrigens so wenig zu tun hat wie mit dem Faschismus“ (Ehebald, 1984, S. 5). Auch Lotte Köhler schrieb von der „Gefahr, dass „Freud nun für die >Kritische Theorie< vereinnahmt wird, dass die psychoanalytische Bewegung (wieder eine“ Bewegung“?! Anm.JSB) zu einer marxistischen umfunktioniert wird […]“ (Dokumentation des DPV-Vorstandes, 1984, S. 38, Anm. 26 [Brief von L. Köhler an U. Ehebald vom 21.3.1984]), während Wolfram Lüders vorsichtiger meinte, es sei zu befürchten, dass die vom Kritiker angestrebte „Alliance zwischen Marxismus und Psychoanalyse“ „einseitig auf Kosten der Psychoanalyse gehe [..1″. Bei diesem Allianz-Projekt handele es sich freilich, fügte er hinzu, um eine „nie so richtig zu greifende“ — besser vielleicht: um eine ihm unbegreifliche (?) — „Absicht“ (Dokumentation des DPV-Vorst.ds, 1984, S. 51 [Brief v. W. Lüders A H. Dahmer vom 28.3.1984]).
Ehebald ging — wie seine Kolleginnen und Kollegen — davon aus, dass die aus ihrer Matrix, der Kulturkritik, herAsgelöste und auf eine „Technik“ reduzierte Psychoanalyse in Gefahr stand, von einer der miteinander kämpfenden „Weltanschauungen“ beschlagnahmt (oder ausgelöscht) zu werden. Nach dem Untergang des deutsech Faschismus, dem Müller-Braunschweig die Psychoanalyse hatte andienen wollen, war ihrer Meinung nach nun das „marxistische“ Ungeheuer drauf und dran, die Freudsche Lehre zu verschlingen. Was aber stellt sie sich unter „Marxismus“ eigentlich vor?
„Marxismus“ war längst zu einem Kampfbegriff geworden, in dem absichtsvoll Unterschiedlichstes gebündelt wurde. Dem „Marxismus“ hatten die bürgerlichen und rechten Parteien der Weimarer Republik und dann die Nazis (die im Hinblick auf die Revolution von 1918, die dem Weltkrieg ein Ende gemacht hatte, gern auch von „Novemberbrechern“ sprachen) den Kampf angesagt. In den reformistischen und revolutionären Arbeiterorganisationen und ihren Verbündeten in der Zweiten und Dritten Internationale (deren Zentrum die Sowjetunion bildete), sahen sie ihre Gegner. Dabei handelte es sich zunächst einmal um viele Millionen Menschen, die sich die Abschaffung sozialer Ungleichheit in einer nachkapitalistischen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hatten, sodann um die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, von denen ihre Mitglieder hofften, sie würden etwas zur Verbesserung ihrer Lage tun. Als „Marxismus“ wurden schließlich sowohl die Marxsche Theorie der Gesellschaftsformationen und ihrer Metamorphosen bezeichnet, als auch die in Stalins Sowjetunion daraus destillierte „Weltanschauung“, mit deren Formeln die Ideologen des „Sozialismus in einem Lande“ die Diktatur der kommunistischen Partei (bzw. ihrer Nomenklatura und Bürokratie. Anm.JSB) und die politischen Zickzackwendungen ihrer Führung zu rechtfertigen suchten. Im Kalten Krieg wurde im „Westen“ unter „Marxismus“ zum einen die terroristisch zusammengehaltene sowjetische Mangelwirtschaft der Sowjetunion und ihrer Satelliten verstanden, zum andern deren ideologische (sozialfaschistische Anm.JSB) Verkleidung, schließlich aber auch das Ensemble der politischen Agenturen des Kremls in aller Welt. Die Freudsche Kritik der Gegenwartskultur und ihrer Institutionen, der die psychoanalytische Therapie entsprungen war, zielte — ähnlich wie die Marxsche — auf ein Ende der Mordgeschichte (durch den Verzicht auf religiöse Illusionen und eine Reduktion der sozialen Ungleichheit). Die Nazis hatten das verstanden und darum Freuds Theorie dem zugeschlagen, was sie als „Kulturbolschewismus“ bekämpften. (Aus der von Freud entwickelten therapeutischen „Technik“ hofften sie freilich gleichwohl Nutzen zu ziehen.) Freud selbst blieb die Verwandtschaft seiner kritischen Theorie der modernen Seele mit der Marxschen Kritik der modernen Ökonomie (und der Philosophie von Hegel. Anm.JSB) verborgen. (Kommunistischen Parteiideologen galt die Freudsche Psychoanalyse seit den späten zwanziger Jahren als eine eine dem Boden des Verfallskapitalismus entstandene Irrlehre.) In den frühen dreißiger Jahren versuchte Freud, die Psychoanalyse durch eine Art Neutralisierung vor der Zerstörung durch „massenfeindliche Massenbewegungen“ (Adorno) und terroristische Regime zu bewahren. Während er seine Kulturkritik erst in diesen Jahren voll entfaltete und radikalisierte, waren ihm soziologisierende und politisierende Schüler wie Reich und Fenichel, die die von ihm entwickelte Institutionen-Kritik zu konkretisieren suchten, ein Dorn im Auge. In vertraulichen Briefen an Freunde und Kollegen titulierte er die beiden sogar als „bolschewistische Angreifer. Dass die westdeutschen Psychoanalytiker der achtziger Jahre das, was sie unter „Marxismus“ verstanden, fürchteten, schien zunächst ohne weiteres verständlich: Unter einem möglichen sowjetischen Regime würden Freundianer (wie alle anderen Intekektuellen auch Anm.JSB) (ähnlich wie unter einem faschistisch) gegängelt, diskriminiert und verfolgt (auch ermordet) werden. Dass aber im Kontext einer Rekonstruktion der „Politik“ von Boehm undd Müller-Braunschweig in den dreißiger Jahren die Hauptsorge westdeutscher Psychoanalytiker der achtziger Jahre einer von ihnen befürchteten Vereinnahmung (oder „Requisition“, der Psychoanalyse durch „den Marxismus“ galt, ist erklärungsbedürftig. (Erklärung: im postnazistische Deutschland waren und sind auch deutsche Psychoanalytiker postnazistisch. Woher nehmen und nicht stehlen? Anm.JSB) Vom „Unheimlichen“ sagte Freud, es handele sich dabei um ein „von alters her Vertrautes“, das nur durch „Prozess der Verdrängung entfremdet worden“ sei (vgl. Freud, 1919, S. 254). Was die Verteidiger Müller-Braunschweigs so sehr fürchteten, dass sie es mit dem verpönten „Marxismus“ verwechseln, war ein Wiedergänger, nämlich die radikale Freudsche Kritik unserer „Kultur“, die eine lange mörderische Geschichte hinter sich hat und in ein neues barbarisches Zeitalter einzumünden droht. Freuds Therapeutik war die Frucht der bestimmten Negation dieser Gesellschaft der Ungleichheit und des Aberglaubens, der Pogrome und Massaker. Das zu vergessen, waren die meisten seiner Schüler, die den zweiten Weltkrieg und den nachfolgenden „Kalten Krieg“ unter der permanenten Drohung der Atombombe durchlebten, angestrengt bemüht. Schon Müller-Brannschweigs Reichswart-Artikel war ein Produkt dieser Selbstvergessenheit. Und die Kritik daran beschwor nun eben dies Verdrängte wieder herauf — nicht den „Marxismus“, sondern das Original der Freundschen Sache.
Den Psychoanalytikern, die Ehebald als ihren Sprecher akzeptierten, blieb das Wahnhafte seines Elaborats verborgen, und der Autor, der auf diesen Text recht stolz war19, sah keinen Grund, der Traumarbbeit nachzuspüren, deren Erzeugnis sein „Offener Brief“ war. Ehebalds Text, in dem Selbstverständnis und Weltsicht einer ganzen Gruppe deutscher Nachkriegs-Psychoanalytiker „klassischen“ Ausdruck gefunden hat, sollte — ebenso wie Müller Braunschweigs „Memorandum“ von 1933 — in eine künftige, dokumentierte Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland als ein aufschlussreiches Lehrstück aufgenommen werden.
1984 distanzierten sich nur einige Wenige unter den damaligen westdeutschen Psychoanalytikern von ihrem Kollegen Ehebald. Die Mehrheit schwor, die „Verunglimpfung“ Müller-Brauschweigs zu rächen, versuchten, neue Zeitschrift. zu gründen, die mit der Psyche konkurrieren sollten, und war zweifellos höchst zufrieden, als sich einige Jahre später, nach einer Zwist unter den Herausgebern (durch Intrige von Margarete Mitscherlich, der „Witwe“ Anm.JSB), der Klett-Cotta-Verlag gerichtlich die alleinige Kontrolle über die bis dahin weitgehend unabhängige Psychoanalyse-Zeitschrift sicherte (was auch das Ende meiner (und von Lutz Rosenkötter Anm.JSB) Herausgeberschaft und Redaktionstätigkeit bedeutete).
Freud wollte die Psychoanalyse einem „Stand“ übergeben, den es noch nicht gibt, nämlich „weltlichen Seelsorge, die, wie er schrieb, „Ärzte nicht zu sein brauchen und Priester nicht sein dürfen“ (Freud/Pfister, 1963, S.136 [Brief v. S. Freud 0. Pfister vom 25.11.1928]). Sie ist aber zunftmäßig (als psychokratische Rackets, deren oberste Maxime Machtakkumulation ist, in voneinander abgegrenzten Sektoren, wie die Turfs von Yakuza oder anderen mafiösen Organisationen von Drogendealern, Menschdenhändlern, usw. Anm.JSB) organisiert. Therapeuten mit naturwissenschaftlicher, nämlich medizinischer oder psychologischer Ausbildung in die Hände gefallen, die sich gegenüber den „Laien“ abschotteten und Dissidenten ausschlossen (und ausschliessen Anm.JSB). In Wahrheit gehört die Psychoanalyse allen, die, wie Freud, an einer egalitären Kultur interessiert sind, die der Illusionen nicht mehr bedarf, allen, die seine Schriften lesen und dabei (unversehens) in eine Autoanalyse hineingeraten, also beginnen, die Rätsel ihrer Lebensgeschichte und der sie beherrschenden Institutionen zu lösen.
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Fußnoten
1 „was kann Normalisierung im Fall der Psychoanalyse und ihrer Geschichte
bedeuten, wenn diese mehr als die anderer Schulen durch Traumata geprägt
ist: durch Katastrophen, die >vital bleiben und keine Lösung finden< [W.R.Bion]?
[…] Normalisierung konnte kein einfacher Prozess sein. Am deutlichsten zeigt sich das in den Versuchen, die größte Katastrophe in der Geschichte der Psychoanalyse zu verstehen: nicht der Aufstieg der Nationalsozialisten, sondern die schwache Reaktion von Analytikern auf die Nazis und den Holocaust“ (Zaretsky, 2004, S. 486). „Die fortschreitende Einverleibung der Analyse in die Psychiatrie in den Staaten war das Gegenstück zu ihrer Zerstörung in Europa. Die Psychoanalyse überlebte, aber in völlig veränderter Gestalt“ (Ebd., S. 335). (In welcher Gestalt denn? Als eine Karikatur ihrer selbst, als eine affirmative geistlose Bewegung der Machtakkumulation, bar jeglichen gesellschaftskritischen Anspruchs. Anm.JSB)
2 Nach Mitscherlichs Tod übernahm ich in den Jahren 1982-1992 auch die Herausgeberschaft der Zeitschrift gemeinsam mit Margarete Mitscherlich-Niels. und Lutz Rosenkötter. (siehe dazu im Anhang: Böse Stiefmutter – DER SPIEGEL 14/1992 Anm.JSB)
3 Näheres zum „Memorandum“ bei Peglau, 2013, S. 426-428.
4 Reichs Stellungnahme zum „Memorandum“ Müller-Braunschweigs: Der Artikel von Müller-Braunschweig sei „eine Schande für die gesamte psychoanalytische Wissenschaft und Bewegung“. Zu den „Bestrebungen führender Analytiker, sich gleichschalten zu lassen“, schrieb Reich (an Fenichel) im Weiteren, diese hätten sich „von jeher mit ihren ethischen Einstellungen im Widerspruch zur analytischen Tätigkeit“ befunden. „Die [Selbst-]Gleichschaltung ist nur eine folgerichtige Entwicklung ihrer Gesinnung“ (Zitiert nach Fenichel, 1998, S. 103 f. [4. „Rundbrief“, 5.6.1934]).
5 Fenichel zitierte in seinem 1. „Rundbrief“ vom März 1934 den Bericht eines Teilnehmers an einer „Generalversammlung“ der DPG: „Es war grauenhaft. Boehm legte das von ihm und Müller heimlich verfasste und mit Jones und Ophuijsen besprochene Memorandum einige Tage vorher vor“ (Fenchel, 1998, S. 40 [1. „Rundbrief“, 2. Abschnitt, März 1934]). — Im 13. „Rundbrief“ kam Fenichel noch einmal auf das unselige „Memorandum“ zu sprechen, das in einem Artikel von Walter Hartmann über Braune Psychoanalyse in den Europäischen Heften (Hartmann, 1935) erwähnt worden war: „Der Aufsatz [Walter Hartmanns] ist ausgezeichnet geschrieben und könnte von einem von uns stammen“ (Fenichel, 1998, S. 208 (13. „Rundbrief`, 4.4. 1935).
6 Da Müller-Braunschweig schon 1930 einen — noch nicht auf die „nationale Erhebung“ orientierten — Vortrag unter demselben Titel (Psychoanalyse und Weltanschauung) veröffentlicht hatte, wurde der spätere, profaschistische Text — absichtlich oder unabsichtlich — leicht mit dem unverfänglicheren früheren verwechselt. So etwa auch im Grinstein-Index (vgl. Grinstein, 1958, S. 1425 [Nr. 23862] und die entsprechenden Einträge in Grinstein, 1964).
7 Eine der wenigen Ausnahmen bildete der an mich gerichtete Brief von Gertrud Hardtmann (vgl. Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 70-74 [Brief vom 15.5.1984]). Vergleiche dazu die Dokumentation(en) der damaligen Korrespondenz in Redaktion der Psyche, 1984; Dahmer, 1989, S. 175-218; Dahmer, 2009, S. 298-328; Kauders (2014), S. 249-278 und S. 350-359.
8 Untereinander nannten manche von ihnen den Reichswart-Autor kurzerhand „das braune Mühlschwein“.
9 „Immerhin hat die Erinnerung an das Wiedererwachen der Psychoanalyse in Deutschland nach der Katastrophe der Nazizeit und des Hitlerkrieges und an die Jahre der frühen Pionierzeit auch etwas Trostreiches und Belebendes. Ich kann auf all dies zurückblicken mit einem tiefen Gefühl von Zugehörigkeit: Dies war meine psychoanalytische Heimat!“ (Ehebald, 1998, S. 126).
10 In einem den „Wahnbildungen“ gewidmeten Kapitel seiner Neurosenlehre schreibt Fenichel: „Der Kranke fühlt sich fortwährend kontrolliert und beobachtet, kritisiert, zur Rechenschaft gezogen und bestraft“ (Fenchel, 1945, Band II, S. 331).
11 Dieser „marxistische Inquisitor“ habe sich „zu klug gemacht“, als dass man ihm noch guten Willen unterstellen könne; zudem könne der es ja leider als „überaus belesen, „eloquenter“ Soziologe „mit der Psychoanalyse treiben“, wie er wolle (vgl. Ehebald, 1984, S. 5).
12 „Der Verfolger“, schreibt Fenichel in dem bereits zitierten Kapitel seiner Neurosenlehre, „beobachtet und kritisiert den Kranken; die von ihm ausgehenden Verfolgungen sind häufig Projektionen von Gewissensbissen“ (vgl. Fenichel, 1945, Band II, Anm. 14).
13 In einem Abschnitt seiner Lebensgeschichte, der „Berührungen mit der Geschichte“ gewidmet ist, erzählt Ehebald von der „Vereidigung junger Offiziersanwärter im Sportpalast in Berlin, ich glaube 1942″, bei der Hitler, Göring, Goebbels, Bormann, „ich glaube auch Himmler, und noch eine weitere Anzahl der Verbrecher“ zugegen gewesen seien. „Ich sage zu dem neben.. sitzenden Freund: >[…] Wenn wir jetzt ein Gewehr mit Zielfernrohr hätten, dann könnten wir ihn erledigen.<“ Einige Wochen später habe sich dann zufällig eine weitere Gelegenheit für ein Artentat ergeben, denn „da gingen sie tatsächlich, Hitler und Göring, vielleicht im Abstand von 2, 3 Metern an mir vorbei. Blitzartig schoss mir eine Phantasie durch den Kopf: Nimm deine. Marinedolch und ramm ihn dem Verbrecher ins Herz,“ (Ehebald, 1998, S. 126 3.).
14 Jeder kennt solche sonderbaren Sammel- und Mischpersonen, „den Tierkompositionen orientalischer Völkerphantasie vergleichbar“, schreibt Freud: „Ich kann eine Person zusammensetzen, indem ich ihr Züge von der einen und von der anderen verleihe, oder indem ich ihr die Gestalt der einen gebe und dabei im Traum den Namen der anderen denke, oder ich kann die eine Person visuell vorstellen, sie aber in eine Situation versetzen, die sich mit der anderen ereignet hat (Freud,1901, S. 664).
15 Einer aus seinem Chor, S. O. Hoffmann, assoziierte dazu prompt „Simon Wiesenthal, den Nazi-Jäger“ (vgl. Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 10; Dahmer, 1989, S. 185).
16 Der wirkliche McCarthy hatte es freilich nicht auf Nazis, sondern auf „linke“ Psychoanalytiker abgesehen. (vgl. Danto, 2012, Kap. 8). Und die KGB-Leute und Staatsanwälte von Stalins Gnaden, die in der Zeit des Großen Terrors die marxistischen Oppositionellen in der Sowjetunion ausrotteten, wird man kaum als „Marxisten“ bezeichnen können (sondern als Sozialfaschisten. Anm.JSB).
17 „Die Verrückung aus der vergessenen Vorzeit in die Gegenwart oder in die Erwartung der Zukunft ist […], ein regelmäßiges Vorkommnis auch beim Neurotiker. Oft genug, wenn ihn ein Angstzustand erwarten lässt, dass sich etwas Schreckliches ereignen wird, steht er bloß unter dem Einfluss einer verdrängten. Erinnerung, die zum Bewusstsein kommen möchte und nicht bewusst werden kann, dass etwas damals Schreckhaftes sich wirklich ereignet hat” (Freud,1937, S. 55).
18 Köhler hielt es in diesem Zusammenhang für aufschlussreich, dass sich „der Soziologe Dahmer“ „einer marxistisch. Ausdrucksweise“ bediene — er schreibe „Bourgeoisie“ statt „Bürgertum“ (vgl. Dokumentation des DPV-Vorstands, 1984, S. 38).
19 13 Jahre später schrieb er in dem schon erwähnten Kapitel „Berührungen mit der Geschichte“ seiner Selbstdarstellung: „Ich erwähne eine hochpolitische Kontroverse, in der ich selbst im Mittelpunkt stand. […] [Der >Offene Brief< an H. Dahmer, führte […] in der psychoanalytisch. Welt nicht nur in Deutschland und Europa, sondern bis nach den USA, zu einem kleinen Erdbeben. Meine Ansichten haben sich in der Sache nicht geändert, haben sich durch zusätzliche Erfahrungen eher noch verdichtet.“ (Ehebald, 1998, S. 127f.).
In: Reichswart. Nationalsozialistische Wochenschrift und Organ des Bundes Völkischer Europäer/Organe de L’Alliance Raeiste Europeenne, hg. von Graf E. Reventlow. 14. Jg., Nr. 42. Berlin, den 22. Gilbhard (Oktober) 1933. S. 2/3.
Legt man das Geburtsjahr der Psychoanalyse auf das Jahr 1893, in welchem Breuer und Freud gemeinsam die vorläufige Mitteilung »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« veröffentlichen, dann sind nunmehr 40 Jahre psychoanalytischer Forschung verflossen. Seither ist die Psychoanalyse Gegenstand der gegensätzlichsten Stellungen gewesen, auf der einen Seite fand sie Anerkennung bis zur begeisterten Bewunderung, auf der anderen Seite Ablehnung bis zur erbitterten Bekämpfung. Die gegenwärtige Gesamtlage fordert erneute Einwertung.
Will man sich vergegenwärtigen, was Psychoanalyse ist, so bilden die Vorwürfe und Mißverständnisse, denen sie auf ihrem Entwicklungswege ausgesetzt war, einen guten Leitfaden. Es hieß von Anfang an, die Psychoanalyse überbewerte die Sexualität, sie erkläre alles, auch die höchsten und heiligsten Dinge aus ihr. Die neurotischen Erkrankungen beruhten auf einem mangelnden Sichausleben, es gelte also, die Hemmungen fallen zu lassen, sich auszuleben, um nicht in eine Neurose zu verfallen. Wie hebt sich von diesem primitiven Mißverständnis die wirkliche psychoanalytische Lehre ab? Die Psychoanalyse hat niemals die Behauptung aufgestellt, es gäbe nur Sexualtriebe. Sie hat auch nie die Neurosen allein aus der Sexualität abgeleitet, sondern vielmehr aus einem Konflikt zwischen dem Ich, der Persönlichkeit des Menschen und seinem Triebleben. Und nicht allein aus einem Konflikt mit der Sexualität, wie man sie populärerweise versteht, sondern überhaupt aus einem Konflikt mit seinem gesamten Trieb- und Affektleben, also z. B. auch mit den allen Menschen innewohnenden gewaltsamen, feindseligen, destruktiven Tendenzen. Der Neurotiker ist ein Mensch, der an der Lösung solcher Konflikte gescheitert ist, ein Mensch, dem es nicht gelungen ist, diese Re-gungen unter die ordnende und beherrschende Macht seines geistigen Ichs zu bringen. Der Neurotiker hat den zum Mißglücken verurteilten Versuch gemacht, sich den lästigen Impulsen seines Trieb- und Affektlebens dadurch zu entziehen, daß er den Kopf in den Sand steckte, sich so verhielt, als wären seine Impulse überhaupt nicht vorhanden. Durch ein solches Verhalten sind aber das Triebleben und die Affekte nicht aus der Welt zu schaffen, ein solches Verhalten, von der Psychoanalyse als —mißglückende — Verdrängung oder Abwehr bezeichnet, läßt das Trieb-und Affektleben vielmehr in einem nun dem Ich gar nicht zur Verfügung stehenden mehr oder weniger unbewußten Dunkel wuchern und neurotische (hysterische, zwangsneurotische) Symptome hervortreiben.Der neurotisch Kranke, selbst wenn er jetzt den besten bewußten Willen hätte, er kann dieser Symptome nicht Herr werden, er kämpft vergeblich gegen seine Arbeitsunfähigkeit, seine leichte Ermüdbarkeit, seine Schlaflosigkeit, seine Angst, seinen Kopfschmerz, seine Zwangsimpulse und Zwangsgedanken und wie die Unzahl der Symptome heißen mag, an. Hier setzt der psychoanalytische Therapeut ein. Er hilft dem Patienten, den Weg, auf dem die Symptome entstanden sind, wieder rückwärts zu gehen, führt ihn zu den ursprünglichen, von ihm nicht gelösten Konflikten zurück und läßt ihn diese neu und glücklicher lösen.Um das zu erreichen, muß er das im unbewußten Seelenleben Wuchernde dem Patienten bewußt machen, damit dieser fähig wird, mit voller Verantwortung das nachzuholen, was er seinerzeit, den Kopf in den Sand steckend, nur zu einer Scheinlösung zu bringen vermochte. Man sieht an dieser Stelle, wie die Psychoanalyse dazu kam, die Vorgänge des unbewußten Seelenlebens zu studieren. Sie wurde dazu genötigt bei der Absicht, dem seinen Symptomen hilflos ausgelieferten Patienten wieder zur Verfügung über sich selbst zu verhelfen. (Der Psychoanalytiker versucht dem Patienten zu erklären, was dieser zwar weiß, aber nicht wissen will. Anm. JSB) Zu zeigen, wie es möglich ist, die Gesetze des unbewußten Seelenlebens zu studieren, ist hier nicht der Ort, nur, daß und warum es notwendig war. Nach den obigen Ausführungen verstehen wir, mit welchem Recht der Schöpfer der Psychoanalyse in einem kurzen Überblick über die Psychoanalyse im »Handwörterbuch der Sexualwissenschaft« Bonn 1923 (abgdruckt auch in »Freud, Gesammelte Schriften«, Band XI, S. 201 ff.) sagen konnte: »Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom >freien Ausleben< der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit.«
* Die Kursivierungen im Freud-Zitat (GW XIII, S. 227 f.) stammen von Müller-Braun-schweig. (Anm. der Psyche-Redaktion.)
Ein anderer, der Psychoanalyse gemachter Vorwurf, der sich zum Teil mit dem soeben erörterten deckt, ist der, die Psychoanalyse gehe als Wissenschaft wie als Praxis von ungeistigen, materialistischen Voraussetzungen aus. Nach ihr sei der Mensch einseitig als ein rein triebhaftes Wesen anzusehen. Diese Auffassung ist durch das bereits Gesagte schon ad absurdum geführt: wenn die Neurose aus einem mißglückenden Kampf des Ichs des Menschen mit seinem Trieb- und Affektleben hervorgeht, so ist damit bereits gesagt, daß es für die Psychoanalyse im Lebenshaushalt des Menschen nicht nur Triebe und Affekte gibt, sondern auch die Instanz des »Ich«, einer synthetischen, regulierenden, ausgleichenden Funktion, die das Streben und die Aufgabe hat, eine immer mehr zu erweiternde Herrschaft über das »Es«, eben jenen Inbegriff des rein Triebhaften zu gewinnen. Innerhalb dieses »Ich« findet sich als weitere Differenzierung das »Über-Ich«, dessen Hauptfunktion sich mit dem deckt, was wir von jeher als Gewissen kennen. Die sehr subtilen Wechselbeziehungen zwischen Über-Ich, Ich und Es in ihrer Bedeutung beim Gesunden wie beim neurotisch Kranken sind seit langem wichtiger Gegenstand der psychoanalytischen Forschung. Der Vorwurf des Ungeistigen, Materialistischen ist gegenüber der Psychoanalyse ungerechtfertigt, denn jene synthetischen Kräfte des Ich und — zumindest der Intention nach — die idealen Forderungen und Wertungen des Über-Ich sind geistiger Art, ungeachtet des Umstandes, daß die Psychoanalyse erforscht hat, wie sehr, und nicht nur beim neurotisch Kranken, sondern auch beim Normalen, immerfort Beziehungen gefährlicher Art zwischen den genannten drei seelischen Instanzen bestehen, das Ich und das Über-Ich ständig gleichsam Bestechungen, Verführungen und Verfälschungen von seiten des Es ausgesetzt sind, die das Ich zu faulen Kompromissen veranlassen und das Über-Ich dazu bestimmen, unter der Flagge von Idealen sehr wenig ideale Tendenzen zu verfolgen. Ungeachtet dieser komplizierten und gefahrvollen seelischen Struktur des Menschen, ja vielleicht gerade wegen ihr, ergibt sich für die Gesamtauffassung vom Menschen der Aspekt eines dramatischen Kampfes zwischen seinen geistigen und seinen triebhaften Kräften, ein heroischer Aspekt, der ihn nur ehren kann. Der Psychoanalyse ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie sei als Forschung und Therapie zersetzend und undeutsch. Sie ist, als Wissenschaft, wie jede Wissenschaft, auseinanderlegend, analysierend. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit auflösend und zersetzend. Die Psychoanalyse will, als Wissenschaft wie als Therapie, die unbewußten Anteile der Persönlichkeit, die den neurotisch kranken Menschen in der Betätigung eines ungebrochenen, aufbauenden, schöpferischen Wollens einengen und behindern, seiner bewußten Verfügung und Verantwortung wieder zuführen. Dadurch wirkt sie nicht auflösend, sondern erlösend, befreiend und aufbauend. Es ist zugegeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt. Leider ist die Psychoanalyse zum Teil dadurch in Mißkredit geraten, daß sie von Personen ausgeübt worden ist, die es nicht für nötig gehalten haben, sich jener umfänglichen Ausbildung und strengen Schulung zu unterziehen, die für eine sachgemäße und gewissenhafte theoretische und praktische Ausübung unbedingte Voraussetzung bildet. Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes-und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern des Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung wertvoll zu dienen. Wir geben zu, daß nicht bei allen Veröffentlichungen des psychoanalytischen Schrifttums diese positive und schöpferische Grundhaltung deutlich genug hervortritt. Ebenso, daß es angesichts der verwickelten Problematik der wissenschaftlichen Analyse für den Nichtfachmann schwer ist, sich ein zutreffendes Urteil zu bilden. Man muß auch immer daran denken, daß die Psychoanalyse, indem sie sich mit so heiklen Themata wie dem konfliktbeladenen Thema des Verhältnisses des Menschen zu seinem Triebleben befaßt, niemals erwarten darf, daß die Menschen von vornherein freudig nach ihr greifen, sondern daß sie ihr zunächst immer mit einer Scheu gegenüberstehen werden, die normalerweise erst dann weichen kann, nachdem eine sehr entsagungsreiche und intensive Auseinandersetzung mit ihr stattgefunden hat.
Konkret 02/92, S. 52
Helmut Dahmer
Ein Unikum
Zum 31.1.1992 hat der Verlag Klett-Cotta sämtliche Verträge mit den Herausgebern der renommierten und erfolgreichen »Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen« PSYCHE gekündigt und die Publikation eines neuen psychoanalytischen Fachblattes annonciert. Zweck dieses Unternehmens ist es, der bisherigen Mitherausgeberin und Witwe des PSYCHE-Gründers Alexander Mitscherlich, Margarete Mitscherlich-Nielsen, eine eigene Zeitschrift zu verschaffen – mit den Mitteln der alten (Abonnentenkartei, Titel, Cover, Konzeption und Büro). Helmut Dahmer, Redaktionsleiter und seit 23 Jahren Mitherausgeber der PSYCHE, protestiert in einem »Offenen Brief« an den Verleger Michael Klett gegen diesen Coup und kündigt die Fortführung der Zeitschrift in einem anderen Verlag an »The Queen had only one way of settling all difficulties, great or small. ‘Off with his head!’ she said without even looking round
‘I’ll fetch the executioner myself’, said the King eagerly, and he hurried off.« Lewis Carroll, »Alice’s Adventures in Wonderland« (Chap. VIII)
Sehr geehrter Herr Klett,
da Sie meine Briefe seit längerem nicht beantworten, wende ich mich heute auf dem Weg über die interessierte Öffentlichkeit an Sie.
Im Besitz aller Informationen über die Zeitschrift PSYCHE, die seit 1951 im Verlag Ihres Vaters erschienen ist, haben Sie sich vor etwa zwei Monaten in einem seit längerem schwelenden Konflikt unter den drei Herausgebern über personelle Fragen unvermittelt und wortlos auf die Seite geschlagen, auf der Sie die ‘stärkeren Bataillone’ wähnten.
Ihre Strategie ist es seither, eine der wenigen noch existierenden Zeitschriften, die in den ersten Nachkriegsjahren gegründet wurden, möglichst rasch zu zerstören, um in deren Ruine dann ein funkelnagelneues Zeitschriftenbäumchen anzupflanzen, das wiederum psychoanalytische Früchte tragen soll. (Vielleicht hoffen Sie gar, in seinen Zweigen werde eines Kaisers Nachtigall singen…) Sie gedenken, das neue Pflänzchen mit Hilfe unserer Abonnentenkartei aufzupäppeln, und haben auch schon ein kluges Böckchen als Gärtner angestellt.
Zweifellos meinen Sie, gegen diesen Zeitschriftenraub werde niemand prozessieren wollen, da doch ein Tycoon, eben einer der »Könige« von heute, mit von der Partie ist. Und sicher glauben Sie, die meisten unserer Abonnenten und Leser würden den Wechsel gar nicht bemerken, – sie seien im Grunde auf den Verlag, nicht auf die Zeitschrift abonniert und würden sich das neue Kuckucksei unterschieben lassen. ‘Es war einmal ein König,
Der hatt’ einen großen Floh ‘
… ‘Horcht! Einen Floh! Habt ihr das wohl gefaßt?’«
Goethe, »Faust«
(‘Auerbachs Keller in Leipzig’).
Nur ist die PSYCHE nicht irgendein Fach- oder Verbandsblatt, nicht irgendeine Galionsfigur auf SMS Klett-Cotta, sondern ein Unikum. »And all the king’s horses and all the king’s men« werden sie, haben Sie sie einmal zerstört, nicht wieder zusammensetzen können, auch nicht mit dem vielen Geld von King Michael (Schröter Anm.JSB), mit dem er, was die PSYCHE anging, stets so knauserte, und das nun die neue Hauszeitschrift flottmachen soll. Knauserig? Ja. Ich darf Sie erinnern: In den letzten 10 Jahren hat die Zeitschrift für den Verlag alljährlich einen hübschen Gewinn abgeworfen. Aber, um auch nur die zweite Angestellten-Stelle im PSYCHE-Redaktionsbüro finanzieren zu können, mußte die »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« einspringen, bei der ich Forschungsmittel einwarb, etwa so viel, wie der von uns erwirtschaftete Gewinn betrug…
Ein Unikum. Denn diese Zeitschrift war seit zwei Jahrzehnten auf einem Wachstumspfad, trug sich praktisch selbst, schrieb schwarze Zahlen und gewann Jahr um Jahr 100 Abonnenten hinzu. (Und das alles praktisch ohne Werbung.) Sämtliche ihrer 550 seit 1947 erschienenen Hefte wurden beständig nachgedruckt und für Käufer vorrätig gehalten.
Ein Unikum, sagte ich, und ich verstehe etwas davon, denn ich habe die Hälfte der bisher erschienenen 46 Jahrgänge als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift gestaltet.
Die PSYCHE, der Sie jetzt den Garaus machen wollen, war ein Kind der Nachkriegszeit, in der, nach Zerschlagung der NS-Diktatur, das von ihr Unterdrückte noch einmal eine Chance hatte. Die Zeitschrift sollte der Wiedereinbürgerung der zwölf Jahre lang als »jüdisch«, »zersetzend« und »kulturbolschewistisch« verpönten Psychoanalyse in (West-) Deutschland dienen und unabhängig von Verbänden, Instituten und Verlegern sein. Als Alexander Mitscherlich mir seine Zeitschrift dann zwanzig Jahre später anvertraute, schien die Wirtschaftswundergesellschaft, vaterlos und unfähig zu trauern, sich erstmals seit 1948 wieder für Alternativen zu öffnen. Zwar war Freuds Psychologie des Unbewußten längst von deutschen Mandarinen »verwissenschaftlicht« und die Psychoanalytische Bewegung durch Hitlers Terror zum Stillstand gebracht worden.Doch auch in den aktuellen Theorie- und Praxis-Gestalten der reimportierten, medizinalisierten und konventionalisierten Psychoanalyse glomm noch der Funke der Freudschen Ideologiekritik. Darum – und nur darum – habe ich während zweier Jahrzehnte den Psychoanalytikern in der PSYCHE ein Forum (und eine kleine Schreib- und Übersetzerschule) offengehalten.
Die PSYCHE ist ein Unikum. Weil sie das mit der Studenten- und Schüler-Protestbewegung der sechziger Jahre in Westdeutschland neu erwachte Interesse an der Psychoanalyse zu befriedigen verstand, konnte die Zeitschrift – die einzige psychoanalytische Monatszeitschrift, die es je gegeben hat – in den beiden vergangenen Jahrzehnten weit über die Grenzen der Berufsverbände hinaus vorstoßen, sich eine für psychoanalytische Zeitschriften unübliche Laien-Öffentlichkeit erschließen und ihre Auflage verdreifachen.
Sie ist aber vor allem deshalb ein Unikum, weil sie – im Unterschied zu den in den Berufsverbänden tonangebenden angelsächsischen psychoanalytischen Verbandsorganen und in der Tradition Alexander Mitscherlichs – das ganze Spektrum der Freudschen Aufklärung, die Therapeutik ebensowohl wie die sie fundierende Kritik der Kultur repräsentiert, den Anschluß an die anderen Humanwissenschaften sucht und Themen aufgreift, die ansonsten eher gemieden werden. (Durch Ihre Vertragskündigung blockieren Sie u.a. das Erscheinen unserer für den März und April vorbereiteten Themenhefte »Antisemitismus gestern und heute« – worin 11 Autoren das Ritual der Friedhofsschändungen analysieren , und »Psychoanalyse in Rußland«, in dem es um ihre Geschichte und mögliche Zukunft im Lande Lenins und Boris Jelzins geht.)
Ende Oktober 1991 haben Sie ein geheimes Briefchen von ein paar Leuten empfangen, die die PSYCHE, zu deren redaktioneller Beratung wir Sie vor ein paar Jahren eingeladen hatten, gern selbst übernommen hätten. Um den geplanten Coup irgendwie zu »legitimieren«, verstiegen sich die Unterzeichner, zu denen leider auch unsere verehrte Mitherausgeberin Margarete Mitscherlich gehörte (die sich seit Jahr und Tag weigerte, über prinzipielle und aktuelle Fragen der Zeitschrift auch nur einmal mit ihren beiden Mitherausgebern, Dahmer und Rosenkötter, zu reden), zu der Behauptung, der »Bestand« der Zeitschrift sei – durch die »Gruppe Dahmer«, wie es in dem Schreiben hieß – »gefährdet«. Zum »Beweis« wurden allerlei an den Haaren herbeigezogene Mängel und Beschwerden vorgebracht und zu einem armseligen Rechtfertigungsgespinst verwoben. Sie, der Sie sehr genau wußten, daß die Zeitschrift noch nie so gut dastand wie eben jetzt, verschwiegen mir die Existenz dieses Schreibens; ja, Sie getrauten sich nicht einmal, auch nur den Erhalt eines solchen Schreibens zu bestätigen… Der »Bestand« der Zeitschrift war ja auch wirklich gefährdet! Denn Sie waren ja drauf und dran, im Bunde mit den scheinbar so besorgten Briefschreibern den »Bestand« der PSYCHE abzuschaffen!
Alexander Mitscherlich hat (mit Kunz und Schottlaender) die PSYCHE begründet, Ernst Klett hat sie (nach Lambert Schneider) verlegt. Margarete Mitscherlich ruiniert sie, weil…, ja, weil sie ihr nicht allein gehört, sie sie also nicht ohne weiteres an ihre Klientel vergeben kann. Kollidieren solche Interessen mit der Verfassung (hier: der einer Zeitschrift), dann muß natürlich die Verfassung geändert werden. Stößt das auf Widerstand, ruiniert man nach Möglichkeit den alten und gründet einen neuen Staat (mit anderer Verfassung). Und Sie stehen Pate dabei. Denn, mag das Projekt auch abenteuerlich anmuten, gilt immer noch: »Ist das nötige Geld vorhanden, ist das Ende meistens gut.« Im zweiten Akt tritt Frau Mitscherlich dann nicht mehr als Mitherausgeberin einer von Alexander Mitscherlich gegründeten Zeitschrift, sondern als Gründerin ihrer eigenen auf – und Sie als ihr Verleger, mit mehr Rechten versehen, als Sie sie je der PSYCHE gegenüber hatten. Das heißt konservativ. Denn so wahrt man eine Tradition. »Der Held bedacht sich nicht zu lang:
‘Die Streiche sind bei uns im Schwang,
Sie sind bekannt im ganzen Reiche,
Man nennt sie halt nur Schwabenstreiche.’«
Ludwig Uhland, »Schwäbische Kunde«
Nach Ihrer »Wende« haben Sie zuerst wiederholt versucht, die Herausgeber ultimativ zur Unterzeichnung eines Abtretungsvertrages zu nötigen, durch den sämtliche Rechte an der Zeitschrift an Sie übergegangen wären, das heißt: die PSYCHE ihre Unabhängigkeit verloren hätte. Doch fand sich nur Frau Mitscherlich zur Unterschrift bereit. Daraufhin haben Sie mit einer Frist von 6 Wochen (!) die bestehenden Verträge aufgekündigt, um uns von den finanziellen und technischen Produktionsmitteln der Zeitschrift abschneiden zu können. Damit nicht genug, haben Sie Anweisung gegeben, unser Januar-Editorial, mit dem wir unsere Leser über die Situation informieren wollten, nicht zu drucken. (Der erste Fall von Zensur in der Geschichte unserer Zeitschrift.) Niemand soll den Etikettenschwindel bemerken, und kein anderer Verlag soll nach Klett-Cotta die PSYCHE verlegen können. Denn Sie sperren uns den Zugriff auf unsere Abonnenten-Kartei.
Scheuen Sie so sehr die freie Konkurrenz? Wäre es nicht eine geradezu göttliche Komödie, das Jahr 1992 damit zu eröffnen, gleich zwei psychoanalytische Monatszeitschriften auf einmal – die PSYCHE und Ihr »Neues Irgendwas«, das Blatt von Alexander Mitscherlich und das von Margarete – ins Rennen um die Gunst des Publikums zu schicken, – in einer Arena, in der das vielberufene »Zeitschriften-Sterben« grassiert und in der schon ein rundes Dutzend anderer psychoanalytischer Journale sich tummelt? Und hätte nicht Ihr neues Periodikum mit dem gestohlenen Titel einen Platzvorteil, wenn es mit so zündenden Innovationen aufwartet wie der »Verbindung zur klinischen Psychoanalyse«, zu »psychoanalytischen Institutionen« und deren »wissenschaftlichen Veranstaltungen« (um noch einmal das erwähnte geheime Briefchen zu zitieren)… Was meinen Sie? ‘Ein König hatte eine schöne Flöte.’
‘Und was machte er damit?’
‘Er pfiff darauf!’«
Sehr geehrter Herr Klett, nehmen Sie dies als meinen Neujahrsgruß.
Frankfurt a.M., Anfang 1992
Helmut Dahmer Helmut Dahmer ist Professor für Soziologie an der TH Darmstadt und lebt in Frankfurt
Kasten auf Seite 53 »Erbteil und Eigentum«
Frau Mitscherlich-Nielsen hat die PSYCHE, deren Mitherausgeberin sie seit 1981 war, offenbar für ein im Grunde ihr zustehendes Erbteil und Eigentum gehalten. Vor vielleicht drei Jahren faßte sie stillschweigend den Plan, den Redaktionsstab auszuwechseln, d.h. die Zeitschrift ihr genehmen Leuten zu übergeben. Einem Gespräch unter den drei Herausgebern über theoretische und praktische Fragen der Zeitschrift stets ausweichend und auf diese Weise jeden Herausgeberbeschluß verhindernd, brach sie 1989/90 einen Konflikt mit den angestellten Redakteuren, Frau Fehlhaber und Herr Michaelis, vom Zaun und arrangierte im Mai 1990 ein Treffen mit dem Stuttgarter Verleger, zu dem sie ihren Wunschkandidaten für die Redaktion, Hans-Martin Lohmann, gleich mitbrachte. Unter diesen Umständen konnte über dessen Kandidatur überhaupt nicht gesprochen, geschweige denn ein »Beschluß« gefaßt werden (was Frau Mitscherlich seither behauptet). Die gleichwohl zunächst gemeinsam bekundete Absicht, Herrn Lohmann zur Verstärkung des Redaktionsbüros nach Frankfurt zu holen, sofern sich die dafür erforderlichen Finanzmittel auftreiben ließen, wurde von mir und Herrn Rosenkötter fallengelassen, als Herr Lohmann zum einen – wie Frau Mitscherlich selbst – die Zeitschrift nach außen hin diskreditierte (um die Notwendigkeit seiner Mitarbeit zu unterstreichen) und zum anderen auf der Kündigung von Frau Fehlhaber und Herrn Michaelis, die beide seit vielen Jahren für die PSYCHE tätig sind (…), bestand.
Am 9.12. kündigte der Verleger die bestehenden Verträge mit den Herausgebern zum 31.1.1992, um auf diese Weise die PSYCHE binnen 6 Wochen »abzuwikkeln«. Frau Mitscherlich, die bereits den Abtretungsvertrag, den der Verlag ihr vorlegte, unterzeichnet hatte, trat nun als Gründerin eines »Neue PSYCHE« benannten Journals auf (…) Der Verlag kündigte an, Titel, Cover, Konzeption und Büro der Zeitschrift »übernehmen« zu wollen und Herrn Lohmann als Redakteur anzustellen. (…)
Wir setzen uns publizistisch gegen die Machenschaften des Klett-Cotta-Verlags zur Wehr und klagen gegen die 6-Wochen-Vertrags-Kündigungsfrist und die Aneignung des Titels und der Abonnentenkartei unserer Zeitschrift. Wir suchen finanzielle Unterstützung und einen neuen Verlag, um die PSYCHE weiterführen zu können.
Ist Ihnen, unseren Autoren und Lesern, daran gelegen, daß die Tradition der »alten« PSYCHE, die von Alexander Mitscherlich begründet wurde und von deren 46 Jahrgängen ich 23 gestalten konnte, fortgeführt wird, dann sollten Sie uns helfen, unsere Zeitschrift am Leben zu erhalten. Protestieren Sie beim Verlag gegen den Versuch, die PSYCHE lahmzulegen, geben Sie uns Ihre Adresse und die Ihrer Freunde, damit wir sie (auch ohne die uns vorenthaltene Abonnenten-Kartei) von einem neuen Verlag mit der PSYCHE beliefern lassen können, kündigen Sie Ihr Abonnement für die geplante neue Zeitschrift des Klett-Verlags und überweisen Sie Spenden auf das Konto von Detlev Michaelis: Nr. 390291 bei der »Frankfurter Sparkasse«, BLZ 500 502 01 (Stichwort: »Spende für die Unterstützung der PSYCHE«).
(…)
Frankfurt, 13. Januar 1992
Helmut Dahmer,
Detlev Michaelis,
Lutz Rosenkötter
aus einem Schreiben an Leser und Autoren der PSYCHE
Anschrift der Redaktion: Freiherr-vom-Stein-Str. 24-26, 6000 Frankfurt 1, Fax 069/172061
Intrigen, Skandale, üble Nachreden: das Drama um die Zeitschrift Psyche.
Penisneid bis über den Tod hinaus, narzißtische Gekränktheit, Verfolgungswahn, Verdrängung und Verschiebung – Therapeuten hätten jede Menge Arbeit. Doch der brutale Machtkampf um die Psyche, jene berühmte von Alexander Mitscherlich begründete „Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, hat schlechte Chancen, seelisch aufgearbeitet zu werden.
Dazu müßten sich jene, die sonst analysierend hinter der Couch sitzen, höchstselbst mit ihren Problemen auf das Psycho-Möbel strecken. Und auch für Seelendoktoren ist Selbsterkenntnis ein mühsames und zudem wenig einträgliches Geschäft.
Analysiert oder nicht – der Psyche-Streit taugt nicht nur zur hämischen Beglaubigung des Karl-Kraus-Bonmots, daß die Psychoanalyse genau die Krankheit sei, für deren Therapie sie sich halte.
Der Kampf um die renommierte Fachzeitschrift ist auch ein erschreckender Beleg für die Regression einer linken, kulturkritisch inspirierten Diskussionskultur: Weil die kontroversen Themen fehlen, streitet man sich um so heftiger um Köpfe.
Alexander Mitscherlich, dessen Analysen („Die vaterlose Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit der Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“) die verdrängten Seiten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft offenlegten, hatte die Psyche bald nach dem Krieg mitbegründet; sie sollte die von den Nazis verpönte Freudsche Theorie in Deutschland wieder heimisch machen.
Als Mitscherlich 1981 kurz vor dem Tod sein Haus bestellte, übergab er den Nachfolgern „eine wissenschaftliche Fachzeitschrift von internationalem Rang“ (Die Zeit). Zu seinen Nachfolgern als Herausgeber bestimmte der Psycho-Papst den linken Soziologie-Professor Helmut Dahmer, den er bereits 1968 mit der Redaktionsleitung der Psyche betraut hatte; den jüdischen Psychoanalytiker Lutz Rosenkötter, der wie Mitscherlich von den Nazis verfolgt worden war; sowie seine zweite Frau Margarete Mitscherlich, Analytikerin und Mitautorin von „Die Unfähigkeit zu trauern“.
Die Dreiteilung des Erbes machte Sinn: Psyche sollte nicht nur Forum der Freudschen Psychoanalyse als Neurosenlehre und Therapieform sein, sondern auch den kritischen Stachel einer aufklärerischen Kulturtheorie behalten: Die Zeitschrift war kein ödes Spezialistenblatt, sondern widmete sich, getreu dem Vorbild Freuds, den politischen und gesellschaftlichen Phänomenen.
Das Konzept hatte Erfolg. Noch im Mai 1990, so belegt ein internes Protokoll des Herausgebergremiums, war die Welt der Psyche in Ordnung: Von steigender Auflage (6802 Abonnenten – eine für Fachblätter achtbare Zahl) und einem „wachsenden Zustrom zur Veröffentlichung angebotener Beiträge“ war die Rede.
Über diese Manuskripte entschieden eine sogenannte innere Redaktion, die aus Dahmer und zwei vollzeitbeschäftigten Mitarbeitern bestand, sowie eine äußere Redaktion, der fünf Psychoanalytiker vom Fach angehörten.
Zwar bestimmte die testamentarische Verfügung Alexander Mitscherlichs, daß in Zweifelsfällen die Herausgebermehrheit das Sagen habe, doch meist entschied man einvernehmlich. Allerdings gab es zusehends weniger zu diskutieren – die Mitglieder der äußeren Redaktion und auch Margarete Mitscherlich erschienen immer seltener zu den wöchentlichen Sitzungen.
Sie hatten Wichtigeres zu tun, sie bereiteten einen „Coup“ (Dahmer) vor, um die Macht in der Psyche an sich zu reißen. Mit machiavellistischer Präzision bootete Margarete Mitscherlich im Zusammenspiel mit den ihr ergebenen Mitstreitern der äußeren Redaktion die Dahmer/Rosenkötter-Anhänger aus – und bewies dabei, daß man im Bündnis mit den Mächtigen ein renommiertes Fachblatt wie eine Fritten-Bude nach Lust und Laune erst dicht- und dann wieder aufmachen kann.
In einem zunächst geheimgehaltenen Schreiben an den Verleger Michael Klett schwärzte die Mitscherlich-Fraktion den seit 23 Jahren zur Psyche gehörenden Dahmer an. Als Vorwand diente die angeblich zu barsche Behandlung einer Mitarbeiterin der äußeren Redaktion, deren Streitlust, erinnert sich Dahmer, im umgekehrten Verhältnis zur Leistung für das Journal stand.
Die Protestler kritisierten den angeblich autokratischen Umgang Dahmers mit der äußeren Redaktion: So etwas gefährde den Bestand der Zeitung, Frau Mitscherlich werde übergangen. Sachlich hatten die Rebellen zur Begründung ihres Putsches wenig vorzubringen.
Das brauchten sie auch nicht. Frau Mitscherlich gelang es, Verleger Klett auf ihre Seite zu ziehen, der nach mehreren vergeblichen Versöhnungsversuchen – die Grande Dame der Psychoanalyse weigerte sich konsequent, zu einem Friedenskonklave zu erscheinen – Rosenkötter und Dahmer und damit indirekt auch dem geschäftsführenden Redakteur Detlef Michaelis kündigte. Im selben Atemzug nahm Klett Frau Mitscherlich als Alleinherausgeberin für eine Zeitschrift mit neuem Titel unter Vertrag: Die Psyche war tot, es lebte die Psychoanalyse.
Dahmer und Rosenkötter wiegten sich in dem Glauben, sie wären, einmal mit dem schriftlich erklärten Alexander-Mitscherlich-Segen versehen, unkündbar oder hätten zumindestens das Recht, von Klett die Herausgabe der Abonnentenkartei zu verlangen. Ein Trugschluß: Das Landgericht Frankfurt schmetterte ihr Begehren ab und bestätigte Klett „das Recht an der Zeitschriftenunternehmung“. Nur den Titel Psyche durften Dahmer und Rosenkötter behalten.
Die Herausgebergemeinschaft hatte, ohne die rechtlichen Konsequenzen zu bedenken, in einer harmlos erscheinenden Finanzierungsvereinbarung einen entsprechenden Passus unterzeichnet. Solch idealistische Verkennung kapitalistischer Machtverhältnisse hat Verleger Michael Klett schon bei anderen „spezialisierten Intellektuellen“ wie dem Merkur-Mitherausgeber Karl Heinz Bohrer beobachtet.
Ein in der vorvergangenen Woche geschlossener Vergleich macht den Sieg von Mitscherlich und Klett komplett: Dahmer und Rosenkötter müssen den Titel herausrücken, sind persönlich mit hohen Anwalts- und Gerichtskosten belastet, werden aber von finanziellen Nachforderungen verschont. Die Psyche ist wieder auferstanden – alleinige Herausgeberin: Margarete Mitscherlich.
So kann über die Hintergründe nur spekuliert werden: Hat sich da – wie ein offener, hoch emotionaler Brief des Sohns aus erster Mitscherlich-Ehe, Thomas Mitscherlich, insinuiert – eine böse Stiefmutter an den Nachfahren gerächt? Dazu würde passen, daß die Herausgeber-Witwe den inzwischen gekündigten Diplom-Soziologen Michaelis mit besonderem Ingrimm verfolgt („Der Mann hat doch keinerlei akademische Qualifikation“) – Michaelis lebt mit einer Mitscherlich-Tochter zusammen. Oder nimmt da eine immer stärker feministisch orientierte Analytikerin allzu gewaltsam Abschied vom Patriarchat?
Margarete Mitscherlich hat nicht nur den Verleger, sondern auch den Zeitgeist auf ihrer Seite: Immer lauter werden die Zweifel an der Freudschen Lehre, immer mehr Analytiker beschränken sich auf die Rolle des Therapeuten – da wirken die aufrechten Gesellschaftskritiker Dahmer und Rosenkötter nur noch wie Relikte aus der alten, linken Zeit.
Die Frankfurter Szene aber ist nach dem Fall des Marxismus so ermüdet, daß sie die Machenschaften um die Psyche ignoriert. Besonders enttäuscht sind Dahmer und Rosenkötter von der Reaktion des linken Altstars Jürgen Habermas. In einem Leserbrief nimmt der Soziologe Margarete Mitscherlich gegen den Vorwurf, eine Rechte zu sein, in Schutz. Ansonsten äußert sich der Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses zu der gewaltsamen Liquidierung der Psyche nicht: „Was immer die Gründe für das Zerwürfnis sein mögen . . .“
Ein ausländischer Dahmer-Kollege hingegen schrieb, die Vorgänge um die Psyche bewiesen die Notwendigkeit der Witwenverbrennung.
Die Sitten in der Psychobranche sind rauh geworden.
Ubersicht: Aufgrund der Tatsache — dies die These der Autoren —, das sich die nicht emigrierten deutschen Psychoanalytiker zwischen 1933 und 1945 auf zweifelhafte Weise mit dem Nationalsozialismus und seinen psychotherapeutischen Institutionen arrangiert haben, läßt sich für die gegenwärtige Situation der Psychoanalyse feststellen, daß die unbewältigte Vergangenheit für sie ein Trauma darstellt, das ihrem radikalen Wahrheits- und Erkenntnisanspruch fatal im Wege steht.
Einleitung
Die Folgen des Nationalsozialismus für die psychoanalytische Bewegung sind weitreichend und haben die Ausmaße eines Traumas angenommen, das bis heute nicht bewältigt ist. Die Auswirkungen des Nationalsozialismus implizieren nicht nur die Vertreibung und Tötung (Ermordung Anm.JSB) von Analytikern und die Zerstörung psychoanalytischer Institutionen auf dem europäischen Kontinent, sondern auch die Tatsache, daß z. B. in Deutschland die Psychoanalyse ins herrschende staatliche System integriert wurde. Das dies alles bis in die Gegenwart unbewußt wirksam ist, zeigt sich in den verzerrten und widersprüchlichen Darstellungen dieses Zeitabschnitts, im fehlenden Gedächtnis und in der Achtlosigkeit, mit der man mit historischen Fakten umgeht1[ii].
Obwohl ≫Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten≪ ein wesentliches Prinzip psychoanalytischer Arbeit darstellt, ist ein Großteil der Analytiker nicht in der Lage, dieses Prinzip auf die Ära des Nationalsozialismus (und ebensowenig des postnazistischen Deutschlands der Bonner Bundesrepublik und der gegenwärtigen Berliner Republik Anm. JSB) anzuwenden. Sie waren und sind den gleichen Abwehrprozessen unterworfen, wie sie typisch für die Gesellschaft sind, in der sie leben.
Die Entwicklung psychoanalytischer Identität, Theorie und Praxis sowie die Herausbildung (machtakkumulierenden Anm.JSB) psychoanalytischer Institutionen nach dem Krieg können nicht losgelöst davon betrachtet werden.
Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen etwa von Juden, Deutschen und Holländern während des Nationalsozialismus müssen bei der Auseinandersetzung (welche Auseinandersetzung? Es findet gar keine Auseinandersetzung statt, nirgendwo, Anm. JSB) mit dieser Zeit zu verschiedenen Ansatzpunkten führen. Es scheint, als hätten die jeweiligen Erfahrungen, die nicht wahrgenommen und benannt werden durften, die Macht eines Tabus bekommen.
Wir entschlossen uns bewußt als Juden, die heute in Usterreich bzw. in der Bundesrepublik leben, dieses Thema aufzugreifen. Im ersten Teil unserer Arbeit wollen wir versuchen, eine knappe Skizze der historischen Fakten zu geben, während wir im zweiten Teil einige Überlegungen zur psychischen Verarbeitung dieser Realität anstellen. Wir verstehen diese Arbeit als einen Versuch, den Prozeß von »Erinnern« und »Durcharbeiten« zu beginnen.
1932, einige Monate bevor Hitler Kanzler wurde, fand in Wiesbaden der 12. Internationale Psychoanalytische Kongreß unter Max Eitingons Vorsitz statt. Es war der bis heute letzte internationale psychoanalytische Kongreß auf deutschem Boden. Daß dieser Kongreß in Deutschland stattfinden konnte, war für Eitingon in seiner Eröffnungsrede Ausdruck der zunehmenden Etabliertheit und Anerkennung der Psychoanalyse in Deutschland. Die Gefahr, die sich für die Psychoanalyse durch das Erstarken des Nationalsozialismus abzeichnete, wurde kaum begriffen (Eitingon, 1933 b, S. 259; 1933 a). Bereits damals verließen viele Analytiker Deutschland2[iii].
Kurz nach der Machtergreifung Hitlers wurde die Bestimmung erlassen, Juden aus den Vorständen wissenschaftlicher Vereine auszuschließen. Der Vorstand der DPG bestand damals aus drei Juden: Eitingon, Simmel, Fenichel. Boehm und Müller-Braunschweig fungierten als Stellvertreter. Am 17. April 1933 fuhr Boehm zu einer Aussprache mit Freud nach Wien. In einem Bericht darüber zitiert er Freud, »daß seines Erachtens eine Änderung des Vorstandes die Regierung nicht davon abhalten würde, die Psychoanalyse zu verbieten«. In Boehms weiterer Darstellung kommt man zu dem Schluß, daß eine völlige Übereinstimmung zwischen ihm und Freud in bezug auf den Rücktritt des jüdischen Vorstands bestanden habe3[iv]. Die Generalversammlung der DPG vom 6. Mai erwähnt er nicht. Dort wurde mit Stimmenmehrheit beschlossen, »keine Änderungen in den Besetzungen der Ämter in der Gesellschaft und im Institut eintreten zu lassen« (Boehm, 1933, S. 637).
All das spielte sich in einer Periode zunehmenden Terrors ab, in der Freuds Bücher mit den Worten »Gegen die seelenzerstörende Überschätzung des Sexuallebens — und für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds« verbrannt wurden. Freud meinte dazu: »Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen!« (E. Freud, L. Freud, Grubrich-Simitis, Eissler, 1976, S. 238). Im Zynismus dieser Bemerkung schwingt, nachträglich betrachtet, etwas Verharmlosendes mit. Sie scheint den Nationalsozialismus in eine Kontinuität der jahrhundertelangen Judenverfolgung in Europa zu stellen und doch die Hoffnung auszudrücken, daß dieser Spuk im 20. Jahrhundert bald vorübergehen werde. Zu dieser folgenschweren Fehleinschätzung kamen nicht nur bürgerliche Wissenschaftler, sie bestimmte auch die Politik großer Teile der europäischen Arbeiterparteien. Viele Analytiker in Deutschland waren für ihr Engagement in linken Organisationen bekannt.
Am 18. 11. 1933 trat Eitingon als Vorsitzender der DPG zurück. Der Vorstand wurde auf Boehm und Müller-Braunschweig beschränkt. Nach dem Rücktritt des jüdischen Vorstands kam es schließlich, zwei Jahre später, zur vollständigen »Arisierung« der DPG. Die »Arisierung« bestand nicht allein in personellen Veränderungen. Das Berliner Psychoanalytische Institut und die Poliklinik, die aus Eitingons Mitteln finanziert worden waren (vgl. Freud, 1930, S. 5), gingen nach seiner Emigration nach Jerusalem vollständig in den Besitz des späteren Göring-Instituts über.
Mit dem Wirksamwerden der Nürnberger Rassegesetze fand 1935 eine Geschäftssitzung der DPG unter Vorsitz von E. Jones statt, über die berichtet wird, daß »die wenigen in Deutschland verbliebenen jüdischen Analytiker den Beschluß faßten, aus der DPG auszutreten« (Boehm, 1951, S. 3 f.).
Die »wenigen« jüdischen Analytiker machten damals etwa die Hälfte aller Mitglieder aus. Boehms Darstellung soll den Eindruck erwecken, daß Juden in dieser Zeit die Wahl hatten, freiwillig aus einer wissenschaftlichen Vereinigung auszuscheiden oder in ihr zu verbleiben. Sie wird vollends fragwürdig, wenn man bedenkt, daß der nichtjüdische deutsche Analytiker Dr. Kamm auf dieser Sitzung seine Mitgliedschaft unter Protest niederlegte und gemeinsam mit den jüdischen Kollegen auswanderte (Dräger, 1971, S. 261).
Bei einem Treffen zwischen Anna Freud, Jones und Boehm anläßlich des Ausschlusses der jüdischen Mitglieder kam es laut Angaben Boehms zu einer völligen Übereinstimmung. Anna Freud berichtete einem der Autoren in einem Gespräch im Februar 1982 Gegensätzliches: Mit der Übereinstimmung sei es nicht weit hergewesen. Sie hätte Boehm gefragt, ob er auch Freud ausgeschlossen hätte, wenn er Mitglied der DPG gewesen wäre. Dieser bejahte ohne Zögern. Alles weitere war für sie dann die Angelegenheit der Deutschen. Sowohl sie als auch ihr Vater wollten mit den deutschen Angelegenheiten nichts mehr zu tun haben, was auch aus Boehms Bericht über seinen Besuch in Wien 1937 klar hervorgeht. Der Besuch erfolgte nach der Beschlagnahmung der Buchbestände des Internationalen Psychoanalytischen Verlags4[v], nach dem von den Nazis erzwungenen Austritt der DPG (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft Anm.JSB) aus der IPV (Internationale Psychoanalytische Vereinigung Anm.JSB) und nach der Gründung des »Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie«. Boehm erstattete in Wien Bericht zu einem Zeitpunkt, da das Göring-Institut in die von Eitingon finanzierten Räumlichkeiten des BPI eingezogen war, die DPG nicht nur an diesem Institut mitarbeitete, sondern ihren gesamten Besitz zur Verfügung gestellt hatte. Boehm wurde bei seinem dreistündigen Bericht von Freud mit den Worten unterbrochen: »Genug, wir Juden haben jahrhundertelang um unserer Überzeugung willen gelitten, jetzt werden sich auch unsere christlichen Kollegen daran gewöhnen müssen, auch um ihrer Überzeugung willen zu leiden«5[vi] (Boehm, 1951, S. 6). Anschließend verließ Freud die Sitzung. Im Monat der sogenannten Kristallnacht, im November 1938, erfolgte die Auflösung der DPG, die ja gerade durch all diese Kompromisse hatte verhindert werden sollen. Sie wurde als »Arbeitsgruppe A« am Göring-Institut weitergeführt, ohne daß die Mitglieder sich Analytiker nennen durften. Der psychoanalytische Begriffsapparat mußte aus dem Sprachgebrauch eliminiert, es durften nur noch sogenannte Lehrbehandlungen durchgeführt werden. Bei aller auch noch so großen politischen Abstinenz war es unmöglich, die Vorgänge in Deutschland bei den nach 1933 stattfindenden internationalen psychoanalytischen Kongressen nicht zu erwähnen. 1934, beim IPV-Kongreß in Luzern, mußte Jones bemerken: »Es kann leider auch nicht behauptet werden, daß unsere Vereinigung durchaus frei von Rassen- und Nationalvorurteilen ist« (Jones, 1934, 5.112–115). Innerhalb der IPV gab es bereits damals unterschiedliche Haltungen zu den Ereignissen in Deutschland. Jones sah sich in seinem Abschlußbericht gezwungen, die Haltung der in Deutschland verbliebenen »deutschen und nichtjüdischen Analytiker«, im besonderen Boehms, gegen Kritik vehement zu verteidigen. Bei dieser Sitzung kam es zu einer heftigen Debatte über die sogenannten wilden Analytiker der nordischen Länder und nicht über die Ereignisse in Deutschland (Jones, 1934, S. 131-135, 139). W. Reich war damals bereits aus Deutschland emigriert und mit O. Fenichel an der Gründung einer psychoanalytischen Gruppe in Norwegen beteiligt, um deren Aufnahme in die IPV es ging. Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen dieser Debatte und Reichs Ausschluß aus der IPV. Sein Ausschluß erfolgte 1934 auf diesem Kongreß. Bei diesem Ausschluß ging es darum, ihn aus der DPG zu entfernen, wo er schon längst unerwünscht war. Seine Kritik an der Haltung der DPG und der IPV gegenüber den Nazis war u. E. der entscheidende Grund. »Man wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds Bücher von A. Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter der Führung C. G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden und >Untermenschen< Sigmund Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds, soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte wahrhafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit objektivem Geist« (Reich, 1934, S. 59). »Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben an eine >unpolitische<, das heißt der Politik völlig disparate Natur der Wissenschaft verstecken: Das wird aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo sie in der Tat liegen, und dementsprechend zu bekämpfen (z. B. Verbrennung der Bücher Freuds)« (ebd., S. 61). Diese Position konnte von der IPV und der DPG angesichts ihrer kompromißbereiten Politik gegenüber den Nazis nur als Bedrohung empfunden werden; Reichs Ausschluß war daher konsequent. Das betrifft jedoch nur einen Aspekt der Kontroverse um Reich, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen.
Auch beim nächsten Kongreß in Marienbad 1936 wurde die Tragweite der Ereignisse falsch eingeschätzt. Sie wurden kurz erwähnt, aber Jones hielt an seiner ursprünglichen Position fest, das kompromißbereite Vorgehen der DPG zu unterstützen. Die Mitarbeit am Göring-Institut wurde nicht weiter kritisiert. Das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« (Göring-Institut Anm.JSB) war die herausragende psychotherapeutische Institution in Deutschland. Somit waren die Nazis die ersten, die die Ausübung der »Psychoanalyse« in einer staatlichen Institution ermöglichten. Finanziert wurde das Institut zunächst von der »Deutschen Arbeitsfront«, später vom Reichsinnenministerium. Der oberste Leiter war Dr. Linden, einer der Hauptverantwortlichen für die Euthanasie an Geisteskranken. Er hielt am Institut Referate, darunter eines über Rassenhygiene. Es gab enge Verbindungen zur Luftwaffe, mehrere hohe Luftwaffenoffiziere nahmen an Seminaren und Praktika über Kurztherapie teil. Führungsoffiziere erhielten am Institut eine Ausbildung zur »Wehrbetreuung«. Dabei hatten die Freudianer mehr Einfluß als die Jungianer (Cocks, 1975, S. 171). Das Institut stand offen im Dienst der Naziideologie: man arbeitete über Infertilität, Steigerung der Geburtenzahlen und Homosexualität6[vii]. Das Buch Kempers »Die Störung der Liebesfähigkeit beim Weib« wurde damals veröffentlicht. Die Ideologie, mit der das Institut die psychotherapeutische Versorgung einrichtete, wird in Görings Ansprache vor der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, 1938, deutlich: »Gesund zu sein und zu bleiben ist nicht eine private Angelegenheit, sondern eine Pflicht; jeder Schaden gegenüber Leben und Gesundheit, den wir erleiden oder verursachen ist ein Schaden gegenüber Deutschland. Die Verhütung von Schaden ist im Nationalsozialismus enthalten« (Cocks, 1975, S. 162, 305, 312, 283).
Eben dieser Göring, der im Institut »Papi« genannt wurde, bezeichnete die Freudsche Analyse als »rassenfremd«. Er war der Ansicht, daß die Freudianer am Institut zu sehr »verjudet« seien. Die Kurztherapie wurde an diesem Institut besonders gefördert. »Papi« Göring war kein unbeschriebenes Blatt. Als Cousin des Reichsmarschalls Hermann Göring hatte er, nach dem Rücktritt Kretschmers, den Vorsitz der Deutschen Allgemeinen Gesellschaft für Psychotherapie übernommen, die Teil der übernationalen war und deren Vorsitz C. G. Jung innehatte. In der ersten Sondernummer der Zeitschrift »Deutsche Seelenkunde« schrieb Göring: »Die Gesellschaft setzt von allen ihren schriftstellerisch und rednerisch tätigen Mitgliedern voraus, daß sie A. Hitlers grundlegendes Buch >Mein Kampf< mit allem wissenschaftlichen Ernst durchgearbeitet haben und als Grundlage anerkennen. Sie will mitarbeiten am Werk des Volkskanzlers, das deutsche Volk zu einer heroischen, opferwilligen Gesinnung zu erziehen« (zit. nach Zapp, 1980, S. 20 f.). In dem gleichen Heft veröffentlichte Schultz-Hencke, Mitglied der DPG, den Aufsatz: »Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel.« Müller-Braunschweig stand dahinter nicht zurück. 1933 schreibt er in einem Aufsatz über »Psychoanalyse und Weltanschauung« im »Reichswart«: »Der Psychoanalyse ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie sei als Forschung und Therapie zersetzend und undeutsch … Es ist zugegeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist und es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt … Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Trieben Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, Liebesunfähige und egoistische Menschen zu Liebes- und Opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern, am Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung zu dienen« (Müller-Braunschweig, 1933, S. 22). Unter den Bedingungen eines Terrorregimes ist die Abgrenzung von der herrschenden Ideologie, bei ständigen Kompromissen mit diesem Regime, nicht möglich. Obwohl Müller-Braunschweigs Artikel, der nach der Bücherverbrennung erschien, eine Verteidigung der Psychoanalyse gegen nationalsozialistische Angriffe sein sollte, muß er so enden, wie oben zitiert. Zu Beginn schreibt er: »Die gegenwärtige Gesamtlage fordert erneute Einwertung« (der Psychoanalyse). So wird die »Rettung« und »Verteidigung« der Psychoanalyse zum Wegbereiter für die Ideologie der Herrschenden. Auch für die Mitarbeit am späteren Göring-Institut trifft dies zu. Der angebliche Freiraum und die von vielen als »anregend« dargestellte Atmosphäre des Instituts konnten dagegen keinen Schutz bieten. Einzig die aktive Teilnahme am politischen Widerstand konnte verhindern, daß Teile der Nazi-Ideologie internalisiert wurden. Im Falle J. Rittmeisters — dem Leiter der Poliklinik — führte dies allerdings zu seiner Hinrichtung.
1938, im Jahre der Auflösung der DPG, marschierten die Deutschen in Österreich ein. Bereits 1934, nach dem Februaraufstand in Österreich und der Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates, ging es um zwei Arten von Bedrohung für die Psychoanalyse: um eine direkte, die im Zusammenhang mit der Betätigung in verbotenen linken Gruppierungen stand, und um eine indirekte, die mit dem Widerspruch zu tun hatte, in den die Psychoanalyse aufgrund ihres aufklärerischen Charakters mit der herrschenden klerikalen Ideologie geraten mußte. Diese Situation führte zu besonderer Vorsicht bei Publikationen und zu einem »Verbot« des Vorstands der WPV (Wiener Psychoanalytische Vereinigung Anm.JSB), sich illegal politisch zu betätigen oder politisch aktive Patienten zu behandeln. Das stand nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Verhaftung E. Jacobsons, die sich 1935 in Berlin weigerte, über einen politisch tätigen Patienten Auskünfte an die Gestapo zu erteilen7[viii].
Sterba berichtet über diese Zeit, daß Müller-Braunschweig einen Wiener Analytiker 1936 zu einem Vortrag ans Berliner Institut laden wollte; einzige Bedingung war, er müsse Nichtjude sein. Keiner der Wiener nichtjüdischen Analytiker fand sich unter diesen Bedingungen dazu bereit, und das Ansinnen wurde abgelehnt (Sterbas Referat vor der WPV 1975). Auf der sofort nach dem »Anschluß« stattfindenden Vorstandssitzung wurde beschlossen, daß »jeder, dem es möglich sei, aus dem Land fliehen solle und der Sitz der Vereinigung dorthin zu verlegen sei, wo sich Freud niederlasse« (Huber, 1977, S. 52). Richard Sterba, Nichtjude, entschloß sich sofort zur Emigration. Er hatte den Vorschlag Müller-Braunschweig abgelehnt, neuer Vorstand der Berliner Poliklinik zu werden. Anna Freud würdigte sein Verhalten mit den Worten: »Wir alle waren überzeugt, daß Sie nicht die Rolle hier spielen würden, die Felix Boehm in Berlin gespielt hat« (ebd.). Anna Freud berichtet in dem bereits erwähnten Gespräch über Sterbas Begründung für seinen Entschluß: Er sei als Nichtjude der Gefahr der Anpassung noch viel stärker ausgeliefert gewesen als die Juden. Dieser Gefahr wollte er sich nicht aussetzen. Er erkannte die prinzipielle Unvereinbarkeit psychoanalytischer Tätigkeit mit den Anforderungen nach Anpassung unter einem Terrorregime und zog daraus die Konsequenzen.
Die Vorgänge, die sich im Zusammenhang mit der Beschlagnahmung des psychoanalytischen Verlags, der von Leipzig nach Wien gerettet worden war, abspielten, bleiben unklar. Martin Freud wurde unter Arrest genommen. Anna Freud kam in Gestapo-Haft.8[ix]
Der nationalsozialistische Chemiker Sauerwald wurde als kommissarischer Leiter der WPV, des Ambulatoriums und des Verlags eingesetzt. Die WPV wurde schließlich aufgelöst, die DPG, die damals noch existierte, übernahm die Treuhänderschaft über die Rechte und Pflichten sowie das Vermögen der WPV. SA-Banden und Gestapo drangen mehrmals in Freuds Wohnung ein. Die Situation schien derart verzweifelt, daß Anna Freud nach Schurs Darstellung an Selbstmord dachte, worauf Freud ihr erwiderte: »Warum? Weil sie (die Nazis) gerne möchten, daß wir das tun?« (Schur, 1973, S. 587).
Die Selbstmordrate stieg in Österreich nach dem »Anschluß« auf das Doppelte bis Dreifache an. Die »New York Times« berichtet im März 1938 aus Wien, daß »die Juden schutzlos Verhaftung, Plünderung, Beraubung ihres Lebensunterhaltes und der Wut des Mobs ausgesetzt seien« (zit. nach Rosenkranz, 1978, S. 39).
Freud emigrierte schließlich am 14. Juni 1938 mit seiner Familie nach London. Die meisten Analytiker folgten bald, und von den 102 Analytikern und Kandidaten blieben schließlich nur zwei Analytiker und vier Kandidaten in Wien zurück (Huber, 1977, S. 56). Die Emigration so vieler in so kurzer Zeit — den meisten gelang die Emigration bereits vor der »Kristallnacht« — konnte nur durch das mutige und entschlossene Verhalten von Marie Bonaparte ermöglicht werden. Trotzdem gelang es nicht, die vier Schwestern Freuds zu retten, sie kamen in deutschen KZs um (vgl. Kriill, 1979, S. 254 f.)9[x].
Die Redaktion der »Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse« und der »Imago« wurde nach London verlegt. Der letzte Jahrgang dieser Zeitschrift erschien 1941. Seitdem gibt es sie nicht mehr. Eingestellt wurden auch die »Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik«, »Der Almanach der Psychoanalyse« und »Die psychoanalytische Bewegung«.
Die Beziehungen zwischen den wenigen in Wien verbliebenen Analytikern und der NS-Macht waren nie so eng wie in Berlin. Denn in Wien gab es nicht eine solche Institution wie das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie«, und Winterstein selbst war »rassisch« nicht »einwandfrei«. August Aichhorn wurde 1938 als einziger Osterreicher Mitglied des Göring-Instituts (sein Sohn war in Dachau inhaftiert). Diese Mitgliedschaft ermöglichte es ihm, Kandidaten auszubilden. Ein großer Teil von ihnen waren Ärzte und Psychologen aus der Heeres- und Luftwaffenpsychologie bzw. -psychiatrie (Huber, 1977, S. 64). Auf Veranlassung von M. H. Göring wurde Aichhorn 1938 auch Mitglied der »Wiener Arbeitsgemeinschaft«. Diese war im gleichen Jahr von M. H. Göring als Zweigniederlassung des »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie« gegründet worden. Ein Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft, Graf Karl von Montesizky, wurde von der Gestapo verhaftet und kam in einem KZ um (ebd., S. 65).
1938 wurde der 15. Internationale Psychoanalytische Kongreß in Paris von Jones mit den Worten eröffnet: »Unsere heutige Zusammenkunft steht unter dem Eindruck eines neuen, fürchterlichen Schlages, den die Psychoanalyse erlitten hat, das ist die Auflösung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung .. « ( Jones, 1938, S. 361-363).
1939, nach Ausbruch des Krieges, wurde das Pariser Institut geschlossen. Analytiker mußten aus Frankreich emigrieren oder wurden, nach der deutschen Okkupation 1940, ermordert.
In Polen wurde der Entwicklung der Psychoanalyse um Bykowski und Bornstein und der weiteren Entfaltung der Psychoanalyse in der psychiatrischen Abteilung des jüdischen Krankenhauses in Warschau ein Ende gesetzt. Im Warschauer Getto starb Salomea Kempner, die Mitglied der DPG gewesen war.
In Italien wurde die psychoanalytische Vereinigung von den Faschisten ebenfalls aufgelöst, obwohl E. Weiss gute Beziehungen zu Mussolini gehabt haben soll, was für die Rettung Freuds von großer Bedeutung war. 1941, als in Holland Juden aus der holländischen psychoanalytischen Gesellschaft austreten mußten, löste sich die Amsterdamer Gruppe freiwillig auf. Insgeheim fanden jedoch wöchentlich wissenschaftliche Sitzugen mit Themen wie »Aggression in unserer Zeit « (Dr. P. Tibout) oder »Demokratische und totalitäre Regierungsformen« (Dr. van der Hoop) statt. Die Ausbildung von 16 Kandidaten und die psychoanalytische Behandlung wurde im Untergrund fortgesetzt. Jüdische Analytiker wurden versteckt.
Karl Landauer, der vor den Nazis aus Deutschland nach Holland geflohen war und nicht nur das Frankfurter Institut, sondern auch die holländische psychoanalytische Vereinigung mitbegründet hatte, wurde von den Nazis nach Theresienstadt deportiert und kam in Bergen-Belsen um (Nunberg und Federn, 1981, S. XXI; van der Sterren, 1946, 83—86). Watermann starb ebenfalls in einem deutschen KZ. Die Prager psychoanalytische Gruppe wurde ebenfalls aufgelöst; Fenichel, der von 1922 bis 1934 in Berlin tätig war und über Oslo nach Prag kam, mußte in die USA emigrieren. Die ungarische Gruppe konnte bis zur Invasion durch deutsche Truppen 1944, wenn auch unter Repressionen, weiterarbeiten. Jede Sitzung mußte polizeilich gemeldet werden und wurde observiert. Antisemitische Maßnahmen wurden auch in Ungarn immer stärker, bis 1941 der Vorstand der Vereinigung nicht mehr von einem Juden besetzt werden durfte. Mit dem deutschen Einmarsch wurde jede Aktivität der psychoanalytischen Vereinigung verboten, Juden durften weder behandeln noch behandelt werden. Insgeheim traf man sich jedoch weiter zu Sitzungen, auch jüdische Patienten wurden behandelt. Mit dem Beginn der Massendeportationen ungarischer Juden nach Auschwitz mußten sich die jüdischen Analytiker versteckt halten. Einige lebten unter schwedischem Schutz, andere suchten in Rot-Kreuz-Häusern Zuflucht. Trotzdem starben Géza Dukes, Miklos Gimes, Nicolaus Sugaŕ in KZs, Laszlo Révész, Erzsébet Petö-Pardos und J ános Kerényi wurden von Pfeilkreuzlern ermordet (Hermann, 1946, S. 87—92)11.
II a
Die verzerrte Darstellung der Ereignisse zwischen 1933 und 1945 durch die Nachkriegs-»Urväter« (und »Urmütter« Anm.JSB) der Psychoanalyse in der BRD sollte das eigene Verhalten rechtfertigen. Sie ist nur als Entlastungsversuch zu verstehen. Da gibt es kein Wort der Trauer und des Bedauerns12, im Gegenteil, es wird noch der Versuch unternommen, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Bedauert wird allein das eigene Leid oder der Verlust an intellektuellen Kapazitäten, der durch das »Weggehen« — so wird die Vertreibung und der Ausschluß der jüdischen Mitglieder bezeichnet — eintrat. In der Darstellung der Entwicklung der DPV nach dem Krieg wird ein Ton der Harmonisierung deutlich, besonders wenn es um das Verhältnis zur IPV geht, der den Tatsachen nur zum Teil entspricht. Jones war nach der Trennung von Schultz-Hencke um den Aufbau der DVP bemüht13. Von seiten der Internationale kam es jedoch nie zu einer Klarstellung des Verhältnisses zu den deutschen Analytikern. Das Mißtrauen der emigrierten Analytiker war sehr groß. Viele weigerten sich nach dem Krieg, die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit zu verwenden, die deutschen Analytiker scheuten nach der Trennung von Schultz-Hencke eine weitere Klarstellung. Noch 1977, beim internationalen Kongreß in Jerusalem, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und Ablehnungsäußerungen, als Berlin für den nächsten Kongreß vorgeschlagen wurde.
Als Begründung für das Verhalten deutscher Analytiker während der Nazizeit ist immer wieder die »Rettung« der Psychoanalyse angegeben worden. Aber es ging nicht nur um die Psychoanalyse. Auch die eigene Sicherheit und die soziale Position, die mit ihr verbunden war, sollten um jeden Preis gerettet werden. Baumeyer versucht die großen persönlichen Opfer darzustellen, die darin bestanden, »daß die Psychoanalyse nur durch ›Arier‹ in Deutschland vertreten werden durfte und daß Hinweise auf die jüdische Abkunft vermieden werden mußten«. Man hat fast den Eindruck, daß die »Arier« die Opfer bringen mußten, während die Juden emigrierten. Er schreibt weiter: »Mir scheint, daß das Ergebnis nachträglich das kompromißbereite Vorgehen der DPG gerechtfertigt hat: Die Psychoanalyse ist in Deutschland erhalten geblieben… !« In der weiteren Darstellung der Ergebnisse nach 1945 kommt die Haltung Baumeyers noch deutlicher zum Vorschein: »1946 wurde nicht eine neue DPG gegründet, sondern die alte DPG (die alten Mitglieder und der alte Vorstand) nahmen ihre Tätigkeit wieder auf« (Baumeyer, 1971, S. 205 und 234). Daß die alten Mitglieder und der alte Vorstand in der Zwischenzeit über die ganze Welt verstreut waren, scheint ihm nicht weiter erwähnenswert.
Mit der 1950 erfolgten Trennung der DPV von der DPG sollte der Eindruck entstehen, mit den Ereignissen in der Nazizeit nichts zu tun gehabt zu haben.
Die Gründungsmitglieder der DPV waren freilich ebenso am Göring-Institut tätig wie die DPG-Mitglieder.Die Verleugnung in manchen Darstellungen geht sogar soweit, die Psychoanalyse in der Nazizeit für tot zu erklären, um nicht sehen zu müssen, wie sehr sie sich in den Dienst der herrschenden Ideologie gestellt hatte.Im Göring-Institut hing Freuds Bild gegenüber Hitlers Porträt und wurde schließlich 1938 endgültig entfernt (Cocks, 1975, S. 155).
In den nachträglichen Rechtfertigungsversuchen ging es nicht um Klarstellung, sondern darum, eigene Schuldgefühle und fremdes Mißtrauen (Schuldgefühle? Eher Angst als diejenigen enttarnt zu werden, die sie waren: keine Psychoanalytiker sondern eine opportune machtakkumulierende Psychokratie-Nomenklatura. Anm.JSB) aus der Welt zu schaffen; man hatte nichts zu bedauern und nichts in Frage zu stellen. Es ging um den Wiederaufbau der DPV, als handele es sich um die Stunde Null. Das Wiederaufleben der Psychoanalyse in Deutschland nach 1945 wäre vielleicht anders, mit weniger Schuldgefühlen erfolgt, wenn es nicht zum Ausschluß der jüdischen Mitglieder gekommen wäre, wenn sich die »arischen« Analytiker nicht in den Dienst der Nationalsozialisten am Göring-Institut gestellt hätten. In der Mythenbildung um diese Periode wird unterschlagen, daß es auch andere Möglichkeiten des Handelns gab.
In Österreich wurde bereits 1947 zwischen Anna Freud und Aichhorn der Kontakt wieder aufgenommen. Nach Wien kamen kaum emigrierte Analytiker zurück, es war eher so, daß Analytiker Wien verließen.
Solms führt dies in seiner Arbeit auf die allgemein schwierige politische Situation in Österreich nach 1945 zurück, wobei er besonders die Besatzung durch die Alliierten hervorhebt.
Gerade in Wien sei der Einfluß der Sowjets sehr stark spürbar gewesen (Solms-Rödelheim, 1976, S. 1180-1191).
Wir sind nicht sicher, ob nicht auch andere Faktoren dafür ausschlaggebend waren. Von seiten der emigrierten Analytiker herrschte ein nicht immer begründetes Mißtrauen gegenüber den in Wien gebliebenen »arischen« Kollegen, das — zumeist unausgesprochen — die Situation noch komplizierte.
Es ging in Österreich nach der Befreiung nicht nur um eine schwierige politische Situation. Die Juden, die vorher vertrieben worden waren, waren auch nicht recht erwünscht. In keinem gesellschaftlichen Bereich wurden Juden zur Rückkehr nach Österreich eingeladen (in Deutschland auch nicht. Anm. JSB).
Alle politischen Parteien waren im gesamten öffentlichen Leben darum bemüht, das Geschehene vergessen zu machen. Was Mitscherlich für die Bundesrepublik als »manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder« bezeichnete, gilt auch für Österreich. In Österreich kam der Mythos, der noch heute gepflegt wird, hinzu, daß das Land von den Deutschen überfallen wurde.
II b
Die Forderung, die A. und M. Mitscherlich in ihren Arbeiten über die Bewältigung des Nationalsozialismus gesamtgesellschaftlich aufstellen, nämlich »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, ist gleichermaßen für die Psychoanalyse zu erheben. Bei der Beschäftigung mit der Geschichte der Psychoanalyse stößt man sehr bald auf einen gesellschaftlichen tabuierten Bereich. Im »Wirtschaftswunder« wurden die Mauern aufgebaut, die den Blick auf die eigene Vergangenheit verstellen halfen. A. und M. Mitscherlich zeigen in ihrer Arbeit »Die Unfähigkeit zu trauern« die sozialpsychologisch wirksamen Abwehrmechanismen auf, die sich — so meinen wir — auch in psychoanalytischen Institutionen ausbreiten konnten und damit die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte verhinderten. Gleichzeitig erscheint der psychoanalytische Beitrag zur Sozialpsychologie der jüngsten Vergangenheit und ihrer Verarbeitung heute als ebenso unerwünscht wie die Libidotheorie zu Anfang des Jahrhunderts.
Analytische Vorurteilslosigkeit erweist sich unter diesen Bedingungen als Illusion.Unter das Tabu fällt nicht nur der Nationalsozialismus, es wird auf Juden und Judentum ausgedehnt. Peinlichkeit und Scham tauchen auf, wenn es nur darum geht, das Wort Jude auszusprechen.(lange nicht mehr! Antisemitismus als „Israelkritik“ überall! Anm.JSB) Gleichzeitig entsteht bei vielen Kollegen mit dem Eintritt in die Vereinigung die Phantasie, in eine geschlossene jüdische Gesellschaft einzutreten, der sie sich nicht zugehörig fühlen. Diese Phantasie kann im Dienst der Verleugnung der heutigen österreichischen und deutschen Realität stehen: nicht wahrhaben zu wollen, daß es in der WPV und DPV kaum noch Juden gibt. Fast ist es so, als ob der eigentliche Zugang zur Psychoanalyse über das Judentum und nicht über das Erkenntnisinteresse erfolgen müßte.
Die Vorstellung von der Psychoanalyse als einer »jüdischen Wissenschaft« scheint uns einer Idealisierung zu dienen. Sie äußert sich in einer Mystifikation jüdischen Denkens und jüdischen Geistes und kann nicht zuletzt als Reaktionsbildung auf aggressive Strebungen verstanden werden.
Die Überhöhung, derer sich Juden bedienen, wenn es um Kulturleistungen und wissenschaftliche Errungenschaften geht, steht im Zusammen-hang mit Schamgefühlen. Jüdischer Stolz und jüdische Scham sind nur zu verstehen im Spannungsfeld von jahrhundertelanger Verfolgung einer Minorität und der sehr kurzen Geschichte ihrer bürgerlichen Rechte14.
In den Anfängen der Psychoanalyse waren bei ihren Gegnern antisemitische Töne nicht zu überhören. Die Psychoanalyse als »jüdische Wissenschaft« ist keine Erfindung der Antisemiten, der Jude Freud war eine Realität, was er in seiner »Selbstdarstellung« klar zum Ausdruck brachte:
»Die Universität, die ich 1873 bezog, brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich meine Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern. Ich meinte, daß sich für einen eifrigen Mitarbeiter ein Plätzchen innerhalb des Rahmens des Menschentums auch ohne solche Einreihung finden müsse. Aber eine für später wichtige Folge dieser ersten Eindrücke von der Universität war, daß ich so frühzeitig mit dem Lose vertraut wurde, in der Opposition zu stehen und von der ›kompakten Majorität‹ in Bann getan zu werden. Eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils wurde so vorbereitet« (Freud, 1925 a, S. 34 f.)
In »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« heißt es weiter:
»Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die Frage aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil gehabt hat. Ein Argument dieser Art ist nur selten laut geäußert worden, wir sind leider argwöhnisch geworden, daß wir nicht umhin können, zu vermuten, der Umstand sei nicht ganz ohne Wirkung geblieben.
Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen« (Freud, 1925 b, S. 110).
Über sein Verhältnis zum Judentum schreibt Freud:
»Was mich ans Judentum band, war — ich bin schuldig, es zu bekennen — nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den ›ethisch‹ genannten Forderungen der menschlichen Kultur. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben . ..14 Als Illustration des jüdischen Stolzes mögen folgende Witze dienen: Ein Jude sitzt neben einem fremden Herrn im Variete. Ein berühmter Vortragskünstler tritt auf. Der Jude dreht sich zu seinem Nachbarn und flüstert: »Einer von unsere Leut!« Bei der bekannten Sängerin tippt er den Herrn an und meint voller Stolz: »Auch von unsere Leut.« Ein Tänzer kommt auf die Bühne: »Auch von unsere Leut!« »Oh Jesus!«, stöhnt der Nachbar. Bestätigend darauf der Jude: »Auch von unsere Leut!«
— In der Klasse sollen die Schüler berühmte Wissenschaftler nennen. Klaus: »Einstein!« Werner: »R. Koch!« Jochen: »S. Freud!« Moischele: »Herr Lehrer, darf es auch ein Nichtjude sein?«
Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, um so gewaltiger, je weniger sie sich in Worte erfassen ließen, ebenso, wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion. Und dazu kam bald die Einsicht, daß ich nur meiner jüdischen Natur die zwei Eigenschaften verdankte, die mir auf meinem schwierigen Lebensweg unerläßlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ›kompakten Majorität‹ zu verzichten« (Freud, 1926, S. 51 f.).
Dies entspricht dem, was I. Deutscher nicht nur über Freud, sondern ebenso über Spinoza, Heine oder Marx sagt. Sie alle haben die Grenzen des Judentums gesprengt, »… sie waren apriori außergewöhnlich insofern, als sie, die Juden, an der Grenze zwischen unterschiedlichen Zivilisationen, Religionen und nationalen Kulturen gelebt haben und an der Grenze zwischen unterschiedlichen Epochen geboren und aufgewachsen sind. Ihr Denken reifte dort heran, wo die verschiedenartigsten kulturellen Einflüsse sich kreuzten und wechselseitig befruchteten … Jeder von ihnen gehörte zur Gesellschaft und doch wieder nicht, war ein Teil von ihr und doch wieder nicht. Dieser Zustand hat sie befähigt, sich in ihrem Denken über ihre Gesellschaft, über ihre Nation, über ihre Zeit und Generation zu erheben, neue Horizonte geistig zu erschließen und weit in die Zukunft vorzustoßen« (Deutscher, 1968, S. 8 f.).
Die Ausgrenzung, die für die analytische Identität von Bedeutung ist, ist nicht eine gleichsam angeborene, sondern eine, die Freud, aber auch Deutscher hervorhebt, an der Grenze zwischen den Kulturen stehend, aber im Sinne einer Wahl, nicht zur Gesellschaft gehörend und doch ein Teil von ihr zu sein. Judentum an sich, leidvolle eigene Erfahrungen, oder die der Eltern, können nicht die Garantie für Erkenntnisinteresse und Wahrhaftigkeit sein. Wenn die Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung, die persönlichen geschichtlichen Erfahrungen nicht durchgearbeitet sind, spielt auch bei Juden Angst, Scham und Verleugnung eine ganz wesentliche Rolle. Sehr oft wird die »Überlebensschuld« der Opfer zitiert, aber, wie uns scheint, ohne daß die nötigen Aspekte, die abgewehrt werden müssen, beleuchtet werden. Der Begriff der »Überlebensschuld« kann sehr leicht zu simplifizierenden Gleichsetzungen führen und erfreut sich bei Emigranten und auch deutschen Analytikern großer Beliebtheit. Das Phänomen der Überlebensschuld findet man tatsächlich sehr häufig bei ehemaligen KZ-Insassen. Die Frage: »Wie kann ich leben, wenn die wertvollsten und besten Menschen umkamen?« taucht immer wieder auf. Aber welches Maß an Scham und Entwürdigung bedeutet es, die Ermordung von Kindern und Eltern hilflos ertragen und überleben zu müssen? Der Begriff der »Identifikation mit dem Aggressor« hinsichtlich der KZ-Erfahrung scheint uns ebenso fragwürdig. Zunächst wird zwischen den verschiedenen Typen von KZ nicht differenziert. Aber für das Überleben in einem Vernichtungslager waren andere Überlebensstrategien notwendig als in einem »normalen« KZ. In Vernichtungslagern war nach der anfänglichen Verleugnung, die sehr bald angesichts der schrecklichen Wirklichkeit zusammenbrechen mußte, das Überwinden der nachfolgenden Regression von besonderer Bedeutung. Diese Regression konnte entweder zum »Muselman« führen, was den sicheren Tod bedeutete, oder ihren Ausweg darin finden, durch Anpassung an die tödliche Realität Strukturen zu internalisieren, die Überlebensstrategien ermöglichten und wie Fremdkörper in zerstörte Persönlichkeitsbereiche eindrangen.
Diese internalisierten Anteile der KZ-Welt waren allen Strukturen der »normalen« Welt entgegengesetzt, und nach der Befreiung, bei der Rückkehr in die »Normalität« scheint das Aufgeben dieser Anteile deshalb unmöglich zu sein, weil es mit der Realisierung des Ausmaßes der Vernichtung einhergehen müßte. Sie bleiben zerstörerisch in den bereits zerstörten Persönlichkeitsanteilen wirksam. Die Trauer scheint endlos.
Es war nicht nur die industrielle Massenvernichtung von Menschen — die heute verschleiernd Holocaust genannt wird —, es war die Vernichtung eines Volkes und seiner Welt mit allen Ausdrucksformen seiner Kultur, von der kaum archäologische Spuren zurückblieben. Offen bleibt, ob die kritiklose Anwendung des Begriffs der »Identifikation mit dem Aggressor« für alle ehemaligen KZ-Insassen nicht eher mit den Gefühlen der Therapeuten angesichts des Ausmaßes der Vernichtung zu tun hat als mit denen der Patienten. Grubrich-Simitis betont in erster Linie Gegenübertragungsgefühle, die die Arbeit mit solchen Patienten stören können. Sie stehen in Zusammenhang mit der Abwehr narzißtischer Ängste, sich mit dem Opfer zu identifizieren, und führen zu einer Einfühlungsverweigerung. Geht es aber dabei nicht um die Schuldgefühle des Analytikers, die aus seiner eigenen historischen Position herrühren und mit Hilfe dieser Einfühlungsverweigerung abgewehrt werden müssen?
Sind es nicht Schuld und Scham, die es ihm unmöglich machen, die Geschichte des Patienten erstmals als eine historische Realität zu sehen, um schließlich erarbeiten zu können, wie weit diese Realität vielleicht auch als Abwehr im psychoanalytischen Prozeß benützt wird?
Die Angst vor Ausgrenzung spielt bei Juden, die nach dem Krieg geboren wurden, eine bedeutende Rolle. Auch für diese sogenannte zweite Generation wird sehr häufig die »Identifikation mit dem Aggressor« bemüht, wobei dann noch der Versuch unternommen wird, politische und soziale Phänomene des heutigen Staates Israel damit zu erklären. Daß hinter dieser »Identifikation« ein unglaubliches Maß an Bedrohung und Angst steht, sich mit dem Opfer zu identifizieren, mit jenen Anteilen der Eltern, die Entwürdigung, Entmenschlichung und Trauer repräsentieren, tritt nur allzu oft in den Hintergrund. Wenn es nicht gelingt, diese Anteile in den Lehranalysen zu bearbeiten, weil Gegenübertragungsgefühle der Lehranalytiker das nicht zulassen, bleiben die Ängste, aber auch die Schwierigkeit, einen realen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen, bestehen. Statt dessen wird das eigene Leben zu einem Monument der Erinnerung an die Vergasten und die Leiden der Eltern.
Allzu oft scheint es in Analysen mit solchen Patienten dem Therapeuten darum zu gehen, unbewußte Phantasien oder verdrängte Triebkonflikte zu benützen, um die schreckliche historische Wirklichkeit nicht wahrnehmen zu müssen. Erst nachdem das Ausmaß des Grauens auf der Realitätsebene rekonstruierbar wird, kann festgestellt werden, inwiefern diese Realität auch der Abwehr unbewußter Strebungen und Konflikte dient. Wenn jüdische Analytiker die eigene Wirklichkeit nicht wahrnehmen und bearbeiten konnten, können sie für die Realität deutschen Leidens nicht offen sein.
II c
Für Deutsche und Österreicher ist die Grenze zwischen phantasierter und realer Schuld schwer zu ziehen. In der jeweils staatlich sanktionierten Darstellung deutscher Geschichte von »Dolchstoßlegende« bis »Volk ohne Raum«, vom »Zusammenbruch« bis zur »Besatzung« durch die Alliierten bleibt Deutschland das Opfer.Ebenso sollen »Wiederaufbau« und »Stunde Null« die eigene Geschichte voll Aggression, Verbrechen und Schuld auslöschen. Zurückkehren die ichschwachen, autoritätshörigen, hilflosen Väter. Im phantasierten Kriegsverbrecher jedoch kann die idealisierte Allmacht und Größe verborgen bleiben. Die Schuldängste, die diese unbewußten Omnipotenzphantasien begleiten, können durch Identifikation mit dem Opfer abgewehrt werden. Parolen, die jüngst in Frankfurt im Verlauf der Auseinandersetzungen um die Startbahn West auftauchten, scheinen uns paradigmatisch: »Wir sind die Juden von heute. Die Juden wurden in Gaskammern vergast, wir auf der Straße«. In dem Gefühl, selber das Opfer von Nazis zu sein, nämlich der eigenen Eltern, kann man sich die Suche nach den Ich- und Überich-Anteilen ersparen, die eben die abgelehnten Anteile der Elternobjekte repräsentieren (vgl. auch Simenauer, 1980, S. 8 f.). In Gesprächen mit jüngeren Kollegen, aber auch bei der Tagung der deutschsprachigen psychoanalytischen Vereinigung in Bamberg 1980 wurde deutlich, daß in Lehranalysen die Geschichte der Eltern im Nationalsozialismus häufig nicht vorkommt. Das gesellschaftliche Tabu geht soweit, daß auch in der Analyse über diese Epoche nicht gesprochen wird, was mit unserem Anspruch auf Wahrhaftigkeit unvereinbar ist. Wenn diese Anteile auch in Lehranalysen nicht vorkommen, weil der Lehranalytiker sich in dieser Angelegenheit vielleicht befangen fühlt, es ihm peinlich und unangenehm ist oder er sich überhaupt von dieser historischen Erfahrung ausnehmen, mit ihr nichts mehr zu tun haben will, bleiben sie unverändert erhalten. Wo eigene autoritäre Strukturen, aggressive und analsadistische Anteile, Vorurteile und Ressentiments zum Vorschein kommen, werden sie voller Angst und Schuld wahrgenommen. Antisemitische Ressentiments unterlagen seit der Jahrhundertwende einem Wandel. Nach Auschwitz haben sie den unverwechselbaren Beigeschmack von Vernichtung. Das macht es vielen jüngeren Kollegen schwerer, sich mit solchen Ressentiments mit der gleichen Wahrhaftigkeit auseinanderzusetzen, wie mit Ängsten, Hemmungen und Vorurteilen, die die Sexualität betreffen. Man kann sogar annehmen, daß der Beruf des Analytikers als eine Art »Deckidentität« benutzt wird, wenn Schuld und Scham über die eigene Geschichte unbearbeitet bleiben, aber auch dazu, dem Konflikt mit den Anteilen der Elternimagines zu entgehen, die abgelehnt werden und in Zusammenhang mit dem Naziregime stehen. Die Idealisierung Freuds, des Judentums und schließlich des Berufs des Analytikers kann man als Abwehr dieser Anteile interpretieren. Wie Heine den Taufzettel als Entree-Billet zur europäischen Kultur erlebte, so können umgekehrt für Analytiker die Initiationsriten in den Instituten als Aufnahme in die internationale menschliche Gesellschaft erlebt werden. Wenn psychoanalytische Identität in erster Linie durch Abgrenzung von den Nazieltern15[xii] bestimmt ist, muß das Erkenntnisinteresse in den Hintergrund treten. Konformismus und Anpassung werden vorherrschend, um diese Deckidentität vor Konflikten zu schützen.
11 d
Solche »blinden Flecken« in ganz wesentlichen Persönlichkeitsbereichen, die in engem Zusammenhang mit gesellschaftlicher Anpassung stehen, müssen einer Entwicklung hinderlich sein, die Psychoanalyse zu einer unabhängigen Wissenschaft vom Seelenleben zu machen und eine lebendige,
kreative Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Die heutige Verschulung und Anpassung der Psychoanalyse an medizinisch-akademische Normen scheint uns durch die historische Erfahrung der Psychoanalyse im Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich determiniert zu sein.Die »Rettung« der Psychoanalyse vollzog sich unter größtmöglicher Anpassung und Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Forderungen des Nazisystems. Sie wurde als eine Therapieform unter vielen in eine staatliche Institution eingegliedert und durfte dabei nicht einmal ihren Namen behalten. Zu vermuten ist, daß dieser historische Hintergrund in seiner unbewußten Wirksamkeit die gegenwärtige Praxis von Analytikern bestimmt, die in ausgesprochen analysefeindlichen Institutionen tätig sind und dabei die Psychoanalyse problemlos handhaben »… wie eine Brille, die man beim Lesen aufsetzt und fürs Spazierengehen ablegt … Die Psychotherapeuten, die sich gelegentlich auch der Analyse bedienen, stehen nach meiner Kenntnis nicht auf sicherem analytischen Boden« (Freud, 1932, S. 164). Die Versuche, Antagonismen zu eliminieren, kann man in der psychoanalytischen Theoriebildung wiederfinden, wenn Anpassung an gesellschaftliche Normen und Bedürfnisse sich insgeheim Eingang verschafft.
Das analytische Bild richtigen Lebens hat sich immer stärker an der Harmonie der Instanzen (Es-Ich-Überich) orientiert. Mit dem Weglassen von Trieb- und Strukturtheorie geht es schließlich nur noch um Balance und Harmonie. Die Psychoanalyse verliert so immer mehr ihren aufklärerischen Inhalt, die »Psychotherapie trat ihr Erbe an« (Adorno, 1955, S. 103). »Die Größe Freuds besteht, wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, daß er solche Widersprüche unaufgelöst stehen läßt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber, in sich, zerrissen ist« (Adorno, 1952, S. 111).
Die Entwicklung der Psychoanalyse in den USA läßt sich von den Ereignissen in Europa nicht loslösen, wo durch die Naziherrschaft eine eigenständige Entwicklung und Auseinandersetzung unterbrochen wurde.
Die Verbindung zwischen Emigration und Verfolgung herzustellen, ist offenbar zu bedrohlich. Die oft beklagte »Amerikanisierung der Psychoanalyse« kann beitragen, diesen Aspekt zu verdecken16[xiii].
Wir glauben zeigen zu können, daß Analytiker dem Anpassungsdruck der »kompakten Majorität« auch nach dem Krieg, wo es nicht mehr um persönliche Bedrohung, sondern um handfeste soziale Vorteile ging, nicht standhalten konnten (und nicht standhalten wollten. Anm.JSB). Juden und Nichtjuden waren in unterschiedlicher Weise am gesellschaftlichen Prozeß der Verleugnung beteiligt. Psychoanalytische Identität stand gerade in den Anfängen der Psychoanalyse in Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen. Mit dem Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung mußte („mußte“? Anm.JSB) die kulturkritische Dimension der Psychoanalyse weitgehend verlorengehen. Das Erkenntnisinteresse verengte sich, der Anpassung an medizinisch-akademische Normen zuliebe, immer stärker. Die Schaffung eines staatlich sanktionierten Titels wie »Facharzt für Psychoanalyse« entspricht dieser Tendenz. Bürokratisch-hierarchische Strukturen der Ausbildungsinstitute, Verschulung und fehlende Kreativität gehören dazu. Konformismus der Psychoanalyse nach außen und Konformismus in den Instituten verbergen sich oft unter dem Deckmantel der Orthodoxie und eines idealisierten Freuds-Bildes. Es mag vielen Kollegen unanalytisch erscheinen, auf die politischen und historischen Bedingungen von Phänomenen, denen wir an unseren Ausbildungsinstituten und in unserer klinischen Arbeit begegnen, so ausführlich einzugehen. Was die Rekonstruktionsarbeit für die Identitätsfindung unserer Patienten bedeutet, muß im gleichen Maße für Psychoanalytiker in ihren Institutionen, in ihrer klinischen Arbeit und in der Theorie gelten. Die bewußte Verarbeitung des realen Traumas, das der Nationalsozialismus in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung darstellt, ist Voraussetzung für die Weiterentwicklung unserer Wissenschaft. Die Forderung nach Wahrhaftigkeit kann vor der Identität des Analytikers nicht Halt machen.
(Anschrift der Verfasser:
Elisabeth Brainin, Händelgasse 1/4/42, 1170 Wie
Isidor J. Kaminer, Melemstr. 7, 6000 Frankfurt 1)
Suimmary
Psychoanalysis and national socialism. — German psychoanalysts who did not emigrate entered into dubious accommodations with Nazism and its psychotherapeutic institutions between 1933 and 1945. The authors assert that be-
cause this facts has not been adequately explored, the past which has not been
mastered remains as a trauma for comtemporary German psychoanalysis and
gravely impedes its radical strivings toward truth and knowledge.
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[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 23. 4 . 1982.
[ii] Im Info für Kandidaten und Ausbildungsteilnehmer der DPV Nr. 17 (1981), dem 100. Geburtstag Max Eitingtons gewidmet, werden sein Leben und Werk dargestellt.
Nicht erwähnt werden die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft: sein Rucktritt als Vorsitzender der DPG, seine Emigration nach Palästina und damit die Aufgabe
seines Lebenswerkes, des Berliner Psychoanalytischen Instituts.
[iii] Vgl. Bericht der Int. Unterrichtskommission 1935, S. 310-312, und Dräger, 1971, S.261: Hörerzahl: 1931: 22; 1932: 138; 1933: 39; 1934: 0; Kandidaten: 1932: 34; 1933: 23; 1934: 18.
[iv] Das Verhältnis einiger Wiener Analytiker zu Boehm war damals nicht eben ungetrübt. Als er und seine Frau, gemeinsam mit Jekels, der Berlin gerade verlassen hatte, bei Federns zu Besuch waren, sei es zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Boehms Frau stand zumindest in einem Nahverhältnis zur NSDAP, während Jekels, ein Jude, für seine kommunistische Gesinnung bekannt und Paul Federn als Sozial-demokrat engagiert war (persönliche Mitteilung von Ernst Federn).
[v] Die Buchbestände konnten nur durch diplomatische Intervention von Frankreich, England und den USA gerettet werden. Der Verlag wurde daraufhin nach Wien verlegt.
[vi] Den anschließenden Satz Freuds gibt Boehm wie folgt wieder: »Ich lege keinen Wert darauf, daß mein Name in Deutschland genannt wird, wenn nur mein Werk weiter richtig vertreten wird.« Bei Clark heißt es jedoch: »… solange mein Werk dort nicht richtig vertreten wird.« (Clark, 1979, S. 553) Die unterschiedliche Zitierung scheint uns keine Frage unterschiedlichen wissenschaftlichen Herangehens, sondern Ausdruck verschiedener Positionen zu sein, die sich in der Handhabung der »objektiven« historischen Fakten ausdrückt.
[vii] Dazu sei bemerkt, daß Homosexuelle bekanntlich ebenso verfolgt wurden wie Juden, »Asoziale« oder Zigeuner. Sie waren als Träger des »rosa Winkels« in deutschen KZs inhaftiert.
[viii] In den uns zugänglichen Quellen wird kein Fall von Ausschluß aus der WPV wegen politischer Betätigung erwähnt. Vielmehr hatten einige bekannte Analytiker wie Bernfeld, Federn, Nunberg, Deutsch, Friedjung, Buxbaum enge Beziehungen zu linken Organisationen. Von den Ausbildungskandidaten war M. Langer nicht die einzige, die einer verbotenen politischen Tätigkeit nachging. R. Ekstein, M. Gardiner, T. Erdheim-Genner seien hier nur beispielhaft erwähnt. Einige von ihnen mußten deshalb sogar Haftstrafen verbüßen (vgl. Borneman, 1981, S. 41; Huber, 1977, S. 27 f.; Int. J. Psychoanal., 1946, S. 71 f.; Langer, 1971, S. 39-42).
[ix] Müller-Braunschweig schreibt zu diesen Vorgängen, er sei von der WPV »um Hilfe gebeten worden« (Müller-Braunschweig, 1948, S. 18). Aus Kempers Sicht sieht es so aus, als hätten die Analytiker am Göring-Institut sich bei Göring dafür eingesetzt, die WPV und den Internationalen Psychoanalytischen Verlag »vor der drohenden Vernichtung zu bewahren« (Kemper, 1973, S. 275). Bei Jones heißt es: »Dann kam Müller-Braunschweig in Begleitung eines Nazi-Kommissars aus Berlin in der Absicht, die ganze psychoanalytische Organisation zu liquidieren« (Jones, 1957, S. 262). Über den bei vielen Autoren als Ursache für A. Freuds Verhaftung erwähnten Brief Müller-Braunschweigs sagte sie selbst, er sei bedeutungslos, lediglich höflich gewesen, und habe sicherlich keine Vorwarnung enthalten (persönliche Mitteilung). Nach Hubers Darstellung ist sogar der chronologische Ablauf nicht eindeutig (Huber, 1977, S. 187).
[x] Bereits vor der internationalen Konferenz von Evian, die im Juli 1938 stattfand, um die Einwanderungsquoten neu zu bestimmen, verschärften viele Länder die Einwanderungsbedingungen für Juden. Tausende österreichischer Juden wurden aus verschiedenen Ländern, in denen sie Zuflucht suchten, wieder ausgewiesen (vgl. Rosenkranz, 1978, S. 95-105).
[xi] Es soll hier erwähnt werden, daß die holländische und Londoner Vereinigung (dar-unter viele Emigranten) bei der Ausbildung von Analytikern in Deutschland (speziell der Heidelberger Gruppe um A. Mitscherlich) einen bedeutenden Anteil daran hatten.
[xii] Wir vermuten, daß — unabhängig davon, welche Haltung die Eltern während der Zeit des Nationalsozialismus eingenommen haben — allein schon die Tatsache, ein Deutscher zu sein, angesichts der Vergangenheit zu Konflikten führt.
[xiii] Hervorragende Analytiker wie Reik konnten in den USA ihre Tätigkeit nicht oder
nur unter erschwerten Bedingungen fortsetzen. Sich auf seinen Briefwechsel mit
Freud 1938 beziehend, schreibt er: »Nachdem mir klargeworden war, daß ich nicht
mehr länger in Holland bleiben konnte, wenn ich nicht den Nazis in die Hände fallen
wollte, emigrierte ich im Juni 38 in die Vereinigten Staaten. Die meisten Mit- beglieder
der New York Psychoanalytic Society behandelten mich sehr von oben herab.
Man ersuchte mich ernsthaft, nicht psychoanalytisch tätig zu werden, was einem Praxisverbot gleichkam.« Freud antwortete ihm: »… Sie mußten ja wissen, wie liebenswürdig unsere Kollegen dort Laienanalytiker aufnehmen, da für sie die Analyse nichts anderes ist als eine der Dienstmägde der Psychiatrie« (Reik, 1956, S. 119).
HANS—MARTIN LOHMANN, FRANKFURT A. M., UND LUTZ ROSENKÖTTER, STEINBACH/TS.
Psychoanalyse in Hitlerdeutschland. Wie war es wirklich ?*[i]
Ubersicht: Anhand der inzwischen zu dieser Frage vorliegenden Literatur versuchen die Autoren zu rekonstruieren, in welchem Sinne man davon sprechen kann, die Psychoanalyse sei von den Nazis vernichtet worden bzw. sie sei von den nicht emigrierten Mitgliedern der alten DPG über die Jahre der Diktatur hinweggerettet worden. Der Blick auf die Vergangenheit nährt den Zweifel, ob das Selbstverständnis heutiger Psychoanalytiker in der Bundesrepublik dieser historischen Erfahrung angemessen ist.
I
Fast vierzig Jahre nach der Niederlage des Nationalsozialismus ist die Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland zwischen 1933 und 1945 immer noch ungeschrieben. Den Gründen dafür, warum unsere Kenntnisse von dieser Ära bis heute ganz unzureichend geblieben sind, soll in diesem Beitrag nicht nachgegangen werden. Generell freilich läßt sich der vage Verdacht formulieren, daß auch die Psychoanalytiker als Berufsgruppe, ähnlich den Medizinern, Juristen u. a., wenig Interesse daran haben, sich der wechselvollen Geschichte ihres Fachs erinnernd und durcharbeitend zu versichern. Bequemer scheint der Weg zu sein, eine peinliche »historische Episode« aus dem Bewußtsein zu exkommunizieren, reflexionslos den »Sachzwängen« der Profession zu folgen und so auf einen »Fortschritt« zu setzen, von dem man nur in Unkenntnis der Vergangenheit träumen kann. Alexander Mitscherlich hat dazu im Vorwort zur Zweitauflage der von ihm und Fred Mielke zusammengestellten Dokumentation »Medizin ohne Menschlichkeit« (1949) das Nötige gesagt. Daß die Kenntnisse über das Schicksal der Psychoanalyse im Dritten Reich so unzureichend sind bzw. charakteristische Lücken aufweisen, mag auch damit zusammenhängen, daß, wie Regine Lockot (1981) anmerkt, die Spaltung der deutschen Psychoanalyse nach 1945 in zwei Gruppen (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft und Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) dazu führte, daß zwei unterschiedliche und jeweils apologetische Versionen vom Schicksal der Psychoanalyse zwischen 1933 und 1945 in Umlauf sind. Sprechen die einen, in der Tradition Harald Schultz-Henckes, Felix Boehms und Franz Baumeyers, von der »Rettung« der Psychoanalyse (um dergestalt ihre bruchlose Fortführung nach 1945 zu begründen), so konstatieren die anderen, in der Nachfolge von Ernest Jones, die »Liquidierung« der deutschen Psychoanalyse (um dergestalt ihren Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg plausibel zu machen). Beide Versionen, hinter denen man durchaus ein Interesse vermuten darf, scheinen uns nur bedingt geeignet, zur Klärung der tatsächlichen — und wie man feststellen wird: widersprüchlichen — Situation der Psychoanalyse unterm Nationalsozialismus beizutragen.
Die Autoren der vorliegenden Arbeit, die aus einer gemeinsamen Lehrveranstaltung am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut hervorgegangen ist, prätendieren indes nicht, die ungeschriebene Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland zwischen 1933 und 1945 nun endlich zu liefern. Sie haben weder selbständige Forschungen zu diesem Thema unternommen, noch sind sie unbekannter Dokumente habhaft geworden, die neues Licht auf jene Epoche werfen könnten. Was sie allerdings im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema herausfanden, war, daß, wenn auch sehr verstreut und zum Teil schwer zugänglich, nicht wenige Texte und Dokumentationen gerade in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden — unter denen vor allem die gründlichen Arbeiten von Cocks (1975) und Huber (1977) hervorgehoben zu werden verdienen —, die ein Stück Aufhellung und Aufklärung über das Schicksal der Psychoanalyse in jenen zwölf Jahren zu geben vermögen. Diese (teils disparate) Literatur soll im folgenden vorgestellt werden. Sie dient uns als Leitfaden zur Darstellung lediglich der markantesten und, aus unserer Sicht, bedeutsamsten Ereignisse, die die Psychoanalyse im Dritten Reich betreffen.
Erleichtert wurde unser Vorhaben durch die Tatsache, daß seit der Arbeitstagung der Mitteleuropäischen Psychoanalytischen Vereinigungen im Frühjahr 1980 in Bamberg (dokumentiert in Henseler und Kuchenbuch, 1982) das Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse in Hitlerdeutschland besonders bei den jüngeren Kolleginnen und Kollegen erfreulich gewachsen ist. Im übrigen sind wir uns eines Defizits bewußt: Es steht zu vermuten, daß in den öffentlichen und privaten Archiven noch unbekanntes Material, z. B. Korrespondenzen der vor 1933 in Deutschland, dann in der Emigration lebenden und lehrenden Analytiker (etwa Otto Fenichels, Siegfried Bernfelds, Wilhelm Reichs), lagert, dessen Publikation es vielleicht eines Tages erlauben wird, die Geschichte der Psychoanalyse unterm Hitler-Faschismus lückenloser, als das gegenwärtig möglich ist, zu rekonstruieren.
II
»Schicksal, Ergebung, das ist alles« (Freud, zit. nach Jones, 1957, S. 214).
Schon in den ökonomischen und politischen Krisenjahren vor 1933, als die NSDAP zur Massenpartei heranwuchs und sich die Möglichkeit einer nationalsozialistischen Machtergreifung am Horizont abzeichnete, setzte eine erste Emigrationswelle von deutschen Analytikern ein (vgl. Maetze, 1976, S. 1169; Boehm, 1978, S. 301). Nach Jones (1957, S. 206) ließ sich im Jahre 1932 Franz Alexander endgültig in Amerika nieder, gingen Hanns Sachs nach Boston, Karen Horney nach New York. Offenbar hatten einige Analytiker die »Zeichen der Zeit« rechtzeitig zu deuten gewußt.
Um so irritierender muten aus der Sicht des Nachgeborenen Äußerungen von Freud aus jenen Jahren an, die seine Auffassung deutlich machen, daß man die Psychoanalyse als Institution und Wissenschaft retten könne, wenn man nur ihre strikte politisch-weltanschauliche Neutralität beachte. In der Auseinandersetzung mit Wilhelm Reichs Versuchen, eine Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus herzustellen (vgl. dazu Dahmer, 1972, S. 208 ff.; 1973, S. 278 ff.), war Freud darum bemüht, »alle politischen Interessen seitens der Psychoanalyse zu dementieren« (Jones, 1957, S. 200)1[ii]. Daß die Psychoanalyse in ihrer Substanz — als Neurosen- und Kulturtheorie — keineswegs »neutral« war oder sein konnte, daß ihre »Negativität« sie vielmehr zu theoretischer und praktischer Gesellschaftskritik trieb, erkannten zwar Analytiker wie Simmel, Fenichel, Reich und Bernfeld, nicht aber Freud. Die Psychoanalyse mußte nach Lage der Dinge »auf die dezidierte Feindschaft der politischen Rechten … rechnen« (Dahmer, 1973, S. 322), was Freud freilich schon früher nicht davon abgehalten hatte, zu betonen, daß er weder schwarz noch rot sei (Jones, 1957, S. 400). Der Freudsche Rückzug auf eine Psychoanalyse »als science« (Dahmer, 1973, S. 322), auf eine weltanschaulich neutralisierte »reine Wissenschaft« sollte sich 1933 als ein verhängnisvoller Irrtum herausstellen.
Dominierten in Freuds Verhalten eine »instinktive politische Neutralität« (Clark, 1979, S. 551) und ein desillusionierter Skeptizismus gegenüber den politischen Parteiungen und Auseinandersetzungen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die schließlich, angesichts der handgreiflichen Bedrohung der Psychoanalyse durch den Nationalsozialismus, in eine zunehmend fatalistische Einstellung mündeten (vgl. etwa Freuds bei Jones, 1957, S. 218, zitierte Reaktion auf die am 10. Mai 1933 von den Nazis inszenierten Bücherverbrennungen; vgl. auch Clark, 1979, S. 548 ff., der ähnliche Äußerungen Freuds zusammengetragen hat), so gab es in den Reihen der deutschen Psychoanalytiker Reaktionen auf die politische Wende vom 30. Januar 1933, die über Freuds politischen Neutralismus weit hinausgingen. Carl Müller-Braunschweig, der zu den in Deutschland bleibenden Analytikern gehören sollte, veröffentlichte schon 1933 im »Reichswart« eine Stellungnahme »Psychoanalyse und Weltanschauung«, die an die schwelende »Weltanschauungsdebatte« innerhalb der Psychoanalyse der zwanziger und frühen dreißiger Jahre anschloß, nun aber den Erwartungen der neuen Herren Deutschlands klare Konzessionen machte:
»Der Psychoanalyse ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie sei als Forschung und Therapie zersetzend und undeutsch … Es ist zugegeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt … Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, … am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen« (zit. nach Dahmer, 1973, S. 480).
War dieses Statement opportunistische Anpassung an den völkisch-heroischen Zeit-Ungeist, so dokumentiert die gleichzeitige Stellungnahme Carl Gustav Jungs eine aggressive Wendung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Jung deutete »Die gegenwärtige Lage der Psychotherapie« (1934) als die Stunde der Abrechnung einer »arischen« Seelenkunde mit der dekadenten Psychoanalyse jüdischer Observanz:
»Das arische Unbewußte … enthält Spannkräfte und schöpferische Keime von noch zu erfüllender Zukunft, die man nicht ohne seelische Gefährdung als Kinderstubenromantik entwerten darf … Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt … nach meiner Erfahrung ein Unbewußtes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen läßt. Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewußt und differenziert, um noch mit den Spannungen einer ungeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdetenJugendlichkeit. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund als kindisch-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch Jahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf die eine ganze Welt mit erstaunten Augen blickt, eines Besseren gelehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments« (Jung, 1934, S. 9).
Jung ging in seiner Aversion gegen die »jüdische« Psychoanalyse so weit, deren Verbot in Deutschland anzuregen. In einem Brief an seinen Schüler Wolfgang Kranefeldt heißt es:
»Gegen die Dummheit kann man bekanntlich nichts tun, aber in diesem Falle können die arischen Leute darauf hinweisen, daß mit Freud und Adler spezifisch jüdische Gesichtspunkte öffentlich gepredigt werden und zwar, wie man ebenfalls nachweisen kann, Gesichtspunkte, welche einen wesentlich zersetzenden Charakter haben. Wenn die Verkündigung dieses jüdischen Evangeliums der Regierung angenehm ist, so ist es halt eben so. Andernfalls ist ja auch die Möglichkeit vorhanden, daß dies der Regierung nicht angenehm wäre …« (Jung, 1934 a, S. 377).
Diesem Extrem — C. G. Jungs Kampfansage, Müller-Braunschweigs Opportunismus — korrespondierte bei der Mehrheit der Psychoanalytiker die Verleugnung offenkundiger Realitäten2[iii]: Käthe Dräger (1971, S. 258 f.) spricht von einer unter den damaligen Analytikern verbreiteten Fehleinschätzung der politischen Lage und von einer »eher optimistischen Grundhaltung«; Kemper (1973, S. 272 f.) gibt zu Protokoll, man habe den Nationalsozialismus als »eine vorübergehende Erscheinung« betrachtet. Aufschlußreich ist aber, daß beide Reaktionen —präventive Selbstgleichschaltung hier, Realitätsverleugnung dort — in den späteren Erinnerungen der unmittelbar Betroffenen so gut wie keine Rolle spielen (vgl. z. B. Boehm, 1978). Die Gleichschaltung und schließliche Liquidierung der alten DPG — was nicht, wie die Formulierung von Jones (1957, S. 222) suggeriert, mit der Liquidierung der Psychoanalyse in Deutschland gleichzusetzen ist, sondern eher mit ihrer vom Nazi-Regime gewünschten Modifikation in Richtung Psychotherapie (vgl. Cocks, 1975, S. 13) —, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden, behandelt etwa Boehm wie einen eher technisch-administrativen Vorgang, auf den keiner der Beteiligten Einfluß auszuüben vermochte. Da ist die Rede von Erlassen, Drohungen und Lockungen seitens der NS-Behörden, denen die Mitglieder der DPG und des Berliner Instituts offenbar wehrlos ausgeliefert waren. Die jeweiligen Reaktionen auf die Gleichschaltungspolitik werden, auch von Jones, so dargestellt, als seien in der damaligen Situation nur diese Konsequenzen denk- und vorstellbar gewesen3[iv]. Immerhin gibt Dräger (1971, S. 260) in ihrem Bericht zu verstehen, daß Vorstand und Mitgliedschaft der DPG noch andere Optionen hatten als lediglich die, sich dem nazistischen Terror durch Stillhalten bzw. durch Identifikation mit dem Aggressor zu entziehen.
Zu der Frage, inwieweit die deutschen nicht emigrierten Psychoanalytiker dem Terror der Nazis widerstanden bzw. kampflos das Feld geräumt haben, schreibt Clark:
»An dem einen Ende des Spektrums standen diejenigen, die entschlossen Widerstand leisteten, am anderen die auf ihren eigenen Vorteil bedachten Kollaborateure, und zwischen den beiden Extremen gab es eine beinahe unendliche Vielfalt von Haltungen, die Männer und Frauen unter den verschiedensten Arten von Zwang einnahmen …« (1979, S. 553).
Zu denen, die aktiven Widerstand leisteten und dafür mit dem Leben bezahlten, gehörten Karl Landauer und John F. Rittmeister (vgl. Maetze, 1976, S. 1167; zu Landauer vgl. Hartman, 1976; zu Rittmeister vgl. Hermanns, 1982). Salomea Kempner kam im Warschauer Getto um. Auch Edith Jacobson, Marie Langer, Richard Sterba und Friedmann sind zu nennen, die zwar mit dem Leben davonkamen, aber durch ihre eindeutig kritische Haltung gegenüber der »appeasement«-Politik des Großteils der Psychoanalytiker auf der Seite des politisch motivierten Widerstands gegen den Nationalsozialismus standen. Zu den Kollaborateuren, die von der neuen Situation seit 1933 profitierten, gehörte ohne Zweifel Jung.Er übernahm gleich nach dem Machtantritt Hitlers den Vorsitz der gleichgeschalteten überstaatlichen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, nachdem Ernst Kretschmer aus Protest gegen die massive Einflußnahme der Nazis auf die Gesellschaft zurückgetreten war. Er wurde auch Herausgeber des neuen, von der Nazi-Ideologie geprägten »Zentralblatts für Psychotherapie« (Jones, 1957, S. 223; Clark, 1979, S. 554).
Die Haltung der meisten nicht emigrierten Analytiker bewegte sich irgendwo zwischen diesen Extremen; in der nachträglichen Beurteilung dieser Haltung, die von listiger Anpassung bis zu offenem Opportunismus reichte, sollten wir zurückhaltend sein. (Wieso? Anm.JSB) Vermutlich waren nicht wenige Psychoanalytiker der Ansicht, daß, »wenn man im kleinen Positionen preisgebe, … man im großen und ganzen heil davonkommen (werde)« (Lohmann, 1980, 5.951). Vielleicht war es auch Freuds Fatalismus — »Wenn sie mich totschlagen, gut; es ist eine Todesart wie eine andere« (Jones, 1957, S. 211) —, der das Gros der Analytiker von aktivem Widerstand ferngehalten hat. Aber man sollte um der Gerechtigkeit willen daran erinnern, daß es nicht ein erklärungsbedürftiges Phänomen ist, daß so viele nicht Widerstand leisteten; daß vielmehr erklärungsbedürftig ist, daß einige trotz allem Widerstand leisteten (vgl. Finkielkraut, 1980, S. 56).
III
»Bei allen meinen Schritten hat mir die Stellungnahme Freuds vorgeschwebt, es solle versucht werden, keiner Behörde eine >Handhabe< für ein Verbot unserer Tätigkeit zu geben« (Boehm, 1978, S. 302).
Unmittelbar nach Hitlers »Machtergreifung« setzte der Terror gegen Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter ein. Da die alte DPG zu einem hohen Prozentsatz aus jüdischen Mitgliedern bestand, war es nur folgerichtig, daß das Regime sich sehr schnell auch gegen die Psychoanalyse stellte.
Im Frühjahr 1933 kam ein Erlaß der Nazis heraus, der besagte, daß alle Juden aus den Vorständen wissenschaftlicher Vereinigungen auszuschließen seien. Im Vorstand der DPG befanden sich drei Juden (Max Eitingon, Otto Fenichel, Ernst Simmel). Felix Boehm, einer der beiden Stellvertreter im Vorstand, fragte, Clark (1979, S. 553) zufolge, bei den Behörden nach, ob diese neue Regelung auch für die Psychoanalyse zu gelten habe, was natürlich bejaht wurde (im Bericht Boehms kommt diese Episode übrigens nicht vor). Nach einer Aussprache Boehms mit Freud in Wien im April 1933, an der auch Paul Federn teilnahm, kam man zu dem Entschluß, dem Erlaß Folge zu leisten, um, wie Freud es ausdrückte, den Nazis keinen Vorwand zu liefern, die Psychoanalyse in Deutschland zu verbieten (Jones, 1957, S. 222; Boehm, 1978, S. 301), obwohl Freud in dieser Hinsicht eher pessimistisch war. Einer späteren Äußerung Anna Freuds zufolge (zit. bei Lockot, 1981, S. 14) war die Übereinstimmung zwischen Berlin und Wien, auf die Boehm sich immer wieder beruft, keineswegs vollständig, sondern offenbar äußerst prekär:
»Ich könnte noch hinzusetzen«, schreibt Anna Freud, »daß mein Vater nichts tun wollte, um es den Berlinern schwerer zu machen, aber einverstanden waren wir mit deren Handlungsweise natürlich nicht« (vgl. dazu auch Kemper, 1973, S. 272).
Nach Clarks Schilderungen der Ereignisse (1979, S. 553) kritisierte Freud Boehms Anfrage bei den Behörden. Auch dies charakteristische Detail fehlt in Boehms Bericht, wie überhaupt die Darstellungen der direkt Betroffenen (Boehm, Jones) sich nicht immer mit den Darstellungen von neutraler Seite (Clark, Cocks) decken. Die jüdischen Vorstandsmitglieder traten also zurück, und Boehm und Müller-Braunschweig bildeten fortan den neuen Vorstand der DPG. In den Unterrichtsausschuß wurden neben den beiden Letztgenannten Ada Müller-Braunschweig und die Jüdin Edith Weigert-Vowinkel gewählt; wenig später wurden zwei weitere jüdische Mitglieder der DPG, Edith Jacobson und Therese Benedek, in den Ausschuß kooptiert (Boehm, 1978, S. 302).
Das Datum der Eskalation der Gleichschaltung der DPG verlegt Jones (1957, S. 223) auf das Jahr 1933; tatsächlich aber fand sie erst zwei Jahre später, im Winter 1935, statt. Dem Boehm-Bericht zufolge kamen im November 1935 zwei Psychotherapeuten, Mitglieder der NSDAP, mit Boehm und Müller-Braunschweig zusammen und deuteten in diesem Gespräch an, die Psychoanalyse könne womöglich in Deutschland weiterbestehen, »wenn sämtliche Vertreter derselben Arier wären« (Thomä, 1963/64, S. 65; Boehm, 1978, S. 302). Aufgrund dieser neuen dramatischen Zuspitzung der Situation reiste Jones nach Berlin, und man kam auf einer am 1. Dezember anberaumten Sitzung überein, daß »die wenigen zurückgebliebenen Juden freiwillig (freiwillig? Anm.JSB) ihren Rücktritt nahmen, um die Vereinigung vor der Auflösung zu retten« (Jones, 1957, S. 223). Boehm umschreibt dieses für die deutsche Psychoanalyse verheerende Ereignis ähnlich euphemistisch — so, als hätten »die wenigen jüdischen Mitglieder « eine freie Wahl hinsichtlich ihres Verbleibens oder Ausscheidens treffen können. In diesem Sinne äußern sich auch Maetze (1976, S. 1170) und Kemper (1973, S. 272). Dagegen weisen Lockot (1981) und Brainin und Kaminer (1982) darauf hin, daß es sich bei den »wenigen« Juden um immerhin 18, d. h. um die Hälfte der damaligen Mitgliedschaft der DPG handelte.Lediglich ein nichtjüdischer Analytiker, Bernhard Kamm, protestierte gegen den Beschluß und legte zusammen mit den jüdischen Kollegen seine Mitgliedschaft nieder (vgl. Dräger, 1971, S. 261).
Wer geglaubt hatte, mit dieser Konzession an die Nazis sei nun Ruhe für die »arischen« Mitglieder der DPG eingetreten, sah sich bald getäuscht.
Schon wenig später, im Februar 1936, fand eine Unterredung zwischen Boehm und dem Referenten der Medizinalabteilung des Innenministeriums statt, bei der Boehm bedeutet wurde, man halte zwar die Psychoanalyse für eine »nützliche Therapie«, »aus weltanschaulichen Gründen« sei es aber nicht geraten, sich explizit auf Freud und sein Werk zu berufen. Der Referent schlug Boehm vor, das Berliner Psychoanalytische Institut bzw. dessen Vertreter sollten sich mit denen anderer psychotherapeutischer Richtungen zu einem gemeinsamen neuen Institut unter der Leitung von Prof. Matthias H. Göring, einem Verwandten des Reichsmarschalls H. Göring, zusammenschließen; dies entspreche auch den Wünschen Prof. Görings (zur Vorgeschichte und weiteren Entwicklung des »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie« vgl. weiter unten). Damit war abzusehen, daß das Berliner Psychoanalytische Institut in seiner damaligen Form keine staatliche Konzession erhalten würde (Boehm, 1978, S. 303).
Um sich angesichts dieser neuen Pression der Nazis Rückendeckung zu verschaffen, traf sich Boehm am 8. März 1936 mit Anna Freud in Brünn zu einer längeren Unterredung, »in welcher ich alle Möglichkeiten dieser geplanten neuen Institution mit ihr durchsprach. Österreich war für uns damals gesperrt, und ich konnte zu meinem Bedauern nicht nach Wien fahren. Anna Freud sagte mir zum Schluß… mehrfach wörtlich: ›Sie haben das vollste Einverständnis meines Vaters‹. Erst daraufhin hatte ich am 18. März 1936 eine weitere Unterredung mit dem Vertreter der Medizinalabteilung und erklärte ihm die Bereitschaft unserer Gesellschaft, seinen Vorschlag anzunehmen« (Boehm, 1978, S. 303). Jones (1957, S. 224) zieht dagegen in Zweifel, daß Freud und Anna Freud sich sonderlich positiv zu dieser Angelegenheit geäußert haben.
Am 28. März 1936 wurde der Internationale Psychoanalytische Verlag in Leipzig von der Gestapo beschlagnahmt und liquidiert. Damit war eine weitere, publizistisch wie finanziell wichtige Bastion der Psychoanalyse in Deutschland gefallen. Auch die telegraphische Intervention Jones‘ beim Leipziger Polizeipräsidenten hatte diesen Schlag nicht abwenden können. Für zwei Jahre, bis zum gewaltsamen »Anschluß« Österreichs ans Deutsche Reich, existierte der Verlag unter der Leitung Martin Freuds als Torso in Wien fort (vgl. Jones, 1957, S. 225; genaueres zum Schicksal des Verlags bei Huber, 1977, S. 22 ff.).
Ehe später die alte DPG aus dem Vereinsregister gestrichen und damit ihre endgültige Liquidierung vollzogen wurde (vgl. weiter unten), kam es in Wien zu einer Zusammenkunft Boehms mit Freud, vermutlich4[v] im Januar 1938. Angesichts der immer größer werdenden Schwierigkeiten für die deutsche Psychoanalyse sah Boehm sich offenbar einmal mehr genötigt, sich bei Freud und dem Vorstand der IPV rückzuversichern. Boehm (1978, S. 304) berichtet von einer mehr als einstündigen Unterredung mit Freud, bei der er diesen auch darauf hingewiesen habe, daß die Ausbildungskandidaten am Göring-Institut sich neben psychoanalytischem Wissen auch die Theorien C. G. Jungs aneignen müßten. Daraufhin habe Freud etwa folgendes gesagt: »Warum sollen sie das nicht auch noch erlernen; das kann ihnen doch keine Schwierigkeiten bereiten.«
Übereinstimmend berichten Boehm und Jones, daß im Anschluß an dieses Gespräch eine erweiterte Vorstandssitzung stattgefunden habe, an der neben Freud und Boehm Anna und Martin Freud, Paul Federn und Jeanne Lampl-de Groot teilgenommen hätten. Nachdem Boehm in einem mehr als dreistündigen Referat die prekäre Situation der Psychoanalyse in Deutschland vorgetragen hatte, unterbrach ihn Freud und sagte: »Genug! Die Juden haben für ihre Überzeugungen jahrhundertelang gelitten. Jetzt ist die Zeit gekommen, da unsere christlichen Kollegen für die ihrigen zu dulden haben. Ich lege keinen Wert darauf, daß mein Name in Deutschland erwähnt wird, solange mein Werk dort richtig vertreten wird.« Sprach’s und verließ den Sitzungssaal ( Jones, 1957, S. 224; Boehm, 1978, S. 304).
Boehm, der neben Müller-Braunschweig maßgebliche Vertreter der nicht emigrierten »arischen« Psychoanalytiker, hat sich in seinen Erinnerungen darauf berufen, in allen wichtigen, die Situation der bedrängten Psychoanalyse betreffenden Fragen in voller Übereinstimmung mit Freud gehandelt zu haben. Gleiches schreibt Baumeyer (1971, S. 205), der die »Billigung« aller Schritte durch Freud, Anna Freud und Jones hervorhebt. Was immer, dieser Version zufolge, mit der deutschen Psychoanalyse nach 1933 geschehen sei, habe sozusagen den Segen der Wiener Autorität gehabt. (Die soeben zitierte zornige Äußerung Freuds oder Anna Freuds oben wiedergegebene Einschränkung lassen derartige Beteuerungen allerdings wenig überzeugend erscheinen.) Im übrigen reklamiert Boehm ein Diktum Freuds, demzufolge man alles unterlassen solle, was den Nazis als »Handhabe« dienen könne, gegen die Psychoanalyse vorzugehen.
Vielleicht sind das nicht nur nachträglich konstruierte Schutzbehauptungen von einem, der sich später glaubte reinwaschen zu müssen. Die Haltung Freuds gegenüber politisch-gesellschaftlichen Gegenwartsproblemen, seine »seltsam gedämpfte« Reaktion (Clark, 1979, S. 548) auf den Aufstieg der NSDAP, seine in vielem apolitisch zu nennende Vorstellungswelt, kurz, seine, wie er in einem Brief an Lou Andreas-Salome (zit. nach Jones, 1957, 5. 519) selbstironisch anmerkt, »gewisse Weltwurstigkeit« — all das gibt der Vermutung Nahrung, daß Boehms Berufung auf den »Segen des Vaters«, deren Tendenz zur retrospektiven Beschönigung und Verharmlosung von Konflikten freilich nicht zu überhören ist, etwas mit Freuds Haltung zu tun haben muß. Nicht-Intervention und Schweigen sind so oder so auslegbar. Dies festzustellen heißt nicht, den Anteil der »arischen« deutschen Psychoanalytiker an der Gleichschaltung irgendwie zu schmälern. Im übrigen läßt auch Jones‘ Schilderung der damaligen Vorgänge im Zusammenhang mit der sukzessiven Liquidation der DPG nur beschränkten Raum für den Verdacht, es habe zwischen der Wiener Zentrale und dem Vorstand der IPV einerseits, dem DPG-Vorstand andererseits gravierende Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Verhaltens gegenüber dem Nationalsozialismus gegeben. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß alle Beteiligten, zumindest bis zum Zeitpunkt der gewaltsamen Liquidation der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und der erzwungenen Emigration Freuds nach England im Juni 1938, sich der vagen Hoffnung hingaben, die Psychoanalyse ließe sich in ihrem Kern, wenn auch unter Aufopferung gewisser Errungenschaften, retten.
Was Freud betrifft, so gibt es einige Indizien dafür, die belegen, daß er selber jene schon erwähnte »appeasement«-Politik der deutschen (und österreichischen) Analytiker zumindest passiv geduldet hat. Mag auch das Urteil Wilhelm Reichs, der in einem Brief an Otto Fenichel vom 26. März 1934 Freud die Unterstützung »reaktionärer Tendenzen« vorwarf (zit. nach Reichmayr und Wiesbauer, 1978, S. 59), allzu hart und ungerecht sein — fest steht, daß der alte Freud von den sich überstürzenden politischen Ereignissen überrollt wurde und offenbar nicht mehr die nötige Kraft hatte, ihnen mehr als fatalistische Passivität entgegenzusetzen.
Eine Lesart, die von der später emigrierten und heute in Mexiko lebenden Psychoanalytikerin Marie Langer stammt, freilich in der von uns gesichteten Literatur keine Bestätigung findet, besagt, nach der Verhaftung Edith Jacobsons in Deutschland, die »aus politischen Gründen« (Kemper, 1973, S. 270) erfolgte, sei von den »Autoritäten«5[vi] der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung der Beschluß gefaßt worden, »daß Analytikern jede illegale Betätigung, wie auch die Behandlung politisch engagierter Patienten verboten war. Als Grund wurde die Rettung der Psychoanalyse, der ›Vereinigung‹ und ihrer Mitglieder angegeben«.
Weiter heißt es bei Langer: »1936, ich und eine Gruppe von Ärzten werden unter der Anklage, ›für den Frieden zu arbeiten‹, verhaftet…
Mangels gesetzlicher Grundlagen wurden wir zwei Tage später auf freien Fuß gesetzt. Der Vorfall sprach sich herum. Ich hatte das neue politische ›Abstinenzgebot‹ gebrochen. Mein Fall würde untersucht und ich mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden; mit Hilfe meines Analytikers (Richard Sterba) konnte das zum Glück abgewendet werden« (zit. nach Huber, 1977, S. 28).
Es bleibt unklar, ob und inwieweit Freud in diesen Vorfall (wenn er denn authentisch ist) verstrickt war. Aber was Huber (ebd., S. 57) im Hinblick auf die Geschichte der DPG seit 1933 zutreffend die »Geschichte ihres Assimilationsprozesses« nennt — nämlich an die vom NSStaat und seiner totalitären Gesundheitsideologie geforderte »Neue Deutsche Seelenheilkunde« —, hat, so wird man nach allem, was man heute darüber wissen kann, schlußfolgern dürfen, auch mit Freuds Haltung, ebenso mit der von Jones zu tun. Resümierend muß man festhalten, daß damals (ebenso wie heute Anm.JSB), von Ausnahmen abgesehen, eine ganze Generation von Psychoanalytikern politisch blind war. Der dafür zu zahlende Preis war hoch.
IV
In den zwanziger Jahren hatte nicht nur das Berliner Psychoanalytische Institut einen ständigen Aufschwung genommen (vgl. Bannach, 1971). Das stärker werdende Interesse am Unbewußten fand auch Resonanz bei Psychotherapeuten, die weniger streng methodenbewußt und rational-kritisch waren als die Psychoanalytiker. Es waren Ärzte und Psychologen, die das »mechanistische Weltbild« der naturwissenschaftlich orientierten Medizin ablehnten, den antirationalen und antiliberalen Affekt des damaligen Bürgertums aufnahmen und in der Tiefe der Seele eine Erneuerung suchten, für die der Verstand nicht auszureichen schien. In diesem Umfeld konnten nationalistische Affekte und auch rassenbiologische Vorstellungen gedeihen. Es waren Außenseiter, die versuchten, die herrschende Lehre der Medizin zu erweitern, und die, wie sich zeigen sollte, mit ihren Vorstellungen von Psychohygiene dem paranoiden Gesundheits- und Reinheitsbewußtsein der Nationalsozialisten später entgegenkamen.1926 wurde die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) gegründet. In ihr finden wir Namen wie J. H. Schultz, Gustav Heyer, Matthias H. Göring, v. Hattingberg, Fritz Kuenkel, Harald Schultz-Hencke, Walter Cimbal. Auch Psychoanalytiker haben sich an den Kongressen dieser Gesellschaft beteiligt, da ihnen die Absicht, mehr psychologisches Verständnis in der Medizin zu verankern, durchaus wünschenswert und vertretbar erschien. Auch einzelne Psychiater, so z. B. Ernst Kretschmer, gehörten der Gesellschaft an, obwohl die Schulpsychiatrie insgesamt eher psychotherapiefeindlich eingestellt war (Cocks, 1975, S. 35, S. 71-79).
Für das Folgende stützen wir uns im wesentlichen auf die sorgfältig dokumentierten Untersuchungen des amerikanischen Historikers Geoffrey Cocks (1975).
Wie viele andere Vereine und Berufsorganisationen schaltete sich die AÄGP inhaltlich und formal 1933 der NS-»Weltanschauung und dem Führerprinzip« gleich. Das war keine passive Unterwerfung, sondern wurde von einer Anzahl von Mitgliedern der AÄGP höchst aktiv herbeigeführt (ebd., S. 116).
Am 6. April 1933 trat Ernst Kretschmer, der den Nationalsozialismus ablehnte, als Vorsitzender der Gesellschaft zurück. Sein Nachfolger wurde C. G. Jung, der seit 1930 schon der stellvertretende Vorsitzende gewesen war. Nach Jungs Plan bekam die Gesellschaft einen internationalen Status, während der zahlenmäßig weitaus bedeutendste Zweig den Namen »Deutsche Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie« erhielt (ebd.).
Absatz 1 der Satzung der DAÄGP bestimmte als Sitz des Vereins Wuppertal-Elberfeld, den Wohnsitz des Psychotherapeuten und Verwandten des späteren Reichsmarschalls Hermann Göring, Matthias H. Göring, der eine »Neue Deutsche Seelenheilkunde« schaffen wollte. Absatz 2 gelobte dem Führer bedingungslose Treue. Absatz 4 und Absatz 5 gaben dem Vorsitzenden das Recht, Funktionsträger der Gesellschaft allein zu ernennen. Laut Absatz 5 konnte der Vorsitzende jeden Aufnahmeantrag zurückweisen und jedes Mitglied ausschließen. Absatz 6 gab ihm die Verfügung über alle Einnahmen und Ausgaben des Vereins, und in Absatz 7 hieß es: »Der Vorsitzende hat das Recht, alle Veröffentlichungen im Namen der Gesellschaft vor der Drucklegung zu genehmigen … er hat auch das Recht, alle Vortragenden zu unterbrechen und am Weitersprechen zu hindern, wenn sie etwas nach seiner Meinung Unerlaubtes gesagt haben oder sagen wollen« (aus dem Englischen rückübersetzt, L.R.) Laut Absatz 8 konnte der amtierende Vorsitzende eine Liste von Personen festlegen, unter denen seine Nachfolger zu wählen seien. Absatz 9 verlangte Abstimmung mit der zuständigen Stelle des Reichsinnenministeriums (ebd., S. 117-119).
Eine wissenschaftliche Gesellschaft hatte sich also der Freiheit des Denkens und der Kritik entledigt und sich auf Befehl und Gehorsam eingeschworen. Der so nach dem Führerprinzip agierende Vorsitzende war H. Göring. Die erwähnte Satzung war ihm auf den Leib geschnitten. Dies muß man wissen, um beurteilen zu können, mit wem sich die damaligen »arischen« Psychoanalytiker auf Kompromisse eingelassen haben.
Matthias Heinrich Göring, ein Vetter Hermann Görings, 1879 geboren, promovierte als Jurist 1900 und als Mediziner 1907. 1909/10 war er Assistent bei Kraepelin in München. Ab 1913 gehörte er der Gießener Psychiatrischen Universitätsklinik an. Dort entdeckte er sein Interesse an Psychotherapie und Hypnose. 1923 ließ er sich als Neurologe in Wuppertal-Elberfeld nieder. Nach Ausbildung und Lehranalyse bei den Adler-Schülern Seif und Kuenkel in München gründete er 1929 eine Erziehungsberatung und die »Psychotherapeutische Arbeitsgemeinschaft Wuppertal«. Seit 1928 gehörte er der AÄGP an. Der enge Zusammenhang des Göring-Familienclans sicherte ihm Einfluß im »Dritten Reich«.
Göring wird als ein schüchterner, sanfter Mann mit einem Sprachfehler geschildert, der wissenschaftlich für die Psychotherapie kaum mehr als eine Galionsfigur war. Er war leidenschaftlicher Nationalist, zugleich frommer Pietist. In der AÄGP und später in seinem Institut wurde er wegen seines weißen Barts und aufgrund einer gewissen Gutmütigkeit »Papi« oder »Weichnachtsmann« genannt. Obwohl überzeugter Nationalsozialist bis ans Ende, erschien er Andersdenkenden nicht als »gefährlich« im Sinne von Denunziation oder staatlicher Repression (ebd., S. 132-136). Diese Züge dürfen aber nicht über seine Entschlossenheit hinwegtäuschen, die »Neue Deutsche Seelenheilkunde« von jedem jüdischen Einfluß zu reinigen.
Ernest Jones traf am 19. 7. 1936 in Basel mit Göring, Boehm, Brill und Müller-Braunschweig zusammen, um über die Eingliederung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in das zu gründende Göring-Institut zu verhandeln. Jones schreibt, er habe »in Göring einen liebenswürdigen, zugänglichen Menschen« gefunden, der freilich nicht in der Lage gewesen sei, die der psychoanalytischen Gruppe versprochene Freiheit zu gewähren (Jones, 1957, S. 224). Kemper (1973, S. 286) schreibt über ihn: »Göring, selber Parteigenosse, versuchte — eingedenk des ihm gewordenen Auftrags (!!), am Institut die Grundlage einer >Deutschen Seelenheilkunde< zu entwickeln — jene wenigen Kollegen (d. h. gesinnungstreuer Nationalsozialisten, L. R.) im Institut als Leiter der kulturpolitisch wichtigen Ressorts zu verankern, um so ein Gegengewicht gegen die erdrückende Mehrheit der anders Orientierten zu bekommen.«
Im Mai 1936 wurde das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie e. V.« in Berlin gegründet. In ihm sollten die nunmehr rein »arischen« psychotherapeutischen Schulen in Deutschland zusammengefaßt werden. Es wurde von der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF) getragen und deren »Amt für Berufserziehung und Betriebsführung« unterstellt (Cocks, S. 147).
Käthe Dräger schreibt, Freuds Werke hätten bis zur Zerstörung des Instituts 1945 in einem verschlossenen Schrank gestanden, zu dem Kandidaten nur gegen Unterschrift Zugang hatten (1971, S. 264).
V
Am 11./12.3. 1938 marschierten deutsche Truppen in Osterreich ein. Es kam zu dem wohl mit Recht so genannten »Anschluß«. Jones begab sich in großer Sorge sogleich nach Wien, wo er am 15. 3. 1938 eintraf. Er fand den noch bestehenden Rest des Internationalen Psychoanalytischen Verlags in Wien von SA-Leuten besetzt und den Geschäftsführer, Martin Freud, in sehr bedrängter Lage. Der Verlag wurde liquidiert, die Geldmittel wurden enteignet. In der Kasse vorhandenes Bargeld verschwand offenbar in den Geldbeuteln der Besetzer (vgl. Jones, 1957, S. 259 f.; Huber, 1977, S. 52).
Am gleichen Tag waren SA-Banden auch in Freuds Wohnung eingedrungen. Es spielten sich groteske Szenen ab: Frau Freud, die alte Dame aus Hamburg, forderte die »Herren« auf, sich zu setzen, holte dann ihr Haushaltsgeld und sagte: »Wollen sich die Herren nicht bedienen?« Die »Herren« bedienten sich dann aus einem Safe mit 6 000 Schilling. Schließlich erschien Freud selbst an der Schwelle seines Arbeitszimmers. Unter der Wirkung seines flammenden Blickes und seiner finsteren Miene seien die ungebetenen Gäste verunsichert worden und verschwanden. Etwa eine Woche später wurde Anna Freud von der Gestapo verhaftet und einen Tag lang verhört. Durch Intervention des amerikanischen Geschäftsträgers in Wien gelang es, Anna Freud noch am Abend wieder freizubekommen. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Wien, nämlich am 13. 3. 1938, hatte die Wiener Psychoanalytische Vereinigung beschlossen, ihre Tätigkeit in Wien nicht fortzusetzen und auszuwandern.
Um den 20. März 1938 (das genaue Datum war nicht festzustellen) tauchte Müller-Braunschweig in Wien auf, um im Auftrag von M. H. Göring zu sehen, inwieweit das Wiener Psychoanalytische Institut sich dem Göring-Institut in Berlin eingliedern ließe. Er schrieb bei dieser Gelegenheit Anna Freud einen höflichen Brief, mit dem er sie für sein Vorhaben günstig stimmen wollte. Bei Jones steht, Müller-Braunschweig sei in Begleitung eines Nazi-Kommissars nach Wien gekommen; wir konnten aber nicht feststellen, wer diese Person war. Müller-Braunschweigs Brief an Anna Freud fiel der Gestapo in die Hände, vermutlich während der genannten Hausdurchsuchung und des Verhörs von Anna Freud. Die Tatsache, daß Müller-Braunschweig einer Jüdin einen freundlichen Brief geschrieben hatte, erboste die Gestapo so, daß sie alle weiteren Pläne des Göring-Instituts zunächst blockierte und offenbar M. H. Göring eine Beschwerde zuschickte.
Während im März 1938 und in den folgenden Monaten die Nazis gegen Juden und politische Gegner in Wien wüteten, stand Freud unter internationalem Schutz, der ihm und seinen unmittelbaren Angehörigen das Schlimmste ersparte und schließlich die Auswanderung ermöglichte. Unmittelbar nach Jones, nämlich schon am 17. 3. 1938, kam Marie Bonaparte von Paris nach Wien und konnte durch ihre Verbindungen zu verschiedenen ausländischen Regierungen Einfluß nehmen. Sie war auch in der Lage, die »Reichsfluchtsteuer« zu bezahlen, die die Nazis als Voraussetzung für die Auswanderung von Juden erhoben. Mit Hilfe dieser Steuer erreichte das Regime, daß auswandernde Juden den größten Teil ihres Besitzes zurücklassen mußten (Jones, 1957, S. 259-268).
Die Auflösung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages wurde einem von dem NS-Regime hierfür ernannten Kommissar, dem Chemiker Dr. Sauerwald, übertragen. Obwohl anfangs überzeugter Nationalsozialist, begann er sich für Freuds Werk zu interessieren und diesen auch persönlich zu schätzen. Das hatte zur Folge, daß er nicht nur ausländische Guthaben Freuds nicht meldete, wodurch diese der Beschlagnahme durch den NS-Staat entgingen, sondern auch sonst bei der Auswanderung in vieler Hinsicht behilflich war und sich später noch um Freuds betagte, in Wien zurückgebliebene Schwestern kümmerte, bevor sie der Judenvernichtung zum Opfer fielen (vgl. zu Person und Rolle Sauerwalds Schur, 1972, S. 586 f.). Weitere Interventionen zugunsten von Freud kamen aus den USA, wo Freud den ehemaligen Botschafter Bullitt kannte, mit dem zusammen er eine politisch-psychologische Studie über den amerikanischen Präsidenten Wilson geschrieben hatte. Bullitt gelang es, Präsident Rossevelt für Freud zu interessieren, der auf höchster Ebene in Berlin Einfluß geltend machte. Weiterhin setzte sich auch Mussolini für Freud ein.
Vor der Ausreise verlangte die Gestapo von Freud noch eine schriftliche Bestätigung, daß er korrekt behandelt worden sei. Er soll unterschrieben und hinzugesetzt haben: »Ich kann die Gestapo jedermann bestens empfehlen«. Am 4. Juni 1938 konnte Freud mit seinen nächsten Angehörigen zunächst nach Paris und dann nach London ausreisen.
Am 20. März 1938 wurde eine Vorstandssitzung der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft einberufen, an der Sauerwald, Jones, Anna Freud, Paul Federn, Müller-Braunschweig u. a. teilnahmen. Es wurde beschlossen, daß die Gesellschaft Teil der DPG werden solle; gleichzeitig wurden alle »nichtarischen« Mitglieder aus ihr ausgeschlossen. Die Gesellschaft wurde offiziell am 25. 8. 1938 aufgelöst. Die Angelegenheit mit dem in Wien abgefangenen Brief Müller-Braunschweigs an Anna Freud hatte noch ein Nachspiel: Im November 1938 verlor die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft ihren Status als eingetragener Verein und wurde nunmehr als »Arbeitsgruppe A« des Göring-Instituts weitergeführt (Cocks, 1975, S. 153 f.). Müller-Braunschweig erhielt Lehr- und Publikationsverbot, auch Boehm durfte keine Lehranalysen mehr durchführen. Beide Sanktionen blieben bis zum Ende des NS-Staates in Kraft (Müller-Braunschweig, 1948, S. 2; Boehm, 1978, S. 305). Zusammenfassend heißt es bei Cocks: »Die Brauchbarkeit der Freudschen Theorie und Erfahrung und die Energie der sie Ausübenden ermöglichte ihr Überleben und die Zunahme ihres Einflusses im Göring-Institut« (1975, S. 228).
VI
Nach Kriegsausbruch kam das Göring-Institut unter engere Kontrolle der »Deutschen Arbeitsfront«. Am 30. September 1939 wurde als Kriegsmaßnahme der Status des Instituts als eingetragener Verein abgeschafft; nun nahm die Arbeitsfront das Institut und alle seine Aktivitäten voll in ihre Regie. Auf Druck der DAF konnten nach 1939 alle ausgebildeten Psychotherapeuten zu Mitgliedern gewählt werden, während es bis dahin nur Ärzte sein konnten. Nichtärzte mußten sich bei dem von der Arbeitsfront geführten »Amt für Volksgesundheit« registrieren lassen. Dies galt keineswegs ausschließlich für Psychologen, sondern für
alle Berufe, die mit »Menschenführung« zu tun hatten (ebd., S. 246). 1940 setzte sich die Mitgliedschaft des Göring-Instituts wie folgt zusammen: 88 Ärzte, davon 17 Ärztinnen, 39 andere Akademiker, 61 Nichtakademiker, hiervon 52 Frauen, und 16 fördernde Mitglieder. Die Gesamtmitgliederzahl betrug 204, von denen 97 in Berlin lebten. Die übrigen waren den Zweigstellen des Instituts in Bayern, »Ostmark«, Rheinland und Südwestdeutschland assoziiert. Es gab 59 Ausbildungskandidaten (ebd., S. 242).
Das Institut hatte zehn Abteilungen. Hier ist bedeutsam, welche Abteilungen von Freudianern geleitet wurden. Das war einmal die Poliklinik, die erst von John F. Rittmeister, später von Werner Kemper geleitet wurde. Dann die Abteilung für Statistik und Auswertung unter Leitung von Boehm, ferner die Abteilung »forensische Psychiatrie«, deren Leiterin Frau Kalau vom Hofe war, schließlich die Abteilung für Lehrmittel und Lehrpläne, die von Müller-Braunschweig geleitet wurde. Die Gehälter der Abteilungsleiter lagen zwischen 1 000 und 500 RM monatlich (Baumeyer, 1971, S. 218; Cocks, 1975, S. 247).
Das Göring-Institut war in vielfältiger Weise mit dem Nazistaat verflochten, obwohl der Anteil von NSDAP-Mitgliedern unter den Institutsmitgliedern höchstens 5 0/0 betrug (Dräger, 1971, S. 264)6[vii]. Zu den von Göring zur weltanschaulichen Verstärkung hinzugezogenen Nationalsozialisten gehörte das Ehepaar Bilz. Rudolf Bilz war »alter Kämpfer«, d. h. vor 1933 in die Partei eingetreten (Cocks, 1975, S. 194). An anderer Stelle sind Rudolf Bilz und seine Frau als »wilde Nazis« bezeichnet worden (ebd., S. 238).
Der Volksmund bezeichnete damals diejenigen, die nach den Ereignissen im März 1933 in die Partei eintraten, als »Märzgefallene«. Hierzu gehörten M. H. Göring und seine Frau Erna, Curtius7[viii], Cimbal, Achelis, Schmaltz und einige andere (ebd., 5.195). Andere Institutsmitglieder, so Heyer, Speer u. a., traten erst 1937 in die Partei ein. Nichtsdestoweniger wurde Heyer von einigen Kollegen als gefährlicher Nazi betrachtet (ebd., S. 216).
Unter den Freudianern gab es nur ein Parteimitglied: Eckart von Sydow, der auch ethnologische Studien für die SS erstellte (ebd., S. 195). Göring versuchte, den jüdischen Geist durch Sprachregelungen auszumerzen: Psychotherapie wurde »Seelenheilkunde«, Psychologie »Seelenkunde« getauft etc. (ebd., S. 16). Eine psychoanalytische Behandlung mußte fortan »wirkliche tiefenpsychologische Behandlung von langer Dauer« genannt werden. Nachträgliche Empörung hierüber auf Seiten der direkt Betroffenen findet sich nur in dem Bericht von Käthe Dräger (1971, S. 264 f.), die zornig von »Sklavensprache« spricht.
Die Ausbildung verlief weiterhin nach dem Grundentwurf, der im alten Psychoanalytischen Institut erarbeitet worden war. Eine »Lehrbehandlung«, wie eine Lehranalyse dort hieß, umfaßte mindestens 150 Stunden. Weiterhin gab es theoretischen Unterricht und klinische Seminare. Nach drei Semestern konnte ein Studierender Praktikant werden, an Fallseminaren teilnehmen und zwei Patienten unter der Aufsicht eines Lehrbehandlers übernehmen. Die Ausbildung dauerte damals mindestens zwei Jahre, die Lehrbehandlung konnte von allen ordentlichen Mitgliedern des Instituts in Berlin oder in den übrigen Filialen in Deutschland absolviert werden. Nach Ende der Ausbildung wurde eine weitere Fortbildung verlangt, u. a. die weitere Behandlung mindestens eines Patienten, Teilnahme an Seminaren und Vorlesungen sowie an den wissenschaftlichen Sitzungen des Instituts und Mitarbeit in der Poliklinik oder Erziehungshilfe (Cocks, 1975, S. 261 f.).
Die Abteilung für Erziehungshilfe stand unter der Leitung von Frau von König-Fachsenfeld, später unter der des Freudianers Kuehnel, einem Schüler von Kemper. Diese Abteilung arbeitete in enger Verbindung mit der nationalsozialistischen »Volkswohlfahrt« und dem nationalsozialistischen Lehrerbund. Mitgliedschaft in der »Hitlerjugend« und im »Bund Deutscher Mädel« wurden als wichtige Faktoren seelischer Gesundung angesehen (ebd., S. 258). Bei den Ausbildungsaktivitäten hatten die Freudianer, zu denen man damals noch Schultz-Hencke rechnen mußte, weitaus das Übergewicht (ebd., S. 264 f.).
Wenn man die Themen der wissenschaftlichen Sitzungen der »Arbeitsgruppe A« von 1938-1944 anschaut, so fällt deren streng fachlich-psychoanalytischer Inhalt auf. Konzessionen an eine »Deutsche Seelenheilkunde« oder sonstige Glaubenssätze der Nazi-Ideologie sind nicht erkennbar. Vielmehr ist ersichtlich, daß an der Krankheitslehre der Psychoanalyse grundsätzlich festgehalten wurde (Baumeyer, 1971, S. 211 bis 215).
Die Erb- und Rassenforschung besaß kein erkennbares Gewicht in der Arbeit des Instituts. Im Gegenteil, aus persönlichen Mitteilungen ist uns bekannt, daß in einigen Fällen Patienten, die an Anfallsleiden oder Psychosen litten, als Neurotiker deklariert wurden, um sie dem Zugriff des NS-Staates und das heißt der möglichen Ermordung oder Zwangssterilisierung zu entziehen.
Einen besonders wichtigen Platz im Institut nahm natürlich die Poliklinik ein, die als »Anstalt für mittellose Volksgenossen« bezeichnet wurde. Von Oktober 1936 bis Mitte 1941 sind 464 Fälle in der Poliklinik behandelt worden. Hiervon sollen nach Kemper 80 °/o der Mittelschicht angehört haben, etwa 10 °/o der Arbeiterschaft und 10 °/o der Oberschicht. Ungefähr die Hälfte der Patienten wurde mit Kurztherapien behandelt. Jedes Mitglied des Instituts mußte neben seiner Privatpraxis mindestens einen Patienten im Rahmen der Poliklinik behandeln. Berichte über den Behandlungsverlauf mußten nach 6 Wochen, 6 Monaten und nach einem Jahr verfaßt werden. Das Honorar wurde als immanenter Bestandteil der Behandlung angesehen und nach den finanziellen Möglichkeiten des Patienten festgelegt. Der Therapeut bekam ein Stundenhonorar von mindestens RM 6,—, gegebenenfalls zahlte das Institut die Differenz.
Nach Kemper wurde die Arbeit an der Poliklinik nicht von den Nazi-Aktivisten im Göring-Institut gestört oder beeinflußt. Es sei auch nichts von Nazispitzeln unter den Patienten bekannt geworden. Göring, der die Freudianer anfänglich mit Ablehnung und Mißtrauen beobachtet hatte, sei im Laufe der Jahre aufgeschlossener für den theoretischen und praktischen Wert der Psychoanalyse geworden. Görings Frau, zunächst als rabiate Parteigängerin der Nazis betrachtet, machte später eine Lehranalyse bei Kemper und soll sich der Freudschen Denkweise weitgehend angenähert haben. Frau Göring soll Kemper auch gelegentlich Warnungen übermittelt haben, wenn Kollegen der Partei unangenehm auffielen (Cocks, 1975, S. 264 f.).
Dennoch mußte das Institut (und damit auch die Psychoanalyse) der kriegführenden Diktatur seinen Tribut entrichten. Mit Hilfe psychologischer Methoden sollte die Arbeitseffektivität in der Kriegswirtschaft gesteigert werden. Der Leiter der Testabteilung des Instituts, Vetter, wurde Berater der IG Farben, des größten deutschen Chemiekonzerns, aus dem nach dem Krieg u. a. die Farbwerke Höchst hervorgegangen sind. Vetter konnte noch 1942 nach Schweden reisen, um dort Vorlesungen über »Deutsche Diagnostik« zu halten. Erika Hantel, ebenfalls als Arbeits- und Betriebspsychologin bekannt, war beratende Psychologin bei der Flugzeugfabrik Arado, nach dem Krieg Beraterin bei Bosch in Stuttgart (ebd., S. 253 f.).
Auch Kriegsneurosen wurden behandelt. Diese boten im Zweiten Weltkrieg andere Bilder als im Ersten. Sogenannte »seelische Überlagerungen« organischer Beschwerden und psychosomatische Störungen wie Kopfschmerzen oder Magengeschwüre waren wesentlich häufiger als die Krankheitsbilder der »Kriegszitterer« des Ersten Weltkriegs. Interessant ist, daß innerhalb des Sanitätswesens des Zweiten Weltkriegs auf deutscher Seite der Begriff »Neurose« nicht gebraucht werden durfte, weil dieser psychiatrischen Vorstellungen zuwiderlief. Vielmehr war nur von »abnormen Erlebnisreaktionen« zu sprechen. Eine enge Zusammenarbeit mit der Luftwaffe wurde durch J. H. Schultz ermöglicht, der zugleich Sanitätsoffizier der Luftwaffe war. Unter Mitarbeit von Schultz wurde 1940 auch eine Untersuchung über die Folgen von Verdunkelung und Luftangriffen und daraus resultierende praktische Nutzanwendungen veröffentlicht (ebd., S. 313-316).
Die Behandlung und Erforschung der Homosexualität wurde nicht nur von der Wehrmacht, sondern auch von der SS an das Institut herangetragen. Mitglieder des Instituts vertraten eindeutig die Psychogenese dieser Triebrichtung und standen hiermit im Gegensatz zu den erbbiologischen Auffassungen sowohl der Schulmedizin als auch der staatlichen Doktrin (ebd. S. 275-278).
Die folgende Episode ist eine seltsame Mischung von Dienstleistung für eine NS-Organisation und korrektem professionellen Verhalten: 1942 untersuchte M. H. Göring auf Veranlassung von Himmler die 17jährige seelisch gestörte Tochter eines gefallenen SS-Offiziers, um Empfehlungen hinsichtlich des strittigen Sorgerechts zu geben. Die Freudianerin Kalau vom Hofe erstellte ein fundiertes psychoanalytisches Gutachten, das die Unterbringung in einer Klinik mit der Möglichkeit psychotherapeutischer Behandlung empfahl. Das wurde zunächst in München, später in dem psychotherapeutischen Kinderheim Beuren bei Tübingen unter Supervision von Frau Marzinowski realisiert. Himmler akzeptierte alle diese Vorschläge, und die SS übernahm die Kosten (ebd., S. 271-275).
Achelis war im Krieg Psychotherapeut an der orthopädischen Klinik Hochenlychen unter Leitung von Gebhardt, der für seine unmenschlichen Versuche an Häftlingen im nahen KZ Ravensbrück bekannt ist (ebd., S. 269; Mitscherlich und Mielke, 1949, S. 131 ff.). Die hier angeführten Dienstleistungen für den NS-Staat sind nur Beispiele.
Um neue Waffen zu entwickeln und das Kriegsinstrumentarium wirksamer zu machen, war 1937 der »Reichforschungsrat« gegründet worden, der alle einschlägigen Forschungen zusammenfassen und koordinieren sollte. Da er ineffektiv arbeitete, schlug Speer 1942 vor, Hermann Göring zum Leiter des »Reichforschungsrats« zu machen. M. H. Göring nutzte seine Verbindungen, um sich der anscheinend lästiger werdenden Abhängigkeit von der »Deutschen Arbeitsfront«, die unter Leitung des Trinkers Robert Ley stand, zu entziehen. Es gelang ihm, sein Institut dem »Reichsforschungsrat« zu unterstellen. Der NS-Staat bestand aus rivalisierenden Gruppen und Institutionen, und Göring verstand es, sich und seinem Familienclan beträchtliche wirtschaftliche Macht zuzuschustern und diese mehr und mehr auszubauen. Das gereichte den Psychotherapeuten mitunter zum Vorteil. Im September 1942 wurde John Rittmeister, der Leiter der Poliklinik, wegen seiner Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« verhaftet und im Mai 1943 hingerichtet. Daraufhin wurde die den Psychoanalytikern verbliebene »Arbeitsgruppe A« aufgelöst. Sie trafen sich allerdings weiterhin zu »Referatenabenden für Kasuistik und Therapie« (Müller-Braunschweig, 1948, S. 2). Sicher ist es dem Einfluß und den Verbindungen der Göring-Familie zu verdanken, daß es nach der Affäre Rittmeister nicht zu weitergehenden Maßnahmen gegen einzelne Mitglieder oder das Institut im ganzen kam. Die Verbindung zwischen dem »Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie« und dem »Reichsforschungsrat« wurde durch den bekannten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch hergestellt (Cocks, 1975, S. 317-322).
Im Krieg wurden die Arbeitsbedingungen am Reichsinstitut zunehmend schwieriger. Zahlreiche Mitglieder und Kandidaten wurden eingezogen, und viele Psychotherapeuten versuchten, die Reichshauptstadt, nun ein Hauptziel der englischen und amerikanischen Luftangriffe, zu verlassen. Die zunehmende Erschwerung des täglichen Lebens, der Zusammenbruch von Transportmöglichkeiten usw. behinderten regelmäßige Psychotherapien. Aber noch im Winter 1944/45 wurde ein umfangreiches Lehrprogramm angeboten. Weiterhin gab es Ausbildungsmöglichkeiten in München, Stuttgart, Frankfurt, Wien und Düsseldorf (ebd., S. 323).
Ende April 1945 wurde das Reichsinstitut bei einem Luftangriff völlig zerstört. M. H. Göring kämpfte, einer persönlichen Mitteilung zufolge, noch in den letzten Kriegswochen in Berlin beim Volkssturm, geriet in russische Gefangenschaft und starb 1945 an Typhus in einem russischen Lager (ebd., S. 325).
VII
Unser Interesse, ja, unsere Loyalität zur Psychoanalyse als Wissenschaft und als Institution ist u. a. aus der Vorstellung erwachsen, diese sei gegen den Ungeist des Hitler-Faschismus gleichsam immun gewesen. Als wir, durch drängende Fragen junger Kollegen aufgerüttelt, uns intensiv einer Materie zuwandten, die wir nur vage kannten, mußten wir erkennen, daß diese Annahme sich so eindeutig nicht aufrecht erhalten läßt, vielmehr als eine Illusion korrigiert werden muß. Dazu bedarf es, wie wir selbst gespürt haben, eines Stücks Trauerarbeit.
Die nicht emigrierten deutschen Psychoanalytiker waren 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, mehrheitlich bereit, sich anzupassen, sich gleichschalten zu lassen. Auch wenn sie nicht mit fliegenden Fahnen zum Nationalsozialismus überliefen wie die Angehörigen anderer, vergleichbarer Berufsgruppen, so waren sie doch bereit, sich dem in Matthias H. Göring verkörperten »Führerprinzip« zu unterwerfen und dem NS-Rassismus Opfer zu bringen. 1933 wurde der Vorstand der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft »arisiert«, 1935 mußten die jüdischen Mitglieder der DPG austreten und so den Weg ebnen für die Gleichschaltung im Göring-Institut. Nicht nur auf administrativem Wege fügte man sich; auch inhaltlich kam man dem Nazi-Biologismus entgegen (wie Müller-Braunschweigs zitierte Äußerungen zeigen). Nach Baumeyer (1971, S. 205) »… sahen die Beteiligten eine Chance, die Psychoanalyse zu retten, wenn auch unter großen Opfern. Diese Opfer bestanden darin, daß die Psychoanalyse nur durch >Arier< in Deutschland vertreten werden durfte«. Regine Lockot hat dagegen eingewandt: »Aber kann man eigentlich von Rettung einer Gesellschaft sprechen, wenn die meisten ihrer Mitglieder sie verlassen müssen?« (1981, S. 15). Und haben sich nicht die Psychoanalytiker, die dem Arisierungsgebot Folge leisteten, über eine Schwelle treiben lassen, jenseits derer alle Voraussetzungen
für die Psychoanalyse entfallen? Gewiß ist allen Beteiligten zu konzedieren, daß sie das Ausmaß der dem Nationalsozialismus
innewohnenden Vernichtungswut in den frühen dreißiger Jahren nicht voraussehen konnten. Dennoch wäre die Chronik der Jahre zwischen 1933 und 1945 viel leichter zu schreiben, wenn wir davon berichten könnten, daß die »arischen« Analytiker von einem bestimmten Punkt der Entwicklung an eindeutig »nein« gesagt hätten.
Aber auch die Signale aus Wien waren unklar. Freud, der sich in seiner Schrift »Warum Krieg?« (1932, S. 11—27) bedingungslos und engagiert zum Pazifismus bekannt hatte, verfolgte den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland mit grimmigem Sarkasmus, wobei er dessen wirkliche Brutalität unterschätzte. Am 10. Juni 1933 schrieb er an Marie Bonaparte: »… daß der Bolschewismus doch revolutionäre Ideale aufgenommen hat, der Hitlerismus nur mittelalterlich-reaktionäre. Selbst nicht mehr recht lebenskräftig, erscheint mir diese Welt als zum nahen Untergang bestimmt« (Jones, 1957, S. 217 f.)8[ix]. Hier kommt sein eindeutiges Urteil, aber ebenso deutlich seine Resignation zum Ausdruck.
Freuds Passivität, sein Zögern, die Weigerung, rechtzeitig Österreich zu verlassen, schließlich seine Hoffnung, die Psychoanalyse neutral halten zu können — all das ließ, so scheint uns, Mißdeutungen zu. Wenn Boehm sich bei seinen Kompromissen, die er mit den Nazi-Behörden einging, auf Freud und Anna Freud mit einem Anschein von Plausibilität berufen konnte, so deshalb, weil die Signale aus Wien mehrdeutig waren. Freilich sollte man dabei auch bedenken, daß Freud, wie die oben zitierte Äußerung Anna Freuds belegt, als Angehöriger der beschimpften und verfolgten jüdischen Minderheit seine »arischen« Kollegen nicht in das Elend der Juden hineinziehen wollte. Eine eindeutige Solidarisierung hätte in der Tat von den »arischen« Psychoanalytikernkommen müssen, wie es später im Fall der holländischen Analytiker geschah.
Ernest Jones, dem damaligen Präsidenten der Internationalen Psycho analytischen Vereinigung, ist der Vorwurf freilich nicht zu ersparen, an der Gleichschaltung der Psychoanalyse in Deutschland aktiv mitgewirkt zu haben. Sowohl an der »Arisierung« des DPG-Vorstands 1933 als auch der gesamten DGP 1935 war er anwesend und beratend beteiligt. Sein Treffen mit M. H. Göring 1936 in Basel stellte die Weichen für die Einverleibung der DPG in das Göring-Institut. Jones‘ Taktieren und seine Kompromißbereitschaft konnten von Boehm in der Tat als Rechtfertigung seines eigenen Handelns ausgelegt werden.
Wenn man sich um ein ausgewogenes Urteil bemüht, so kann man das Wirken der in Deutschland verbliebenen Psychoanalytiker nicht nur negativ sehen. Gewiß, die Eingliederung in Organisationen des Nazi-Staats (»Deutsche Arbeitsfront«, »Reichsforschungsrat«), die Unterwerfung unter den Rassismus, der Verrat an den jüdischen Kollegen und die »Psychotherapeutisierung« der Psychoanalyse im Dienste der »Volksgesundheit« (unter vollständiger Aufgabe ihrer kulturkritischen Begriffe und Implikate): Das sind Makel, die nicht zu retuschieren sind. Andererseits kann man aufgrund aller zugänglichen Dokumente heute feststellen, daß die Freudianer am Göring-Institut dem NS-Regime nur so weit entgegenkamen, daß sie ihren Beruf unbehelligt ausüben konnten. (Und wie ist der Opportunismus der deutschen Psychoanalytiker heute zu erklären? Welche Bedrohung denn hindert sie heute, zu sehen, zu wissen und zu verstehen? Welcher Teufel reitet sie, sozialkritische Analytiker (Dahmer, Rosenkötter u.A.) mundtot zu machen zu wollen? Anm. JSB) Von den Mitgliedern der »Arbeitsgruppe A« war allein Eckart von Sydow Parteimitglied; er übernahm Auftragsarbeiten für die SS, die von politischem Belang waren9[x]. Alle anderen beschränkten sich auf Behandlung von Patienten und Lehrtätigkeit.
Nachdem Müller-Braunschweig in Wien 1938 der Gestapo mißliebig geworden war, zeigte sich M. H. Görings Doppelgesicht: Durch seinen Einfluß konnte er schlimmere Folgen verhindern, hielt also seine schützende Hand über den Psychoanalytikern. Andererseits erwies er sich aber als ein strenger Zuchtmeister: Die DPG wurde aufgelöst und mußte sich fortan »Arbeitsgruppe A« nennen. Nach der Entdeckung von Rittmeisters Widerstandstätigkeit 1942 wurde auch diese Bezeichnung untersagt; nur noch »Referatenabende für Kasuistik und Therapie« waren zugelassen. Müller-Braunschweig und Boehm erhielten 1938 Lehr- und Publikationsverbot, wurden also in eine Strafecke gestellt, in der sie bis Kriegsende blieben. Sicher hätten sie durch Kniefälle, etwa in Form eines Parteieintritts, ihr Los erleichtern können. Sie taten das nicht. Dies muß u. E. gegen ihr Verhalten in den frühen dreißiger Jahren aufgewogen werden.
Abgesehen von der aufgezwungenen »Sklavensprache« und der Unmöglichkeit, sich auf Freud zu berufen, arbeiteten die Freudianer auf psychoanalytischen Grundlagen; die Zugeständnisse an den Zeitgeist waren vergleichsweise gering. Vielleicht kann man die Begutachtung und den Therapievorschlag von Frau Kalau vom Hofe zugunsten der Tochter eines SS-Mannes als Dienstleistung für die SS ansehen. Andererseits erscheinen die Diagnostik und die Therapievorschläge in diesem Fall, der bei Cocks ausführlich dargestellt wird, als psychoanalytisch korrekt. Die ärztliche Fürsorge für die 17jährige Tochter eines SS-Mannes kommt uns nicht ehrenrührig vor. Frau Kalau vom Hofe und andere sind mit der offenen Vertretung ihrer psychogenetischen Auffassung der Homosexualität der damals herrschenden biologistischen Doktrin entgegengetreten und haben so Zivilcourage bewiesen, einigen wenigen wohl auch helfen können. (Heute vertreten Homosexuelle selbst und mit ihnen die herrschende Psychokratie vehement die These, Homosexualität sei genetisch bedingt und daher nicht therapierbar. Anm.JSB)
Obwohl M. H. Göring Freuds Werke im »Giftschrank« verschlossen hielt, konnte er doch nicht verhindern, daß sie privat verliehen wurden und bei Mitgliedern und Kandidaten zirkulierten (persönliche Mitteilung von Ursula Laessig)10[xi].
Nach Kriegsende konnte sich die psychoanalytische Gruppe in Berlin neu konstituieren. Nach schweren inneren Kämpfen und Auseinandersetzungen fand sie zu ihrer Gestalt als »Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, Zweig der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«. Es ist dieser Gruppe gelungen, ihre psychoanalytische Identität zu wahren. Wieweit die erlittenen Demütigungen und Niederlagen sich auf ihr bewußtes und unbewußtes Selbstbild ausgewirkt haben, ist bis heute noch zu wenig reflektiert worden.
(Anschrift der Verfasser.: Hans-Martin Lohmann, Myliusstr. 20, 6000 Frankfurt/M., und Dr. med. Lutz Rosenkötter, Rombergstr. 10, 6374 Steinbach/Ts.)
Summary
Psychoanalysis in Hitler Germany: What was it really like? — In what sense can one say that the Nazis destroyed psychoanalysis or that the members of the old DPG (German Psychoanalytic Society) who remained in Germany rescued and preserved psychoanalysis throughout the years of dictatorship? The authors attempt to reconstruct the answer to this question by reference to the relevant literature which has meanwhile been accumulated. The glance into the past nurtures doubts as to whether the posture of today’s psychoanalysts is appropriate to this historical experience.
lo Vgl, hierzu auch die Erinnerungen von Wilhelm Bitter (Pongratz, 1973, S. 40 ff.). Er erwähnt mehrfach den Freudianer Ewald Roellenbleeck, der ihn intensiv mit Freuds Lehre vertraut gemacht habe.
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 7. 6. 1982.
61 Psyche 11/82
[ii] Jones erwähnt diese Äußerung Freuds im Zusammenhang mit der umstrittenen Publikation eines Artikels von Wilhelm Reich in der »Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse«, dem Freud eine entsprechende redaktionelle Bemerkung hinzufügen wollte. Nachdem ihn aber Eitingon, Jekels und Bernfeld davon überzeugt hatten, daß eine
solche Bemerkung politisch wenig tunlich sei — Bernfeld meinte sogar, das käme einer
politischen Kriegserklärung an die Sowjetunion gleich —, wurde der Reich-Aufsatz
schließlich veröffentlicht und durch eine kritische Replik Bernfelds ergänzt.
[iii] 2 Einen interessanten Beleg für das schon absurd zu nennende Ausmaß an Realitätsverleugnung liefert Geoffrey Cocks (1975, S. 90), der anmerkt, Georg Groddeck habe bis zu seinem Tod 1934 geglaubt, er müsse nur einmal die Gelegenheit haben, mit dem »Führer« zu reden, dann könne man diesen schon in die richtige Richtung lenken. In Bezug auf Freuds Haltung zur politischen Realität von 1933 notiert Max Schur (1972, S. 523) : »Es hat den Anschein, daß Freud, der die Macht des Aggressionstriebs beim Individuum aufgedeckt hatte, nicht glaubte, daß diese Kraft in einer ganzen Nation entfesselt werden konnte. Wir müssen uns daran erinnern, daß Freud auch lange Zeit brauchte, bis er die wachsende Feindseligkeit von Mitarbeitern wie Jung und Rank erkannte. Er war dieser Erkenntnis durch den Abwehrmechanismus der Leugnung ausgewichen, der auch in diesem Fall wirksam war« (Hervorhebung H. M. L.).
[iv] 3 Daß die Politik der NS-Behörden gegenüber der DPG mitunter inkonsequent und widersprüchlich war und damit Handlungsspielräume eröffnete, geht aus einer von Boehm berichteten Episode hervor: »Im Frühjahr 1936 wurde gleich nach der Grün-dung des >Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie< unserer Gesellschaft von maßgeblicher Seite der NSDAP dringend nahegelegt, aus der >Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung< auszutreten. Unsere Gesellschaft führte in einer außerordentlichen Generalversammlung am 13. Mai 1936 einstimmig einen diesbezüglichen Beschluß herbei und teilte ihn Jones mit. Kurze Zeit darauf erklärte die vorstehend genannte Parteidienststelle, daß der Verbleib unserer Gesellschaft in der IPV nunmehr wieder erwünscht sei. Inzwischen aber war unsere Austrittserklärung als Notiz in der >Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse< XXII. Band, Heft 3, Jahrgang 1936, S. 435, erschienen. Dieses Heft lag auf dem Marienbader Kongreß im August 1936 bereits im Druck vor. Unsere zweite Mitteilung an Jones, daß wir unsere Austrittserklärung zurückzögen, hatte die Drucklegung dieses Heftes leider nicht mehr verändern können. Trotzdem sagte Jones unserer Gesellschaft zu, daß er dieselbe weiter als latentes Mitglied der >Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung< führen werde, bis wieder geordnete Zustände in Deutschland herrschen würden« (Boehm, 1978, S. 306 f.; vgl. auch Jones, 1957, S. 224).
[v] 4 Während Jones (1957, S. 224) als Termin für dieses Treffen den Januar 1937 angibt, spricht Boehm (1978, S. 304) von Januar 1938. Letzteres erscheint insofern als wahr-scheinlicher, als Boehm wohl kaum schon Anfang 1937 im einzelnen überblicken konnte, welche Schwierigkeiten den Mitgliedern der DPG nach ihrer Eingliederung in das Göring-Institut (November 1936) erwachsen würden. Dies war vermutlich erst nach einem längeren Zeitraum festzustellen. Deshalb muß man davon ausgehen, daß die von Boehm gewünschte Zusammenkunft mit Freud und dem IPV-Vorstand erst im Januar 1938 stattfand.
[vi] 5 Es wäre interessant gewesen, die Namen der »Autoritäten« zu erfahren. Leider
schweigt sich Langer hier aus.
[vii] 6 Zum Vergleich: Ärzte waren damals zu 45 0/0 Parteimitglieder, Lehrer zu etwa 22 °/o (Kater, 1979).
[ix] Freud war damals 77 Jahre alt und von seinem Krebsleiden gezeichnet.
[x] Cocks‘ Angaben sind sicher zuverlässig, da er Zugang zum amerikanischen Document Center in Berlin hatte.
[xi] 10 Vgl. hierzu auch die Erinnerungen von Wilhelm Bitter (Pongratz, 1973, S. 40 ff.). Er
erwähnt mehrfach den Freudianer Ewald Roellenbleeck, der ihn intensiv mit Freuds
Lehre vertraut gemacht habe.
Kritische Glosse
HELMUT DAHMER, FRANKFURT A. M.
»Holocaust« und die Amnesie*[iii]
Aus der Neuen Welt
Entnazifizierung und Reeducation kamen einst aus der Neuen Welt: Exporte
aus dem »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« ins Land der ehernen Unmöglichkeiten.
Dreißig Jahre später ging man dort, stellvertretend für uns, auf die Suche nach den »Roots« der Judenvernichtung. »Holocaust«, das Produkt solcher Rekonstruktionsarbeit, ging durch dreißig Länder, ehe es dorthin kam, wo es sein eigentliches Publikum fand — im Vaterland der Judenvernichtung.
E-Musik
Vorab war zu hören, die Filmserie sei »trivial«, »sentimental«, »kitschig«,
mitunter ungenau, im ganzen, als historische Darstellung, inadäquat. Wie aber
hätte sich wohl eine populäre, aufwühlend ergreifende, den Traum-Kitsch des
III. Reiches, seiner Herrscher und Untertanen treffende, mitunter vielleicht
ungenaue, aber die Untaten der Nazis nicht leugnende, nicht beschönigende
Darstellung auf die Geschichte der Bundesrepublik ausgewirkt, wäre sie rechtzeitig
gekommen? Hier stellt man sich dem Grauen deutscher Geschichte allenfalls
auf »gehobenem« Niveau, wenn es als Kulturfilm gerahmt ist, unterlegt
mit U-Musik. Solche Weihespiele (von ewiger Schuld und Sühne) in den
Tempeln der Kulturindustrie, die zu vager Andacht, sonst nichts verpflichten,
hat es eher zu viele gegeben. Ihr Publikum wurde stets noch in dem bestärkt,
was es im Jahrhundert der Kriege und Bürgerkriege ohnehin empfindet: in
der Ohnmacht, an »den Ereignissen« etwas ändern zu können, im kurzatmigen
Erschrecken, in der erbaulichen Zerknirschung, aus denen nichts folgt. Ergebung
in das Unverstanden-Unvermeidliche und Erleichterung darüber, nicht
mehr in solch finsteren Zeiten zu leben — darin mündete deutsche Vergangenheitsbewältigung.
»Holocaust« lehrt ein ganz anderes, mögliches, in Deutschland immer wieder vergessenes Verhalten: daß man sich wehren kann, kämpfen muß. Der Film lädt zur Identifikation mit dem (jüdischen) Widerstand, mit der Résistance ein. Die Entsublimierung à la »Holocaust« ist progressiv.
Familien-Geschichte
Familiale Deutungsmuster sind gesellschaftlichen Prozessen, politischen Ereignissen
unangemessen. Sie verbiedern die soziale Welt, statt sie verständlich zu
machen. Aber ein politisch unaufgeklärtes Massenpublikum klammert sich an
familiale Deutungsmuster; es hat keine anderen. Hier setzt »Holocaust« an.
Die Schreckensgeschichte des III. Reiches wird als Familiengeschichte präsentiert. Das große Publikum, dessen Rezeptionsweise am »Alten« oder den »Leuten von der Shiloh-Ranch« sich schult, wird nicht überfordert. Zwei einander überschneidende Familiennetze verbinden die Höhen der SS-Führungsstäbe mit der Hölle der Vernichtungszentren, verknüpfen Berlin, Warschau
und Kiew. Dokumentarische Aufnahmen werden eingeblendet, Massenszenen nachgespielt. So weitet sich die Familienbühne zur Bühne des von Deutschen besetzten Europas, auf der das Endspiel »Juda verrecke« arrangiert wird.
Henker und Opfer, Apathische und Widerständler erscheinen als Menschen
wie du und ich. Die Hauptpersonen sind freilich weniger psychologisch als
Das gilt auch für ihre Gespräche, die zum guten Teil historisch authentisch
sind. Diese Familienserie ist eine Pseudo-Fiktion, rekonstruierte Geschichte;
alles stimmt, alles ist belegt. Die Identifikation, zu der der Film einlädt, läuft
der traditionellen, der Einfühlung in die Nutznießer und Henker, wie sie
durch die NS-Propaganda fixiert wurde, zuwider. Für ein paar Stunden
schwingen die Emotionen der Zuschauer mit den Opfern, den Fremden, gegen die Unseren, Eltern und Großeltern.
Der Ritt über den Bodensee
Woher kommt das plötzliche große Interesse an »diesem« Thema? Ist es eines
an Geschichte? Primär kaum. Der Film wurde als »Seifenoper« etikettiert.
Das war als Abwerbung gedacht, aber das große Publikum liebt die Seifenopern.
Diese bietet siebeneinhalb Stunden Spannung, Jagden, Mord, Folter,
Vergewaltigung, Massenmord, Krieg und Liebe, nicht als Fiktion, sondern als
Pseudo-Fiktion, die Geschichte repräsentiert. Das Publikum, das den konventionellen
Köder schluckt und den Film auf der Klaviatur seiner Affekte spielen läßt, macht, erschüttert und ernüchtert, eine Erfahrung, die der des Reiters über den Bodensee gleicht: Wenn dieser Thriller der unserer Geschichte ist, wenn »Holocaust« wirklich war, dann stimmen unser Weltbild und unsere Identität nicht. Dann öffnet sich hinter uns, die wir uns schon geborgen
wähnten, der Abgrund, war alle Sicherheit auf Sand gebaut.
Deutschland, erwache
Den Film sehen gerade so viel Menschen wie bei den letzten freien Wahlen damals
Hitler die Stimme gaben. Und auf die Filmstunden folgen Diskussionen,
Tausende rufen beim Sender an, stellen Fragen über Fragen. Es ist, als hätten die
meisten Diskutanten und Frager dreißig Jahre lang einen Dornröschenschlaf
geschlafen, aus dem erst »Holocaust« sie erweckte. Nun fragen sie, was
man 1945/46 hätte fragen müssen und erfahren können. Drei Jahrzehnte
»Vergangenheitsbewältigung« sind wie nie gewesen. Kogons »SS-Staat«, Mitscherlich-
Mielkes »Medizin ohne Menschlichkeit«, Reitlingers »Endlösung«,
Bullock und Shirer, das »Tagebuch der Anne Frank« und die »Weiße Rose«,
Eichmann in Jerusalem und die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt, Resnais’
»Nacht und Nebel«, Leisers »Mein Kampf«: abgeprallt am psychischen Abwehrpanzer
der verschworenen Volksgemeinschaft der Nichtwisser und Nichtwahrhaber.
Dieser Panzer ist die wichtigste Hinterlassenschaft des III. Reichs. Die belasteten Mitläufer-Eltern haben ihn ihren Kindern vermacht, eine noch immer funktionstüchtige schimmernde Wehr gegen kollektive Selbsterkenntnis. Und deutlich intoniert ein Minderheitenchor den basso ostinato: Laßt uns vergessen, wir wollen das nicht wissen, laßt uns in Frieden nach so langer Zeit, das ist doch längst Geschichte. Das ist die Stimme der Komplizen; sie repräsentieren das NS-Regime in der Gegenwart.
Die Ausnahme und die Regel
Wir haben, »Holocaust« betrachtend, über die Opfer geweint, haben die Henker gehaßt, haben uns mit denen, die sich wehrten, identifiziert. Nun wollen wir verstehen. Doch zur Erklärung der Judenausrottung trägt der Film wenig bei, nennt nur ein paar Motive: den Neid und die Fremdheit; den Wunsch, Karriere zu machen; das Bedürfnis nach einem inneren Feind; die Lust an der Pflichterfüllung; die Wahnvorstellungen über Herrenrassen, Untermenschen und Schädlinge in menschlicher Gestalt. Pogrome begleiteten die Leidensgeschichte der Judenheit. Massaker gab und gibt es in den verschiedensten Ländern. Faschistische Bewegungen und Regime gab es gleichzeitig mit dem deutschen in verschiedenen europäischen Gesellschaften. Aber: Auschwitz und Babi Jar heben sich aus der allgemeinen Mord- und Foltergeschichte unseres Jahrhunderts und aller vergangenen heraus, sind Unikate (wie jene anderen, für die die Namen Hiroshima und Workuta stehen). Warum haben die Deutschen unter Hitler das gemacht? (Weil sie es machen konnten. Anm.JSB)
Holocaust war ein Extrem, dem nicht Friede und Verständigung als Regel gegenüberstehen, sondern das fortwährende Massaker — von Chile über Kambodscha bis Iran —, die nahezu pausenlos wütenden Kriege, die sich ausbreitende Folter (AVO, DINA, SAVAK …). Holocaust liegt nicht hinter uns. Neuartige Holocausts sind in Vorbereitung. Die Raketenbatterien in unserm wie in andern Ländern, die keiner sehen will, die Neutronenbombe, die Kampfstoff-Fabriken (von den risikoträchtigen Atommeilern zu schweigen) ermöglichen einen Holocaust, von dem wir uns noch zu wenig träumen lassen.
Wir haben es nicht gewußt
Um Millionen von Menschen druntenzuhalten, fortzuschleppen und umzubringen, dazu bedarf es allemal anderer Millionen von Menschen, mag es sich bei den Unterdrückten und Kontrollierten um soziale Klassen oder um ethnische Gruppen handeln. In der Befehlsempfängerkette ist die Verantwortung auf viele verteilt, nicht aufgehoben. Alle Beteiligten sind verantwortlich, nicht etwa keiner von ihnen. Von den Technikern, die »Ideen« hatten, von den Auftrag- und Geldgebern reicht die Verantwortungskette herunter über all die Mitwisser und Vorbereiter bis zu den Horchern, Denunzianten, zu den zahllosen Augen- und Ohrenzeugen, die sehend nicht sahen, hörend nicht hörten, denen Furcht vor Verfolgung, Folter und Vernichtung Aug und Ohr schloß. Auch in die bürokratisch-technische Tötungsmaschinerie sind (wie in die moderne Produktion) noch Menschen genug eingespannt, und am Fuße der Hierarchie stehen die Exekutoren, ohne die nichts geschieht, die Fach- und Hilfsarbeiter des Todes an Maschinengewehren, Benzinkanistern und Flammenwerfern, Vergasungswagen und Massengräbern, die Genickschußspezialisten, Zyklon B-Einfüller, Prügler und Folterknechte, an denen nie Mangel ist.
Himmler und Heydrich brauchten Millionen, die keine Fragen stellten, die vergaßen, was sie sahen, die keine Hand rührten. Dabei ging es also nicht um einfaches Nicht-Wissen, eher schon um ein Nicht-wissen-Wollen, besser: um das Nicht-wissen-wollen-Können. Denn ungezählte Menschen überleben in unserer Gesellschaft nur, weil sie ihre Realitätsprüfung einschränkten. Sie haben gelernt, nicht über ihre Verhältnisse zu leben.
Peter Schlemihl
Den historischen Riesenpogrom, organisiert als »Geheime Reichssache«, kann »Holocaust«, seiner Anlage nach, nicht erklären. Die »Endlösung« ist nicht aus sich selbst verständlich zu machen, bleibt, isoliert gesehen, rätselhaft wie ein Schatten ohne den, der ihn wirft. Zu fragen ist nach der Funktion der Judenausrottung für das NS-Regime, für die Menschen, die es trugen. Diese Frage stößt auf Widerstand, auf ein Denkverbot aus Pseudo-Pietät: Auschwitz sei unbegreiflich, ein Verhängnis, funktionslos gewesen. Lieber noch wird der braune Schrecken zu einem Mysterium gemacht, als daß man der Frage sich stellte, wem er nützte und wen er befriedigte, als daß man das große Morden auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bezöge, die Bewußtsein und Unbewußtes von Opfern und Henkern strukturieren. Wer aber die Judenvernichtung beklagt, darf vom Faschismus nicht schweigen.
Die deutsche faschistische Massenbewegung, das war der Aufstand der breiten Zwischenschichten, mit deren Hilfe noch jede (ökonomisch) herrschende Klasse sich an der Macht hielt. Das war die militante Antwort des viele Millionen starken alten und neuen »Mittelstandes« auf die Unterminierung seiner traditionellen Lebensform. Zwischen die Mühlsteine der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung, der von der Bourgeoisie betriebenen Aufhebung des kleinen und mittleren Eigentums (durch konzentrationsfördernde Konkurrenz) einerseits, der radikaleren Bedrohung des Privateigentums durch die Arbeiterbewegung andererseits geraten, suchte Hitlers »mittelständische Sammlungsbewegung« einen Weg zurück zu einem obrigkeitsstaatlich gezähmten Kapitalismus mit Raum für Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende, mit Chancen für Offiziere, Akademiker, Angestellte und Beamte, die die große Krise mit Deklassierung bedrohte. Über kurz oder lang aber mußten die regressiven Sehnsüchte der faschistisch organisierten, »ungleichzeitigen« Zwischen-schichten an der Dynamik der deutschen kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft und ihres internationalen Kontexts zerschellen.Darum waren alle Straßen des III. Reiches mit Symbolen ausgelegt. Hitler stieg vom Sektenschreier zum Messias auf in dem Maße, wie er die real nicht zu befriedigenden Interessen, die Wunsch- und Racheträume seiner Anhänger als potentielle soziale Gewalt begriff und lenken lernte. Der faschistische Angriff galt primär (und real) der Arbeiterbewegung, dem Marxismus und Bolschewismus, der Sowjetunion, sekundär (ideologisch) dem »raffenden« Kapital, den großen Warenhäusern und den »Plutokratien«. Fusioniert wurden beide Gegner mit Hilfe des populären, rassistisch frisch aufgeputzten Antisemitismus: »Die Juden sind unser Unglück«, genauer: verantwortlich für die Misere ist die »jüdische Weltverschwörung« mit ihren beiden Hauptquartieren in Wallstreet und Moskau. Die »antikapitalistische Sehnsucht« der Gefolgsleute Hitlers wurde an den ältesten Repräsentanten der Geldwirtschaft, den Juden, arm oder reich, ausgelebt; der antiproletarische Haß brach sich an Lenin- und Stalingrad.
Die faschistische Massenbewegung fungierte als Knüppel des Finanzkapitals. Sie zerschlug die Arbeiterbewegung. Deren Funktionäre und Mitglieder füllten die ersten Konzentrationslager. Der Arbeiterwiderstand war der einzige, der vor dem II. Weltkrieg ins Gewicht fiel. Erst die Zerschlagung der Arbeiterbewegung gab den Nazis den Weg zu Pogrom und Krieg frei. Keiner der mittelständischen Träume ging im III. Reich in Erfüllung. Die Repräsentanten des plebejisch-antikapitalistischen Flügels der NSDAP wurden schon 1934 liquidiert. Die Konzentrationsbewegung beschleunigte sich im Zuge der Rüstungs- und Kriegswirtschaft. Der imperialistische Traum von einem Europa unter deutscher Herrschaft scheiterte an der Anti-Hitler-Koalition; Resultat des Raubkrieges war die Halbierung des deutschen kapitalistischen Wirtschaftsgebiets. Im März 1933 ebneten die bürgerlichen Parteien vor ihrer Selbstauflösung Hitler (dessen NSDAP es trotz der Finanzhilfe der deutschen Wirtschaft und des Terrors gegen KPD und SPD auf nicht mehr als knapp 44 Prozent der Stimmen gebracht hatte) den Weg zur Diktatur. Er sollte »Ordnung« schaffen, optimale Ausgangsbedingungen für Aufrüstungskonjunktur und Revanchepolitik. Der Preis für die Rettung der Renditenwirtschaft durch Braunhemden und Totenkopf-Terroristen war die Verwicklung in einen ruinösen Zweifrontenkrieg und der Dauerpogrom im Schatten dieses Krieges. Hier fanden die real blockierten regressiven Wunschträume der kleinbürgerlichen Massenbewegung eine schaurige Ersatzbefriedigung. Die europäische Judenheit wurde zum Opfer der reaktionären Utopie einer mittelständischen Volksgemeinschaft im 20. Jahrhundert.
Die Zwangsgemeinschaft der unfreien und ungleichen Herrenmenschen konnte ihre kollektive Illusion nur mit Hilfe von Menschenopfern aufrechterhalten, nur als verschworene Mord- und Schuldgemeinschaft, die sich gegen innere und äußere Feinde, politische Gegner, Juden und »Untermenschen« behauptete. 150 Jahre zuvor hatte das französisch-jakobinische Kleinbürgertum im Kampf gegen die Konterrevolution seinen Gleichheitstraum auf den Plätzen von Paris mit der Guillotine wahrmachen wollen. Damals ging es darum, persönliche Herr-Knecht-Verhältnisse zu zerbrechen, sie durch sachlich vermittelte Abhängigkeit zwischen Angehörigen verschiedener Klassen zu ersetzen. 1942 versuchten faschistisch-konterrevolutionär organisierte Angehörige des deutschen Kleinbürgertums, ihre Alpträume mit Maschinengewehr und Gaskam-mer zu zerstreuen, die Volksgemeinschaft gegen die Realität, gegen eine Welt von Feinden und Verschwörern, »Parasiten« und »Rassenschändern« durchzusetzen — im geheimen. Ihnen ging es darum, an die Stelle indirekter (marktvermittelter) Herrschaft neuerlich direkte (totalitäre) Führer-Gefolgschafts(bzw. Herren-Sklaven-)Verhältnisse zu setzen.
Hitlers Kinder und Enkel
Das Hitlerregime mußte von außen gestürzt werden. Es gab keine deutsche
Resistance, die man in einem Atem mit der französischen oder jugoslawischen,
in einem Atem mit den Verteidigern der spanischen Republik nennen könnte.
Und es gab nach dem Zusammenbruch des Regimes keine irgend angemessene Trauerarbeit.Warum gab es so wenige Widerstandsgruppen, so wenige Kurt Hubers, so wenige Geschwister Scholl, nur eine »Rote Kapelle«, nur einen Kurt Gerstein? Warum revoltierten nicht in wenigstens einer deutschen Stadt die Menschen gegen den Abtransport ihrer jüdischen Mitbürger (wie in Amsterdam); warum versteckten nicht deutsche Bauern (wie es französische taten) tausende jüdischer Kinder vor den Mördern? Warum richtete nicht wenigstens einmal ein Soldat bei der Massenerschießung das Maschinengewehr auf den Kommandostab?
Der Schock des »Zusammenbruchs« der NS-Illusionen hat der Bevölkerungsmehrheit eine Amnesie beschert, auf deren Basis der offizielle Optimismus der II. Republik gedeiht. Das Vergessen erspart all jene Fragen. Doch das kollektiv Verdrängte bildet charakteristische Symptome aus. Auch unser Zustand wird durch seine Extreme definiert: Da gibt es anno 1979 kleine Gruppen deutscher Terroristen, einer Jugend-Protestbewegung entsprungen, die ohne sozialen Rückhalt blieb. Sie wollen mit Attentaten, Geiselnahmen und Erpressung gegen den westlichen Imperialismus anrennen, wähnen auch wohl, derart eine antikapitalistische Massenbewegung auszulösen. Ihre Attacke gilt dem antiterroristisch armierten, starken Exekutivstaat. Und in den »Diensten« dieses Staats verdienen allzu viele Menschen ihr Brot damit, pflichteifrig, bedenkenlos und technisch perfekt die politischen Aktivitäten unzähliger möglicher »Verfassungsfeinde« prophylaktisch zu überwachen, belauschen die Telefone, öffnen die Briefe, sammeln Informationen, legen Karteien und Dossiers über immer neue Gruppen und Tatbestände an. »Deutschland im Herbst«, wie es sich 1977 so denkwürdig präsentierte, ist historisch überdeterminiert: Im magischen Fanatismus der terroristischen Grüppchen und in der ihm korrespondierenden Paranoia derjenigen, die blindwütig Volk und Staat gegen Terroristen, »Sympathisanten«, »Verfassungsfeinde« und Alternativen zum krisenhaften Status quo der Bundesrepublik gleichermaßen mobilmachen wollen, tritt zutage, was nur die Opfer nicht vergessen oder beschönigt haben: daß in Deutschland der Terrorismus zwölf Jahre lang, 1933-1945, Staatsraison war — ein nationales Erbe, mit dem wir noch lange nicht fertig sind.
In diesem Kontext ist »Holocaust« zu einem innenpolitischen Ereignis ersten Ranges geworden. Er hat in die kollektive Amnesie eine kleine Bresche geschlagen, die es zu erweitern gilt.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Helmut Dahmer, Friedrichstraße 50, 6000 Frankfurt a. M. 1)
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GEOFFREY C. COCKS, ALBION, MICH.
Psychoanalyse, Psychotherapie und Nationalsozialismus*[i]
Übersicht: Die Geschichte der Psychoanalyse unter dem Nationalsozialismus kann nur angemessen verstanden werden, wenn man sie im Zusammenhang der professionellen Entwicklung der medizinischen Psychologie und der Psychotherapie in Deutschland und im politischen Zusammenhang der chaotischen Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches betrachtet. Die deutsche Psychotherapie machte zwischen 1936 und 1945 unter der Ägide des sogenannten Göring-Instituts wesentliche Fortschritte auf dem Weg zur Etablierung und Anerkennung als ein eigener Berufsstand.
Es ist jetzt 50 Jahre her, daß Hitler zur Macht kam. Die Tragweite dieses Ereignisses läßt sich u. a. an der Flut von Untersuchungen und Analysen ermessen, die dem Nationalsozialismus seitdem gewidmet wurden. Auch wenn einige Historiker die Notwendigkeit einer weiteren Beschäftigung mit der Nazizeit bezweifelt haben, gibt es bisher kein Anzeichen für ein Abebben des wissenschaftlichen und populären Interesses am Dritten Reich. Aber trotz — oder vielleicht auch wegen — all dieser Aktivität ist unser Verständnis der Geschichte der Psychoanalyse im nationalsozialistischen Deutschland bis vor wenigen Jahren sehr dürftig geblieben.
Das tatsächliche Schicksal der Psychoanalyse unter Hitler läßt sich, entgegen einigen früheren Darstellungen, weder als »Liquidierung« (Jones, 1957) noch als »Rettung« (Boehm, 1978) zureichend erfassen. Wie jüngere Arbeiten gezeigt haben (Cocks, 1975; Huber, 1977; Zapp, 1980; Lockot, 1981; Lohmann und Rosenkötter, 1982; Brainin und Kaminer, 1982), ist die Geschichte der Psychoanalyse in Mitteleuropa zwischen 1933 und 1945 sehr viel komplexer, als die jeweiligen Sprecher für die zwangsweise emigrierten bzw. für die in Deutschland verbliebenen Psychoanalytiker einräumen.
Es bestand und besteht, worauf ebenfalls vor kurzem hingewiesen wurde (Brainin und Kaminer, 1982), unter Psychoanalytikern ein erheblicher Widerstand gegen die Anerkennung des traumatischen Faktums, daß die Psychoanalyse in das nationalsozialistische System »integriert« wurde. Die Überwindung eines solchen Widerstands ist Teil der umfassenderen psychologischen Aufgabe, die sich mehr oder weniger allen Deutschen in bezug auf das Dritte Reich stellt (Mitscherlich und Mitscherlich, 1967). Nach dem Anspruch der Psychoanalyse selbst darf die Erinnerung nicht selektiv sein. So ist es z. B. bei Psychoanalytikern und Psychotherapeuten in beiden deutschen Staaten üblich — weil trostreich —, die Märtyrergestalt John Rittmeisters zu feiern, der von 1939 bis 1942 die Poliklinik des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin leitete (Kemper, 1968; Hermanns, 1982). Rittmeister starb von der Hand der SS wegen seiner Mitgliedschaft in einer Widerstandsgruppe, die zu dem Spionagenetz der Roten Kapelle gehörte. So gewiß Rittmeisters Denken und Handeln Bewunderung verdienen, so gewiß laufen hagiographische Berichte über seinen Lebensweg Gefahr, die Aufmerksamkeit von den komplexeren und ethisch zweideutigeren Fragen psychoanalytischer Dienste für den nationalsozialistischen Staat abzulenken. Wie die Psychoanalyse verlangt auch die historische Forschung ein vollständigeres Bild der Vergangenheit.
Aus der Perspektive des Historikers muß die Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler in einen professionellen und einen politischen Zusammenhang gestellt werden. Der professionelle Zusammenhang ist die Gesamtentwicklung der deutschen medizinischen Psychologie und Psychotherapie im 19. und 20. Jahrhundert, die in einem bestimmten Sinn zwischen 1933 und 1945 einen wichtigen Höhepunkt erreichte. Über einige Aspekte dieser weitergreifenden Entwicklung sind wir durch neuere Untersuchungen recht genau informiert, so über die Rezeption Freuds und der Psychoanalyse durch die etablierte deutsche Medizin zwischen 1893 und 1907 (Decker, 1977; 1982) und allgemeiner über die Geschichte der Psychotherapie und Psychoanalyse in Deutschland von 1914 bis heute, insbesondere was Konflikte und Wandlungen im Verhältnis zwischen ärztlichem Berufsstand und medizinischer Psychologie während des Dritten Reiches anbelangt (Pongratz, 1973; Cocks, 1975). Die Beschäftigung mit der Situation der Psychotherapeuten unter dem Nationalsozialismus bewegt sich ihrerseits auf der Linie einer aktuellen Forschungsrichtung, die sich verstärkt mit den inneren Zuständen des nationalsozialistischen Deutschland und hier vor allem mit professionellen und akademischen Gruppen wie Psychologen (Geuter, 1982), Historikern (Heiber, 1966; Losemann, 1977) und Physikern (Beyerchen, 1977) befaßt.
Alle diese Arbeiten zeigen, daß die Geschichte von Einzelnen und Gruppen unter dem Nationalsozialismus nicht einfach in den Kategorien von Unterdrückung, Widerstand und Kollaboration begriffen werden kann. Sie bestätigen, daß der Hitlerstaat, obwohl er mit tragischem Erfolg eine mächtige Nation mit all ihren sozialen, ökonomischen und militärischen Ressourcen für Krieg und Ausrottung zu mobilisieren vermochte, in Wort und Tat nichts weniger als monolithisch war (Broszat, 1969).
Die Machtergreifung Hitlers 1933 hatte, wie in fast allen Bereichen des deutschen Lebens, so auch auf dem Gebiet der medizinischen Psychologie dramatische Auswirkungen. Für den Berufsstand als ganzen war die offensichtlichste und schmerzlichste Folge der Exodus von Ärzten, die Juden oder einfach Gegner des neuen Regimes waren. Das Berliner Psychoanalytische Institut, das erste seiner Art in der Welt, erlitt einen verheerenden Verlust an Mitgliedern und Kandidaten und wurde 1936 als unabhängige Einrichtung aufgelöst. Die Annexion Österreichs führte 1938 zur Zerstörung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und ihres Instituts und zwang Freud selbst, für sein letztes Lebensjahr ins Exil nach London zu gehen. An die Stelle des oft übermäßig streitbaren, aber produktiven Wissenschaftsklimas, das Psychoanalytiker, Psychotherapeuten, Psychologen und Psychiater in Deutschland hervorgebracht hatten, traten vollmundige und gedankenleere Treuebekundungen gegenüber dem Nationalsozialismus und die Selbstverpflichtung zur Schaffung einer »neuen deutschen Seelenheilkunde« im Geist des »neuen« Deutschland (Göring, 1934).
Gleichzeitig jedoch — und dieser Sachverhalt ist bisher unbemerkt geblieben — eröffnete sich den Zurückgebliebenen eine überraschende Chance. Eine Anzahl weniger bekannter Ärzte und Laien, die sich allen Arten von Psychotherapie, einschließlich der Psychoanalyse, verschrieben hatten, erhielten durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände eine ungewöhnliche Gelegenheit, ihre berufliche Praxis und deren Verbreitung zu fördern. Selbst auf dem Gipfel der nationalsozialistischen Verfolgung und Propaganda wurde ein hoher Grad an professioneller Kontinuität gewahrt. Und mehr noch: Aufgrund der besonderen Konstellation ab 1933 konnten sich diese Psychotherapeuten eine institutionelle Position und Betätigungsmöglichkeit sichern, für die es in Deutschland früher und später keine Parallele gibt.
Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte konzentrieren sich im allgemeinen auf die bahnbrechenden Denker und Systeme, die jeweils Meilensteine in der Entwicklung ihres Faches markieren. Aber auch eine Verschiebung des Blicks auf diejenigen Perioden und Personen, die den Raum neben und zwischen den Geistesriesen und Pioniertaten füllen, kann bedeutsame Aufschlüsse über die Fortbildung eines Gedankensystems geben und vor allem eine breitere Perspektive seiner Wahrnehmung vermitteln. Unter den Psychotherapeuten im Dritten Reich, deren Existenz und Schicksal allein schon die Aufmerksamkeit des Historikers verdienen, finden sich bestimmte Individuen und Denkschulen, die den Prozeß der Anwendung und Erhärtung vielfältiger professioneller Vorstellungen zwar in einem großen Spektrum von Stilen und auf verschiedenen Ebenen, aber mit dem gemeinsamen Ziel der Weiterentwicklung ihrer Disziplin vorantrieben. Diejenigen, die sich in theoretischer und praktischer Hinsicht nach wie vor an die modernen Meister der medizinischen Psychologie hielten, leisteten die wichtigsten Beiträge zur Entfaltung ihres jungen Berufszweiges. Die anderen hingegen, die erkennbar Nazi-Idealen anhingen und sie zur Grundlage ihrer Arbeit machten, steuerten erwartungsgemäß sehr viel weniger bei. Wenn es vor allem die praktische Aufgabe einer Ausnutzung der Chance zur professionellen Etablierung war, durch die sich die in Deutschland verbliebenen Psychotherapeuten beflügeln ließen, dann können ihre Erfahrungen als Musterbeispiel für den Fluß wissenschaftlicher Ideen durch Köpfe und Zeiten dienen, die gerade die kontinuierliche Mittelzone der menschlichen Geschichte repräsentieren, den Boden, auf dem die Ausformulierung und Anwendung dieser Ideen stattfinden.
Die Verwurzelung der deutschen Psychotherapie in romantischen Denktraditionen, wie sie sich während der vorangegangenen zwei Jahrhunderte herausgebildet hatten, brachte von Anfang an eine potentielle Verwandtschaft zwischen psychotherapeutischen Grundvorstellungen und den lautstark verkündeten Idealen der neuen Machthaber mit sich. Das so begründete Gefühl der Übereinstimmung nährte bei manchen die Illusion einer genuin »deutschen« Psychotherapie, verstärkte die zweifelhafte Ethik einer »unpolitischen« Naivität und begünstigte den kulturellen Chauvinismus, der vielfach mitgeholfen hatte, den Nationalsozialisten und der Kollaboration mit ihnen den Weg zu ebnen. Die wenigen deutschen Psychotherapeuten freilich, die wahrhaft und glühend vom Wert des Nationalsozialismus an sich für die Entwicklung des Denkens überzeugt waren, gingen aus ihrem Engagement mit leeren Händen hervor.
In gedanklicher Hinsicht blieb Hitlers Reich so gut wie steril. Es erzeugte lediglich Schatten — Denkfiguren, die verdunkeln, aber nichts erhellen konnten. Sache der Nationalsozalisten war nicht das scharfe, geschickt geführte Ideenskalpell, sondern die plumpe Keule des Rassismus: der Hexenhammer anstelle von Ockhams Rasiermesser. In denkwürdiger Weise auf den Punkt gebracht wurde die Situation einmal von Franz Wirz, dem Dezernenten für Hochschulangelegenheiten der NSDAP, der sich in einer Versammlung am 26. April 1936 mit traditionellen, aber auch neuerlich überängstlichen, »gesinnungstreuen« Einwänden einiger deutscher Psychotherapeuten gegen Freud auseinandersetzte. Wirz erklärte bei dieser Gelegenheit, daß er und die Partei nicht so sehr die Psychoanalyse als Wissenschaft, sondern vielmehr ihre Ausübung durch Juden ablehnten, und fügte hinzu: »Wir wissen doch alle, daß die Wassermannsche Reaktion von einem Juden entdeckt wurde, es wird aber doch niemand in Deutschland so verrückt sein, diese Reaktion nicht mehr anzuwenden« (Boehm, 1978, S. 303). Was sich in Nazideutschland ereignete, war nicht ein Kampf der Ideen und noch viel weniger ein siegreicher Kampf, sondern eine entschlossene Mobilisierung aller verfügbaren Mittel unter dem Zeichen wolkiger und subjektiver Vorstellungen von einer rassischen Sendung. Dieser Pragmatismus erwuchs aus dem Fehlen spezifischer, auf einer vernünftigen Ideologie basierender Reformen, gedieh im Geschiebe früherer Außenseiter auf dem plötzlich eröffneten Weg nach oben — sowie im Gerangel der Paladine, Vasallen, Lobredner und Diener Hitlers — und wurde überwölbt durch das großmächtige Schlagwort vom »deutschen Geist«.
Die Geschichte der Psychotherapie im Dritten Reich ist bemerkenswert, weil sie den Beteiligten eine bewußt wahrgenommene Chance zur Entwicklung ihres Berufszweiges bot. Insofern kann ihre Darstellung sich nicht auf die Spielart einer »nationalsozialistischen« Psychotherapie beschränken. Ebenso wenig beschäftigt sie sich, wie so viele andere, vorwiegend mit den Handlungen und Unterlassungen, die den Nationalsozialismus hervorbrachten, stützten oder tolerierten. Schließlich muß sie auch\darauf verzichten, die Moral und Ethik der Psychotherapeuten zu rechtfertigen oder zu verurteilen und das Maß ihrer historischen Verantwortung für das Aufkommen und die Taten der Nationalsozialisten einzuschätzen. Was hingegen eine solche Darstellung zeigen und erklären kann, ist der Bodengewinn der Psychotherapeuten innerhalb des medizinischen Establishments, und oft genug gegen seinen Widerstand, während der Jahre 1933 bis 1945 in Deutschland; was sie beschreiben muß, ist der manchmal gefährliche Kurs, den jene Ärzte und Laien zwischen den damaligen chaotischen Strukturen von Partei und Staat steuerten.
Eine Untersuchung der deutschen Psychotherapeuten unter Hitler, die als berufliche und akademische Außenseiter zu einer Definition und einem Nachweis ihrer professionellen Identität und Leistungsfähigkeit voranschritten, vermittelt ein überaus anschauliches Bild von der Lage akademischer Berufsgruppen in Nazideutschland. Der Blickwinkel ist dabei sehr viel breiter als in den vergleichsweise statischen Darstellungen größerer und arrivierterer Disziplinen, die sich in den flacheren Dimensionen von Kollaboration und Widerstand gegenüber nationalsozialistischer Ignoranz und Unterdrückung bewegen. Für das Verständnis dieses Abschnitts in der Geschichte der Psychotherapie wird die herkömmliche Betrachtungsweise, die vor allem den depravierenden Effekt des Nationalsozialismus auf Ideen und Menschen betont, nicht ausreichen.
Die Entwicklung der Psychotherapie als Profession wurde durch die Zufälligkeiten des nationalsozialistischen Herrschaftssystems fortgeführt und beschleunigt. Ältere Studien über das Dritte Reich, besonders wenn sie das Schicksal von Intellektuellen, Universitätslehrern und akademischen Berufsgruppen berühren, legen den Akzent auf den Bruch, d. h. mehr oder weniger auf das Ende jedes fruchtbaren, sinnvollen oder autonomen Arbeitens und Denkens. Gewiß verlor die Medizin, wie andere akademische Sparten, durch Hitlers Machtübernahme viele ihrer besten Theoretiker und Praktiker. Doch die Geschichte der Psychotherapie in Deutschland läßt, trotz des Verlusts einiger ihrer besten Köpfe, eine Kontinuität der theoretischen Orientierung, Berufsausübung und Standespolitik vor und nach 1933 erkennen, die sehr viel mehr beleuchtet als nur ein weiteres schmutziges Blatt in der Chronik nationalsozialistischer Zerstörungswut.
Mit der Gründung des Berliner Psychoanalytischen Instituts 1920 hatte sich Deutschland neben Wien an die Spitze der von Freud und seiner Schule inaugurierten Richtung der modernen medizinischen Psychologie gesetzt. Der Aufstieg der Psychoanalyse im folgenden Jahrzehnt beruhte zu einem großen Teil auf den psychoanalytischen Erfolgen bei der Behandlung der Neurosen des Ersten Weltkriegs, die den Militärpsychiatern traditioneller Ausbildung solche Rätsel aufgegeben hatten. Durch die Erfahrungen des Krieges war insbesondere eine Reihe junger Ärzte in Deutschland angeregt worden, sich der Psychotherapie zuzuwenden und ihre Entwicklung als Berufszweig innerhalb eines medizinischen Establishments voranzutreiben, das immer noch fast ausschließlich auf rein somatische Diagnosen und Heilverfahren ausgerichtet war. Der erste Anstoß zu derartigen Bemühungen war von der psychoanalytischen Bewegung ausgegangen, in der die medizinischen und philosophischen Ideale der deutschen romantischen Naturphilosophie eine Renaissance erlebt hatten — Ideale, die in scharfem Gegensatz zu der materialistischen und positivistischen Tradition der deutschen Medizin und Universitätspsychiatrie standen.
1926 gründeten die Psychiater Robert Sommer und Wladimir Eliasberg die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie. Diese internationale Organisation sollte ein Sammelbecken aller Ärzte bilden, die in ihrer medizinischen Praxis die eine oder andere Art von Psychotherapie gebrauchten. Zwei Jahre später wurde als offiziöses Organ der Gesellschaft eine Zeitschrift ins Leben gerufen, die 1930 den Titel »Zentralblatt für Psychotherapie« erhielt. Zu den namhaften Mitgliedern der Gesellschaft gehörten Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Frieda Fromm-Reichmann, Hans von Hattingberg, Gustav Richard Heyer, Karen Horney, Ernst Kretschmer, Erwin Liek, Felix Deutsch, Georg Groddeck, Fritz Künkel, Kurt Lewin, Ernst Simmel, Johannes Heinrich Schultz, Leonhard Seif, Viktor von Weizsäcker und Harald Schultz-Hencke. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft verweigerte der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie die Anerkennung, da sie auch »wilde« Analytiker, die Freud selbst mit dem Bann belegt hatte, und Vertreter anderer, unorthodoxer psychotherapeutischer Richtungen umfaßte, deren Grundpositionen für Psychoanalytiker nicht annehmbar waren.
Nach dem Triumph des Nationalsozialismus 1933 sahen sich die Mitglieder der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie von zwei Seiten her bedroht: zum einen durch die beharrliche Anschuldigung der neuen Machthaber, daß die Psychologie eine »jüdische« Erfindung sei, und zum anderen durch die erklärte Politik der Partei, sämtliche Bereiche der deutschen Gesellschaft ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Was die ideologische Seite anbelangt, wurden die heftigsten und pathologischsten Angriffe von dem notorischen Judenhasser von Nürnberg, dem fränkischen Gauleiter Julius Streicher, vorgetragen. Neben dem pornographischen »Stürmer« gab Streicher, zusammen mit Heinrich Will, das Kampfblatt »Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden« heraus, in dem die nationalsozialistischen Vorstellungen von »Gesundheits- und Rassenpflege« dargelegt und propagiert wurden. Gleich die erste Nummer eröffnete eine fortlaufende Rubrik unter dem Titel »Die Rolle des Juden in der Medizin« mit einer wütenden Attacke auf die Psychoanalyse. Sie wurde als jüdische »Seelenvergiftung« beschrieben, »deren letztes Ergebnis ist, daß der um die Beherrschung des Trieblebens kämpfenden Patientenseele der letzte ethische Halt endgültig genommen und sie in die asiatische Weltanschauung >Genieße, denn morgen bis du tot!< hinabgestoßen wird. Und das war wohl auch der Zweck, vielleicht der Auftrag Freuds, denn er reiht sich würdig an die anderen jüdischen Bestrebungen an, die nordische Rasse an ihrem empfindlichsten Punkt, dem Geschlechtsleben, zu treffen«1[ii].
Die Psychoanalyse war für Streicher ein besonders geeignetes Zielobjekt, weil sie es ihm ermöglichte, nicht nur seinen blutrünstigen Rassismus an einem prominenten jüdischen Intellektuellen auszutoben, sondern dabei zugleich, wie er es auch im »Stürmer« tat, das Thema Sexualität auszubeuten. Der den Artikel begleitende Comicstrip von Fips zeigt einen klischeehaft karikierten Juden als Psychoanalytiker und eine blonde arische Patientin, die über Kopfschmerzen klagt. Im Lauf der freien Assoziationen fällt das Wort »Dolch«, woraufhin der Analytiker aufspringt und der Frau seine persönliche Lösung für die sexuellen Entbehrungen ihres Ehelebens offeriert.
In organisatorischer Hinsicht reagierten die Psychotherapeuten auf die Machtergreifung im September 1933 mit der Bildung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, einer getrennten nationalen Untergruppe des internationalen Dachverbandes, dessen Vorsitzender nun C. G. Jung war. Zum Führer der deutschen Sektion wurde Matthias Heinrich Göring gewählt, ein Neuropathologe aus Wuppertal, der schon lange als Psychotherapeut tätig war.Es war eine kluge (keine kluge, sondern höchstens eine clevere! Anm.JSB) Personalentscheidung, die denn auch sofort die Zustimmung der nationalsozialistischen Partei und der staatlichen Medizinalbürokratie fand, denn Göring war ein Vetter des nationalsozialistischen Ministerpräsidenten von Preußen, Hermann Göring. Unter der Protektion des Namens Göring, und nicht unter der Zuständigkeit des ehrgeizigen Reichsärzteführers Gerhard Wagner, arbeitete, ja florierte dann die deutsche Psychotherapie bis 1945.
Die Psychotherapeuten unter M. H. Göring waren sehr darauf aus, eine geschützte institutionelle Basis für die Lehre, Praxis und Verbreitung der neuen Profession zu gewinnen. Göring selbst hatte überdies, zusammen mit einigen seiner Kollegen, naive Visionen von einer Art Synthese der vorherrschenden Denkschulen im Bereich der medizinischen Psychologie zu einer dezidiert »deutschen« Psychotherapie. (Wie auch heute viele deutsche Psychotherapieverbände und –vereinigungen. Anm. JSB) Ironischerweise schlug die Medizinalabteilung im Reichsministerium des Innern vor, daß sich die Göring-Gruppe mit dem Resttorso des Berliner Psychoanalytischen Instituts vereinigen solle. Ein solcher Zusammenschluß erlaubte den verbliebenen nicht-jüdischen Psychoanalytikern die Weiterarbeit an der bisherigen Stätte und verschaffte den Psychotherapeuten der finanziell beengten Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft die Räumlichkeiten, in denen sie ein Institut betreiben konnten. Die Ironie war im Grunde eine doppelte: Nicht nur erleichterte eine Nazibehörde der Psychoanalyse, der verachteten »jüdischen Wissenschaft«, das Überleben (Überleben? Als was? Als Zombie? Anm. JSB), sondern auch die Psychotherapeuten der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft sollten von der verordneten Verbindung in einem Maße profitieren, das weit über die praktischen Vorteile einer gemeinsamen Unterbringung hinausging.
So gelang es Göring schließlich 1936, ein eigenes Institut in Berlin einzurichten: das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, das rasch den Kurznamen »Göring-Institut« erhielt. In den ersten drei Jahren seines Bestehens finanzierte sich das Institut hauptsächlich aus den Beiträgen seiner Mitglieder. Mit Kriegsausbruch 1939 jedoch begann es, beträchtliche Gelder von der Deutschen Arbeitsfront zu beziehen, die — abgesehen von ihrem generellen Expansionsdrang — an der Nutzbarmachung des dort konzentrierten Fachwissens für industriepsychologische Zwecke interessiert war. Auch von der Luftwaffe wurde seine Tätigkeit in Lehre, Praxis und Forschung unterstützt. Daneben bestanden Kooperationsbeziehungen zu mehreren parteilichen und staatlichen Behörden und Einrichtungen der Sozialfürsorge und des Gesundheitswesens. Das Institut und eine Reihe seiner Mitglieder hatten permanente berufliche Kontakte zur Hitlerjugend, zum Bund deutscher Mädel, zum Reichskriminalpolizeiamt, zum SS Lebensborn und zu einigen Spitzenleuten der Nazihierarchie. Dieses wachsende Verflechtungsnetz von Dienstleistungen und gegenseitiger Hilfe ermöglichte es dem Institut schließlich auch, Filialen in München, Stuttgart, Düsseldorf, Wuppertal und Frankfurt am Main aufzubauen.
Die Arbeitsfront war freilich, bei all ihrem Reichtum, ein schwammiges Gebilde und als Aufsichtsinstanz und Geldquelle wenig zuverlässig. Darum erwirkte Göring 1942, daß die Finanzierung des Instituts in erheblichem Maße durch Zuschüsse des Reichsforschungsrates ergänzt wurde, der nicht zufällig in demselben Jahr unter die Leitung Hermann Görings gekommen war. Im Januar 1944 wurde das Institut in »Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie im Reichsforschüngsrat« umbenannt. Die formelle Angliederung erfolgte im Rahmen der Bemühungen des Reichsmarschalls, die Bastionen seines persönlichen Machtbereichs gegen die Übergriffe Goebbels‘ und seines Programms für den totalen Krieg abzusichern. Mit diesem Schritt erlangte das Institut einen gleichsam regierungsamtlichen Status: die Psychotherapie hatte den Zenit ihrer professionellen Identität unter dem Nationalsozialismus erreicht. Auch wenn es nur bis 1945 existierte, bezeichnete das Göring-Institut doch eine einzigartige und bedeutsame Stufe in der Entwicklung der Psychotherapie in Mitteleuropa. Bevor wir aber die Details dieser ungewöhnlichen Geschichte betrachten, ist es erforderlich, kurz einige ihrer Rahmenbedingungen zu erörtern.
II
Psychotherapie ist, in weiter Definition, die Behandlung, Linderung und Heilung psychischer Störungen mittels verschiedener Verfahren, deren Spannbreite von einfachen Formen der Beratung und Ermutigung bis zu komplexen kulturellen Ritualen und hochdifferenzierten wissenschaftlichen Theorien reicht. In einer engen Bestimmung umfaßt Psychotherapie, wie sie historisch geworden ist, diejenigen Theorien und Behandlungsmethoden, die psychische Störungen als Krisen der leib-seelischen Gesamtheit des menschlichen Organismus in seiner Umwelt und nicht als Äußerungen einer physiologischen Fehlfunktion des Gehirns oder des Nervensystems begreifen. Den Zwecken der vorliegenden Untersuchung entspricht die enge Definition: Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts, als ein Großteil der Forschungen über die Wirkungsweise von Gehirn und Nervensystem durch den wissenschaftlichen Positivismus angeregt und geprägt wurde, die theoretischen und methodischen Auseinandersetzungen um die Beschaffenheit von Leib und Seele eine besondere Schärfe gewannen.
Diese Auseinandersetzungen waren in Deutschland vehementer als anderswo. Hier gab es eine Anzahl von Ärzten und Laien, die — weithin im Gefolge der freudianischen Bewegung mit ihrer Wiederaufnahme und Ausweitung des alten romantischen Seelenbegriffs — der somatischen Orientierung der herrschenden Universitätspsychiatrie äußerst kritisch begegneten.Diese wachsende Opposition wurde verstärkt durch den Ersten Weltkrieg, der die Heerespsychiater, wie gesagt, mit Erscheinungsbildern konfrontierte, die ihre physikalischen Theorien nicht erklären und ihre Laboratoriumsmethoden nicht beseitigen konnten. Insbesondere die Psychoanalyse erhielt durch ihre erfolgreiche Anwendung bei der Behandlung der Kriegsneurosen einen merklichen Auftrieb. Die zwanziger Jahre brachten in Deutschland eine Füllevon Gruppen hervor, die für die Anerkennung des fundamentalen ‚Wechselspiels zwischen Körper und Seele in der Ärzteschaft kämpften. Die wichtigste von ihnen war die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie. Zu der Zeit, als sie unter M. H. Göring ihr fusioniertes Institut gründete, um die Psychotherapie als eigenständigen Berufszweig zu fördern, bezog sie in ihre Arbeit sowohl die Medizin als auch die allgemeine Psychologie ein und entnahm ihre Theorien und Techniken einem breiten Spektrum von Disziplinen der Natur- und Geisteswissensehaften.
Es wurde oben darauf hingewiesen, daß die Einrichtung des Göring-Instituts zum damaligen Zeitpunkt umso bedeutsamer war, als der nationalsozialistische Terror viele der großen Protagonisten der medizinischen Psychologie — die zumeist Juden waren — in die Emigration getrieben hatte. So kam es, daß die Geschichte der Psychotherapie unter dem Nationalsozialismus statt durch spektakuläre theoretische Fortschritte durch einen Prozeß weitgehender professioneller Konsolidierung und Etablierung gekennzeichnet war, verbunden mit der entsprechenden Anerkennung durch die Öffentlichkeit und, weniger rasch, den medizinischen Berufsstand.
Ein Faktor, der diesen Prozeß begünstigte, war gewiß die bereits erwähnte romantische Tradition, auf der die Nationalsozialisten ebenso wie die meisten deutschen medizinischen Psychologen fußten. Entscheidender noch für die professionelle Entwicklung der deutschen Psychotherapie in den drei Jahrzehnten vor der Jahrhundertmitte war die Tatsache, daß das Göring-Institut in der Durchführung seines Auftrags, die Interessen des Individuums mit der herrschenden Sozialordnung in Einklang zu bringen, der Psychotherapie gegenüber der Psychoanalyse den Vorzug gab.Die unter seinem Dach versammelten Psychotherapeuten boten eine Vielfalt unterstützender und im allgemeinen kurzfristiger Kuren an, die darauf zugeschnitten waren, die Eingliederung eines zufriedenen, produktiven Individuums in die Gesellschaft zu gewährleisten. Eine solche Zielsetzung, die etwa in der Arbeit von Männern wie J. H. Schultz, Leonhard Seif und Gerhart Scheunert hervortritt, befand sich unverkennbar in Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Normvorstellung einer Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft (»Gemeinnutz geht vor Eigennutz«) und verschaffte den neu institutionalisierten Psychotherapeuten unmittelbare Vorteile. Sie brachte die Psychotherapie auch in engeren Kontakt mit einer größeren Anzahl praktischer Allgemeinmediziner, die ihr Instrumentarium durch solche einfachen Formen psychologischer Behandlung zu erweitern wünschten. Die Psychoanalyse dagegen, mit ihrem stärker didaktischen Einschlag, ihrer längeren Dauer und ihrer grundsätzlichen Parteinahme für das Individuum in seinem Kampf gegen die Gesellschaft, war diesen Kreisen schlichtweg nicht zugänglich, selbst wo man bereit war, sich über die herkömmlichen Einwände gegen sie, die in der deutschen Ärzteschaft verbreitet waren, hinwegzusetzen und der jüngeren, rassisch begründeten Verdammung durch die Nazis zu trotzen.
(„Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv.“ – LeoTrotzki 1923. Anm.JSB)
Obwohl jedoch die deutschen Psychotherapeuten unter Hitler offiziell von Freud abrückten, war die freudianische Theorie und Praxis, vor allem nach der »therapeutischen Wende« der Neofreudianer, ein zu relevanter Teil der neuen medizinischen Psychologie, als daß man sie völlig hätte beiseiteschieben können — Franz Wirz sprach es in aller Unverfrorenheit aus. So sicherte sich auch die Psychoanalyse, entlastet durch den Auszug jüdischer Analytiker und gedeckt durch den Namen Göring, eine wichtige Stellung in einem Institut, das sich weithin erfolgreich nicht allein der Erhaltung, sondern darüber hinaus der Förderung beinahe aller Arten von medizinischer und nichtmedizinischer Psychotherapie widmete.
Keineswegs also hat der Nationalsozialismus die Psychotherapie zerstört, indem er sie entweder skrupellos unterdrückte oder zur stummen Sklavin seiner eigenen konfusen Ideologie machte. Vielmehr ergab sich aus der Entwicklungsgeschichte der medizinischen Psychologie in Deutschland, modifiziert durch die strukturelle Dynamik der braunen Diktatur, ein Kräftefeld, das der Psychotherapie (der Psychotherapie – nicht der Psychoanalyse!“ Anm. JSB) nach 1933 eine beispiellose Gelegenheit zur professionellen Weiterexistenz und Entfaltung bot. Vier Faktoren waren es vor allem, die in dieser Richtung zusammenwirkten. Der erste Faktor war das bloße Vorhandensein einer Gruppe von Psychotherapeuten, die das Wachstum und eine erweiterte Praxis dieses neuen Berufszweiges im Bereich der Medizin anstrebten. Der zweite war der chronische organisatorische Wirrwarr, in dem sich die planlose und oft überhastete Mobilisierung von Staat und Partei unter Hitler vollzog. Drittens spielte das ideologische wie auch pragmatische Interesse der Nationalsozialisten an Psychotherapie und Psychologie überhaupt eine Rolle. Im Zusammenhang einer massiven Besorgtheit um die seelische »Volksgesundheit« betrachteten die Nationalsozialisten eine gebührend arisierte Psychotherapie und Psychologie als ein wichtiges Mittel, um die Loyalität und Produktivität des deutschen Volkes sicherzustellen. Die faszinierende junge Disziplin erschien ihnen als reizvolle Synthese eines romantischen Erbes mit einer, wie sie es sahen, Grundaufgabe der medizinischen Psychologie: der Beschäftigung mit den inneren Eigenschaften von Menschen. Bei all ihrer Fixierung auf die äußeren Determinanten der Rasse glaubten die Nazis, daß der Arier sich nicht nur durch Blut, Knochenbau und Hautfarbe auszeichne, sondern auch durch die inneren und ungreifbaren Qualitäten seines Charakters. Der vierte Faktor, der den fortgesetzten Aufschwung der Psychotherapie im Dritten Reich ermöglichte, war die Person Matthias Heinrich Görings. Es war vor allem Görings Leistung, daß zum ersten Mal öffentliche Gelder für die Lehre und Ausübung der Psychotherapie verfügbar gemacht wurden. Der Umstand, daß Psychotherapeuten in Deutschland neun Jahre lang einen professionellen Erfolg und Status genossen, der weder vorher noch danach je übertroffen wurde, beruhte auf ihrer einzigartigen institutionellen Basis, die hauptsächlich dem Einfluß und dem Schutz des Namens Göring zu verdanken war. Trotz seiner eigenen Zwangsidee von einer »deutschen« Psychotherapie, seiner familiären Verbundenheit mit seinem Vetter Hermann und seiner nationalkonservativen Ergebenheit gegenüber Hitler und dem nationalsozialistischen Staat fungierte Göring nie als ein bloß bestallter »Gauleiter« für Psychotherapie. Im Gegenteil: Gerade weil ein solcher Mann an ihrer Spitze stand, errangen die Psychotherapeuten eine Autonomie weit über den Spielraum hinaus, den die oberflächliche, wenngleich oft zerstörerische, Mobilisierung der professionellen Ressourcen Deutschlands durch die Nationalsozialisten offenließ. Ein ziemlich scheuer Mann, der sich seit vielen Jahren für die Entwicklung der Psychotherapie eingesetzt hatte, gab Göring dem Institut im großen und ganzen die Möglichkeit zur ernsthaften Weiterarbeit auf allen Sektoren der medizinischen Psychologie, einschließlich der Psychoanalyse.
Angesichts des Zusammenwirkens all dieser Faktoren ist es kaum verwunderlich, daß Karl Jaspers nach dem Krieg feststellte: »Etwas grundsätzlich Neues geschah 1936, als das >Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie< in Berlin unter Leitung von H. M. Göring gegründet wurde. Damit war für die Psychotherapie der Schritt zur Institution getan« (Jaspers, 1955, S. 46). Obwohl ihrer besten Köpfe beraubt und in ein Chaos widerstreitender Kräfte gestürzt, war die Konstellation für die Psychotherapie doch bemerkenswert günstig.
III
Warum ist diese eigentümliche Geschichte bisher unerzählt geblieben? Die meisten früheren Untersuchungen über das Dritte Reich entsprangen einer direkten Betroffenheit durch Hitlers Tyrannei und Aggression. Die Folge war eine durchgehende Betonung der augenfälligen Brutalität, mit der Hitler und die Nazis ihre Herrschaft über Deutschland und Europa zu sichern versuchten. Inzwischen jedoch, da der unmittelbare Schock über die Schrecken des Nationalsozialismus allmählich abklingt, wird die Lawine von Büchern über den nationalsozialistischen Polizeistaat, über Hitlers Außenpolitik und seine Kriegszüge abgelöst durch Arbeiten über die innere Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland.
In der nationalsozialistischen Aggression und Unterdrückung, nach innen und außen, konnte der Historiker eine einigermaßen klare Linie von Absichten und Handlungen erkennen. Die Herrschaftsstruktur und die Sozial- und Wirtschaftspolitik im Dritten Reich zeigen dagegen ein anderes Bild. Statt einer glatten Konfrontation von Alt und Neu, Status quo und Reform oder Staat und Partei findet man als Resultat der nationalsozialistischen »Revolution« ein heilloses Gewirr von Problemstellungen, Ämtern, Einflüssen und Zielvorgaben. Die vorgespiegelten Reformforderungen der Nationalsozialisten erwiesen sich bald als hohl, so daß Aufstieg und Niedergang, Triumphe und Kollisionen der verschiedenen Organe in Verwaltung und Regierung des Dritten Reiches weithin durch vornationalsozialistische Probleme und Lösungsansätze bestimmt wurden. In dieser allgemeinen Konfusion wurde das Göring-Institut in eine unklare Zwischenstellung zwischen einer Partei- und einer Staatsbürokratie hineingeschwemmt, die sich selbst im Wandel und miteinander in Konflikt befanden.
Unter dem nachwirkenden Eindruck von Menschenexperimenten und Euthanasieverbrechen ist das Thema der Gesundheitsfürsorge in Nazideutschland so gut wie unbeachtet geblieben (Mitscherlich und Mielke, 1949). Diese Einengung des Blickfelds ist angesichts der Art und Weise, wie die Nationalsozialisten mit den von ihnen zu Gegnern erklärten Personengruppen umgingen, begreiflich und gerechtfertigt, aber ihr Ergebnis war irreführend. Man hat lange gemeint, daß die nationalsozialistische Einstellung zu psychischer Krankheit allein auf biologischen Postulaten beruhte. Demnach war psychische Krankheit für die Nationalsozialisten ein Zeichen rassischer Minderwertigkeit. Ein reinrassiger Arier konnte gar nicht von ihr befallen sein, so daß Maßnahmen zur Erhaltung der psychischen Gesundheit des deutschen Volkes nur auf Selektion und Kontrolle, nicht aber auf Fürsorge und Behandlung gerichtet sein mußten. Es ist wahr, daß deutsche Psychiater in einem gewissen Maße zur Propagierung und Durchführung der nationalsozialistischen Eugenik herangezogen wurden, d. h. zur Mithilfe bei der gnadenlosen Stigmatisierung derer, denen man aus biologischen Gründen das Recht der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft absprach. Sicher versuchten die Nationalsozialisten alle Menschen, die an schweren angeborenen oder unheilbaren Geisteskrankheiten litten und die sie, wie die Juden, zu biologischen Feinden stempelten, auszusondern, unter Quarantäne zu stellen, zu sterilisieren und schließlich auszurotten. Sie verübten an zahlreichen psychiatrischen Patienten dieselbe Grausamkeit wie an ihren politischen Gegnern. Für Hitler und die Nazis standen die Rassen in einem Überlebenskampf; in dem kein Pardon erbeten oder gegeben werden konnte.
Diese unbarmherzige Logik ist auch dafür verantwortlich, daß die Nationalsozialisten — im Gegensatz zum Sowjetkommunismus — nie die psychiatrische Klinik als Verwahrungsort für politische Gegner benutzt haben. Eine derartige »Psychiatrisierung« des Dissidententums geht, bei aller Verletzung der Menschenwürde und bei allem Mißbrauch, der gewöhnlich mit ihr getrieben wird, immer noch von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer Besserung aus. Obgleich natürlich bei einem solchen Verfahren viele Menschen, in einer schrecklichen Parodie medizinischer Betreuung, einfach für immer eingesperrt werden, vermag der hier hervorgehobene Unterschied zum Nationalsozialismus doch einen Aspekt des öffentlichen und professionellen Lebens im Dritten Reich zu beleuchten, der bisher keine Aufmerksamkeit gefunden hat. Mögen sich Nazideutschland und Sowjetrußland als totalitäre Systeme noch so sehr ähneln, ihre Ideologien sind grundverschieden. Der Marxismus ist in seinem Materialismus vom Kern her rational und greift für den Aufbau und die Sicherung einer wohlgeordneten egalitären Gesellschaft zu wissenschaftlichen Strategien — in diesem Fall zu einer Psychiatrie, die sich ursprünglich von der Pawlowschen Psychologie herleitete und heute durch eine entschieden organisch-chemische Orientierung gekennzeichnet ist (Segal, 1975). Der Nationalsozialismus dagegen hatte keine Ideologie, die diesen Namen verdiente; er war eine Bewegung mit charismatischer, nicht ideologischer Fundierung. Für die Nationalsozialisten war die Gefühlsstimme des Blutes ein zureichender Grund, um das Blut ihrer Feinde in Strömen zu vergießen. Anders als die Sowjetkommunisten, deren psychiatrisches System mit seinem rationalen Determinismus theoretisch niemand außer den absolut hoffnungslosen Fällen von der Behandlung oder von der Zugehörigkeit zur sozialistischen Ordnung ausschließt, vertraten die Nationalsozialisten einen ausgrenzenden biologischen und rassischen Determinismus, der auch in der Theorie die Psychiatrie von vornherein einer offiziell anerkannten Wiederherstellungsfunktion beraubte.
Dies alles bedeutete jedoch durchaus nicht, daß die Nationalsozialisten kein Bedürfnis für Psychotherapie hatten. Es gab im Dritten Reich, wie erwähnt, eine komplementäre Besorgtheit um die psychische Wohlfahrt der Volksgemeinschaft, d. h. der meisten in Deutschland lebenden Menschen. Ihr lag folgende Logik zugrunde: Der rassisch-biologische Maßstab taugte nur für jene psychiatrisch definierten Fälle genetischer Krankheit, die das neue Regime von früher übernommen hatte, sowie für die flagranten Fälle von Homosexualität und anderen als abweichend klassifizierten Verhaltensformen der sogenannten »Asozialen« — die ebenfalls durch Sterilisierung und Ausrottung beseitigt werden sollten —, ließ sich aber auf Arier, die an geringfügigeren und verbreiteteren neurotischen Konflikten litten, nicht anwenden: Psychische Störungen innerhalb der Herrenrasse konnten per definitionem nicht genetisch oder organisch bedingt sein. Daraus folgte, daß alle derartigen Symptome bei einem Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft, wenn nur der angeborene deutsche Wille richtig gelenkt wurde, korrigierbar waren.
Nach außen hin nahmen die Nationalsozialisten eine entgegengesetzte Haltung ein. Sie wandten sich gegen die »jüdische Wissenschaft« der Psychologie und verkündeten eine naturgegebene Überlegenheit der arischen Rasse — ein weiterer Umstand, der den faktischen Rekurs auf Psychologie und Psychotherapie im Dritten Reich verschleiert hat. Die Wahrheit aber ist, daß die Nationalsozialisten das Bedürfnis nach psychologischer Betreuung und Hilfe, innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Reihen, schlechterdings nicht ignorieren konnten. Ihr pragmatischer Standpunkt wurde verstärkt durch die totalitäre Betonung von Führertum, Überwachung und Erziehung zur Pflicht sowie durch ihr Interesse an menschlicher Produktivität im zivilen wie im militärischen Bereich. In einem gewissen Sinne kann man sogar sagen, daß die Manier, in der die Nationalsozialisten die Begeisterung und den Willen des Volkes mit den Mitteln angewandter Psychologie anfeuerten und in Spannung hielten, eine Art Psychotherapie ohne den Namen war. Jedenfalls aber bestand, da sich Fehlanpassung und Neurose durch keine Verbindung von Naziorganisationen, Propaganda und angewandter Psychologie völlig ausschalten ließen, ein unabweisbares Bedürfnis nach dem Potential der medizinischen Psychologie. Ferner ist nicht zu vergessen, daß die Nationalsozialisten keineswegs gegen ein fast kindliches Vergnügen an den Errungenschaften deutscher Wissenschaftler gefeit waren. Und auch die raunende Verschwommenheit des Nationalsozialismus, die einer tiefen ideologischen Obsession für die irrationalen Elementarkräfte des kollektiven und individuellen Willens entsprang, kam der Psychotherapie als Institution zugute.
Alle diese Bedingungen zusammen ließen der Psychotherapie im Dritten Reich einen sehr viel größeren Wirkungsraum, als bisher erkannt worden ist. Psychotherapeuten und Psychologen wurden de facto aufgeboten, um die psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit in der breiten Masse der Deutschen zu steigern, die in den Augen der Machthaber aus dem harten Holz einer Kriegernation geschnitzt war. So kam es, daß der Psychiatrie und Psychotherapie im nationalsozialistischen System zentrale, genau umrissene Aufgaben zugewiesen wurden. Daneben freilich unterstrich man auch die Komplementärbeziehung zwischen der Erbbiologie, der pseudo-wissenschaftlichen Grundlage der nationalsozialistischen Lehre von unveränderlichen Rassenmerkmalen, und dem, was die Nationalsozialisten »psychologische Erziehung« und einige Psychotherapeuten »Psychagogik« nannten. Dies war exakt die Arbeitsteilung innerhalb der allgemeinen Mobilisierung der Medizin, die 1940 von Hans Reiter, einem Medizinalbeamten im Reichsministerium des Inneren, auf einer Tagung von Kinderpsychiatern erläutert wurde2[iii].
Es mag um des Kontrastes willen nützlich sein, daran zu erinnern, daß das Menschenbild der Sowjetpsychiatrie seit jeher geprägt ist von der Abneigung gegen die Anerkennung unbewußter und irrationaler Triebkräfte, die die Theorie der sozialen Determiniertheit allen Verhaltens sprengen würden. Psychotherapie wurde daher in der Sowjetunion der disziplinierenden und wiederherstellenden Funktion einer offiziellen Psychiatrie zu- und untergeordnet, die in eine hochzentralisierte und einheitliche Gesundheitsverwaltung eingebunden war. Mit dem Abbau des Stalinismus sind zwar einige Veränderungen eingetreten, aber die totale Ablehnung der »bürgerlichen« Freudschen Psychoanalyse hat sich nicht gelockert, und die Sowjetpsychotherapie beschränkt sich im großen und ganzen auch heute noch auf die hilfsweise Verwendung rationaler Therapieformen wie Suggestion und Überzeugung sowie auf den Einsatz physiologischer Verfahren wie Hypnose und Autogenes Training (Segal, 1975, S. 504, 509-513).
Vieles spricht aber dafür, daß jede Betonung der Unterordnung des Individuums unter Staat und Gesellschaft, ob kommunistisch oder faschistisch, einer wirksamen physischen oder psychischen Gesundheitsfürsorge entgegensteht. Ohne Zweifel waren diejenigen Menschen in Deutschland, die als politische Gegner und »Rassenfremde« gebrandmarkt und daraufhin verfolgt, gedemütigt und gequält wurden, besonders anfällig für Überbelastung und Zusammenbruch. Verletzlich waren aber auch jene sensiblen und scharfsichtigen Individuen, unter ihnen viele Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, die an dem furchtbaren Bewußtsein der moralischen Verwerflichkeit des Regimes, unter dem sie lebten und arbeiteten, schwer zu tragen hatten. Martin Gumpert, ein emigrierter Homöopath, beschrieb im Exil das ausweglose Dilemma deutscher Psychotherapeuten, daß sie sich zwar um die Rettung und Wiederherstellung von Menschen bemühten, die ohne ihre Hilfe vielleicht verloren gewesen wären, und ihr Möglichstes zur Verbesserung der psychischen Gesundheit jener »Volksgenossen« taten, daß aber selbst diese letztere Funktion »den Grundsätzen aller zivilisierten Gesundheitsfürsorge zuwiderlief, die besagen, daß Fürsorge und Rücksichtnahme die zentralen Voraussetzungen sozialer Errungenschaft sind«. In seinem Buch versuchte Gumpert, den »allgemeinen Nervenzusammenbruch« zu schildern und zu belegen, »der wie eine dunkle Wolke über Deutschland hängt« (Gumpert, 1940, S. 16.41). Seine Analyse krankt freilich daran, daß er die seinerzeit allgemein verbreitete Illusion von der totalen Effektivität und Reglementierung des nationalsozialistischen Staates teilte.
In Wirklichkeit jedoch gab es einen wesentlichen Umstand, der eine restlose, unerbittliche Reglementierung der Seelen und Körper unter Hitler verhinderte. Vor allem vor Kriegsausbruch konnte sich das Dritte Reich nicht nur einer Wirtschaft, sondern einer ganzen Gesellschaft von Kanonen und Butter rühmen. Zur Vorbereitung und Flankierung seines politischen und militärischen Griffs nach der Vormacht in Europa hatte es Hitler für nötig gehalten, Deutschland mit einer Mixtur aus Sozialfürsorge, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, industrieller Expansion, militärischer Wideraufrüstung und patriotischer Rhetorik zu überziehen.Er tat dies aus der Angst heraus, daß die Moral an der Heimatfront ebenso zusammenbrechen könnte, wie er er während des Ersten Weltkriegs beobachtet hatte. Es war diese Sorge, neben der immanenten Ineffektivität des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, die es Einrichtungen der Gesundheitspflege erlaubte, zu arbeiten und sogar zu florieren.
Mit den furchtbaren Ausnahmen, die oben genannt wurden, garantierte der nationalsozialistische Staat seiner Bevölkerung tatsächlich ein gewisses Maß an Gesundheit und Zufriedenheit. (Auch an der Front? Anm.JSB) Noch gegen Ende des Krieges berichtete das britische Außenministerium, daß das nationalsozialistische Gesundheitswesen bemerkenswert funktionstüchtig sei3[iv]. Das Göring-Institut behandelte nicht nur eine große Zahl psychischer Kriegsschäden; es gewährte auch einer Reihe von Homosexuellen, darunter vielen Mitgliedern nationalsozialistischer Jugendorganisationen, psychotherapeutische Hilfe und führte mindestens zwei von offizieller Seite in Auftrag gegebene Forschungsprojekte durch: über Homosexualität und psychogene Unfruchtbarkeit. Zweifellos muß man annehmen, daß die Wirksamkeit der angebotenen Psychotherapie durch die allgemeine Anspannung jener Jahre und speziell durch die beiderseitige Ungewißheit hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht und die begrenzten persönlichen Wahlmöglichkeiten in einer totalitären Gesellschaftsordnung beeinträchtigt wurde.Dennoch gibt es alles in allem, was immer man über psychische Störungen unter den Naziführern selbst und über die psychohistorische Dynamik der Ausbreitung und Etablierung des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft vorbringen mag, .keine sicheren Beweise dafür, daß individuelle Neurosen und Psychosen im Dritten Reich besonders häufig gewesen wären. So schwer es ist, in solchen Dingen eine zuverlässige Feststellung zu treffen, man wird dem Resümee von Richard Grunberger beipflichten können:
»Hinsichtlich der allgemeinen nervlichen Belastung wirkte die Lage im Dritten Reich auf den psychischen Zustand des Volkes ziemlich ambivalent. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Machtergreifung zu einer weitverbreiteten Verbesserung der emotionalen Gesundheit führte.Das war nicht nur ein Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs, sondern auch der Tatsache, daß sich viele Deutsche in erhöhtem Maße mit den nationalen Zielen identifizierten. Diese Wirkung ähnelte der, die Kriege normalerweise auf das Auftreten von Selbstmorden und Depressionen haben. (Das Deutschland der Nazizeit verzeichnete diese Erscheinung zweimal: nämlich 1933 und 1939.) Aber gleichzeitig führte das intensivere Lebensgefühl, das von der ständigen Stimulierung der Massenemotionen herrührte, auch zu einer größeren Schwäche gegenüber dem Trinken, Rauchen und Vergnügungen« (Grunberger, 1971, S. 235).
Die Geschichte der Psychotherapie als ganzer im Dritten Reich wurde bisher nur allzu leicht verdunkelt durch ein einseitiges Interesse an der kraftvollen psychoanalytischen Bewegung und besonders durch die erschreckende Überzeugung, daß es den Nationalsozialisten gelungen sei, die Psychoanalyse in Mitteleuropa zu zerstören (Jones, 1957, Bd. 3, S. 222). Dabei wurde stillschweigend unterstellt, daß der Aufstieg des Nationalsozialismus das Ende jeder medizinischen Psychologie in Deutschland bedeutet habe oder daß alle anderen psychotherapeutischen Richtungen dasselbe Schicksal erlebt hätten. Die historische Realität jedoch ist verwickelter.
Tatsächlich gelang es den Nationalsozialisten nicht, die Ausübung der Psychoanalyse im engeren oder gar der Psychotherapie im weiteren Sinne in Deutschland abzuschaffen. Der Aufmarsch Hitlers eliminierte Berlin und Wien als psychoanalytische Zentren und verlagerte den Schwerpunkt der Bewegung nach London und New York. Aber die Psychoanalyse als Behandlungsmethode überlebte unter den Experten des Berufs und hatte ihren Anteil an dem wechselseitigen Nutzen, den ihre — freilich erzwungene — Kooperation mit all den anderen psychotherapeutischen Denkschulen mit sich brachte (Baumeyer, 1971).
Innerhalb eines Systems voller Risse und Intrigen, das faktisch das Wachstum der Psychotherapie als ganzer begünstigte, bietet die Psychoanalyse ein besonders dramatisches Beispiel des Überlebens. Daß sie überlebte, ist an sich schon wichtig genug, aber warum sie es tat, wirft ein Schlaglicht auf die wilde Willkürlichkeit nationalsozialistischer Positionen, Pläne und Programme. Die öffentliche Existenz der Psychoanalyse wurde 1938 formell beendet, und bereits im Februar 1936 hatte das Innenministerium klargemacht, daß ein unabhängiges psychoanalytisches Institut nie eine Lehr- und Praxiserlaubnis erhalten würde. Da die Psychoanalyse die Schöpfung eines — oder des — Juden war, konnte sie als selbständige Einheit nicht geduldet werden. Sie konnte jedoch in die Hände »zuverlässiger« Vertreter des Faches gegeben werden, unter der Ägide des Göring-Instituts.
Vielleicht hofften die Nationalsozialisten, da sie selbst über wenig oder gar keine einschlägige Sachkunde verfügten, daß Matthias Heinrich Göring (und zumal ein Göring!) eine nazifizierte Psychotherapie für sie schaffen werde; doch diese Erwartung wurde nur in einem sehr begrenzten Maße erfüllt. Denn »Neue deutsche Seelenheilkunde« blieb im wesentlichen ein Etikett für die kosmetische Amalgamierung bestehender psychotherapeutischer Richtungen. Die Psychoanalyse vermochte eine gesicherte, wenngleich etwas defensive und untergeordnete, Stellung innerhalb des neuen Instituts einzunehmen, in dem noch so extreme Differenzen im großen und ganzen beruflich-sachlicher, nicht aber politischer Natur waren und blieben.
Im übrigen sollte man nicht außer acht lassen, daß Freud für alle psychotherapeutischen Denkschulen, wie groß auch die Unterschiede zwischen ihnen waren, eine unverzichtbare gemeinsame Quelle darstellte. Und die anderen theoretischen Richtungen, die sich innerhalb der schützenden Mauern des Instituts versammelten, zollten insofern der psychoanalytischen Praxis ihren Tribut, als sie alle in Opposition zu den Versuchen von Psychiatern wie Kretschmer standen, die Ausübung der Psychotherapie ausschließlich medizinisch ausgebildeten Psychiatern vorzubehalten. Solche Bestrebungen erweckten eine der größten Ängste Freuds zu neuem Leben, die einige Jahre zuvor der Hauptgrund für seine ausdrückliche Verteidigung der Laienanalyse gewesen war. Überdies ist, wie Hannah Decker (1977) gezeigt hat, die herkömmliche Ansicht, daß die Psychoanalyse von Anfang an bei der deutschen Medizinerschaft auf massiven Widerstand gestoßen sei, nur teilweise korrekt. Und da die Reaktion auf die Psychoanalyse in Wirklichkeit nicht durchweg feindselig war, sondern nur bestimmte Aspekte des Freudschen Denkens betraf, gab es vor 1933 bei Ärzten eine recht solide Basis für ein Interesse an und eine Zusammenarbeit mit Psychoanalytikern. Die Freudsche Theorie und Praxis überlebte somit unter dem Nationalsozialismus, trotz aller lautstarken Verdammung, aus zweierlei Gründen: Der erste war die schlichte Tatsache, daß psychoanalytisches Denken in nahezu sämtliche Systeme psychotherapeutischer Theorie und Praxis eingeflossen war; und der zweite war die unveränderte Ausübung der Psychoanalyse selbst, in ihrer orthodoxen und ihrer neofreudianischen Form. (Das bezweifle ich. Das wäre so, wie wenn ein Mensch das gleiche sexuelle Erleben nach einer fortwährenden Vergewaltigung erhalten hätte, wie er zuvor hatte. Anm.JSB)
Bis 1933 war die Psychoanalyse nicht nur von außen angegriffen, anerkannt und adaptiert, sondern auch von innen verwandelt worden. Dieser fortlaufende Prozeß, wie nämlich die Anerkennung Freuds sich im einzelnen tatsächlich vollzog, ist durch die psychoanalytischen Hagiographen, denen es um die Reinheit der Lehre zu tun war, im allgemeinen übersehen worden. Ihre vorgefaßte Überzeugung, daß die autonome Überlegenheit der psychoanalytischen Lehre durch die verordnete Verbindung mit anderen psychotherapeutischen Modellen hoffnungslos korrumpiert worden sei, begünstigte das Bild von einheitlicher Ablehnung der Psychoanalyse vor und einheitlicher Unterdrückung ihrer Vertreter und ihrer Ausübung nach 1933 und war so mitverantwortlich für das Unvermögen, ihr Fortbestehen als Methode und als mächtiger Einflußfaktor zwischen 1933 und 1945 wahrzuhaben. Assoziierung konnte hiernach nur Kompromiß und Kompromittierung bedeuten. Diese Einschätzung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg evident, als die deutschen Psychoanalytiker bei ihrem Bemühen um Wiederaufnahme in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung Schwierigkeiten bekamen — nicht, weil man sie irgend der Kollaboration mit den Nazis hätte bezichtigen können, sondern weil man befürchtete, daß sie durch ihre Zusammenarbeit mit anderen psychotherapeutischen Schulen ihre theoretische Integrität eingebüßt hätten (Report, 1949, S. 186 f.). (Was tatsächlich der Fall war. Anm. JSB)
In derselben Weise hat die Fraktionierung innerhalb der Psychotherapie insgesamt dazu beigetragen, daß wir über ihre Geschichte in der Nazizeit nur mangelhaft informiert sind. Abgesehen von der Angst, mit einer mißliebigen Gruppe in einen professionellen Topf geworfen zu werden, wurde der Weg, den die Psychotherapeuten im Göring-Institut einschlugen, von einigen psychiatrisch orientierten Psychotherapeuten als Rückschritt bewertet. Diese Haltung führte zu der pro domo getroffenen Feststellung, daß »die politischen Ereignisse nach 1933 die deutsche Psychotherapie, und besonders die analytische Psychotherapie, für lange Zeit in den Hintergrund gedrängt haben« (Winkler, 1956, S. 288).
Das beklemmende intellektuelle Klima, das die Nationalsozialisten erzeugten, hatte allerdings einen quantitativen und qualitativen Rückgang der akademischen Diskussion zur Folge. Das »Zentralblatt für-Psychotherapie«, das seit 1929 monatlich herausgekommen war, stellte nach den ersten beiden Heften 1933 sein Erscheinen ein und wurde erst im Dezember wieder fortgeführt. Danach und bis zum Ende seines Bestehens 1944 wurden jährlich zwischen drei und sechs Nummern veröffentlicht. Gleichzeitig verringerte sich der Umfang interdisziplinärer Kontakte und Auseinandersetzungen. Der 7. Kongreß der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, der für den 6. bis 9. April 1933 in Wien anberaumt gewesen war, wurde abgesagt und ein Jahr später in Deutschland, in Bad Nauheim, abgehalten, mit einem vielsagenden Abfall in Zahl und Rang der Teilnehmer.
Neben der Inanspruchnahme durch die Aufgabe, die eigene Loyalität zu demonstrieren — was der Psychotherapeut und gesinnungstreue Nationalsozialist Walter Cimbal in einer Erklärung für die Unterbrechung im Erscheinen des »Zentralblatts« etwas kurios »Teilnahme an der nationalen Revolution« nannte (Cimbal, 1934, S. 141) —, war die Situation für die Psychotherapie durch eine doppelte Angst bestimmt: vor einer Art Sippenhaftung für eine Gruppe oder Disziplin, die ihr Haus nicht zur Zufriedenheit der neuen Machthaber in ideologische und organisatorische Ordnung gebracht hatte, und vor der Absorption durch einen stärkeren oder loyaleren Rivalen oder Gegner. Ein Resultat dieser Bedingungen war eine gewisse Abnahme in der Zahl der einschlägigen Artikel, Rezensionen und Berichte, die in den ersten drei Jahren des Dritten Reiches in deutschen medizinischen Zeitschriften publiziert wurden. In den »Fortschritten der Neurologie« z. B. findet sich 1934 kein Forschungsbericht aus dem Bereich der Psychotherapie; Hans von Hattingberg verfaßte einen einzigen im folgenden Jahr, und Arthur Kronfeld hatte die seinige 1933 nur wegen des Zeitabstands zwischen Einsendung und Drucklegung noch unterbringen können. Die Beschäftigung mit der Psychoanalyse ging natürlich noch stärker zurück; so war etwa die »Zeitschrift für Kinderforschung« nicht das einzige Fachblatt, in dem der Begriff einfach aus dem Schlagwortregister getilgt wurde.
Eine derartige vorsichtige »Ausmerzung« alles auch nur von ferne jüdisch Infizierten war zwar nicht durchgängig, aber doch charakteristisch, vor allem für die ersten, stürmischen Jahre des Regimes. Auch blendete sich die deutsche Psychotherapie unter dem Nationalsozialismus zunehmend und schließlich fast völlig aus der internationalen wissenschaftlichen Diskussion aus. Angesichts des unermeßlichen geistigen Schadens, den das Dritte Reich angerichtet hat, ist es bemerkenswert, daß die Psychotherapie in diesen zwölf Jahren des Aufruhrs, Terrors und Krieges überhaupt in der skizzierten Weise weiterbestehen und sich entfalten konnte.
IV
Hält man sich den destruktiven Nationalismus der Nazis und die grundlegenden ethischen Standards ärztlichen Handelns vor Augen, so erscheint es unabdingbar, zumindest in groben Zügen die historischen und kulturellen Bedingungen nachzuzeichnen, die für die Reaktion deutscher Intellektueller und Akademiker auf den Nationalsozialismus bestimmend waren. In diesem Zusammenhang werden auch kurz einige der ethischen Fragen (Kohle? Wenn Deutscher von Ethik reden, dann geht es immer ums Geld. Anm.JSB) erörtert werden, die mit der Entscheidung der Psychotherapeuten zu einer Weiterführung ihrer Praxis im Dritten Reich verbunden waren.
Als Angehörige der Gebildetenschicht und Produkte des deutschen Universitätssystems standen Psychotherapeuten in jener spezifischen Denktradition, die für die Geschichte des modernen Deutschland so bedeutsam geworden ist. Das Zeitalter des deutschen Idealismus zwischen 1770 und 1830 lieferte dem im Kampf gegen Napoleon Gestalt gewinnenden deutschen Nationalismus das geistige Fundament — ein historisches Zusammentreffen, das dem deutschen Denken eine militant anti-westliche Stoßrichtung, insbesondere gegenüber den politischen Idealen der Französischen Revolution, verlieh. Diese Tatsache, zusammen mit dem Fortdauern der Kleinstaaterei, beraubte das aufstrebende deutsche Bürgertum der Chance, seinen Liberalismus von der ökonomischen auf die politische Sphäre auszudehnen. Das Scheitern der Revolution von 1848 und die folgende Einigung Deutschlands durch Preußen besiegelten diese Entwicklung. Unter dem Eindruck des Erfolgs von Bismarcks Realpolitik innerhalb und außerhalb Deutschlands beschieden sich die deutschen Liberalen im großen und ganzen mit einer Untertanenstellung im autoritären zweiten Kaiserreich. Satter Besitz trat neben die verehrte Bildung. Nicht nur nahmen die Mittelschichten den wirtschaftlichen Gewinn aus ihrer politischen Niederlage bereitwillig entgegen, sie machten sich auch den »feudalen« Aufputz eines prussifizierten Deutschland zu eigen.
Die Lösung war eine zweifache: Einerseits konnte sich der gebildete Bürger verachtungsvoll über die Politik als einen Bereich der Unkultur erheben und sie der Führung überlassen; und gleichzeitig konnte er die Macht seines Staates als einen Triumph tiefgründiger deutscher Kultur über die materialistische und seichte westliche Zivilisation preisen. Diese Tendenzen erreichten 1914 ihren Höhepunkt, als gesetzte deutsche Bürger in dem festen Gefühl, für höhere Werte zu streiten, in den Krieg zogen.
In dieser Konstellation spielte der Bildungsbegriff eine zentrale Rolle. »Bildung« bedeutete sehr viel mehr als Ausbildung oder Erziehung: sie stand für eine Kultivierung der gesamten Persönlichkeit innerhalb einer bestimmten kulturellen Umgebung. Das Leitbild, das sich in diesem Begriff ausdrückte, war ein Derivat der romantischen Tradition und stand im Gegensatz zu dem aufklärerischen Interesse an den Prinzipien des Naturrechts. Sein romantischer Gehalt vermischte sich ferner mit Zügen des konservativen, obrigkeitsgläubigen Luthertums und der stumpfen, nach innen gekehrten pietistischen Bewegung. Diese Kombination brachte nicht nur hervor, was Fritz Stern (1960) den »unpolitischen Deutschen« genannt hat, sondern erzeugte auch in der gebildeten Elite von Regierungsbeamten, Juristen, Ärzten, Pädagogen etc. eine eigentümliche kulturelle und soziale Arroganz, ähnlich wie sie Fritz Ringer (1969) für die »deutschen Mandarine« beschrieben hat.
Der gedankliche Unterbau der Psychotherapie in Deutschland fußte auf der romantischen Medizin und ihrem Kampf gegen die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, die mit ihrer strikt somatischen Ausrichtung von der Jahrhundertmitte an die deutsche medizinische Psychologie dominiert hatte. Bald nach 1800 hatte die »englische Art« einer rationalen Anstaltsversorgung der Geisteskranken erste Durchbrüche in den deutschen Staaten und Österreich erzielt. Dies geschah hauptsächlich durch die Initiative Johann Christian Reils, eines Zeitgenossen des Franzosen Philippe Pinel, der die Irren von ihren buchstäblichen und symbolischen Ketten befreit hatte. In der Mitte des Jahrhunderts begann das Vertrauen der Aufklärung in die Kraft des Denkens in der deutschen medizinischen Wissenschaft Platz zu greifen. Vorkämpfer dieser neuen Einstellung waren in Deutschland und Österreich Physiologen wie Johannes Müller, Emil Du Bois-Reymond und Ernst Brücke neben dem Pathologen Rudolf Virchow, dem Psychologen Wilhelm Wundt und den drei großen Psychiatern Wilhelm Griesinger, Theodor Meynert und Emil Kraepelin. Du Bois-Reymond und Brücke wurden, neben anderen, zur sogenannten »Helmholtz-Schule« gezählt.
Hermann von Helmholtz vertrat einen entschiedenen Materialismus und den Primat von Experiment und Beobachtung — mit einem Wort: die klassische wissenschaftliche Methode. Auf dem Feld der Psychiatrie war es Griesinger, der das Fach aus der Anstalt in die Universität führte. Meynert konzentrierte sich auf Erkrankungen des Vorderhirns, verspottete seinen Schüler Freud und starb, nachdem er sich gegenüber dem Vater der Psychoanalyse als ein Fall von männlicher Hysterie bekannt hatte.
Eine besonders starke persönliche Wirkung ging von E. Kraepelin aus. Seine Denkweise repräsentierte eine psychiatrische Lehre, in der die auftrumpfende Härte der preußischen Einigung Deutschlands ihren Niederschlag gefunden hatte. Wie Bismarck über die gescheiterten Liberalen von 1848 hinwegschritt, so hatte auch die »Realpolitik« der psychiatrischen Universitätsklinik für die wirren, mild-verständnisvollen Auffassungen von Psychotherapie nichts als Verachtung übrig. Typisch für eine solche Umgebung war der Neurologe Wilhelm Erb, der Pionier der Elektroschock-Therapie in Deutschland — einer Methode, mit der Freud die Erfahrung machen sollte, daß sie in der Mehrzahl neurotischer Fälle absolut nutzlos war. Je deutlicher sich jedoch herausstellte, daß die Kraepelinsche Katalogisierung der Geisteskrankheiten keine definitive Auskunft über die Natur und Vielfalt der psychischen Beschwerden von Patienten zu bieten hatte, desto mehr verbreitete sich die »psychologische« Orientierung in den Reihen der Psychiater selbst.
Psychiater des anbrechenden 20. Jahrhunderts wie Ernst Kretschmer und Robert Gaupp gingen zunehmend dazu über, den Menschen als leib-seelische Gesamtheit zu sehen. So gaben sie ein. Stück des Anstoßes zur Erforschung der menschlichen Psyche, der die Psychiatrie, oder zumindest einige ihrer Praktiker, allmählich einer psychotherapeutischen Perspektive näherbrachte. Ein aufschlußreicher Kontrast zu der Situation in Deutschland zeigt sich freilich, wenn man beobachtet, welche führende Rolle die Schweizer Psychiater Adolph Meyer, Auguste Forel, Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung in der Entwicklung der Psychoanalyse und der Psychotherapie spielten. Ohne Parallele war auch die Inspiration und Belehrung, die Freud von dem französischen Kliniker JeanMartin Charcot empfing, der im Gegensatz zu den deutschen Psychiatern die Hysterie ernst nahm.
Die psychiatrischen Truppen der »kaiserlichen deutschen Psychiatrie« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 214) jedoch, die 1914 ins Feld zogen, bekriegten immer noch die Krankheit, den äußeren Eindringling in ein gesundes System, und nicht die Neurose, das innere Ungleichgewicht zwischen Psychodynamik, Umwelt und Geschichte. Die Realität sollte rasch die psychiatrischen Beteuerungen des organischen Ursprungs seelischer Störungen erschüttern. Die »Hysterie«, nach damaliger Terminologie, wurde ein Faktum des Krieges. Speziell die Tatsache, daß die meisten Betroffenen aus der Etappe kamen oder während langer Kampfespausen an der Front von ihr befallen wurden, untergrub die Glaubwürdigkeit von Psychiatern, die zunächst leichthin auf kortikale Veränderungen unter dem Schock der Schlacht erkannt hatten.
Der Erste Weltkrieg, das Phänomen der Kriegsneurosen und die fortwährende Herausforderung durch die Psychoanalyse markierten den letzten Akt in der Krise der psychiatrischen Medizin des 19. Jahrhunderts. In der psychiatrischen Tradition war einfach kein Platz für eine Gegebenheit wie die unbewußten Triebkräfte menschlichen Verhaltens und ihre begriffliche Erfassung; doch die Unfähigkeit der psychiatrischen Praktiker und Theoretiker, die psychopathologischen Folgen der Erlebnisse von 1914-1918 zu bewältigen, verbesserte die Ausgangsposition für ein alternatives Verständnis des menschlichen Seelenlebens in nachhaltiger Weise.
Die nicht aufhörenden psychiatrischen Angriffe gegen die Psychoanalyse waren selbst Ausfluß einer professionellen Angst. Die Demontage des wissenschaftlichen Gerüsts, von dessen Höhe aus Psychiater und akademische Psychologen untersuchen, klassifizieren und verordnen konnten, bedeutete eine erhebliche Bedrohung der seraphisch-bequemen Diagnose schwerer Geisteskrankheiten. Psychische Störung konnte nun nicht mehr einfach als ein Resultat von Mechanik und Vererbung abgebucht und von den bildsamen Gefühlen und Umwelteinflüssen getrennt werden, die allen Menschen gemeinsam sind. Die Bedrohung rührte an die Grundfesten der persönlichen und professionellen Identität. Der Schauder, mit dem viele Angehörige des psychiatrischen Berufsstandes auf die Betonüng der Sexualität in Freuds Theorie reagierten, offenbarte ihr eigenes Unbehagen gegenüber der Universalität solcher menschlichen Triebe und gegenüber der schmerzhaften Erkenntnis menschlicher Ambivalenz.
Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt zeugte auch von dem tiefen und langhergebrachten Einfluß des cartesianischen Dualismus auf psychiatrisches Denken. Der Psychiater war Wissenschaftler und als solcher durch die Zeremonie des Experiments mit der Materie verkoppelt. Sein empirisches Ethos stand in der besten Tradition des rationalistischen 18. und des positivistischen 19. Jahrhunderts. Auch spiegelte sich in ihm die von der Aufklärung ausgehende Zuversicht wider, daß die Wissenschaft der unfehlbare Weg zur Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse sei. Dieses Menschenbild ließ keinen Raum für eine so »unwissenschaftliche« Vorstellung wie die vom Unbewußten. Die Psychiatrie übernahm von Descartes den Dualismus von Leib und Seele und benutzte die daraus abgeleitete Lehre eines psycho-physischen Parallelismus, um den Primat organischer Prozesse zu behaupten. So galt jedes Bemühen um eine Analyse der Seele als schlichtweg unwissenschaftlich. Du Bois-Reymond hatte die mechanistische Abwehrhaltung gegen jeden Versuch, »philosophische« oder metaphysische Elemente in die Untersuchung der Gehirnvorgänge einzuschmuggeln, in den Worten zusammengefaßt: »Ignoramus et ignorabimus — wir wissen es nicht und werden es niemals wissen« (Decker, 1977, S. 46). Was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht zusammenfügen. (Jedem Heiratswilligen zu bedenken! Anm.JSB)
Dieser kompromißlose mechanistische Empirismus der deutschen Psychiatrie diente in Wirklichkeit der Aufrechterhaltung der idealistischen Tradition (und ihrer Macht. Anm. JSB). Durch ihre rigorose Abkehr von allem romantischen ärztlichen Interesse an letzter Ursache, Teleologie und menschlichen Einstellungen überließ der psychiatrische Berufsstand den Bereich der Seele den Philosophen und Theologen und erklärte jeden Versuch, das physiologisch Feststellbare zu transzendieren, für aussichtslos. Damit folgten die Psychiater des 19. Jahrhunderts den Spuren Kants und seiner Trennung zwischen dem, was der Vernunfterkenntnis zugänglich sei und was nicht. Über Kant hinaus gingen sie freilich in ihrer Verurteilung einer medizinischen Bilderstürmerei, die es wagen sollte, den geheiligten Begriff der Seele in Frage zu stellen. Freud dagegen lenkte, wieviel Materialismus auch in seiner Theorie der Psychodynamik stecken mag, die Erforschung menschlichen Verhaltens weg von der Annahme, daß der Mensch die Summe seiner physiologischen Teile sei, und hin zu einem Verständnis des ‚Wechselspiels von Seele, Körper und sozialer Umwelt. Daß dies nicht einfach Philosophie in anderem Gewande war, erwies sich dramatisch an den konkreten Möglichkeiten, die eine darauf aufbauende Praxis einer bedrängten mitteleuropäischen Heeresbürokratie an die Hand zu geben versprach.
Am 28. und 29. September fand in Budapest der 5. Internationale Psychoanalytische Kongreß statt, dem erstmals Vertreter der deutschen und österreichischen Regierung beiwohnten. Sie waren angelockt worden durch die Nachricht von der erfolgreichen Anwendung psychoanalytischer Methoden bei der Linderung und Heilung von Kriegsneurosen. So namhafte Psychoanalytiker wie Karl Abraham, Max Eitingon, Ernst Simmel und Sandor Ferenczi hatten wertvolle klinische Erfahrungen über das Problem vorgelegt, und es gab Pläne zur Einrichtung psychoanalytischer Kliniken in verschiedenen Zentren Deutschlands und Österreich-Ungarns (Jones, 1957, Bd. 2, S. 238, 300-303). Der Waffenstillstand im November 1918 kam der Verwirklichung eines solchen Programms zuvor, aber der Begriff des unbewußten Seelenlebens im Menschen und die Technik seiner Behandlung hatten ein Maß an öffentlicher Beachtung und Bestätigung erreicht wie nie zuvor.
Lange vor Freud und dem Ersten Weltkrieg freilich hatten deutsche Philosophen und Ärzte das Gebiet des menschlichen Unbewußten abgesteckt. Die romantische Naturphilosophie hob im Gefolge von Friedrich W. J. v. Schellings mystischem Pantheismus und Monismus die grundlegende Einheit allen Lebens hervor. Ärzte des frühen 19. Jahrhunderts entwickelten ein zuweilen obsessives Interesse am Bereich des Irrationalen und des Gefühlslebens und vertraten dabei, nach dem Urteil Deckers (1977, S. 28),
»Überzeugungen, die heute recht differenziert anmuten — so z. B. den Gedanken eines inneren Konflikts; die Idee vom Menschen als einer psychobiologischen Einheit; die Annahme, daß heftige ›Leidenschaften‹, wenn sie keine Abfuhr finden, einen Zusammenbruch des Persönlichkeitsgefüges bewirken können; daß Vorstellungen in Körperreaktionen symbolisiert und ausgedrückt werden können; den Gedanken eines Unbewußten.«
Es war diese »mentalistische« und philosophische Beschäftigung mit der Seele, die von deutschen Universitätspsychiatern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelehnt wurde.
Die Vorstellungen des Unbewußten und der Einheit von Körper und Seele lassen sich in der Medizingeschichte bis zu Heraklit im 6. Jahrhundert vor Christus zurückverfolgen. Wie Rousseau mehr als zwei Jahrtausende nach ihm glaubte Heraklit, daß die Vernunft zwar den Menschen gemeinsam sei, aber nicht allein die Einzigartigkeit eines bestimmten Menschen ausmache. In der Antike gewann diese Auffassung vom Individuum als einem einheitlichen biologischen System statt eines mechanischen Kompositums autonomer Teile immer mehr an Boden, vor allem in Galens Lehre von der Wechselwirkung der Organe. Die beiden Hauptrichtungen der Psychologie jedoch, zwischen denen dann das 19. Jahrhundert eine klare Frontlinie zog, traten erst im 16. Jahrhundert hervor. Der physiologische, deskriptive, empirische Ansatz wurde von Francis Bacon verfochten, während das Bestreben, die Beweggründe menschlichen Verhaltens unabhängig von somatischen Faktoren zu betrachten, im Werk des spanischen religiösen Humanisten Juan Luis Vives und dem des Baseler Arztes Theophrastus Bombastus von Hohenheim seinen Ausdruck fand.
Der letztere, der seinen Namen zu Paracelsus latinisierte, war einer der Hauptkritiker der Hexenverfolgung. In abenteuerlich unsystematischer Weise stellte er sich »die menschliche Persönlichkeit als eine Ganzheit vor, als aus geistigen und stofflichen Teilen zusammengesetzt, die eng mit der Seele verbunden seien« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 119).
Paracelsus galt in Nazikreisen als eine Art legendäre Gestalt und wurde aufgrund seines Kampfes um die natürliche Gesundheit und seiner Verwendung des Deutschen anstelle des Lateinischen als Schriftsprache zu einem kulturellen und wissenschaftlichen Vorläufer der nationalsozialistischen Ideologie emporstilisiert. 1943 schuf der Regisseur Friedrich Wilhelm Pabst eine bombastische Filmversion seines Lebens.
Paracelsus‘ Gedanke, daß sich im Mikrokosmos eines jeden Individuums der Makrokosmos widerspiegele, ist auch in der Monadologie von Leibniz enthalten, der die Existenz einer irreduziblen Lebenskraft annahm. Indem er den Gesamtmenschen als eine biologische Einheit sah, widersprach Leibniz der cartesianischen Auffassung vom Menschen als einer seelenlosen Maschine.
Die deutsche romantische Bewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts feierte die holistische /ganzheitliche Anm. JSB) Tradition. Während der Engländer Thomas Hobbes der Meinung war, daß sich eine Einheit von Leib und Seele durch die Mittel der Mathematik und Mechanik ableiten lasse, betonte Goethe das souveräne und allumfassende Reich der Natur, dessen sensorium commune(Gesamtheit aller Sinne Anm.JSB) die Menschheit sei.Die Romantiker entdeckten den Vitalismus des Philosophen Georg Ernst Stahl wieder, der erklärt hatte, in jedem belebten System gebe es eine Kraft, die ihm seine spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften zum Unterschied von unbelebten Körpern verleihe. Diese Vitalkraft ließ sich nicht mechanisch begreifen; sie war fundamental und irreduzibel, der wissenschaftlichen Nachprüfung nicht zugänglich.
Diese Einheit der Menschengattung mit der Natur war von Schelling postuliert worden; ein anderer Vertreter derselben Anschauung war der Arzt und Maler Carl Gustav Carus. Carus bestimmte die Psychologie als die Wissenschaft von der Entwicklung der Seele vom Unbewußten zum Bewußten. Daraus folgte, daß bei der Behandlung von Geisteskranken das Hauptgewicht auf die Heilung des gesamten Individuums und nicht eines einzelnen Teiles oder Organs gelegt werden mußte. Zu seinem Ansatz — und dessen späterer Verherrlichung im deutschen nationalen und kulturellen Milieu — gehörte auch die besondere philosophische und religiöse Würde, die er der Psyche beimaß; es war unter anderem dieses Moment, das im 20. Jahrhundert die Jungsche Lehre für deutsche Psychotherapeuten romantischer Prägung so anziehend machte.
Carus und sein einflußreichstes Buch »Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele« (1846) wurde für Göring und einige weitere Psychotherapeuten im Dritten Reich zu einer wichtigen Inspirationsquelle. Von großer Bedeutung waren auch die Werke zweier anderer romantischer Denker des frühen 19. Jahrhunderts, die sich im selben Fahrwasser wie Carus bewegten: Carl Wilhelm Ideler und Ernst von Feuchtersleben. Vor allem der letztere setzte sich in seiner »Diätetik der Seele« von 1838 dafür ein, daß Geisteskrankheiten Erkrankungen der Gesamtpersönlichkeit seien, und unterstrich die Notwendigkeit einer »erzieherischen« Psychotherapie. Für M. H. Göring war Feuchtersleben, neben Leibniz, Carus u. a., ein historischer Zeuge für den Reichtum einer genuin deutschen psychotherapeutischen Tradition und folglich für die relative Unbrauchbarkeit von Freuds mechanistischer Fehldeutung des menschlichen Unbewußten.
Die romantische Tradition erreichte ihren Gipfel in Eduard von Hartmanns »Philosophie des Unbewußten« (1869). Dann tauchte sie in den Untergrund, Anregungen aus den literarischen Werken Goethes und Dostojewskis und der Philosophie Nietzsches beziehend, während obenauf die selbstgewisse medizinische Ära des wissenschaftlichen Positivismus und der psychiatrischen Nosologie regierte. In dieser Weise wurde auch Nietzsche zu einem nennenswerten Wegbereiter der modernen Psychotherapie in Deutschland.
Obgleich die medizinische Psychologie in Deutschland und Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der Universitätspsychiatrie beherrscht wurde, kam das psychotherapeutische Interesse unter Ärzten nicht völlig zum Erliegen. Abgesehen von jenen wenigen Psychiatern, die den Wert der Psychotherapie anerkannten, rekrutierte sich die Mehrzahl der psychotherapeutisch aufgeschlossenen Mediziner aus den Reihen der Internisten und Neuropathologen. Internisten fanden den Weg zur Psychotherapie durch ihre Konfrontation mit psychosomatischen Störungen. Die Neurologie, die Wissenschaft vom menschlichen Nervensystem, war erstmals im 17. Jahrhundert in England und Frankreich in Erscheinung getreten und hatte sich den hippokratischen Satz zu eigen gemacht, daß das Gehirn der Sitz des Wahnsinns sei. Im 19. Jahrhundert brachte die Arbeit der Neurologen wissenschaftliche Strenge in die Erforschung der Geisteskrankheiten und trug durch den Ruf nach einer planvollen Untersuchung des Seelenlebens eines jeden Patienten dazu bei, die Anstaltsbetreuung zu revolutionieren. Diese Neuerung führte zu einem Maß an Verständnis, das aus der rigiden Orientierung der Psychiatrie an strikter Klassifizierung und genetischer Forschung nicht zu gewinnen war. Insofern sich die Neurologie mit der Funktionsweise des Gehirns beschäftigte, förderte sie auch die Untersuchung der Erkrankungen des Nervensystems, die Neuropathologie. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts profitierte die Psychiatrie auch von dem therapeutischen Elan bahnbrechender Pathologen wie Adolph Meyer. Auch wenn die Neurologie, vor allem in Deutschland, eine Unterabteilung der Psychiatrie blieb, spezialisierten sich immer mehr Ärzte auf dieses Sonderfach, um dann eine neuropathologische Praxis zu betreiben. Es ist in diesem Zusammenhang lehrreich zu sehen, daß von den 22 repräsentativen Psychotherapeuten, die sich vor 1933 in der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und/oder nach 1936 im Göring-Institut in prominenter Position oder mindestens aktiv betätigten, 13 ihrer Spezialausbildung nach Nervenärzte, 4 Internisten und nur 2 Psychiater waren4[v].
Zu einem erheblichen Teil waren diese Ärzte Veteranen des Ersten Weltkriegs — ein weiterer Faktor, der ihre persönliche Erfahrung mit der romantischen Tradition verknüpfte. Viele der deutschen Mediziner, die in den Jahren der Weimarer Republik für die Anerkennung der Psychotherapie unter ihren Berufskollegen stritten, waren in ihrem Denken durch den Zusammenstoß zwischen Kultur und Zivilisation geprägt worden, als der sich ihnen der Krieg dargestellt hatte. Dieses spezifisch deutsche Denkmuster, von dem besonders Akademikerkreise affiziert waren, wurde im medizinischen Sprachgebrauch mit dem Kampf zwischen Geist und Seele gleichgesetzt. »Geist« stand für das westliche materialistische Denken der Renaissance, das über die Fülle und Tiefe der mittelalterlichen Weltschau obsiegt hatte.
Man kann mit einigem Recht vermuten, daß die Mitgliederschaft der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie — trotz der Spannweite der Interessen, Richtungen und medizinischen Disziplinen, die in ihr vertreten waren — insgesamt eine konservative, nationalistische (und überwiegend protestantische) Grundhaltung repräsentierte, im Gegensatz zu der eher liberalen, kosmopolitischen (und überwiegend jüdischen) Mitgliedschaft der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Viele der tonangebenden Psychotherapeuten der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und des Göring-Instituts hatten unzweifelhaft eine konservative, nationalistische und »unpolitische« Einstellung, die ab 1933 leicht in verschiedene Grade der Begeisterung und Unterstützung für den Nationalsozialismus umschlagen konnte. Es gibt ferner einige Hinweise darauf, daß die deutsche Ärzteschaft jener Zeit als ganze zur politischen Rechten neigte: unter allen akademischen Berufsgruppen in Deutschland hatten die Ärzte den höchsten Prozentsatz (45 ob) an Parteigenossen in ihren Reihen (Kater, 1979, S. 609 f.).
Trotz der Angabe von Käthe Dräger, einem jungen Mitglied der freudianischen Gruppe am Göring-Institut, daß nicht mehr als 5 Prozent der Institutsmitglieder der nationalsozialistischen Partei angehörten (Dräger, 1971, S. 264), war der Anteil der Parteigenossen unter den frühen Wortführern der Psychotherapie im Dritten Reich und in der Leitung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und des Göring-Instituts sehr viel höher. Von den 47 führenden Psychotherapeuten der Zeit waren 17 (= 36,2 ob) zwischen 1930 und 1938 in die Partei eingetreten, und nur sehr wenige gehörten nicht zumindest einer der Parteiorganisationen für Ärzte, Fürsorger, Lehrer oder Universitätsprofessoren an5[vi].
Solche intellektuellen Traditionen verdunkelten die ethische Problematik der Kollaboration oder des Mitläufertums mit dem Nationalsozialismus in einer Weise, die weit über die grauen Komplexitäten jedes modernen Staates hinausging. Man findet innerhalb der deutschen Medizinerschaft vielfältige Reaktionen auf die Machtergreifung Hitlers, von der Emigration, insbesondere der erzwungenen Emigration von Juden, bis zur freudigen, aktiven Mitarbeit. Die meisten individuellen Reaktionen freilich lagen, vor allem im Lauf der Zeit, irgendwo dazwischen. Ernst Kretschmer entschied sich für den Rückzug in die relative Windstille einer Universitätsklinik. John Rittmeister, der aus dem schweizerischen Exil zurückkehrte, um die Leitung der Poliklinik des Göring-Instituts zu übernehmen, starb im Widerstand. Kollaboration gab es in verschiedenen Formen und Abstufungen: Johannes Heinrich (J. H.) Schultz, immer »korrekt«, betrieb die Förderung der Psychotherapie im Rahmen seines eigenen militanten Patriotismus, ohne dabei je eine strenge professionelle und apolitische Haltung zu verlassen. Gustav Heinrich Heyer, der von unsteterem Charakter war, trat 1937 der Nazipartei bei — aus einer Mischung, wie es scheint, von Opportunismus, einem gewissen Grad an ideologischer Übereinstimmung und einem uneigennützigen Wunsch, die inhärenten Werte der Psychotherapie zur Geltung zu bringen.
Die allgemeine Hochstimmung von 1933 hatte überdies eine besondere Wirkung auf den »unpolitischen« Deutschen. Begeisterung — oder bloßer Patriotismus — konnte vor allem nach 1939 und der Katastrophe von Stalingrad 1943 jede Kritik im Keime ersticken. Von Anfang an hatte Hitlers Regime auch den Anstrich der Rechtmäßigkeit, und wenngleich die blutige Säuberung in Ernst Röhms SA 1934 einige Fragen bezüglich der fortdauernden Barbarei der neuen Machthaber hätte aufwerfen können, schien doch auch diese Aktion eine Niederlage der Parteiradikalen zu signalisieren. Die Säuberung verstärkte so die bequeme Überzeugung vieler Deutscher, daß, wo nicht die Nazis, so doch ihre rabiaten Phrasen und Übergriffe eine passagere Erscheinung seien. Jedenfalls erleichterte die Tatsache, daß sich der einzelne Deutsche in der Ausübung seines Berufes dem Staat unterordnete, den Nationalsozialisten die Unterdrückung potentieller Kritiker. Zugleich kam das wahrgenommene und propagierte Bild eines Führers, der über den Niederungen der Politik stand, dem angeekelten Widerwillen entgegen, mit dem eine Mehrheit des deutschen Bildungsbürgertums das, wie sie es sahen, materialistische und ineffektive Demokratie-Experiment der Weimarer Republik verfolgt hatte. Im Gegensatz dazu schien die Nazipartei, die ihre Mitglieder und Wähler aus sozial und politisch heterogenen Quellen bezog, eine nationale und nicht eine rein politische Bewegung darzustellen. Selbst die nationalsozialistische Judenpolitik verlief in Schüben, die immer wieder von Phasen des Stillstands unterbrochen wurden. Bei alledem war damals schwer zu erkennen, daß die Niederlage des linken Parteiflügels einen Prozeß einleitete, der dazu führte, daß sich die Rechte, in Gestalt der SS, als zentrale Schaltstelle für Hitlers Expansions- und Ausrottungspolitik in den Institutionen des Staates einnisten konnte. Für die Psychotherapeuten des Göring-Instituts verkörperte sich diese Entwicklung in der Person Leonardo Contis, des Reichsgesundheitsführers von 1939 bis 1945, der vom Reichsministerium des Innern aus ein medizinisches Imperium aufbaute und dessen Verbindungen zu Hermann Göring ihn zu einem relativ großzügigen Gönner des Instituts werden ließen.
Es wäre vielleicht manches anders gekommen, wenn deutsche Psychotherapeuten und Akademiker insgesamt ein entschiedenes »Nein« oder wenigstens »Ohne mich« ausgesprochen hätten. Was sie jedoch in Wirklichkeit taten, wirft ein erhellendes Licht auf die professionelle Entwicklung und die Organisationsstruktur im nationalsozialistischen Deutschland. Die Geschichte der Psychotherapie im Dritten Reich ist nicht so untadelig, aber auch nicht so kurz, wie die der Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung, die sich 1941 aus Protest gegen die Diskriminierung ihrer jüdischen Mitglieder auflöste. Während freilich die Niederländer einem Besatzungsregime in Kriegszeiten gegenüberstanden, hatten es die Deutschen mit ihrer eigenen Regierung zu tun, und die Chance nicht nur des professionellen Überlebens, sondern gar der professionellen Entfaltung unter dem Schutz des Namens Göring ließ die Selbstauflösung als eine zwar edle, aber kaum attraktive Alternative erscheinen.
Der Glückszufall, daß sich unter den Mitgliedern der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie ein Vetter von Hermann Göring befand, machte eine Entscheidung für höhere moralische Prinzipien noch schwerer. Eine gewisse Entspannung der Situation brachte ferner das »freiwillige« Ausscheiden jüdischer Mitglieder, die nicht der Anlaß einer Zerschlagung der Psychoanalyse und Psychotherapie werden wollten. Vor der schwierigsten Wahl standen die »arischen« Mitglieder des Berliner Psychoanalytischen Instituts angesichts der Verfolgung und Vertreibung so vieler führender Kollegen, die Juden waren. Während die angebotene Eingliederung in das Göring-Institut als Kapitulation vor der Nazifizierung des Faches aufgefaßt werden konnte, eröffnete sie doch zugleich eine Möglichkeit, zumindest die Ausübung der Psychoanalyse im Interesse gegenwärtiger und künftiger Patienten und der medizinischen Wissenschaft überhaupt aufrechtzuerhalten. Auch sehr handfeste Gründe sprachen gegen eine Auflösung der psychoanalytischen Gesellschaft, da jedenfalls die Laienanalytiker nicht auf eine ärztliche Praxis zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zurückgreifen konnten.
Obwohl die Nationalsozialisten lauthals die Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft verkündeten, erlaubte, ja ermutigte ihre Herrschaftsform und die allumfassende Verschwommenheit ihres Programms ein Verhalten, das man als »Selbstgleichschaltung« bezeichnen könnte. Dieser Prozeß verstärkte den Terror, der für die meisten Deutschen nur im Hintergrund lauerte, insofern er Bedenken gegenüber der Nichtzugehörigkeit zu einer mächtigen Volksbewegung Vorschub leistete. Unter Psychotherapeuten äußerte sich dieses Phänomen am klarsten in dem Zögern der soeben umbenannten Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, sich mit dem Berliner Psychoanalytischen Institut zusammenzuschließen. Diesbezügliche Zweifel mögen zunächst als schlichte und vernünftige Vorsicht erscheinen, da die Freudsche Psychoanalyse von den Nationalsozialisten offiziell als »undeutsch« abgestempelt worden war. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch (1936) ist zu berücksichtigen, daß die Psychotherapeuten unter Göring Räumlichkeiten für ein Institut suchten und sehr knapp an Geldmitteln waren. Es war schließlich ein Beamter der Medizinalabteilung des Innenministeriums, der den Psychoanalytikern den Vorschlag machte, sich an Göring zu wenden und den Psychotherapeuten die Räumlichkeiten des Berliner Psychoanalytischen Instituts anzubieten, um im Gegenzug das Überleben der »arischen« Psychoanalytiker zu sichern (Boehm, 1978, S. 303). Obwohl Görings anfängliches Zaudern seiner Vision einer »deutschen«, von jüdischen und freudianischen Einflüssen unberührten Psychotherapie entsprang (die er mit anderen teilte), ist zumindest dieses Ereignis auch ein sprechendes Beispiel dafür, daß die Nationalsozialisten vor der Psychoanalyse weniger Scheu hatten als die Psychotherapeuten.
Solche Beobachtungen nötigen den Historiker, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß im Dritten Reich der Aspekt der individuellen und Gruppendynamik der menschlichen Psyche, wie ihn Psychotherapie und Psychoanalyse vertraten, nicht schlankweg unterdrückt wurde. In ethischer Hinsicht brachte der Prozeß der Selbstgleichschaltung eine größere persönliche Verantwortung für individuelles Handeln mit sich, da es doch eine gewisse Wahlfreiheit gab. Auf der individuellen Ebene freilich handelte es sich gewöhnlich nicht um eine Wahl zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Graden der Schuldhaftigkeit, vermischt mit Erwägungen professioneller Verantwortung und Selbstbehauptung unter den Gegebenheiten der Zeit. Was man den Psychotherapeuten, wie so vielen anderen relativ »guten« Deutschen, vorwerfen kann und muß, sind hauptsächlich »unpolitische« Unterlassungen vor und nach dem Faktum Hitler. Allerdings standen diese Männer in einer intellektuellen und kulturellen Tradition, die in ihnen ein gewisses Wohlwollen für den Nationalsozialismus, ob enthusiastisch oder reserviert, und nicht so sehr rückhaltlose Unterstützung oder reinen Opportunismus erzeugte.
Die Bedingungen, die Hitler hervorbrachten und seinen Aufstieg zur Macht ermöglichten, waren zu stark und weitreichend, als daß Psychotherapeuten nach dem 30. Januar 1933 etwas daran hätten ändern können. Die Angehörigen dieses Berufszweiges waren Mandarine ihrer philosophischen Neigung, aber nicht ihrer gesellschaftlichen Stellung und Autorität nach. Sie hatten z. B. nicht das Prestige und die Macht der Inhaber bedeutender Universitätslehrstühle. Ihnen standen auch nicht die Universitäten als Zufluchtsort oder als Podium des Widerstands zur Verfügung. Daher ist ihnen ihre politische Begeisterung oder ihr Schweigen nach 1933, im Vergleich etwa zu den deutschen Historikern, weniger zur Last zu legen (Sims, 1978). All dies nimmt den entschlossenen Gegnern Hitlers nichts von ihrem bewundernswerten Heroismus, noch vermag es die Parteigänger oder Mitläufer des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Diejenigen, die emigrierten oder Widerstand leisteten, handelten mutig und aus edelsten Motiven; ebenso wenig aber ist zu leugnen, daß es für die meisten Deutschen am leichtesten (und vorteilhaftesten) war, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die täglichen moralischen Kompromisse zu machen, die ihnen ein ungefährdetes, sorgloses Leben gestatteten.
Abgesehen von standespolitischen Beweggründen, die jedenfalls zum guten Teil einem Gefühl des humanitären Nutzens der eigenen Disziplin entsprangen, hatten Psychotherapeuten unter dem hippokratischen Eid in erster Linie an ihre Patienten zu denken. Und neben den zahlreichen Patienten, die im Dritten Reich Psychotherapeuten aufsuchten und vermutlich von ihnen auch Hilfe empfingen, gab es dann im Krieg einige Fälle von Männern, die ohne das Eingreifen von Psychotherapeuten zu »Simulanten« erklärt und erschossen worden wären. Psychotherapeuten widmeten sich ferner, aus eigener Initiative und im Auftrag der Behörden, der Behandlung von Homosexuellen, einer Kategorie von Menschen, die ansonsten unter den Nazis verfolgt würden.
Natürlich war es den Psychotherapeuten des Göring-Instituts nicht erlaubt, jüdische Patienten anzunehmen; einige lehnten es von sich aus ab, dies zu tun — eine klare und verachtungswürdige Verletzung des hippokratischen Eides. Und die gelegentlich vorgebrachte Behauptung, daß ein Arier einem Juden nicht helfen könne, war schlicht eine Verbrämung unethischen Verhaltens durch Stumpfsinn. Gleichzeitig jedoch bezeugt ein ehemaliges Mitglied des Instituts, daß man dort die regelmäßige, wenngleich begrenzte, Behandlung jüdischer Patienten in der Privatpraxis zumindest tolerierte. Die Privatpraxis blieb privat, und obwohl nach 1933, wenn überhaupt, nur wenige Juden behandelt wurden, muß man annehmen, daß diese Situation jedenfalls einige Psychotherapeuten in Gewissenskonflikte stürzte. Wer Juden behandelte oder dem nationalsozialistischen Diktum entgegentrat, riskierte nicht nur die Zerstörung der eigenen professionellen Existenz, sondern auch die Zerstörung des Berufsstandes und der psychotherapeutischen Praxis überhaupt. Und wo sollten dann die Patienten bleiben, die einer psychotherapeutischen Kur bedurften? Als Gruppe jedoch fügten sich die Psychotherapeuten weithin den nationalsozialistischen Geboten und vernachlässigten die Interessen vieler Patienten um professioneller Vorteile willen. Und wir wissen nicht das Schlimmste, das in manchen Fällen geschehen sein mag, und werden es wahrscheinlich nie erfahren. Es ist eine unselige Tatsache, daß die meisten, wo nicht alle, Psychotherapeuten im Dritten Reich mehr um ihr eigenes Überleben — als Individuen und Berufsgruppe —als um das Schicksal anderer besorgt waren. Aber deshalb ihre Arbeit en bloc abzutun, hieße, über allgemeine menschliche Schwächen und manche doch bemerkenswerten Leistungen in sehr schwierigen Zeiten hinwegzusehen.
Es gibt noch eine andere beunruhigende Frage: In welchem Maß diente die organisierte Psychotherapie den Zielen und Programmen des nationalsozialistischen Regimes? Trotz aller Worte und Taten sowohl der Parteiführung als auch der Psychotherapeuten selbst hat es den Anschein, als ob der Beitrag der institutionalisierten Psychotherapie zum Funktionieren des nationalsozialistischen Staates und Reiches im wesentlichen nicht größer gewesen sei als der anderer Berufsgruppen in den zwölf Jahren der Naziherrschaft. (nicht größer, aber auch nicht geringer. Anm. JSB) Mag die Psychotherapie auch noch so vielfältig mit dem neuen Regime verflochten gewesen sein, sie wurde doch nie ein effizientes Werkzeug zur Manipulation der Massen. Dafür waren drei Gründe ausschlaggebend: die Verschwommenheit der nationalsozialistischen Vorstellungen vom »Willen« und seiner Störung; das organisatorische Chaos der nationalsozialistischen Bürokratie; und die Wahrung professioneller Autonomie durch die Psychotherapeuten selbst. Gewiß gab es einzelne Psychotherapeuten, die sich direkt und indirekt daran beteiligten, Ideale der Loyalität gegenüber Partei und Volk in Menschen einzupflanzen und zu befestigen, und gewiß verbesserte die Arbeit des Göring-Instituts ganz allgemein den Gesundheitszustand und damit die Leistungsfähigkeit deutscher Bürger, Soldaten und Arbeiter, was eo ipso der Erhaltung und Expansion nationalsozialistischer Herrschaft dienlich war. Und gewiß fühlten sich einige Psychotherapeuten entschieden eben solchen Zielen verpflichtet, während andere sich damit begnügten, die Früchte deutscher Siege zu genießen, solange sie reiften. Aber es ist zutreffender, die Funktion des Göring-Instituts in der Erhaltung der psychischen Gesundheit seiner Patienten zu sehen und nicht in einer eigentlichen, systematischen »Abhärtung« im Auftrag des nationalsozialistischen Staates.
Den Psychotherapeuten des Göring-Instituts blieb es auch erspart, an den bedrückenden Aufgaben jener akademischen Psychologen und traditionellen Psychiater mitzuwirken, die für die generelle typologische Bestimmung bzw. den biologischen Schutz der Rasse verantwortlich waren. Bei der ersteren Aufgabenstellung ging es um grobe und ephemere Aussagen über die vermeintlichen Eigentümlichkeiten von Ariern und Nicht-Ariern, während die letztere darauf hinauslief, Geisteskranke zu gewaltsamer Sterilisierung und Euthanasie zu verurteilen. Umgeben von Barbarei und den verabscheuenswerten politischen und moralischen Kastraten der Nazi-Intelligenz, konnten die Psychotherapeuten wenigstens Medizin betreiben.
V
Verglichen mit anderen Akademikergruppen wie z. B. den klassischen Altertumswissenschaftlern, die vom Nationalsozialismus so gut wie unberührt blieben (Losemann, 1977), oder jenen Historikern unter Walter Frank, die ein ausgewachsenes nationalsozialistisches »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland« einrichteten (Heiber, 1966), steuerten die Psychotherapeuten im Dritten Reich einen Mittelweg. 1933 waren Psychotherapeuten noch immer Außenseiter, die vorrangig mit dem Wachstum und der Anerkennung ihres Berufszweiges im Bereich der Medizin beschäftigt waren. Am Rande des ärztlichen und akademischen Establishments stehend, waren nicht-jüdische Psychotherapeuten als Einzelne und in ihrer Gesamtheit von den ersten Tagen des Regimes an relativ geschützt: die politische Bedrohung des Faches beschränkte sich dank seiner Eigenart und dank des Opportunismus seiner Repräsentanten auf ein Minimum, und ihr Status und Organisationsgrad gab ihnen wenig zu verlieren. Und obschon einige von ihnen die Einführung einer Art nazifizierter Psychotherapie befürworteten, teilten sie fast alle ein Interesse an der Weiterentwicklung der Profession, das sie jede sich bietende Gelegenheit ergreifen ließ: sie hatten mächtige Gegner innerhalb der Ärzteschaft, und die Chance, die ihnen der Name Göring eröffnete, überdeckte alle Meinungsverschiedenheiten um jenes Problem der Nazifizierung — was z. B. im Falle der Physiker, die unter dem Dritten Reich erheblichen Schaden litten, nicht möglich war (Beyerchen, 1977). (Die unterschiedliche Eigenart der beiden Disziplinen ließ von der Sache her eine »deutsche« Psychotherapie, so sehr sie den universellen und humanitären Zielen der Wissenschaft und Medizin widerstreiten und durch ihr Leitbild der Anpassung von Patienten an eine repressive Gesellschafts- und Staatsordnung in ihrer therapeutischen Wirkung begrenzt sein mochte, sehr viel weniger absurd erscheinen als eine »arische« Physik.) Überdies gab die »Ausmerzung« von Arbeitsbeziehungen zu anderen Fächern und Berufsgruppen, die vor allem in den ersten Jahren des Regimes erfolgte — aus Angst vor einer etwaigen Sippenhaftung für eine Gruppe, die die nationalsozialistische Nagelprobe auf Gesinnungstreue nicht bestanden, oder vor dem Verschlucktwerden durch eine andere, die sie bestanden hatte — der Psychotherapie die Gelegenheit, sich selbst zu organisieren, professionelle Differenzen in den eigenen Reihen zu überbrücken und dann selbständige Arbeitsbeziehungen unter dem Deckmantel und approbierten Markenzeichen des Namens Göring zu knüpfen. Es ist eine Ironie, daß gerade ihr Status als Außenseiter es den Psychotherapeuten erlaubte, sich frühzeitig mit Kräften in der Nazipartei zu liieren, die eine Reform des medizinischen Establishments herbeiführen wollten.
Angesichts der Tatsache, daß Psychotherapeuten in Deutschland, wie überall in der Welt, auch heute noch keinen vollwertigen professionellen Status erreicht haben, bedeutete ihre Geschichte im Dritten Reich schwerlich eine Lösung der entscheidenden Probleme professioneller Identitätsfindung, denen das Fach als ganzes nach wie vor gegenübersteht. Der Grund für dieses Dilemma liegt vor allem in dem Mangel an klaren Fachgrenzen, d. h. in der Disparatheit der Theorien und Methoden, die sich Psychotherapeuten verschiedener Provenienz aus allen möglichen Gebieten der Medizin und Psychologie, der Sozial- und Geisteswissenschaften zusammensuchen. In Deutschland wurde diese Unschärfe noch verstärkt durch den Versuch der neuorganisierten Psychotherapeuten, ihre professionelle Kontrolle über das gesamte Feld der medizinischen Psychologie auszudehnen — ein Faktor, der einen kurzfristigen Gewinn und durch die Erweiterung ihres Einflusses einige langfristige Vorteile brachte. Die Gründung des Göring-Instituts bildet daher eine wichtige Etappe in der Vergangenheit des jungen Berufszweiges Psychotherapie, einen Meilenstein seiner noch fortdauernden Entfaltung in Mitteleuropa und der ganzen Welt.
Da die Geschichte der Psychotherapie im Dritten Reich vor allem unter dem Aspekt der institutionellen und professionellen Entwicklung von Belang ist, müssen wir, um die Dynamik der damaligen Vorgänge im Bereich der medizinischen Psychologie in Deutschland ganz zu verstehen, einen kurzen Blick auf die Soziologie akademischer Berufe werfen. A. M. Carriere, vielleicht der erste Sozialwissenschaftler, der sich einer systematischen Untersuchung dieser Berufe zugewandt hat, liefert uns den logischen Ausgangspunkt für unsere Überlegungen:
»Ein akademischer Beruf (profession) kann vielleicht definiert werden als eine Beschäftigung, die ein spezialisiertes Studium, eine besondere intellektuelle Schulung verlangt und deren Zweck es ist, für eine bestimmte Gebühr oder Besoldung anderen einen sachkundigen Dienst oder Rat zur Verfügung zu stellen« (Vollmer und Mills, 1966, S. 4).
Ein derartiger Beruf unterscheidet sich von einer Tätigkeit in Handel und Gewerbe dadurch, daß die ihn Ausübenden »nicht so sehr arbeiten, um bezahlt zu werden, sondern vielmehr bezahlt werden, damit sie arbeiten« (Pavalko, 1971, S. 21). Ein zentraler Unterschied zwischen Menschen, die sich vom Professionsmotiv leiten lassen, anstatt wie der kundensuchende Geschäftsmann dem Motiv des Geldverdienens zu folgen, ist das Verständnis der eigenen Arbeit in den Dimensionen von Pflicht und Verantwortung, das für eine Untersuchung der deutschen Kultur mit ihrer Tradition einer Bewertung des »Berufs« als »Berufung« von besonderer Bedeutung ist. Zu den Kriterien eines akademischen Berufsstandes gehören im einzelnen eine systematische Theorie, ein auf einem Standesethos basierendes Gefühl professioneller Verantwortung, formelle Standesorganisationen und die gesellschaftliche Anerkennung der Fachautorität.
Für den Historiker ist es freilich so notwendig wie unvermeidlich, daß er »Beschäftigungen als irgendwo innerhalb eines Kontinuums von Berufen angesiedelt begreift« (Goode, 1960, S. 903) und sich mit Wandlungen und Entwicklungen im Zuge der Zeit befaßt. Er wird auch mehr darüber wissen wollen, wie die Entwicklung einer akademischen Berufsgruppe durch äußere Instanzen beeinflußt, ja geprägt und festgelegt wird, was vor allem für eine Betrachtung der Professionalisierung der Psychotherapie relevant ist. Nach den oben angeführten Kriterien erscheint die Psychotherapie als akademischer Berufsstand gut entwickelt. Gertrude Blanck freilich kommt in ihrer Arbeit über die professionelle Entwicklung der Psychotherapie in den USA zu einem weniger günstigen Ergebnis, und zwar aufgrund eines Vergleichs zwischen Medizin und Psychotherapie unter vier Aspekten: der Abgrenzung von anderen Berufsgruppen; der Entwicklung eines Ausbildungssystems; des Aufbaus zentralisierter Berufsverbände auf nationaler Ebene; und der staatlichen Anerkennung in der Form einer Approbation (Blanck, 1963, S. 160 f.). Sie sieht drei mögliche Wege einer künftigen Entwicklung der Psychotherapie: als ein Zweig der Medizin, als ein Zweig der Psychologie oder als getrennte Einheit; gegenwärtig seien Tendenzen in allen drei Richtungen zu erkennen (ebd., S. 229, 237). Nach Blanck ist die Psychotherapie bisher weder von der Medizin noch von der Psychologie genügend geschieden, um als ein eigenständiger Berufszweig gelten zu können, und dies ist die wesentliche Schwierigkeit, die ihrer Professionalisierung im Weg steht (ebd., S. 241-244).
Sowohl Psychiater als auch klinische Psychologen reklamieren Psychotherapie als einen integralen Teil ihrer eigenen Tätigkeit, wobei sich die ersteren häufiger mit schweren Störungen wie etwa der Schizophrenie, die letzteren eher mit weniger tiefgreifenden Verhaltensproblemen beschäftigen. Das Haupthindernis für den Aufstieg der Psychotherapie zum Status eines getrennten, vollentwickelten Berufsstandes war und ist jedoch ihre Einbettung in die Medizin. Ärzte erheben heute einen Anspruch auf allumfassende Zuständigkeit für die Heilung menschlicher Krankheiten, und die Unabhängigkeitsbestrebungen einiger untergeordneter Fächer haben erhebliche Konflikte hervorgerufen (ebd., S. 160). In Deutschland erlebte die Psychiatrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine ernste Herausforderung durch das Aufkommen einer psychodynamischen Richtung unter Führung der Freudschen Psychoanalyse. Die Psychiatrie antwortete im großen und ganzen mit einer entschlossenen Verteidigung ihrer neurologischen Grundlagen. In ihrer engen Verschwisterung mit den Universitäten, wo es eine starke Tendenz zur Geringschätzung klinischer und therapeutischer Aktivitäten zugunsten »reiner« Wissenschaft gab, legte die deutsche Psychiatrie ihr Schwergewicht auf die Forschung. Diese wissenschaftliche Schlagseite fügte sie als Berufszweig fest in die deutsche medizinische Tradition ein.
Die Herausforderung dieser maßgeblich im 19. Jahrhundert geprägten Tradition durch die psychodynamische Bewegung ließ innerhalb des medizinischen Establishments wieder alle Zweifel bezüglich des wissenschaftlichen Status der Psychiatrie und Psychologie wach werden, mit denen man die früheren Anstrengungen der Disziplin in der Behandlung der chronisch Kranken durch Alchimie und Anstaltsverwahrung begleitet hatte. Die traditionelle Medizin war seit jeher darauf ausgerichtet gewesen, in objektiven und nicht in subjektiven Kategorien zu denken. In den Jahren des Nationalsozialismus war Oswald Bumke einer der Wortführer jener Psychiater, die die Existenz eines Unbewußten leugneten und gegen den inhärenten »Dilettantismus« der Psychotherapie und Psychoanalyse wetterten. 1938 schrieb er, in einem typischen Rundumschlag:
»… und so begeht Jung denselben Fehler, den vor ihm Freud und noch früher Charcot, Bernheim und viele andere begangen haben: er glaubt alles, was ihm seine hysterischen Kranken über die Unschuld ihres Bewußtseins erzählen« (Bumke, 1938, S. 116).
Das Aufbegehren der psychodynamischen Bewegung gegen die nosologischen und neurologischen Establishments der deutschen Psychiatrie hatte sich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts zu einem heftigen Unbehagen an der »Krise der Medizin« überhaupt ausgeweitet. Man zeigte sich besorgt über einen ärztlichen Berufsstand, der seine Patienten nicht mehr als Menschen wahrzunehmen vermochte, der zu naturwissenschaftlich, zu bürokratisch und in seinem Starren auf Rezept und Honorar zu materialistisch sei. Diesem Protest schloß sich zwangsläufig auch die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie an. Die Gesellschaft erklärte zu ihrem Ziel die Förderung der Psychotherapie im Kampf gegen die »Volksseuche« der Neurose. Indem sie die Notwendigkeit einer Kampagne zur sozialen Prophylaxe und Behandlung der Neurose unterstrich, schien sie die herkömmliche, akademisch abgeschottete psychiatrische Klassifizierung der Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems zu ignorieren oder gar verächtlich zu machen. Grundlage für den Ansatz einer, wie man es nennen könnte, »aktivistischen« Psychotherapie sollte eine Würdigung des menschlichen Organismus in seiner psychischen und physischen Gesamtheit sowie in seinen Interaktionen mit der gesellschaftlichen Umgebung sein. Statt mit den Teilen eines Objekts sollte der Psychotherapeut, und in der Tat jeder Arzt, das Ganze des menschlichen Subjekts in Betracht ziehen.
Die Ausbildung für eine solche Aufgabe konnte sich nicht auf die medizinischen Wissenschaften beschränken, sondern mußte die Sozial- und Geisteswissenschaften mit einbeziehen. Das Endziel bei alledem blieb die Kunst des Heilens, die ärztliche Kunst, aber die umfassenderen Perspektiven der Vorbeugung und Rehabilitation erforderten psychologische und psychotherapeutische Techniken, die im medizinischen Rahmen der somatischen Wiederherstellung keinen Platz mehr hatten. Im Bereich der psychischen Wiederherstellung — wenn man die Neurose als ein Lebensproblem des einzelnen Menschen ansah — benötigte man Maßnahmen zur Bearbeitung dieser Probleme und eine Schulung in ihrer Anwendung, die in der breiten Grauzone zwischen den scharfen medizinischen Grenzen von Krankheit und Gesundheit angesiedelt waren. Mit alledem erhob sich eine kritische Frage: Ist die Behandlung oder Heilung der Neurose ein exklusives Vorrecht des Arztes?
Die »große« Psychotherapie, jene Theorien und Verfahren, die sich mit den Vorgängen und Abkömmlingen des menschlichen Unbewußten beschäftigen, stand der traditionellen Medizin insofern näher, als sie größtenteils aus der medizinischen Erforschung der Wechselwirkungen von Körper und Seele hervorgegangen war. Diese Theorien und Techniken konnten, wie etwa im Falle der psychosomatischen Medizin, die Basis für eine psychotherapeutische Spezialisierung innerhalb des ärztlichen Berufsstandes abgeben. Die Psychoanalyse hingegen — ein eigenes hochkomplexes Gedankensystem mit einer eigenständigen Technik — bedurfte für ihre Ausübung keiner medizinischen Ausbildung. Auch wenn die Psychoanalytiker selbst in der Frage der Laienanalyse gespalten waren und sind, zielte doch die ganze revolutionäre Stoßkraft der freudianischen Bewegung auf eine Expansion der Psychologie in den von der Medizin beanspruchten therapeutischen Bereich. Als Kompromißlösung in dem Konflikt, welche Qualifikationen der Psychotherapeut, Psychoanalytiker oder Psychologe besitzen müsse, einigte man sich schließlich auf die ärztliche Überwachung nicht-ärztlicher Psychotherapeuten, um sicherzustellen, daß keine somatischen Beschwerden übersehen werden. (Das ist bis heute so. Anm. JSB) Aber das Problem, wieviel Kontrolle ein Arzt in einem solchen Arrangement überhaupt ausüben kann, ist ein wichtiger Streitpunkt in deutschen Medizinerkreisen geblieben (Kretschmer, 1950).
Auch die andere Hauptgruppe von Psychotherapieformen bedeutete eine Bedrohung des therapeutischen Ausschließlichkeitsanspruchs der medizinischen Profession. Die »kleine« Psychotherapie umfaßt all jene systematischen und unsystematischen psychologischen Theorien und Behandlungsverfahren, die eine Linderung seelischer Leiden auf der Bewußtseinsebene anstreben. In größerem oder geringerem Maße, gewollt oder ungewollt, gehört eine solche Einflugnahme in das Repertoire eines jeden Arztes, aber die Frage stellte sich erneut: Warum sollten psychologischer Menschenverstand, Einfühlungsvermögen oder die Fähigkeit, verschiedene psychologische Theorien zu begreifen und anzuwenden, nicht auch dem Laien gegeben sein?
Das ursprüngliche Ziel der meisten Mediziner in der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie war und blieb die Einführung der Psychotherapie als förmlicher Bestandteil der normalen ärztlichen Ausbildung — im Gegensatz zu Bestrebungen, psychotherapeutische Tätigkeit dem speziell geschulten Psychotherapeuten, der Sachkunde des Psychiaters oder einer im Gang des Studiums angeblich von selbst erworbenen Grundkompetenz des Allgemeinpraktikers anheimzustellen. Daneben gab es auch ein stärker werdendes Gefühl, daß die Natur der Behandlung und Heilung psychischer Störungen und ein verbreitetes Bedürfnis in der Bevölkerung nach psychotherapeutischen Kuren eine Ausbildung und ärztliche Überwachung nicht-ärztlicher Psychotherapeuten und Psychologen verlangten. Dieses Argument erhielt zusätzliches Gewicht durch den Kampf der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie gegen das Quacksalbertum, der zwei Gruppen besonders am Herzen lag — nämlich Ärzten, die den wissenschaftlichen Charakter der Medizin zu verteidigen, und Psychotherapeuten und Psychologen, die ein solches Etikett zu vermeiden wünschten. Noch mächtiger war überdies bei vielen einflußreichen Mitgliedern der Gesellschaft die romantische Tradition des 19. Jahrhunderts in Psychiatrie und Medizin mit ihrer Verwurzelung in der Naturphilosophie. Es war diese letztere Fraktion, die unter dem Druck professioneller und politischer Ängste und ermutigt durch die Gunst der Stunde, die ihnen die Chance zur Erhebung weitreichender professioneller Forderungen in die Hände spielte, mit dem Sieg des Nationalsozialismus zur Vorherrschaft gelangte.
Ernst Kretschmer, der 1930 den Vorsitz der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie übernommen hatte, gehörte zu einer profilierten Minderheit, die psychotherapeutische Behandlungen für Psychiater reserviert sehen wollte. Bei ihrer Gründung 1928 konnten nur Ärzte der Gesellschaft beitreten; aber die Tendenz ging in eine andere Richtung, und als 1933 die Deutsche Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie unter Göring ins Leben gerufen wurde, formulierte man die Statuten um, so daß nun auch nicht-ärztliche Psychotherapeuten als eine besondere Mitgliedergruppe zugelassen waren. Das 1936 eingerichtete Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie führte vollausgebildete Psychotherapeuten, ob Mediziner oder nicht, unterschiedslos als reguläre Mitglieder. In der Tat übertraf in all den Jahren seines Bestehens, für die Statistiken vorliegen (1937-1941), ausgenommen 1938, die Zahl der nicht-ärztlichen die der ärztlichen Mitglieder; und 1941 war auch die Zahl der nicht-ärztlichen Bewerber um eine Bescheinigung als »behandelnde Psychologen« größer als die der ärztlichen Kandidaten.
Dieses Überwiegen nicht-ärztlicher Mitglieder kann zumindest partiell auf eine allgemeine Propagierung des Dienstes an Gemeinschaft und Staat durch die Nationalsozialisten zurückgeführt werden. Es ist auch wahrscheinlich, daß die Bemühungen des Regimes um einen schnelleren und stromlinienförmigeren Ablauf der Expertenausbildung ihren Teil zu der Situation beitrugen: ein medizinisches Studium, selbst in der durch die nationalsozialistische Regierung verkürzten Form, war immer noch ein umständlicherer Prozeß als ein Universitätsabschluß in Psychologie mit einer klinischen Zusatzausbildung. Noch bedeutsamer aber war jene Tendenz im professionellen Zusammenhang der Beziehungen und der Dynamik in und zwischen den Fächern Psychologie, Psychotherapie und Medizin.
Das zweite der Kriterien Blancks, die Entwicklung eines Ausbildungssystems, bezeichnet im Falle der Medizin fünf allgemeine Stufen: von der individuellen Praxis über das Lehrlingswesen, das Privatseminar und das Institut bis schließlich zur Integration in ein Universitätssystem. Wenn man die Psychotherapie an diesem Modell mißt, ist generell festzustellen, daß ihre verschiedenen Schulen, und vor allem die Psychoanalyse, sämtliche Stufen bis auf die letzte durchlaufen haben. Im Gegensatz zur akademischen Psychologie (Geuter, 1982) hatte und hat es die Psychotherapie in Deutschland, wo sich die Universitätsfakultäten hinter einem massiven Wall -von Wissen, Tradition, Prestige und Macht verschanzt haben, besonders schwer, diesen letzten Schritt zu vollziehen. Der erste staatliche Lehrauftrag für Psychotherapie wurde im August 1933 von der medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin an Hans von Hattingberg erteilt. Diese Berufung veranschaulicht den wachsenden Einfluß der organisierten Psychotherapie in Deutschland während der zwanziger Jahre hauptsächlich unter der Ägide der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Sie ist auch ein Beispiel für die Art der professionellen Chancen, die aus dem Zusammentreffen des Nationalsozialismus mit der Person und dem Namen von Matthias Heinrich Göring resultierten. Zum größten Teil jedoch blieben die Universitäten für die Psychotherapie verschlossen; und mehr noch: sie bildeten für den Berufszweig als solchen eine erhebliche potentielle und aktuelle Gefahr, da jede Lehre der Psychotherapie in den Händen akademischer Psychologen und Psychiater verblieb.
Die Gefahr, die dem eigenständigen Status der Psychotherapie von seiten alternativer Ausbildungsgänge an den Universitäten drohte, wurde im Dritten Reich weitgehend dadurch abgebogen, daß ihr im wesentlichen gelang, was Blanck als drittes Professionalisierungskriterium anführt: die Einrichtung eines zentralisierten Berufsverbandes auf nationaler Ebene. Aufbauend auf dem Fundament, das von der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie gelegt worden war, erreichte das Göring-Institut für die neun Jahre zwischen 1936 und 1945, wenn auch nicht vollkommen, eine solche Zentralisierung. Die eigentliche Bedeutung des Instituts für die Professionalisierung der Psychotherapie in Deutschland bestand freilich in seiner Funktion als Garant des Überlebens in jener gewalttätigen und zerstörerischen Zeit, in der Gelegenheit zu einem gewissen Maß an konstruktivem Meinungsaustausch zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Denkschulen, die es bot, in seiner Rolle als organisatorisches Vorbild für Nachkriegsinstitute und in seinem Wirken als Stätte psychotherapeutischer Forschung, Ausbildung und Praxis. Viele der namhaften Psychologen und Psychotherapeuten in beiden deutschen Nachkriegsstaaten empfingen am Göring-Institut ihre Ausbildung oder waren dort tätig.
Blancks viertes Kriterium, die staatliche Anerkennung des Berufsstandes durch eine verbindliche Approbationsregelung, wird von der Psychotherapie in Deutschland bis heute nicht erfüllt. (Mittlerweile schon. Anm. JSB) Durch die staatliche Approbation eines Berufsstandes wird die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auf den Kreis der Approbierten beschränkt. Ein Zeugnis hingegen beschränkt nur das Führen eines bestimmten Titels auf diejenigen Personen, die eine vorgeschriebene Ausbildung erfolgreich absolviert haben; ein Beispiel ist der deutsche Titel des Diplom-Psychologen, der 1941 als ein Ergebnis der Nachfrage nach Psychologen aus der Reichswehrmacht und der gemeinsamen Anstrengungen von Universitätspsychologen und Göring-Institut eingeführt wurde.
Die staatliche Anerkennung von Psychotherapeuten und Psychologen ist aus mehreren immanenten Gründen ein heikles Problem geblieben. Hinsichtlich der »kleinen« Psychotherapie läßt sich nur schwer angeben, welche exakten Leistungen ein Psychotherapeut oder Psychologe erbringt, die nicht in wechselndem Maße auch von anderen Berufsgruppen erbracht werden. Die »große« Psychotherapie ist im Vergleich dazu zwar sehr viel spezialisierter, ihre selbständige Durchführung aber ist im großen und ganzen Ärzten vorbehalten, so daß eine überzeugende professionelle Abgrenzung noch nicht erfolgt ist. Schließlich wird die Ausarbeitung fester Standards, in deren Rahmen eine einheitliche Theorie formuliert und ein klares Berufsbild entwickelt werden könnte, durch die endemischen Konflikte unter Psychotherapeuten, Psychoanalytikern und Psychologen behindert. Das Dritte Reich brachte keine Lösung dieser Schwierigkeiten — auch keine handfeste Anerkennung des professionellen Status etwa durch die Einbeziehung von Psychotherapeuten in das staatliche Sozialversicherungswesen. Doch erlangte die Psychotherapie unter Hitler durch die amtliche Unterstützung, die das Göring-Institut von der Deutschen Arbeitsfront, dem Reichsforschungsrat und anderen Organisationen erhielt, und durch das Fehlen jeder nennenswerten Konkurrenz in Ausbildung und Praxis immerhin einen beachtlichen Grad an faktischer Anerkennung.
Mit der Frage der Anerkennung kehren wir wieder zu der Eigenart des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zurück. Die nationalsozialistische Mobilisierung der deutschen Gesellschaft wurde im Bereich der Medizin wie auch anderswo durch den Versuch einer zentralen Zusammenziehung der Fäden in der Reichsregierung herbeigeführt (Ramm, 1943, S. 32-62). Als ein Element in der nationalsozialistischen Kampagne zur Förderung der Volksgesundheit — einer Kampagne, die sich die eigenen Bemühungen des Faches um die Verhütung und Heilung der weitverbreiteten Neurose zunutze machte — wurde die Psychotherapie ein offiziell sanktionierter Dienstleistungsberuf in der neuen Gesellschaft. Soziologisch betrachtet, wurden die akademischen Berufsgruppen unter dem Faschismus generell in einer Weise beeinflußt, die ihnen »ein Gepräge aufzwang, das aus der Sicht der modernen westlichen Gesellschaft eine Zwischenstellung zwischen öffentlichem Dienst und akademischem Berufsstand einnimmt .. in dem die drei Typen von Gewerbe- und Handelstätigkeit, Berufsstand und öffentlichem Dienst zusammenfließen« (Timasheff, 1940, S. 60).
Die Institutionalisierung dessen, was Timasheff die »solidarische Motivation« zum Unterschied von einer Motivation auf egoistischer oder altruistischer Grundlage nennt, vollzog sich in der nationalsozialistischen Form einer hochstrukturierten Gesetzlosigkeit. Im Zentrum der Macht hatte Hitlers Unwissenheit und Gleichgültigkeit in Verwaltungsdingen eine fast willkürliche Flut von Befehlen zur Folge, die durch verschiedene Personen und Organisationen exekutiert wurden. Ausgehend von dem jugendlichen Künstlertemperament des Führers und seinem politischen Gespür für die Taktik des Teilens und Herrschens, lösten die widerstreitenden Absichten und Interessen der größeren und kleineren Feudalherren, die das nationalsozialistische Führungskorps bildeten, den bereits dünnen ideologischen Firnis der Bewegung vollends auf. Gleichschaltung bedeutete häufiger Konformität als Revolution (Broszat, 1969, S. 43 f., 284, 348 f.). Hitler, in seiner Fixierung auf die Ziele der territorialen Expansion und der Judenvernichtung, betrachtete Deutschland als ein Geschoß, das zornig abzufeuern, und nicht als ein Institutionsgefüge, das sorgfältig aufzubauen war. Diese Kombination von Zwang und Chaos, die aus der gedanklichen und organisatorischen Schwammigkeit des Nationalsozialismus entsprang, machte es möglich, daß die Psychotherapie unter der Protektion des Göring-Instituts in einer Reihe verschiedener Richtungen, zum Wohle des Regimes wie des eigenen Berufsstandes, arbeiten konnte.
Wie die Universität sich auch im Dritten Reich gegen die Entwicklung der Psychotherapie als eigener Berufszweig versperrte, so stand auch die staatliche Medizinalbürokratie dem neuen Fach bestenfalls ambivalent gegenüber. Es ist deshalb ein Irrtum anzunehmen, daß der Staat der Psychotherapie eine relativ vernunftorientierte Zuflucht gewährt hätte, wohingegen die wütenden Fanatiker in der Partei ihre Hauptfeinde gewesen wären. Zwar stellten die Parteiradikalen in den frühen Jahren des Naziregimes wirklich eine Bedrohung für jede medizinische Psychologie dar; doch die für Medizin, Gesundheit, Erziehung und Industrie zuständigen Parteibürokraten waren aus mehreren Gründen für die Idee und Praxis einer gebührend loyalen Psychotherapie durchaus aufgeschlossen. Jenseits seiner formellen Oberaufsicht über das Göring-Institut spielte das Reichsinnenministerium in den Angelegenheiten der Psychotherapeuten kaum eine Rolle. Seine Medizinalabteilung, das offizielle Staatsorgan der etablierten Medizin, trug der medizinischen Psychologie, außerhalb des Bereichs der traditionellen Psychiatrie, organisatorisch keinerlei Rechnung.
In dieser Situation, angesichts parvenühafter Verwirrung auf der einen und althergebrachter Skepsis auf der anderen Seite, bahnte sich die Psychotherapie ihren professionellen Weg zwischen den Vorurteilen von Partei und Staat. Sie nutzte dabei jene Chance, die ihr die antagonistischen Apparate beider boten, konnte sich aber letztlich nur auf den Schutz des herrschaftlichen Namens Göring und auf ihr eigenes Vertrauen in die Sachkunde ihrer Anhänger stützen. Als nach dem Krieg Ernst Kretschmer wieder den Vorsitz der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie übernahm, hatte eine erheblich erweiterte Psychotherapie einen entschiedenen professionellen Aufschwung erfahren — auch abgesehen von den großen Aufgaben des Wiederaufbaus, die ihr in dem moralischen und buchstäblichen Trümmerhaufen bevorstanden, den Hitlers Reich und Hitlers Krieg hinterlassen hatten. Um diese Kontinuität der Entwicklung vor Augen zu führen, muß eine Geschichte der Psychotherapie unter dem Nationalsozialismus — über den Rahmen hinaus, in dem sich andere Arbeiten über akademische Berufsgruppen und Disziplinen in jener Ära bewegen — durch eine Untersuchung ihrer professionellen Stellung in den deutschenSachkriegsstaaten ergänzt werden. Trotz einiger spezifischer Reformen der Nazizeit, die direkt oder indirekt die Psychotherapie betrafen, hat die Entwicklung der Psychotherapie als Profession dem Nationalsozialismus in der Form direkter, systematischer Förderung oder Reform nichts zu verdanken. David Schoenbaum (1966) jedoch hat nachgewiesen, wie die Nationalsozialisten die deutsche Gesellschaft einfach dadurch verwandelt haben, daß sie den Baum schüttelten. Die Geschichte der Psychotherapie im Dritten Reich zeigt, daß diese Erschütterung auch die Zweige der deutschen Medizin erfaßte.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Geoffrey Cocks, Albion College, Dept. of History, Albion, Mich. 49224, U.S.A.)
(Übersetzung: Michael Schröter, Berlin)
Summary
Psychoanalysis, Psychotherapy and National Socialism. — The history of psychoanalysis in the Third Reich can only be fully understood within the professional context of the history of medical psychology and psychotherapy in Germany and within the political context of the chaotic nature of Nazi governance. Psychotherapy in the Third Reich made significant strides toward professional development and recognition between 1936 and 1945 under the aegis of the so-called Göring Institute.
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[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 14. 4. 83. Psyche 12/83
[ii] 1 Die Psychoanalyse des Juden Sigmund Freud. Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden, 1933, 1, S. 15 (i. 0. kursiv).
[iii] 2 Bericht über die 1. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heil¬pädagogik. Zeitschrift für Kinderforschung, 1941, 49, S. 4.
[iv] 3 Foreign Office and Ministry of Economic Warfare, »Public Health« (London, Oktober 1944), S. 229-256: G. Wiener Library, London.
[vi] 5 Berlin Document Center: Zentralkartei der NSDAP.
HELMUT DAHMER, FRANKFURT A. M. Kapitulation vor der »Weltanschauung«.
Zu einem Aufsatz von Carl Müller-Braunschweig aus dem Herbst 1933*[iii]
»Die Schrift aber, die da geschrieben steht, lautet:
Mene, Mene, Thekel, Upharsin.« Daniel, 5, 25.
(1) Im ersten Heft seiner in Kopenhagen erscheinenden »Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie« (ZPPS) publizierte der aus KPD und DPG gleichermaßen ausgeschlossene, nach Skandinavien emigrierte Wilhelm Reich 1934 einen im Oktober des Vorjahres in dem faschistischen Kampfblatt »Reichswart« erschienenen Artikel des Psychoanalytikers Carl Müller-Braunschweig über »Psychoanalyse und Welt-anschauung«. Als die studentische Protestbewegung Reich in den späten sechziger Jahren für sich wiederentdeckte, wurden unter anderen »Raubdrucken« von Reich-Texten auch die beiden ersten Jahrgänge seiner 1934-39 erschienenen Zeitschrift nachgedruckt. Auf diese Weise wurde der für das Verständnis der Geschichte der Psychoanalyse vor und unter Hitler wichtige Aufsatz, der sonst vielleicht nur Faschismus-Experten bekannt geworden wäre, abermals publik. Die Redaktion der ZPPS hatte seinerzeit (ZPPS, I, 1934, S. 74) ihre Absicht angekündigt, den Artikel in einem der nächsten Hefte zu kommentieren. Dazu kam es nicht. Nur in einer Vorbemerkung zum Abdruck eines 1932 verfaßten Aufsatzes von Reich — »Ein Widerspruch der Freudschen Verdrängungslehre« — kam man noch einmal auf den »Reichswart«-Artikel zurück:
»Die >Zeitschrift …< druckte im ersten Heft einen Artikel des Vorstandsmitglieds der deutschen psychoanalytischen Zweigvereinigung, Dr. Carl Müller, Braunschweig, ab, in dem die Gleichschaltung der psychoanalytischen Theorie der Neurosen mit der Hitlerschen Weltanschauung vollzogen wurde. Die Verbrennung der Bücher Freuds im >dritten Reich< hatte dem genannten Vorstandsmitglied die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Faschismus offenbar nicht klar genug demonstriert« (ZPPS, I, H. 2, S. 115).
Auch als Reich sich dann im II. Jahrgang seiner Zeitschrift mit der »Funktion der >objektiven Wertwelt«< ([1932] 1935), also dem ideologischen Zentralproblem der Arbeit von Müller-Braunschweig, auseinandersetzte, kam er auf den im 1. Heft seiner Zeitschrift reproduzierten Text nicht mehr zurück.
(2) Auf dem Traditionsweg, der von Freud zur heutigen Psychoanalyse (als Lehre und Institution) führt, hat sich der kulturrevolutionäre Gehalt seiner Psychologie des Unbewußten verflüchtigt. Das aufkeimende Unbehagen daran (vgl. Lohmann, Hg., 1983) hat die hat die Aufmerksamkeit auf die kritischen Phasen der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung gelenkt. Wird die gegenwärtige Verfassung der Psychoanalyse als defizient (defizitär, ungenügend entwickelt, schwächlich Anm. JSB) empfunden, so kann nur die Rekonstruktion ihrer (Fehl-)Entwicklung, die Herausarbeitung der möglichen, aber abgewehrten und ausgegrenzten Alternativen, die Selbstvergewisserung über »Fehler« dazu verhelfen, das Original der Sache, die radikale psychoanalytische Aufklärung wiederzufinden und in der Gegenwart zu bewähren. Wenn es richtig ist, daß der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland »nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung als revolutionäre ausgelöscht (hat), sondern ebenso die psychoanalytische Bewegung als eine Agentur der Kulturrevolution« — daß der Schock der Vertreibung der Mehrheit der Psychoanalytiker aus Deutschland und Österreich »die Marginalisierung und Verödung der beiden miteinander kommunizierenden, Faszination und Skandal der Psychoanalyse begründenden Kraftzentren der Freudschen Theorie . . ., der Lehre von den Trieben und der von der Kultur« nach sich zog, die »eingeschüchterte Psychoanalyse« also nur »entsub-stantialisiert« überlebte (Dahmer, 1983, S. 28 und 30), dann erscheint der fünfzig Jahre alte Text von Müller-Braunschweig nicht nur als schwer begreiflicher Mißgriff eines sonst verdienten Mannes, nicht nur als skandalöse Kuriosität, sondern als lehrreiches Symptom einer fatalen Entwicklung. »Psychoanalyse und Weltanschauung« präsentiert zum einen die Reduktion der psychoanalytischen Aufklärung auf Psychotherapie unter dem politisch-ideologischen Druck der »völkischen« Gegenaufklärung, zum andern die Identifikation einer derart halbierten Psychoanalyse mit dem Angreifer, die manische Selbstverleugnung um des »Überlebens« willen. Die Stillstellung des kritischen Denkens, die Etablierung von Exklaven der Aufklärung, die Respektierung gesellschaftlicher Sprachregelungen, das Tolerieren von Illusionen, deren Verbreitung im Interesse mächtiger gesellschaftlicher Gruppen liegt und an denen vielleicht auch ohnmächtige Mehrheiten zähe festhalten, ist allemal ein Rückfall hinter ein mögliches Niveau von Einsicht, eine konformistische Kapitulation. Noch Siegfried Bernfeld schrieb (1922, S. 235) im Geist der unerschrockenen Freud und Ferenczi:
»Man wird weder der Psychoanalyse noch der Reaktion der zeitgenössischen Wissenschaften auf sie gerecht, wenn man die(se) der Freudschen Psychoanalyse eigene Tendenz: erst an der Grenze ihrer Denkmittel, nicht aber bereits an der Grenze heute gültiger wissenschaftlicher Konventionen halt zu machen, übersieht.«
Das aber war bereits eine Minderheitsposition. In den Schriften der Generation von Freud-Schülern, der Müller-Braunschweig angehörte, überwog schon das Bedürfnis nach Beschränkung der neuen, psychogenetischen Kritik, sei es, daß man der Psychoanalyse (d. h. sich selbst) das Recht absprach, nach der Herkunft sogenannter »geltender Werte« und nach den Folgen ihres »Geltens« zu fragen, sei es, daß die Psychoanalyse in geschichtlich-gesellschaftlichen Fragen überhaupt für inkompetent erklärt wurde. (3) Die Geschichte der Philosophie im Deutschland des 19. Jahrhunderts zeigt charakteristische Brüche und Reprisen, die als Reaktionsbildungen auf die gesellschaftliche Entwicklung, als ideologische Verarbeitung der politischen Geschichte der Bourgeoisie verstanden werden können. Nach dem Verfall der großen geschichts- und naturphilosophischen Systeme kam es zu einem resignativen Rückgriff auf Kants Erkenntnis-und Metaphysik-Kritik. Die Philosophie beschränkte sich nunmehr darauf, zunächst die Forschungslogik der so überaus erfolgreichen, »generalisierenden« Naturwissenschaften, sodann diejenige der »individualisierenden« Geistes- (bzw. »Kultur«-)Wissenschaften zu explizieren. Der erklärbaren Welt der Gegenstände der Wahrnehmung stand die verstehbare der Kulturobjektivationen gegenüber. Die pseudonatürliche Welt der ökonomisch bestimmten Sozialgeschichte hingegen, die ebenso menschgemacht wie schicksalhaft, ebenso unverständlich wie erklärungsbedürftig ist und deren Erhellung zwei Jahrhunderte lang die Arbeit der europäischen Geschichtstheoretiker und Sozialökonomen gegolten hatte, lag außerhalb des Horizonts der Philosophen, die zwischen 1870 und 1918 die Weltanschauung der deutschen Intelligentsia formulierten. Flankiert von Positivismus und Lebensphilosophie bildete der Neukantianismus in den Jahrzehnten, die Bismarcks kriegerischer Reichsgründung »von oben« folgten, die Ideologie der deutschen »Mandarine« (Ringer, 1969) an den Hochschulen und in der staatlichen Bürokratie. Sie schlug ihre Adepten mit Blindheit in gesellschaftlichen Fragen. War »der Weltdualismus einer realen, wahrnehmbaren Sinnenwelt einerseits«, »einer irrealen, verstehbaren Welt in ihrer Wertbestimmtheit andrerseits durchgeführt«, eine diesen sensiblen und intelligiblen Welten vorgelagerte Sphäre der »Freiheit des Stellungnehmens zu Werten« anerkannt, schließlich die alles überwölbende »Einheit der Wertrealität« zum Weltgrund umgedeutet (vgl. Rickert, 1932, S. 177 ff.), so war eine Mandarin-Ontologie vollendet, die als »Weltanschauungslehre« für die Praxis belanglos blieb. Die politischen Optionen neukantianischer Philosophen variierten demzufolge schon 1914 von der Kriegsbegeisterung
Natorps bis hin zur Kriegsgegnerschaft Nelsons; unter ihnen waren ethisch hochgemute Sozialisten (wie Cohen) ebenso wie Missionare der »deutschen Sendung«. 1933 wurden führende jüdische Vertreter des Neukantianismus (Cassirer, Cohn, Marck, Hönigswald) von den Nazis vertrieben, während einige nicht-jüdische (Rickert, Bauch) ins »völkische« Lager übergingen. Wo neben der »Natur« statt der gesellschaftli-chen Wirklichkeit nur die »Wertwelt«, ihr farbiger Abglanz, als eine des Philosophierens würdige Sphäre gilt, muß als ein Schicksal hingenommen werden, wenn die politische »Füllung« der Leerformeln der Wertphilosophie (wie 1914 und 1933 geschehen) überraschend von einem theoretisch nicht faßlichen »Außen« her erfolgt. Wer dem Kult der »Werte« frönt, kann unsanft erwachen, wenn im Kampf der Klassen und Parteien, von dem er sich fernhält, Gruppen obsiegen, auf deren Programm eine »Umwertung der Werte«, z. B. die Aufwertung von »Unwerten« steht.
Die bedeutendsten Leistungen der Neukantianer lagen auf dem Gebiet der Philosophie-Geschichtsschreibung; rekonstruktiv waren sie oft pro-gressiv (Lange, Windelband, Kroner, Cassirer). Auf »weltanschaulichem« Terrain aber arbeiteten sie in restaurativer Absicht. Ihre Mission war die Rettung der die Lebenspraxis leitenden und überhöhenden »Ideale« vor der fortschreitenden Aufklärung, vor der »Entzauberung der Welt« (M. Weber). R. H. Lotze, der Lehrer Windelbands, hatte um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts den »Wert«-Begriff aus der Ökonomie in die Philosophie übertragen. Die klassische Ökonomie lehrte, daß der relative Wert von Waren, wie er beim Tausch sich geltend macht, nicht auf subjektiven Wertschätzungen beruht, sondern auf den in den Waren vergegenständlichten Quanten gesellschaftlich zu ihrer Erzeugung nötiger Arbeitszeit. Was als Qualität der Dinge erscheint, ist demnach die auf sie verwandte menschliche Arbeit. Wie die zeitgenössische Soziologie Emile Durkheims suchte die neukantianische Wertphilosophie durch Hypostasierung allgemeiner, klassenneutraler Normen und Ideale der Artikulierung und dem Austrag von Sonder- und Mehrheits-Interessen entgegenzuwirken. Dabei wurden die Normen und Ideale von der Lebenspraxis der Gruppen, der sie entstammen und die sie illuminieren, losgelöst. In ihrer Residualeigenschaft, einmal etwas gewesen zu sein, woran Menschen glaubten, woran sie sich hielten, wurden sie dann einem imaginären Museum einverleibt, dessen Kustoden ihnen, gleichviel, ob jene »Werte« noch im Schwange oder längst vergessen waren, allzeit mit Pietät und Devotion begegneten. Im Gefolge der (von Hume inaugurierten) radikalen Scheidung der Normen von den Fakten promovierten die Tatsachen zu Normen, während die Geltung der Werte immer schon als Faktum erschien. Der akademische Kult mit Werten, die zu nichts verpflichteten, diente den Intellektuellen in ruhigen Zeiten als Ersatzreligion. Für Fragen, auf die die Wissenschaft keine Antwort gab, waren die Wertphilosophen im Pantheon zuständig. Aus den Fenstern ihres Tempels fiel auf Staat und Sozietät ein versöhnlicher Glanz; und die Wertfetischisten selbst waren der Parteinahme in den Auseinandersetzungen ihrer Zeit entrückt. (4) Im ausgehenden 19. Jahrhundert griff Freud — »am Seelenende dieser Welt« (1887-1902, S. 194) — jenes Zentralproblem der Lebens-und Kulturgeschichte wieder auf, an dem sich schon die Philosophie der Zeitgenossen der französischen Revolution entzündet hatte: In be-wußtloser Praxis, mit »falschem Bewußtsein« bereiten sich die vergesellschafteten Autoren der Lebens- und Sozialgeschichte ihr Schicksal — das der Wiederholung des Immergleichen. Und eben darum ist die Geschichte »nicht der Boden für das Glück« (Hegel), viel eher eine Mordgeschichte (Freud). Die von ihm erneuerte kritische Theorie und Praxis, die der Abschaffung dieses defizienten Modus der Individual- und Gat-tungsgeschichte gilt, nannte Freud kurzerhand »Wissenschaft«. Seither wird sie immer wieder mit traditioneller Theorie (und mit der an ihr orientierten Technik) verwechselt. Doch zielt die Psychoanalyse nicht auf psychotechnische Nutzung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens, sondern auf die Brechung von Wiederholungszwängen, aus denen solche Gesetzmäßigkeiten resultieren. »Sie wissen, daß der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung nicht zu Ende gekommen ist, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab … Die erste Einwendung, die man hört, lautet, … die Wissenschaft ist zur Beurteilung der Religion nicht zuständig. Sie sei sonst ganz brauchbar und schätzenswert, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt, aber die Religion sei nicht ihr Gebiet, da habe sie nichts zu suchen … Die Religion darf nicht kritisch geprüft werden, weil sie das Höchste, Wertvollste, Erhabenste ist, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, weil sie den tiefsten Gefühlen Ausdruck gibt, allein die Welt erträglich und das Leben lebenswürdig macht … Darauf braucht man nicht zu antworten, indem man die Einschätzung der Religion bestreitet, sondern indem man die Aufmerksamkeit auf einen anderen Sachverhalt richtet. Man betont, daß es sich gar nicht um einen Übergriff des wissenschaftlichen Geistes auf das Gebiet der Religion handelt, sondern um einen Übergriff der Religion auf die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens. Was immer Wert und Bedeutung der Religion sein mögen, sie hat kein Recht, das Denken irgendwie zu beschränken, also auch nicht das Recht, sich selbst von der Anwendung des Denkens auszunehmen … Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (Freud, 1933, S. 182 ff. und S. 197). Freuds »Religions«-Kritik galt den »Neurosen« genannten Privatreligionen ebenso wie den kollektiven; sie destruiert die Intellektuellenreligion
der »Wertphilosophie« und die politischen Religionen unseres Jahrhunderts. Die freudianischen Intellektuellen aber, selbst Teil des »Literaturstandes« der wilhelminischen Ära, adaptierten die heterodoxe Freudsche Aufklärung sogleich der herrschenden „Mandarin“-Ideologie. Um der wissenschaftlichen Reputation willen wurde Freuds kritische Theorie in das Korsett einer Science gepreßt; im Talar der Universitätsphilosophie ihrer Tage sollte sie Karriere machen. Das gelang freilich, soweit es überhaupt gelang, erst im Exil. Doch hat der Neukantianismus sich in Gestalt der Lehre von der (»konfliktfreien«) Autonomie der Ich-Instanz und ihrer Funktionen inmitten der Metapsychologie ein Monument errichtet. Die repräsentativste und (über die späteren Veröffentlichungen ihres Autors) einflußreichste Darstellung einer neukantianisch geläuterten Psychoanalyse war das (1927 erschienene) Buch von Heinz Hartmann: »Die Grundlagen der Psychoanalyse«. An Rickert und Max Weber orientiert, war das L Kapitel der »Psychoanalyse als Naturwissenschaft«, das II. dem Verhältnis von »Psychoanalyse und Geisteswissenschaften« gewidmet. Das Schlußkapitel, »Wertungsprobleme« überschrieben, zeigt exemplarisch, wie der psychoanalytischen Illusionskritik, für die hier Nietzsche einstehen muß, die Spitze abgebrochen wird. Es heißt da, in den Bedenken gegenüber der Psychoanalyse komme »die Angst vor einer Entgottung oder Entgeistigung der Welt« zum Ausdruck, »oder vielleicht richtiger: ein Glaube, daß Werte entwertet würden, wenn die seelischen Zustände, in denen sie verwirklicht sind, genetisch auf wertniedrige Regungen zurückgeführt werden könnten. Wir werden nicht zweifeln, daß es mächtige seelische Kräfte sind, die sich hinter diesem Einwand verbergen, Kräfte, die eine Jahrtausende alte, kulturbildende Geschichte hinter sich haben, und denen wir unsere Achtung nicht versagen dürfen« (romantische Liebe = wollen ficken? Anm. JSB) (Hartmann, 1927, S. 235; von mir hervorgehoben, H. D.). »Der Nachweis unbewußter und triebbedingter Stellungnahmen im Erkenntnisprozeß … darf niemals als polemisches Argument zur Widerlegung wissenschaftlicher Gegner Anwendung finden. Schon deshalb nicht, weil eine >psychologisierende< Argumentation praktisch zu einer Unmöglichkeit, zum Versinken in Abgründe des Subjektivismus führen müßte .. .« (ebd., S. 239; von mir kursiviert, H. D.). »Jeder Versuch, mit analytischen Mitteln in die Sphäre der Geltungen vorzudringen«, sei ein »verbotener Weg« (S. 257). Warum? Hartmann antwortet mit Max Weber: »Fachwissenschaft ist Technik, lehrt technische Mittel; wo aber um Werte gestritten wird, da wird das Problem in eine ganz andere, jeder >Wissenschaft< entzogene Ebene des Geistes projiziert; präziser: eine gänzlich heterogene Fragestellung vorgenommen. Keine Fachwissenschaft … gibt >Weltanschauung<« (a. a. 0., S. 252). »Werte sind an sich nichts Reales, ihnen kommt nicht Wirklichkeit zu, sondern Geltung; sie können sich aber in realen Vorgängen >verwirklichen< . an realen Vorgängen >haften< … Die Objektivität wertender und wertbeziehender Wissenschaften ist letzten Endes nur zu begründen, wenn man die objektive Geltung bestimmter Wertordnungen voraussetzt… Psychoanalyse ist nur als rein empirische Naturwissenschaft zu begründen… Zur Frage nach der objektiven Geltung der Werte, deren psychologische Realisierung sie nach ihrer Entstehung und in ihrem dynamischen Wechselspiel untersucht, kann sie nicht Stellung nehmen« (a. a. 0., S. 242 f.; von mir unterstrichen, H. D.).
Hartmanns Argumentation zielte darauf ab, die Psychoanalyse vermöge »reinlicher Scheidung zwischen Tatsachenfeststellungen und Werturteil« (S. 242) aus dem Kampf der Interessen und »Weltanschauungen« herauszuhalten, ihr ein neutrales Refugium zu sichern, von dessen Existenz alle Klassen und Parteien profitieren könnten, sofern sie die wissenschaftliche Serviceleistung rationeller Mittel-Kalkulation zur Realisierung der von ihnen verfolgten Zwecke in Anspruch nähmen. Sechs Jahre später gab es dann plötzlich nur noch einen Weltanschauungskunden, und der drohte, den Wissenschaftsladen überhaupt zu schließen, wenn er künftig nicht ausschließlich im Wertrealisierungsdienst der einen, siegreichen Weltanschauung arbeite, unter neuem Management, mit »arisiertem« Personal und mit den Reklameslogans des »Dritten Reiches«.
(5) Als die ökonomisch herrschende Klasse, politisch vertreten durch den Reichspräsidenten und die bürgerlichen Parteien, 1933 der massenfeindlichen NS-Massenbewegung den Weg zur Macht freigab und die millionenstarke Zwischenklassenbewegung sogleich die Arbeiterorganisationen, die dem Kampf ausgewichen waren, unter sich begrub, da waren die „Mandarine“, soweit sie nicht der Minorität angehörten, die —Marxisten, Sozialisten, Anarchisten, dezidiert-republikanische Gegner der Faschisten oder »Kulturbolschewisten« — ihr Heil in der Flucht oder im »Untergrund« suchte, ahnungslos, was ihnen und den Millionen von Enttäuschten und Begeisterten bevorstand. Sie lebten im Reservat der durch institutionelle Gewalt nach unten und außen abgeschirmten, selbst der Gewalt entzogenen, großstädtischen Intellektuellenkultur, deren Vernichtung zu den erklärten Zielen der neuen Herren gehörte. Der privilegierte Status einer sozialen Schicht, die sich sozialen Kämpfen jahrzehntelang hatte entziehen können, der es leicht fiel, von den Schattenseiten der bürgerlichen Ordnung abzusehen, weil sie weder das alltägliche Arbeitsleid der Mehrheit erfuhr, noch die Repression, die die rebellierende Minderheit traf, war nun plötzlich zur Disposition gestellt. Wollten die „Mandarine“ nicht den Dienst quittieren, mußten sie mit den braunen Wölfen heulen. Die psychoanalytischen Intellektuellen wurden — trotz Freuds Einsicht in den prekären Status der Gegenwartskultur, trotz der Erfahrung des 1. Weltkriegs und der sozialen Kämpfe, die ihm folgten, trotz Massenpsychologie und Illusionskritik — von »den Ereig-nissen« ebenso überrascht wie andere. Hören wir das Zeugnis des 1899 geborenen Werner W. Kemper, der 1928 in Berlin bei Müller-Braunschweig mit seiner Lehranalyse begann, seit 1934 am dortigen Psychoanalytischen Institut lehrte und 1943, nach der Verhaftung und Hinrich-
tung John Rittmeisters, die Leitung der Poliklinik in dem zum »Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« (»Göring-Institut«) umgewidmeten Hause übernahm:
»Jene neue Welt der beruflich und privat bis zum Bersten ausgefüllten ersten Berliner Jahre« (eben der Krisenjahre der Weimarer Republik mit der Massenarbeitslosigkeit, den Präsidialdiktaturen, den Wahlsiegen der Nazis und den Straßenschlachten) »nahm(en) mich und uns alle — einschließlich der jüdischen Kollegen — derart gefangen« (hier spricht Kemper für die Mehrheit, ignoriert aber die politisch wache Minorität, eben die Ferenczi, Bernfeld, Simmel, Reich und Fenichel …), »daß wir darüber bis noch weit in die dreißiger Jahre hinein den warnenden Signalcharakter gewisser sich häufender Ereignisse >draußen< in dem uns fernliegenden >großen Weltgeschehen< kaum wahrnahmen. Bis wir dann — innerlich und äußerlich unvorbereitet — von den Geschehnissen überrollt wurden. — Seitdem sind Jahrzehnte vergangen, und wir haben in ihnen ungefragt und unfreiwillig einen Anschauungsunterricht über einfach nicht für möglich gehaltene Formen der Macht- und Gewaltpolitik von Diktatur erhalten, (so) daß uns heute die anfängliche Ahnungslosigkeit schwer verständlich erscheint. Mangel an staatsbürgerlicher Erziehung und Einsicht? Naivität? Bequemer Zweckoptimismus? Skotomisierung? Mithin unbewußte Abwehr dagegen, mögliche Entwicklungsverläufe vorauszusehen, die, hätten wir sie erfaßt, unsere eben erblühten beruflichen und sonstigen Wünsche und Erwartungen zerstört haben würden? Daß solche Blindheit nicht nur bei den wenigen von uns, die nicht unmittelbar bedroht waren, bestand, sondern über Jahre fast ebenso bei manchen unserer jüdischen Kollegen, zeigt, wie wenig wir alle damals überhaupt erfaßt haben, wohin der Kurs in den nächsten zehn Jahren gehen könnte. Dabei hatten bereits im November 1933 die jüdischen Mitglieder unserer Gesellschaft die Ämter und Funktionen (Vorstand, Lehrtätigkeit usw.) aufgeben müssen. Ein böser Alptraum — so glaubten wir. Und so was geht ja bekanntlich bald vorüber …« (Kemper, 1973, S. 272 f.).1[iii]
Schon in den letzten Jahren vor dem Hitlersieg hatte eine Reihe von (überwiegend jüdischen) Psychoanalytikern Deutschland verlassen. Von den in den Jahren 1932/33 56 DPG-Mitgliedern waren 1935 mehr als die Hälfte emigriert. Am 10. Mai 1933 verbrannten Nazi-Studenten im Rahmen einer reichsweiten Aktion »Wider den undeutschen Geist« Schriften mißliebiger Autoren, darunter solche Freuds, seiner Schüler und auch die Zeitschrift »Imago«. Parteigrößen und von der »nationalen Erhebung« ergriffene Professoren, diensteifrige Rechtsintellektuelle, die ihre Stunde gekommen sahen, begleiteten die symbolische Ketzerverbrennung (allein in Berlin gingen 20 000 Bände in Flammen auf) mit
markigen Feuersprüchen. Die kulturelle Konterrevolution hatte begonnen.2[iii] Laufe des Jahres erschienen eine Vielzahl von Artikeln und Pamphleten gegen die jüdische, »zersetzende« Psychoanalyse. Alle ihre alten Gegner wußten nun die Staatsmacht hinter sich, neue nutzten die Chance, sich zu profilieren. Der »Börsenverein für den deutschen Buchhandel« und der »Kampfbund für deutsche Kultur« boykottierten u. a. die Publikationen des Internationalen Psychoanalytischen Verlags (in Leipzig). Gerüchte über bevorstehende Maßnahmen und Attacken gegen das Psychoanalytische Institut in Berlin zirkulierten. Die verbliebenen deutschen Psychoanalytiker bangten um den Bestand von Institut und Organisation, um die staatliche Anerkennung von Ausbildung und Therapie. Im November wurden die jüdischen Vorstandsmitglieder der DPG — Eitingon, Simmel und Fenichel — durch Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig ersetzt, um den Nazis, die in den Leitungen wissenschaftlicher Vereinigung keine jüdischen Mitglieder sehen wollten, keinen Vorwand zu liefern, die DPG überhaupt zu verbieten. Boehm und Müller-Braunschweig glaubten, durch geschickte Kompromisse, durch Verhandlungen und durch Kooperation mit Instanzen des neuen Regimes die psychoanalytischen Institutionen auch unter der terroristi-schen Volksgemeinschaftsdiktatur bewahren und also die Psychoanalyse
»retten« zu können.3[iii] Die kompromittierende Kompromißideologie dieses (gescheiterten) Rettungsversuchs dokumentiert Müller-Braun-schweigs im Oktober 1933 veröffentlichter »Reichswart«-Artikel. Müller-Braunschweig (1881-1958) war als Philosoph Schüler von Alois Riehl4[iii] ; auch von Cohn, Rickert und anderen Neukantianern hatte er gelernt. 1909 lernte er die Psychoanalyse kennen und verzichtete ihr zuliebe auf eine akademische Karriere als Philosoph. 1913 promovierte er mit einer schon in den Jahren 1906/07 verfaßten Abhandlung über »Die Methode einer reinen Ethik . .« Ausgebildet von Karl Abraham, war er seit 1923 Dozent an dem im Jahre 1920 von Max Eitingon gestifteten Berliner Psychoanalytischen Institut, dem wichtigsten klinischen und Ausbildungszentrum der damaligen Psychoanalyse. Das Verzeichnis seiner psychoanalytischen Veröffentlichungen (Grinstein, 1958, III, S. 1423-1427; VII, S. 3794) umfaßt ein halbes Hundert Aufsätze, darunter Beiträge zu Problemen der Ethik, des Gottesglaubens, der Religion und der Seelsorge, des Gewissens, der Schuldgefühle, aber auch zu Angst und Desexualisierung, Traumsymbolik und Ausbildungsfragen. (Unter seinen späteren Veröffentlichungen sticht seine Kritik an der »Neo-Analyse« Schultz-Henckes von 1949 hervor; im folgenden Jahr, 1950, trennte er sich mit seinen Anhängern von der Mehrheit der DPG und bildete die DPV, die dann auch von der Psychoanalytischen Inter-nationale anerkannt wurde.)
Das Scheitern des Versuchs, die Psychoanalyse unter faschistischem Regime als Institution zu bewahren, war durch die Ausgangskonstellation vorgegeben. Erwünscht war in gewissen Kreisen des neuen Regimes eine »Deutsche Psychotherapie«. Eine personell »arisierte« und »weltanschaulich« neutralisierte Psychoanalyse, reduziert auf den Status einer
Psychotherapie unter anderen (vielleicht einer besonders interessanten), konnte durchaus noch eine Zeitlang toleriert werden. Im September 1933 wurde (als Nachfolgeorganisation der 1926 ins Leben gerufenen »Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie«) eine »Deutsche Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie« gegründet, die nationale Untergruppe eines internationalen Dachverbandes, dessen Vorsitzender C. G. Jung wurde. Die deutsche Sektion wurde von M. H. Göring geleitet, einem Wuppertaler Neurologen und Vetter des Gründers der Gestapo und späteren »Reichsmarschalls«, Hermann Göring. Unter M. H. Görings Ägide und Patronat vollzogen sich die Eingliederung der Psychoanalyse in die »Deutsche Psychotherapie« und ihre Marginalisierung. Die verbliebenen jüdischen Psychoanalytiker mußten 1935 aus der DPG ausscheiden. Im Jahr darauf ging das Berliner Psychoanalytische Institut in einem »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie e. V.« auf. Die Psychoanalytiker teilten nun ihre Räume und die Bibliothek mit den anderen therapeutischen Schulen. Im gleichen Jahr wurde der Austritt der DPG aus der IPV erzwungen. Der psychoanalytische Verlag in Leipzig wurde beschlagnahmt. 1938 versuchte Müller-Braunschweig, nach dem sogenannten »Anschluß« Österreichs, die Hinterlassenschaft der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ebenfalls dem »Göring-Institut« anzugliedern und so zu »retten«. Wegen eines der Gestapo in die Hände gefallenen Briefes an Anna Freud fiel er dann aber selbst in Ungnade und erhielt ein Lehr-und Publikationsverbot. Das Jahr 1938 brachte auch ein perfektioniertes Verbot psychoanalytischer Literatur und die Auflösung der DPG, deren Mitglieder freilich im Rahmen des Instituts als »Arbeitsgruppe A« ihre Tätigkeit fortsetzen konnten. Nach der Verhaftung und Hinrichtung (1942/43) des Leiters der Klinischen Abteilung, John Rittmeister, der mit der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« zusammengearbeitet hatte, führten die Psychoanalytiker am Institut nurmehr ein »Katakombendasein« (Kemper). Sie hielten »Referatenabende für Kasuistik und Therapie« ab; Freuds Name durfte seit langem in Veröffentlichungen nicht mehr erwähnt werden, seine Schriften wurden im »Göring-Institut« sekretiert; Freudsche Termini wie »Ödipus-Komplex« waren verpönt und mußten in Diskussionen umschrieben werden. Im umkämpften Berlin erhielt Institutsleiter Göring, der in (für ihn) besseren Tagen meinte, »das Wichtigste« sei, »daß jeder bestrebt ist, seine Gedanken dem nationalsozialistischen Staat dienstbar zu machen«, und »daß kein Mensch Wert an sich hat, daß vielmehr der Wert des Menschen in seinen Leistungen für die Gemeinschaft liegt« (Göring, Hg., 1934, S. 16 und 15), den ehrenvollen Auftrag, »die Gegend unseres Institutes gegen die vorrückenden Russen bis zum Letzten zu verteidigen« (Kemper, 1973, S. 287). Wenige Tage vor Kriegsende aber wurde das Institut selbst von Bomben getroffen und ging (samt Bibliothek und Archiv) in Flammen auf. Die Rettungsmission Müller-Braunschweigs und Boehms war nur insoweit nicht gescheitert, als bis gegen Kriegsende im »Göring-Institut« noch psychoanalytische Fragen in Tarnsprache erörtert, junge Psychotherapeuten auch mit psychoanalytischen Praktiken bekanntgemacht und bedürftige Patienten analysiert werden konnten. Das alles hätte freilich auch ein privater Kreis von freiberuflich tätigen Ärzten, Psychologen und »Laien« leisten können, ohne die vielen kläglichen Kompromisse für den Erhalt des prekären staatlichen Schutzdachs des »Göring-Instituts« bringen zu müssen. (Die Psychotherapie aber hätte ihren Aufstieg zu Professionalisierung und Institutionalisierung im »Dritten Reich« ohne die »Katakomben-Psychoanalyse« wohl noch unbeschwerter zuwege gebracht.) (6) Für Boehm und Müller-Braunschweig stand 1933 die Rettung der Psychoanalyse als Institution im Vordergrund. Daß für eine therapeutisch tätige, internationale Gruppe atheistisch-materialistischer Aufklärer die selbstgeschaffenen Institutionen kein Selbstzweck sind, ihr Erhalt kein »oberster Wert«, haben sie nicht gesehen. Daß die Vertreter der »Psychoanalyse« geheißenen befreienden Kritik an privaten und kollektiven Illusionen mit einem rassistischen Führerstaat nicht friedlich koexistieren können, sondern ihn bekämpfen (zumindest sich seiner Kontrolle entziehen) müssen, so wie auch er sie bekämpfen muß, das haben auf seiten der Psychoanalyse nur sehr, sehr wenige (wie John Rittmeister) verstanden. Ernest Jones hatte die institutionell orientierte Politik der DPG-Leitung, wohl um für seine groß angelegte Rettungsaktion für gefährdete Psychoanalytiker5[iii] Zeit zu gewinnen, gebilligt; Freud selbst hatte sie, obschon grollend, toleriert.6[iii]
Daß ausgerechnet ein Fachmann für ethische Fragen wie Müller-Braunschweig die Dialektik von Mitteln und Zwecken, derzufolge. zur Realisierung bestimmter Ziele nicht beliebige Mittel einsetzbar sind, bestimmte Ziele vielmehr bestimmte Mittel ausschließen (weil Mittel nicht zielneutral sind, sondern selbst Zielvariationen vorgeben), übersah, entbehrt nicht einer traurigen Ironie. Nur wer in bezug auf den politischen Gegner, den faschistischen Staat (seine Organe und Parteigänger) ahnungslos war und zudem den wissenschaftlichen und politischen Status der Psychoanalyse in verhängnisvoller Weise verkannte, konnte auf die Idee kommen, Freuds »zersetzende, jüdische Wissenschaft« (NS-Jargon) werde in einem von Parteigenossen geleiteten Staatsinstitut in der Reichshauptstadt am besten aufgehoben sein und dort die »tausend Jahre« des »Dritten Reiches« überdauern können. Müller-Braunschweigs Artikel vom Herbst 1933 diente der ideologischen Vorbereitung und Absicherung des ihm vorschwebenden Überlebenskompromisses der Restgruppe der deutschen Psychoanalytiker mit dem Hitler-Staat. Der Text dokumentiert einen bis zur Selbstaufgabe vorgetriebenen Anpassungsversuch. Vor den staunenden Auges des irritierten Lesers von heute erhebt sich aus den vergilbten Seiten der alten Nazi-Zeitschrift die Schimäre einer >braunen Psychoanalyse<.
Der »Reichswart«, der 1933 im 14. Jahrgang erschien und im Untertitel als »Nationalsozialistische Wochenschrift und Organ des Bundes Völkischer Europäer / Organe de L’Alliance Raciste Europeenne« firmierte, war die großformatige, meist 4 Seiten umfassende Wochenzeitung des Grafen Ernst zu Reventlow (1869-1943). Der ist, 40 Jahre nach seinem Tode, längst vergessen; die Lexika führen nurmehr seine Schwester Franziska, deren Romane aus der Münchner Boheme (»Herrn Dames Aufzeichnungen«, 1913) noch immer gelesen werden. Der Graf war zunächst Marineoffizier, dann politischer Schriftsteller; vor dem 1. Weltkrieg stand er dem Alldeutschen Verband nahe, nachher gehörte er zur Deutschvölkischen Bewegung. Als die KPD im Sommer 1923, im Zeichen von Ruhrbesetzung und Inflation, einen Volkskrieg gegen Frankreich propagierte und die Völkischen umwarb (Karl Radeks nationalbol-schewistischer »Schlageter-Kurs«), um der deutschen Revolution wie der sowjetischen Außenpolitik Auftrieb zu geben (Schüddekopf, 1960, Kap. 15; H. Weber, 1961, S. 27 f.; Flechtheim, 1969, S. 177 ff.), erschienen Aufsätze Reventlows sogar in der »Roten Fahne«. Seit 1924 war er Reichstagsabgeordneter, 1927 wurde er Mitglied der NSDAP. Nun vertrat er vor allem die Ideologie eines »deutschen Sozialismus« (mit scharfer Wendung gegen Bourgeoisie und großes Kapital), die Phantasie von der »Vernichtung« der Klassen im Rahmen einer »deutschen Volksgenossenschaft« und den Hitler-Kult (vgl. sein Buch »Nationaler Sozialismus im neuen Deutschland«, 1932/33). 1933-36 war er führend in der sogenannten »Deutschen Glaubensbewegung« tätig und blieb bis zu seinem Tode ein in Parteikreisen hoch geschätzter Publizist (»Von Potsdam nach Doorn«, 1940). Ein Blick auf die Jahrgänge 1932/33 des »Reichswart« zeigt, in welch sinistrer Arena die kollaborationsbereite Psychoanalyse ihr Debüt gab. Reventlow und Mitarbeiter schrieben unentwegt gegen Aufklärung, Liberalismus, Intellektualismus, Dialektik und Judentum, propagierten die Wirtschaftsautarkie und die »Gesamtvolksgenossenschaft«. Seit dem 6. 8. 1932 war die Titelseite mit einem Hakenkreuz geschmückt; im September wurde der »Reichswart« sogar für kurze Zeit verboten. Leitartikel einzelner Ausgaben sprechen eine deutliche Sprache: »Wir sind Arbeiterpartei« (12. 11. 1932); »KPD verschwinden lassen« (29. 1. 1933); »Nur durch Vernichtung des Kapitalismus: Sieg über den Marxismus!« (26. 2. 1933). Von Zeit zu Zeit nahm der »Reichswart« auch zu kulturellen Fragen Stellung: »Einige Bemerkungen zu Richard Wagner« (16. 4. 1933); »Baukunst und Rasse« (30. 4. 1933); »Kant und seine Ausleger« (28. 5. 1933); »Adolf Hitler über Kunstfragen« (27. 8. 1933); »Religion und Rasse« (15. 10. 1933). Zur »Judenfrage« hieß es am 12. 11. 1933 unter der Überschrift »Niemand will sie«
»Wir Deutschen sehen unsere Aufgabe darin, das jüdische Element aus unserem Vaterlande auszumerzen, nicht für die Welt zu sorgen. Diese Ausmerzung wird ihren folgerichtigen Fortgang nehmen und allerdings der Welt einen Anschauungsunterricht geben, der vielleicht einmal Früchte trägt.«
Die Nr. 42 des 14. Jahrgangs, die am »22. Gilbhard (Oktober) 1933« erschien und auf den Seiten 2 und 3 den Artikel von Müller-Braunschweig brachte, begrüßte im Leitartikel »Adolf Hitlers Entscheidung« (nämlich den Austritt aus dem Völkerbund); dann folgte ein Dank an die Parteiführung der NSDAP wegen einer »Verfügung« von Rudolf Heß, die »der Drangsalierung der Nichtchristen« ein Ende mache: »Die Gewissensfreiheit ist da!« Darauf »Psychoanalyse und Weltanschauung«. An-schließend der Schluß eines Fortsetzungsartikels »Öl auf die Wogen«, dessen Autor Van Amstel bei den Holländern um Sympathie für Hitlerdeutschland warb: »Ohne Hitler wäre Deutschland jetzt ein Sowjetstaat, der die Unabhängigkeit der Niederlande bedrohen würde; infolgedessen ist Holland Hitler großen Dank schuldig.« Mit einer Zuschrift gegen »Zwangsgottesdienst« und einem Auszug aus Martin Luthers »Von den Jüden und ihren Lügen« (aus dem Jahre 1543) trug die Zeitschrift zum Kirchenkampf bei und bereitete sich auf ihre Rolle als »Organ der Ar-
beitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung« (ab 31. 12. 1933) vor. Den Beschluß machte ein Plädoyer für eine »Gegenwartsnahe Geschichtswissenschaft« von F. Morré — die Historiographie müsse »wieder eine Dienerin unseres Volkskörpers werden«.
Die Vergeblichkeit des Versuchs, einigen tausend oder zehntausend Nazi-Lesern eine zeitgemäß umgeschminkte Psychoanalyse als >volksgemeinschaftsfähig< zu präsentieren und so Duldung zu erwirken, wurde auch im »Reichswart« selbst deutlich, als in Nr. 45 (vom 12. 11. 1933) ein Dr. Eduard Winkler aus Berlin-Halensee unter gleichem Titel (»Psychoanalyse und Weltanschauung«, S. 3) replizierte und Reventlow darauf die Diskussion für abgeschlossen erklärte (S. 4). Das völkische Publikum ließ sich nicht täuschen: Selbst als man der Psychoanalyse hinter den Kulissen den weltanschaulich neutralen „Mandarin“-Talar abstreifte und sie im Braunhemd auf die Bühne schickte, ward sie ausgepfiffen. (7) Müller-Braunschweig hat sich zweimal zur Frage »Psychoanalyse und Weltanschauung« geäußert: zuerst bei Gelegenheit eines Vortrags auf der Tagung der DPG in Dresden am 29. 9. 1930 (der in der »Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik« abgedruckt wurde), dann, drei Jahre später, im »Reichswart«. (In Grinsteins »Index of Psychoanalytic Writings« werden beide Aufsätze fälschlich miteinander identifiziert; vgl. 1958, III, S. 1425, Nr. 23862.) Der Dresdener Vortrag wurde zwei Wochen nach den Septemberwahlen von 1930 gehalten, aus denen die NSDAP mit 107 (statt, wie zuvor, 12) Reichstagsmandaten hervorging und nach denen es keine auf parlamentarische Mehrheiten gestützte Regierungen mehr gab, sondern (präventiv-)bonapartistische Präsidialregierungen, deren letzte dann die Hitlerkoalition vom 30. 1. 1933 stellte. Als der »Reichswart«-Aufsatz erschien, lief in Leipzig der Reichstagsbrand-Prozeß; mit dem »Reichskulturkammergesetz« vom 22. 9. und dem »Schriftleitergesetz« vom 4. 10. waren neue Marksteine der kulturellen »Gleichschaltung« gesetzt worden; längst waren (nach dem Reichstagsbrand) die politischen Gegner der Nazis durch Verbot und Terror ausgeschaltet; die bürgerliche Reichstagsmehrheit hatte (bei Ausschluß der KPD und gegen die Stimmen der SPD) mit dem »Ermächtigungsgesetz« zugunsten der Hitlerdiktatur abgedankt; die Gewerkschaften waren aufgelöst, die Parteien verboten; eine erste Pogromwelle, flankiert von rassistischen Ausschluß- und Boykottmaßnahmen, hatte deutlich gemacht, welches Schicksal den deutschen Juden drohte . Die beiden Aufsätze Müller-Braunschweigs aus den Jahren 1930 und 1933 dokumentieren eine in zwei Schritten vollzogene Kapitulation vor den kommandierenden Bedürfnissen der »nationalen Erhebung«. Schon
im Dresdener Vortrag kehrte die eben noch in neukantianischer Manier aus der psychoanalytischen Wissenschaft verdrängte »Weltanschauung« unversehens als zwar »formale«, doch auch »wuchtige« und »stärkste« wieder, ja, die >talking cure< selbst entpuppte sich als ein »Stahlbad«. Im »Reichswart« wurde dann das Gestaltungs-Verbot, das 1930 noch die Reinheit der Wissenschaft garantieren sollte, aufgehoben: die Umformung »unfähiger Weichlinge« »zu Dienern am Ganzen« galt nun als »hervorragende Erziehungsarbeit« einer von »destruktiven Geistern« befreiten Psychoanalyse, deren Sprecher sich auch selbst in den Dienst der »gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszu-gewandten, aufbauenden Lebensauffassung« zu stellen gelobte (1933, S. 3) 1930 begann Müller-Braunschweig seinen Vortrag mit einer scharfen Trennung von Welterklärung (als Funktion der empirischen Naturwissenschaft, d. h. auch der Psychoanalyse) und Weltgestaltung (der »Ent-scheidungen« zugrunde liegen, die sich an außerwissenschaftlichen, »weltanschaulichen« Werten und Normen orientieren). Psychoanalyse wurde ausschließlich als Erforschung der Ontogenese und als Therapie präsentiert, die Ontogenese nicht als Sozialisation, sondern als ein (störbarer) Naturprozeß gefaßt. Der Idealtypus einer ungestörten Ontogenese ist freilich eine »Tatsachen-Norm«, an der der Therapeut, der Störfaktoren aufdecken soll, sich (wie ein Wanderer an Gestirnen) orientiert. Die Normalitäts- Norm ist keine »fordernde Norm«. Die Herkunft der Wachstumsstörungen aber, die die Psychoanalyse bei ihren Patienten antrifft, bleibt einigermaßen im dunkeln: »Indem sie das, was stö-rend zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen steht, durch die Wiederbelebung und Neuverarbeitung jener kindlichen Konflikte, aus denen diese Störungen entstanden, aufhebt, bringt sie den Menschen in neue, befriedigendere und fruchtbarere Beziehungen zu ihnen« (1930, S. 352 f.). Auffällig an dieser Psychoanalyse-Präsentation ist vor allem, daß die kritische Kulturtheorie Freuds von Müller-Braunschweig als inexistent behandelt wird. Und das in einer Situation, da sich die NS-Massenbewegung zum Sturm auf den Staat rüstete, ihre Führer kollektive Illusionen in politische Gewalt umzusetzen begannen und Freud prognostizierte, die bestehende Gesellschaft werde an einem Übermaß nicht absorbierbarer Destruktivität zugrundegehen (sofern nicht »Eros« interveniere (Eros ist nicht Ficken, sondern Caritas. Anm. JSB). In den Kapiteln IV und V seines Aufsatzes kam Müller-Braunschweig auf die »weltanschaulichen Wirkungen« der Psychoanalyse, die ja selbst keine »Weltanschauung» sein sollte, zu sprechen. War zuvor schon das Ziel der Therapie als »möglichst weitgehende Eroberung des Es, der Außenwelt und des Über-Ich durch das Ich« (S. 350 f.), zugleich aber als die Erlangung »einer größeren Fähigkeit, die Außenwelt so zu nehmen, wie sie ist« (5. 350), umschrieben worden, und wurde diese Kombination von diktatorischer Ich-Autonomie (»Freiheit«) und Konformismus dann noch einmal unter dem Titel eines »reifen, Selbstverantwortung fordernden Über-Ich« beschworen, so betonte der Autor jetzt die Vereinbarkeit der Psychoanalyse mit einer »idealistischen Weltanschauung«, mindestens aber mit dem »praktischen Idealismus«. Denn wodurch werden Veränderungen in der Therapie ausgelöst? »Doch durch die immer-währenden, immer neu zu betätigenden geistigen Akte sowohl des Analytikers wie des Analysanden« (5. 354). Und: die psychogenetische Ent-larvung »idealer Gesten und Behauptungen« als »trügerischer Ideologie« hat keineswegs »dem Eigenwerte der Ideale und der Möglichkeit idealen Denkens und Handelns Abbruch getan« (S. 354). Soweit die Psychoana-lyse desillusioniert, leistet sie gerade der »ehrlichsten, unerschrockensten und stärksten Weltanschauung« Vorschub. (Dies eben war das Gelenk, das »Psychoanalyse und Weltanschauung« von 1930 mit »Psychoanalyse und Weltanschauung« von 1933 verband.) »Nicht allen« freilich »bekommt ein solches >Stahlbad<«, in das sie als »zerstörende« Menschen eintauchen und aus dem sie als »aufbauende« wieder hervorgehen, »nicht jeder besitzt den Prozentsatz Heroismus, der Voraussetzung dafür ist, sich mit der Psychoanalyse zu beschäftigen« (S. 353). Und die »bisher nicht gekannten Abgründe«, das »Grauenhafte«, das »die Forschung bringen kann«, gar das Unbehagen in der Kultur? Darüber kommt die heroisch-optimistische, weltanschauungsfreie Weltanschauung leicht hinweg: Ist die »pseudoidealistische Weltansicht« durch das Fegefeuer der Psychoanalyse gegangen, realistisch gemildert, so »dürfen wir dem Ganzen von Welt und Leben ein neues Vertrauen und eine neue Liebe entgegenbringen« (S. 355).
Derart gerüstet, ging es ins Jahr 1933. Und schon in dessen Herbst »fordert(e)« »die gegenwärtige Gesamtlage … erneute Einwertung« (1933, S. 3) der Psychoanalyse. Drei »Mißverständnisse« vor allem galt es auszuräumen: Zum einen predige die Psychoanalyse nicht ein »Ausleben« der Sexualität, sondern bezwecke die Befreiung aus deren Fesseln; der neurotische Konflikt sei einer zwischen dem »geistigen Ich« und dem gesamten Trieb- und Affektleben. Zum andern gehe die Psychoanalyse nicht »von ungeistigen, materialistischen Voraussetzungen aus«, auch gelte ihr der Mensch nicht »einseitig als ein rein triebhaftes Wesen«; sie unterstütze vielmehr die Machtergreifung des »synthetischen,
regulierenden, ausgleichenden« Ichs (in dem ja schließlich auch noch das Gewissen wirke). Weiterhin sei die Psychoanalyse zwar »wie jede Wissenschaft auseinanderlegend«, doch keineswegs »zersetzend« oder »undeutsch«. Allerdings sei sie gelegentlich durch Dilettanten in Mißkredit gebracht worden. Auch »ist zuzugeben, daß sie ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt« (1933, S. 3) .. . Vorausgesetzt, die Psychoanalyse sei überhaupt ein »Instrument«, war eben dies ja auch die Meinung der neuen Herren, die doch sogar die weitere Anwendung des Ausbeutungs-»Instruments« Kapital gern duldeten, sofern es nur in den Händen von »Volksgenossen« lag.
(8) Vestigia terrent (Die Spuren schrecken Anm.JSB). Zweimal schon haben Psychoanalytiker versucht, sich über das Verhältnis der Freudschen kritischen Theorie und Praxis zur kulturellen Entwicklung, zu den sozialen und politischen Kämpfen zu verständigen. Das eine Mal am Vorabend des 1. Weltkriegs — in Gestalt einer Erörterung des Verhältnisses von Psychoanalyse und »Philosophie« (Putnam, Ferenczi, Reik, Tausk, Freud). Das andere Mal in Gestalt der »Weltanschauungsdebatte« (Freud, Pfister, Hartmann, Bernfeld, Müller-Braunschweig, Reich), als sich der Untergang der Weimarer Republik abzeichnete und dann jenes Reich begründet wurde, das den 2. Weltkrieg und den »Holocaust« über die Menschheit brachte. Gegenwärtig erleben wir eine Neuauflage dieser inner-psychoanalytischen Diskussion, während die Krise unserer Kultur einem neuen Höhepunkt zutreibt. Abermals steht der Status der Freudschen Theorie zur Debatte. Und um nicht abermals »von den Geschehnissen überrollt« zu werden (Kemper), fragt eine neue Psychoanalytiker-Generation, welche Möglichkeiten der Orientierung in dieser Welt gerade ihr »Beruf« bietet, und entdeckt darum am Original der Freudschen Aufklärung mehr und anderes als viele ihrer Vorgänger. Um zu überleben, dürfen die Psychoanalytiker — wie andere Intellektuelle — sich heute so wenig wie 1914 oder 1933 selbst bescheiden, selbst entwaffnen. Sie werden kämpfen müssen — mit der Waffe der Freudschen Kritik wie mit den politischen Waffen von Protest und Widerstand.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Helmut Dahmer, Friedrichstr. 50, 6000 Frankfurt 1)
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YIGAL BLUMENBERG
Eine Historiographie ohne Erinnerung?
Die Wiederkehr des Verdrängten durch (Affekt)Isolierung des Antisemitismus in »Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936« von M. Schröter*
Übersicht: Der vorliegende Kommentar problematisiert M. Schröters Historiographie der »zeitgenössischen Perspektive der Akteure« der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in den Jahren 1933-36. Seine Vorstellung einer »historischen Einheit« dieser Jahre basiert auf der Abstraktion von Neid- und Insuffizienzgefühlen wie auch archaischen Vernichtungsängsten und -wünschen der deutschen Analytiker in der Beziehung zu den jüdischen Kollegen und dem Phantasma einer »jüdischen Psychoanalyse«. Damit versagt (sich) eine solche Historiographie im Durcharbeiten und Erinnern tieferer Identifizierungen, schließt sich aus der mit den 1935 ausgeschlossenen jüdischen Psychoanalytikern aus und reinszeniert die Dissoziation im Verhalten der deutschen »Akteure« in der NS-Zeit.
Schlüsselwörter: Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG); Antisemitismus und Nationalsozialismus; Psychoanalyse und Judentum
Die Untrennbarkeit des »ArchivMaterials« vom Blick des Historiographen
Schröters historiographische Arbeit wirft mit dem Archiv-Material einmal mehr die Frage auf, was uns die Historie bedeutet. Diese Frage aber zieht die nächste nach sich, nämlich welche Rolle die (individuelle und kollektive) Erinnerung in der Geschichtsschreibung spielt. So sehr der Historiker sich auf das Archiv-Material beziehen muss, so ist er ihm doch keineswegs unterworfen. Vielmehr beginnt seine Freiheit und wesentliche Arbeit als Historiker gerade in dem Moment, in dem das letzte Dokument zur Kenntnis genommen wurde und der Raum der Interpretation sich er-öffnet. Denn – es kann nicht anders sein – das »bisher unbekannte Archiv-Material« (Schröter 2009, S. 1085) ist ausgewählt und die Darstellung nimmt ihren Ausgangspunkt in einer bestimmten Interpretation des Historiographen. Auf diese Weise kommen Identifizierungen und Erinnerungen M. Schröters ins Spiel, befinden sich bereits von Anfang darin, bleiben mit dem Archiv-Material untrennbar verknüpft und werden dergestalt zu einem integralen Teil seines Textes. So begegnet dem Leser zuallererst der Autor und keineswegs »bloße Fakten«, die nahelegen könnten, der historiographische Artikel sei keine Konstruktion. Demgegenüber scheint M. Schröter in seiner Erwiderung auf D. Beckers Anmerkungen (2010) eine geradezu entgegengesetzte Perspektive einzunehmen: »Gleichwohl gilt: Das erste und letzte Wort hat das Material; es muss gegenüber Wünschen und Affekten des Autors, die in die Deutung einfließen können, unablässig als Korrektiv aufgerufen werden« (Schröter 2010, S. 262). Eine solche Rede von einem Historiographen der Psychoanalyse muss verwundern: Bekanntlich hat das »erste und letzte Wort« der Deuter und Autor; das »Material« kann nicht sprechen. Für M. Schröter besteht die »wissenschaftliche Betrachtungsweise« gerade darin, »affektiv distanziert, quellengestützt, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit für möglichst viele Aspekte des behandelten Felds« (S. 263) offen zu sein. Zweifellos muss der Historiograph sich auf die Spuren der Vergangenheit stützen. Aber er darf nicht vergessen, dass seine Aufmerksamkeit auf jene Spuren bereits eine (i. w. S. übertragungsgeleitete) Einnahme eines (historiographischen) Raumes bedeutet, den jene anwesenden Spuren der Vergangenheit eröffnen. Umso mehr, wenn er vom Leser eine empathische Lektüre (zu Recht) erwartet; ein »affektiv distanziertes« Lesen wäre mithin geradezu kontra-indiziert und verunmöglichte eine »gleichschwebende Aufmerksamkeit«.
Die Abstraktion einer »historischen Einheit«
Schröter möchte den Blick des Lesers auf den Zeitabschnitt der Jahre 1933-1936 fokussieren: Diese »Jahre bilden insofern eine historische Einheit, als in ihnen die Hoffnung, daß sich die psychoanalytische Tradition auch unter den Bedingungen des Nazi-Regimes würde fortsetzen lassen, noch weithin lebendig und durchaus begründet war« (2009, S. 1086f.; Hervorh. Y. B.). Dieser »relativ enge zeitliche Fokus« (ebd.) des Historiographen erlaube es, »die Geschichte der Psychoanalyse im Dritten Reich weniger vom Ende her zu betrachten als aus der zeitgenössischen Perspektive der Akteure und […] als einen unabsehbaren Prozeß, in dessen Phasen sich jeweils verschiedene Spielräume des Verhaltens boten« (S. 1087). Der Leser wird also aufgefordert, von dem historischen Verlauf nach 1936 zu abstrahieren und sich mit dem mutmaßlichen Blick der Analytiker der DPG zu identifizieren; er soll davon absehen, was jene auch nicht wissen konnten – sprich: vom Wissen um die von den nationalsozialistisch identifizierten Deutschen initiierte endgültige Vertreibung und Ermordung jüdischer Analytiker. Hier soll also gerade die Erinnerung nicht in die Historiographie aufgenommen, vielmehr vermieden und isoliert werden.
Wie aber ist ein solches Absehen von dem wie auch immer repräsentierten historischen Verlauf möglich? Was für eine Anstrengung um die Aufrechterhaltung eines »Nicht-Wissens« – und hier scheint mir bereits jene Rede vom »Wir haben nichts davon gewusst« mitzuschwingen – verlangt der Text vom Leser, der im Jahre 2009 von den vergangenen 73 Jahren abstrahieren soll? Wie kann von der eigenen (auch) unbewussten Identifikation und der Beziehung zu den (analytischen) Eltern und deren Tradi-tion abstrahiert werden? Von der deutschen Nachkriegsgeschichte, die mit der Wiedervereinigung Deutschlands und nun auch mit der »Wieder«-Aufnahme der DPG in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung abgeschlossen scheint? Als ob ein Bruch in der Zeit gedacht und zugleich gedanklich vom Bewusstsein ausgesperrt werden soll.
Die Abstraktion vom Antisemitismus als Voraussetzung einer »historischen Einheit« Diese Abstraktion resp. Konstruktion einer »historischen Einheit« abstrahiert allerdings von der Problematik der Judenfeindlichkeit, die bekanntlich die gesellschaftlichen Bedingungen bereits der Jahre 1933-36 und damit auch das Handeln der Akteure jener Zeit wesentlich bestimmt hat und von der ja auch jene »historische Einheit« ihren Ausgangspunkt – nämlich mit der »Machtverleihung« an A. Hitler und die Nationalsozialisten 1933 -nimmt. In der »Erwiderung« auf D. Becker weist M. Schröter zwar darauf hin, dass er »Vorgänge benannt [habe], die [er] schmerzhaft finde, so die Ausnutzung des antisemitischen Regimes für die Etablierung einer >deutschen< Psychoanalyse oder den Ausschluss der jüdischen Kollegen aus der DPG Ende 1935 und den Abbruch aller Kontakte zu ihnen« (2010, S. 262f.; Hervorh. Y. B.). Aber die Rede vom »Ausnutzen« insinuiert ein instrumentalisierendes Handeln, dem ein judenfeindliches Ressentiment äußerlich bleibt. Der vorliegende Kommentar versucht demgegenüber deutlich zu machen, dass das »Ausnutzen« des antisemitischen Regimes vielmehr selbst eine (Teil-)Identifizierung mit der Judenfeindlichkeit manifestiert, von der allerdings geschwiegen wird. Ein Schweigen, das als ein unausgesprochenes und heimliches Zentrum jener fokussierten »historischen Einheit« erscheint und eine andere mehr oder minder ausgesprochene Abstraktion mitschwingen lässt: Der Spuk einer »jüdischen Psychoanalyse« als eine »historische Wahrheit« (Freud 1939a) und Diffamierung. So entsteht der Eindruck, dass die nicht stattgefundene Auseinanderset-zung der Akteure jener Zeit mit judenfeindlichen Ressentiments sich im Text M. Schröters aufblättert und gleichsam reinszeniert.
Die (Gegen-) Übertragung auf den (gegen-)übertragenden Text
Beckers »zunehmend negatives Gefühl« (2010, S. 258), das sich in der Lektüre des Textes von M. Schröter einstellte, scheint aus den Schwierigkeiten zu entspringen, die vom Text erwartete »Einfühlung« aufzubringen. In der Tat macht sich ein Unbehagen bemerkbar, das aus einer Denkhemmung entspringt, einer Lähmung, den Text »anzunehmen«, der widersprüchliche Anstrengungen im Lesen verlangt. Schon allein jene vom Text geforderte Abstraktion vom Wissen um das Geschehen nach 1936 verlangt vom Leser, eine bewusste Anstrengung aufzubringen, zu dissoziieren und zu spalten; eine affekt-isolierende Lektüre, die geradezu alle Erinnerung aussperren soll1 . Bekanntlich vollziehen sich solche Bewältigungs- oder Abwehrstrategien unbewusst. Diese (nicht nur) kognitive Anforderung bewirkt daher im Lesen eine Hemmung des freien Spiels unserer Gedanken, Einfälle und Phantasien, was schließlich das Denken zu lähmen droht – ein typisches Phänomen eines aller Freiheit beraubten und totalisierten Denkens. (Das dann kein Denken mehr, sondern lediglich ein Rezipieren, Entgegennehmen, Übertragung. Anm. JSB) Dies scheint den Eindruck zu bestärken, dass – qua identifizierender Erwartung M. Schröters – sich das Handeln, Denken und Fühlen der Akteure jener Zeit im Text als eine (Gegen-)Übertragung (auf die Spuren jener Zeit) unreflektiert einschreibt.
Zudem ist es kaum verwunderlich, dass – und die bisherigen Diskussionsbeiträge von D. Becker (2010) und E. Brainin & S. Teicher (2010) zum Aufsatz von M. Schröter illustrieren es in aller Deutlichkeit – eine solche geforderte Abstraktion, die die Erinnerung vermeiden soll und im Text die Spuren jener Zeit vergegenwärtigt, heftige Affekte mobilisiert und vielfältige Formen und Ausprägungen von (Gegen-)Übertragungen auslöst. Es wäre geradezu merkwürdig und »unheimlich«, wenn die (Lektüre der) Darstellung des Handelns der Akteure jener Zeit und des mit 1933 in Gang gesetzten Ausschlusses der Juden aus der gesamten deutschen Gesellschaft und im Besonderen aus der wesentlich von jüdischen Analytikern gegründeten Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft keine Affekte auslöste. Der Zivilisationsbruch der Shoah, der von einer Judenfeindlichkeit wesentlich bestimmt ist und sich auch in dem erzwungenen Ausschluss der jüdischen Analytiker aus der DPG manifestierte, lässt keinen unbeteiligt. In diesem Lichte kann es sich gerade nicht in erster Linie um eine »richtige« oder »falsche« Interpretation jener Spuren der Vergangenheit handeln; vorausgesetzt, das vorliegende Material wird konsistent und kohärent zu interpretieren gesucht.
Der Widerspruch zwischen »deutschen« Analytikern und »Juden«
Schon in der Übersicht des Artikels wird der Leser, der »die in Deutschland verbliebenen Analytiker zu verstehen sucht und ihnen nicht a priori die Einfühlung verweigert« (Schröter 2009, S. 1085) – sucht nicht jeder Leser zu verstehen? – auf einen Konflikt hingewiesen, »der sich nicht schlichten lässt« (ebd.): Sich in die deutschen Analytiker einzufühlen, führe zu einem »Widerspruch zur gleichzeitigen Identifikation mit den vertriebenen Juden« (ebd.). Der Leser hat noch nicht den ersten Satz des Aufsatzes gelesen und wird sofort in einen vom Historiographen interpretierten Konflikt und Widerspruch zwischen den »in Deutschland verbliebenen Analytikern« und den »vertriebenen Juden« hineingezogen. Handelt es sich denn nicht auch um die (vertriebenen) jüdischen Analytiker? Und was bedeutet der bemerkenswerte Ausdruck »in Deutschland verbliebene Analytiker«? Hätten sie denn auch vertrieben werden können? Wollten sie denn emigrieren – die deutschen Analytiker? Haben sie sich denn mit den jüdischen Analytikern identifiziert? Diese eben benannten, sich ausschließenden Identifizierungen unterscheiden von Anfang an zwischen Analytikern und den Juden, zwischen denen offenkundig ein Gegensatz besteht und der uns als ein verschwiegener roter Faden begleitet.
Das Handeln E Boehms und C. Müller-Braunschweigs
Kann der Text tatsächlich jene behauptete lebendige und begründete Hoffnung der deutschen Analytiker – qua Einfühlung des Lesers – deutlich machen, »daß sich die psychoanalytische Tradition auch unter den Bedingungen des Nazi-Regimes würde fortsetzen lassen«?
»Aktiv« (S. 1090), ohne es mit den Kollegen zu erörtern und ohne dass es von Seiten der nationalsozialistischen Bürokratie an die DPG herangetragen worden sei, fragte F. Boehm an offizieller Stelle im April 1933 – also drei Monate nach der »Machtverleihung« an A. Hitler – nach, ob auch in der DPG – wie in allen ärztlichen Standesorganisationen – alle jüdischen Funktionäre durch nichtjüdische zu ersetzen seien. M. Eitingon und K. Landauer kritisierten diesen vorauseilenden Gehorsam. Der Text sieht allerdings in dieser »Initiative« wie auch in dem Antrag F. Boehms und C. Müller-Braunschweigs »auf Umbildung des Vorstandes« (ebd.) »eine gut begründete Sorge. Zugleich haben sie wohl etwas zu rasch und zu gern die Machtchance ergriffen, die sich ihnen bot. Daß sie diese Chance be-kamen, lag an Bedingungen, die nicht von ihnen geschaffen waren« (ebd.). Wir lesen also von einer doppelten Motivation eines vorauseilenden Gehorsams: Sorge um die psychoanalytische Gesellschaft und Machtbedürfnis. Warum aber vermag F. Boehm nicht, jene Anfrage mit den Mitgliedern der DPG zu erörtern? Weshalb muss dieses Handeln unabgesprochen erfolgen?2Die »Chance«, die Macht zu erlangen, eröffnet zwar jene »verschiedenen Spielräume des Verhaltens«, macht allerdings nicht das Greifen nach der Macht verständlich.3 Dies könnten wir nur aus der Motivation der nach der Macht Greifenden verstehen. Hier bleibt der Text merkwürdig hinter seinem Anspruch zurück, durch eine »Einfühlung« dem Leser dies verständlich werden zu lassen; als ob M. Schröters Einfühlung in die Spuren der Vergangenheit ihm nicht (auch) als seine Identifizierung deutlich zu werden vermag. Wie soll sich eine Empathie vergegenwärtigen, wenn nicht als ein Wiederfinden im eigenen Selbst(gefühl)?
EINE HISTORIOGRAPHIE OHNE ERINNERUNG? Der Text gibt uns weder eine Antwort auf die Frage, warum F. Boehm vorauseilend der nationalsozialistischen Bürokratie Gehorsam demonstrieren musste, noch warum F. Boehm und C. Müller-Braunschweig es geradezu nicht erwarten konnten, nach der Macht zu greifen. Könnte der vorauseilende Gehorsam, der in jener »gut begründeten Sorge« (S. 1090) aufscheint, der Phantasie und Annahme geschuldet sein, die Psychoanalytische Gesellschaft werde von der nationalsozialistischen Bürokratie – und ebenso von F. Boehm und C. Müller-Braunschweig, wie wir später noch lesen werden – als ein jüdisches Unternehmen, die Psychoanalyse überhaupt als »jüdisch« angesehen? Dass also dem gesellschaftlich sich verallgemeinernden und institutionalisierten Nationalsozialismus und damit auch Antisemitismus der Gehorsam nicht versagt werden dürfe? F. Boehm machte bekanntlich aus seiner judenfeindlichen Einstellung »keinen Hehl« (Lockot 1985, S. 114). Noch in einer Ausschusssitzung vom 7 8. 1945 äußerte er seine Ressentiments, »persönlich unter dem Übergewicht der Juden im alten Institut immer gelitten« zu haben (Brecht et al. 1985, S. 176). Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass jene »gut begründete Sorge« bereits eine rationalisierende und projektiv-identifizierende Tendenz verbirgt, die jüdischen Kollegen aus der deutschen Gruppe der Psychoanalytiker auszustoßen, um sich selbst aus der »Schusslinie« der staatlich legitimierten Judenfeindlichkeit zu nehmen. Jene »Spielräume des Verhaltens« (Schröter 2009, S. 1087), die aus einem offenkundig (aktiven) vorauseilenden Gehorsam – »vorschnell«, wie M. Schröter selbst konstatiert und keineswegs geboten; nach K. Landauer »ein Fehler« (zit. nach Schröter 2009, S. 1090), nach M. Eitingon eine »nutzlose Mimikry« und »subjektive Würdelosigkeit« (Freud & Eitingon 2004, S. 856) – vermeintlich erwachsen sind, könnten sich daher einer (Teil-)Identifizierung mit der nationalsozialistischen Bürokratie verdanken.
So scheint hier der historiographische Text eine identifizierende und die Problematik des wesentlich judenfeindlichen Nationalsozialismus – der doch das Handeln F. Boehms entscheidend ausgelöst und judenfeindliche Ressentiments (re-)mobilisiert hat – skotomisierende Position einzunehmen; als ob die Rechtfertigungsversuche der deutschen Analytiker sich in die Rechtfertigungen M. Schröters einschrieben, im behaupteten »Mut […], emotional, intellektuell und wissenschaftspolitisch, den Repräsentanten der Hiergebliebenen gerecht zu werden, die mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert waren« (Schröter 2009, S. 1126).
Die »selbstverständliche Loyalität« dem nationalsozialistischen Staat gegenüber Schon fünf Monate nach der Bücherverbrennung im Mai 1933 und dem Antrag, die jüdischen Vorstandsmitglieder abzuwählen, tritt C. Müller-Braunschweig am 22. 10. 1933 mit einem Artikel »Psychoanalyse und Weltanschauung« im Reichswart, dessen Titelseite bereits 1932 mit einem Hakenkreuz geschmückt war (vgl. Dahmer 1984), an die (Fach-)Öffentlichkeit. Darin heißt es u. a.: »Es ist zugegeben, daß sie [die Psychoanalyse; Y. B.] ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt« (zit. nach Lockot 1985, S. 142; vgl. auch Brecht et al 1985, S. 97). Was meint hier »zugegeben«? Auf wessen Vorwurf und Angriff reagiert hier C. Müller-Braunschweig »geständig«? Und wie lautet die Anschuldigung? C. Müller-Braunschweig »gesteht ein«, dass die Psychoanalyse »ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes« ist. Wer anders als die jüdischen Psychoanalytiker könnten hier gemeint gewesen sein, die mit dem »gefährlichen Instrument« der Psycho-analyse als einer »auflösenden«, sprich: »zersetzenden, destruktiven jüdischen Wissenschaft« den »arischen Geist zersetzen« und bedrohen? In der Sprache der Bücherverbrenner hieß es bekanntlich: »Gegen seelenzer-setzende Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.« Vier Monate später, im Februar 1934, empört sich C. Müller-Braunschweig in einem die »Gleichschaltungspolitik« (Schröter 2009, S. 1093) der DPG-Verantwortlichen rechtfertigenden Text über F. Lowtzky, »die sich ebenfalls mit dem Gedanken trug, die DPG zu verlassen« (ebd.). In einer recht herrisch anmutenden Weise fragt er: »>Wem< wird >was< vor-geworfen? Der ganzen Gesellschaft? – dem Vorstand? – und was? Daß die Gesellschaft sich der Regierung gegenüber loyal verhält? – Wäre das nicht in jedem europäischen Staate eine Selbstverständlichkeit? – Daß der Vorstand sich bemüht, die psa. Sache in Deutschland am Leben zu erhalten?« (ebd.). C. Müller-Braunschweig schlägt einen Ton an, der selbst feindselig anmutet und von der jüdischen Kollegin sogar »Anerkennung und Unterstützung« (ebd.) für eine judenfeindliche Politik des nationalsozialistischen Staates erwartet. Als ob er sich (durch den bevorstehenden Austritt der jüdischen Kollegin) – in einer projektiv-identifizierenden Abwehr – angegriffen fühlte und verteidigend geradezu eine Verzichtsleistung, »ein Opfer« (ebd.) von den jüdischen Kollegen fordert, da es denen doch »um die Sache und nicht um die Personen geht« (ebd.) und gehen müsse.
Vergegenwärtigen wir uns diesen Vorgang: Ein Jahr nach der »Machtverleihung« der deutschen Gesellschaft an Hitler und die Nationalsozialisten – nachdem also Deutschland von einer Welle staatlich verordneter antijüdischer Gesetze überrollt wurde, die die Juden aus dem öffentlich-gesellschaftlichen Leben verbannen sollen – erwartet C. Müller-Braunschweig selbstverständlich, d. h. in dem Selbstverständnis einer sich anständig und redlich gebärdenden Loyalität dem totalitären judenfeindlichen Regime gegenüber, von einer jüdischen Kollegin eine »Verzichtsleistung« und ein »Opfer« im Namen einer »Sache«. Mit seiner geradezu herrischen Rede reiht er sich ganz fraglos identifizierend mit der herrschenden Gewalt in die Bewegung und Politik einer nationalsozialistischen »Gleichschaltung« ein. Die Einfühlung in die jüdischen Kollegen verweigernd, reißt er selbst die von ihm hochgehaltene »Sache« auseinander, die nun in zwei gegensätzliche und feindlich sich gegenüberstehende »Seiten« zu zerfallen beginnt, sprich: in den Gegensatz zwischen den deutschen und den jüdischen Analytikern.
Der Erwartung M. Schröters folgend, ergibt sich für den Leser nun die Anstrengung und Not, sich in eine innere Welt einzufühlen, in der nächste Kollegen als Angehörige des jüdischen Kollektivs ausgestoßen werden, die Einfühlung verweigert und von einer jüdischen Kollegin zudem erwartet wird, sich mit einem sie verfolgenden und bedrohenden sozialen Geschehen zu identifizieren. M. Schröter konstatiert zwar in dieser Rede vom »Verzicht« einen »bösen Euphemismus« (ebd.), aber er scheint ganz die Rede von der »Sache« zu teilen; zumindest sucht er nicht in die innere Welt C. Müller-Braunschweigs tiefer einzudringen. Das »Böse« dieses Euphemismus schimmert nämlich im nächsten Satz durch: »Das Interesse der >Sache< sollte Vorrang haben vor allen persönlichen oder Gruppen-Interessen, speziell der Juden« (ebd.).4 Dieser Kommentar M. Schröters spricht die Gegenbesetzung aus und reinszeniert das Ausstoßen des »Juden«: »Persönliche oder Gruppen-Interessen« haben offenkundig nicht (nur) die jüdischen Analytiker, sondern schlicht und überhaupt »die Juden«. Die Annahme, dass die deutschen Analytiker ihrerseits »persönliche oder Gruppen-Interessen« gehabt haben könnten, scheint (an dieser Stelle) nicht in die Aufmerksamkeit zu geraten. Aber der Text offenbart sie uns.
»Sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser« (H. Heine)5
Erst gegen Ende des Aufsatzes erfährt der Leser von einem wirklich handfesten, erhellenden und nachvollziehbaren partiellen Gruppeninteresse und Motiv für das Handeln der deutschen Psychoanalytiker: »Was die heutige Einschätzung betrifft, wird die Frage erlaubt sein, ob man in einer Welt, die nicht aus moralischen Helden besteht, billigerweise erwarten kann, dass die nicht-jüdischen Analytiker ihre professionelle Existenz der Solidarität mit ihren stigmatisierten Kollegen hätten opfern sollen« (S. 1122; Hervorh. Y. B.). Diese Frage ist erlaubt, erfrischend unverblümt und entlarvt die Rede von der mutigen und heldenhaften Rettung der »Sache« als das, was sie auch war und ist: die Sicherung des täglichen Brotes, die die Moral bekanntlich, so wenigstes B. Brecht, in die zweite Reihe verweist. Aber es ist eine rhetorische Frage, die die Antwort gleich mitliefert. Bemerkenswert an dieser »heutigen Einschätzung« ist, dass sie mit einer er-schreckenden Beiläufigkeit gegen Ende des Textes auftaucht. Sie gehört an den Anfang und hätte die Rede von jener postulierten »historischen Einheit« ad absurdum geführt. Die dem Nationalsozialismus gegenüber sich loyal erklärenden deutschen Analytiker selbst gaben uns offenkundig, so jedenfalls die vorfindbaren Spuren jener Zeit, darüber nicht den geringsten (ehrlichen) Hinweis. Vielmehr wurde dieses handgreifliche Motiv verbrämt, euphemistisch verklärt und verleugnet und zu guter Letzt auch noch projektiv identifikatorisch in den Vorwurf verkehrt, die jüdische Kollegin F. Lowtzky sei nicht bereit, sich für die »Sache« zu opfern. C. Müller-Braunschweigs Verweigerung, sich in die innere Verfassung F. Lowtzkys einzufühlen, kann schneidender und gefühlskälter kaum sein. Er griff sie geradezu dafür an, die entsolidarisierende Haltung des DPG-Vorstandes in Frage zu stellen. Projektiv-identifizierend und ohne ein Schamgefühl – ein Phänomen, dem wir immer wieder begegnen – wurde die Überlegung F. Lowtzkys nicht nur empört zurückgewiesen, sie bedeutete C. Müller-Braunschweig geradezu einen Angriff auf sein Selbst(wert)gefühl – und musste seinerseits offenkundig mit einem schuldgefühlshaft determinierten Angriff in Funktion einer Selbstentlastung beantwortet werden. Es wurde erwartet und beansprucht, ja verlangt, dass die jüdischen Kollegen – nun erfahren wir es aus dem Munde des »heutigen« und 75 Jahre später auftretenden Historiographen – für die »professionelle Existenz« der deutschen Kollegen ein Opfer zu bringen hätten und dafür auch noch dankbar sein sollten. Ton und Stil sprechen eine Sprache der Gewalt, die einschüchtern und ängstigen, aber vor allen Dingen das Selbst(wert)gefühl der Fragenden entwerten und beschädigen soll. Die Sprache eines »Ober-Ich« (Grunberger 1988 [1972], S. 83), (»Oberst-Ich« Anm.JSB) das von archaisch-verfolgenden Introjekten tyrannisiert wird.6 Es ist auch immer das gleiche Lied: Wenn die »Sache« wichtiger als die Person behauptet wird, dann gerät die Person selbst zu einer »Sache«, wird versachlicht und entmenschlicht. Dann spricht die Dehumanisierung, ein menschenopfernder Götzendienst und die Herrschaft der Gewalt. – Die Vorstellung einer »historischen Einheit« aber wird damit zunehmend fraglicher: Diese Sprache C. Müller-Braunschweigs manifestiert noch nicht einmal ein Jahr nach der »Machtverleihung« an die National-sozialisten und knapp zwei Jahre vor dem Ausstoßen der jüdischen Analytiker aus dem Kollektiv ihrer deutschen Kollegen bereits deutlich das »Untergraben« der »Zusammengehörigkeit« (vgl. Schröter 2009, S. 1102, 1122) und wurde offenkundig von K. Landauer, M. Eitingon, C. Happel und F. Lowtzky deutlich gespürt. Und so verweist der vorauseilende Gehorsam – so sehr er sich der Sicherung der »professionellen Existenz« zu verdanken scheint und die deutschen Analytiker als Opportunisten und »Wendehälse« erscheinen lässt – im Kontext der von M. Schröter gesammelten Spuren auf einen tieferen Motivationskomplex; auf ein weiteres »Gruppeninteresse« und Motiv im Handeln der deutschen Analytiker.
Die Skotomisierung (Gefohlstaubheit Anm.JSB) der feindseligen Besetzung der Beziehung zu den jüdischen Kollegen und einer »jüdischen« Psychoanalyse
Offenkundig haben wir es bereits 1933 mit bestehenden stabilen Identifizierungen zu tun, in denen die Frage einer »jüdischen« Psychoanalyse als ein Schibboleth (Sozialcode, Kennwort, Codewort, Parole Anm.JSB) die Gemüter zutiefst beunruhigte und wohl heimlich empörte: C. Müller-Braunschweig versuchte nämlich »nach 1933 die Gunst der Stunde für die Verbreitung einer >deutschen< Psychoanalyse zu nutzen […] dies […] entsprang einer tiefen, lang hergebrach ten Überzeugung« (S. 1102; Hervorh. Y. B.) – womit eine Spaltung und Isolierung (nicht nur) im Denken C. Müller-Braunschweigs in nuce (in a nutshell, stark komprimiert, kurzgefasst Anm.JSB) sich abzeichnet und sich im historiographischen Text gleichsam reinszeniert. Einerseits trachtete C. Müller-Braunschweig bereits 1933 in »tiefer Überzeugung« eine »deutsche Psychoanalyse« zu verbreiten; andererseits soll in jener angenommenen »historischen Einheit« zugleich die Hoffnung bestanden haben, die Tradition S. Freuds in der NS-Zeit »weithin lebendig« (5.1087) fortzusetzen – eine »deutsche Psychoanalyse« in der Tradition S. Freuds? Jene aktive »Verbreitung einer >deutschen< Psychoanalyse« (S. 1102) führte dazu, dass die »in Deutschland verbliebenen Analytiker« [sic!] dergestalt die »Zusammengehörigkeit mit ihren nicht-deutschen Kollegen [untergruben] « (ebd.). Offenkundig hat es bereits 1933 ein bewusstes Interesse gegeben, eine »deutsche« Psychoanalyse zu entwickeln und eine »partielle Distanzierung von der Lehre Freuds« (S. 1104) voranzutreiben – ein aktives Unternehmen, das also unmittelbar – daher wohl die Rede von der » Gunst der Stunde« (ebd.) – bereits 1933 in Gang gesetzt wurde. Die von M. Schröter erwähnte » Chance« (S. 1090) für F. Boehm und C. Müller-Braunschweig, die institutionelle Macht in der DPG 1933 zu ergreifen, offenbart nun auch einen weiteren tieferen Sinn: eine »Psychoanalyse von >spezifisch deutschem Gepräge«< (S. 1101) voranzutreiben und zu vertreten. In welche Verstrickungen und Folgen dieses Handeln auch immer schließlich 1936 münden würde resp. mündete – und zweifellos sind wir alle keine Propheten und oft auch »hinterher keineswegs klüger« -, der 1936 erzwungene Ausschluss der jüdischen Analytiker entstammte somit auch einer tieferen Identifizierung mit einem »Deutsch-tum« und manifestierte sich in der Loyalitätsbekundung der deutschen Psychoanalytiker gegenüber dem nationalsozialistischen Staat.7 Die kollektive Identifizierung eines großen oder überwiegenden Teils der deutschen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus ließ auch die deutschen Analytiker nicht unberührt und zog sie in den Bann, den sie offensichtlich kaum noch bewusst zu reflektieren, geschweige denn zu analysieren vermochten. In jedem Fall aber schwiegen sie darüber. In diesem Lichte handelt es sich also zunächst darum, das Handeln der deutschen Psychoanalytiker zu registrieren, ihre Taten und Äußerungen, von denen der Text uns berichtet. Denn schließlich muss sich der Leser in der »Schlussbetrachtung« M. Schröters darüber wundern, dass es »zwar eindeutige Opfer [gibt], aber keine entsprechend eindeutigen Täter« (S. 1124ff.). Das »Untergraben« der Zusammengehörigkeit (als Analytiker) vollzog sich keineswegs von selbst und ohne die Personen. Es konkretisierte sich in der Aktivität der deutschen Analytiker, in deren (Probe-)Handeln, das, wie wir soeben zur Kenntnis genommen haben, »einer tiefen, lang hergebrachten Überzeugung« entsprang.
So lesen wir von deren Motivationslage und Verständnis, in »Freuds Werk« eine »eingeengte Auffassung« (S. 1101) von Psychoanalyse zu sehen. Die deutschen Analytiker seien überhaupt an der Entwicklung einer »Psychoanalyse mit >spezifisch deutschem Gepräge< […] bisher durch die internationale Zusammensetzung der DPG (d. h. primär: das Überge-wicht der Juden in ihr) gehindert worden« (ebd.). Woher aber entstammen Scheu und Hemmung M. Schröters, die sich gerade an dem von ihm angeführten Typoskript »Nationalsozialistische Idee und Psychoanalyse« (Juni 1935) zeigen, sich in das Denken C. Müller-Braunschweigs einzufühlen? In dessen Abschnitt >Psychoanalyse und Deutschtum< lesen wir, wie C. Müller-Braunschweig in einer kaum verhüllten Weise sich der »nationalsozialistischen Regierung« (zit. nach Brecht et al. 1985, S. 167) andient und diese opportunistisch und verleugnend darauf hinzuweisen sucht, dass die Entwicklung einer »deutschen Psychotherapie« von einer »stark international zusammengesetzt[en] [Mitgliedschaft und Dozenten-schaft] « (ebd.), sprich: die jüdischen Analytiker, »erschwert« worden sei. In dieser Spur der Vergangenheit erkennt M. Schröter eine »gewisse Genugtuung darüber, daß der durch das Nazi-Regime erzwungene Exodus der jüdischen Analytiker Autoren wie Müller-Braunschweig eine Chance gab, ihre eigene, als deutsch empfundene Stimme stärker zur Geltung zu bringen« (5. 1101 f.) – wieder lesen wir von einer »Chance«, die dieser Repräsentant der deutschen Analytiker ergriffen hat und die durch die Anwesenheit der jüdischen Analytiker offenbar kaum Gehör gefunden zu haben schien. Was lässt C. Müller-Braunschweig von einer »Mehrheit jüdischer Analytiker« schweigen? Ängstigte er sich, in der nationalsozialistischen Institution in Verdacht zu geraten, selbst von einem »jüdischen Denken zersetzt« worden zu sein? Wer oder was, wenn nicht seine eigenen Ressentiments und Abwehr von Neid- und entwertend-feindseligen Regungen, könnte ihn wohl daran gehindert haben, seine Vorstellungen von einer »deutschen Psychoanalyse« zu entwickeln? Wie sollten wir uns jenes »Übergewicht der Juden« vorstellen? Als eine Zensur und ein Denkverbot durch die jüdischen Analytiker? Hatte er nicht den Mut, persönlich für seine Anschauungen einzustehen, die ihn (in seiner inneren Welt) in einen Konflikt mit dem Juden S. Freud bringen mussten? Sollte er tatsächlich erst durch die » Gunst der Stunde« – und d. h. in der Gunst und im Schutz der nationalsozialistisch-judenfeindlichen Institution – einen sozusagen geborgten Mut aufgebracht haben? Drängte auf diese Weise die »deutsche Stimme« nach Befreiung von der »Macht und Herrschaft der Juden«? Spricht aus seinen Worten nicht geradezu ein externalisiertes und archaisches Über-Ich, das sich mit fragilen Ich-Ideal-Anteilen kaum zu integrie-ren vermochte? Manifestiert sich gar in diesem Verschweigen des Bei- und Nebeneinanderseins von jüdischen und deutschen Analytikern nicht bereits eine dissoziierende Abwehr der deutschen Analytiker, die schließlich Ende 1935 darin gipfelt, »jeden, auch den leisesten, wissenschaftlichen wie persönlichen Kontakt mit ihren nicht-arischen Kollegen« (Fenichel, zit. nach Schröter 2009, S. 1123) sich zu verbieten? – Erneut scheint der historiographische Blick M. Schröters die bereits 1933 mobilisierte feindselige Besetzung der Beziehung zu den jüdischen Analytikern zu skotomisieren (gefühlstaub machen Anm.JSB) und hinter seinen eigenen Anspruch zurückzufallen, sich in die innere Welt C. Müller-Braunschweigs einzufühlen. So spricht er zwar von der »Chance« für C. Müller-Braunschweig, die »deutsch empfundene Stimme stärker zur Geltung zu bringen«, reflektiert aber nicht die damit mobilisierten Vernichtungs-, Neid- und Entwertungsimpulse einer »jüdischen Psychoanalyse« gegenüber.8
Am 14. Januar 1934 – also schon zwei Monate ( !) nach der Übernahme und »Arisierung« des DPG-Vorsitzes – verfasste C. Müller-Braunschweig eine »Denkschrift« an M. H. Göring, in der er »das Modell einer Zusammenarbeit der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen entwarf« (S. 1105). M. Schröter selbst scheint in seiner Betrachtung dieser »Denkschrift« von einem »hergebrachten Isolationismus der Freud-Schule« (S. 1106) 9 , sprich: die Isolation/Isolierung der jüdischen Analytiker in ihrer Mehrheit, auszugehen und sich dergestalt mit der Perspektive C. Müller-Braunschweigs zu identifizieren. Aus seinen Worten wird nicht deutlich, wer sich hier (von wem) isoliert. Gehen wir zu weit in der Annahme, dass hier unreflektiert und reinszenierend im historiographischen Text erneut -wie im Falle C. Müller-Braunschweig gegenüber F. Lowtzky – die Beziehung zwischen jüdischen und deutschen Analytikern projektiv identifizierend verkehrt wird? Wird hier nicht in der Rede von einer »deutschen« Psychoanalyse eine ressentimentgeladene Phantasie von einer »jüdischen« Psychoanalyse (re-)mobilisiert? M. Schröter vermutet nun, dass C. Müller-Braunschweig geglaubt habe, mit dieser »Denkschrift« »etwas Positives für die Psychoanalyse geleistet zu haben« (S. 1106), und deswegen fünf Monate später, »im Juni 1934 eine Kopie an Eitingon schickte« (ebd.). Könnte diese Zusendung an M. Eitingon tatsächlich die Interpretation M. Schröters stützen? Was wird wohl M. Eitingon von diesem »schwierigen Spagat« (ebd.) gehalten haben? Nachdem doch deutlich darauf hingewiesen wurde, dass M. Eitingon voller »Bitterkeit, Empörung und Trauer« (ebd., S. 1091) über die Vorgänge 1933 gewesen sein soll und nun auch von einem Akt der »Selbstgleichschaltung« Kenntnis nehmen musste? Die recht späte Zusendung dieser Kopie, die an C. Müller-Braunschweigs verspätete Reaktion des »Danks und Mitgefühls« auf M. Eitingons Austritt aus der DPG erinnern könnte (vgl. Schröter 2009, S. 1091)10 , weist eher auf tiefere schuldgefühlshafte Skrupel hin, die Takt und Scham vermissen lassen; eine geradezu dissoziierende Empathielosigkeit, die sich keine Rechenschaft über das Empfinden des Adressaten zu geben vermag. Nun mag M. Schröter dieses Verhalten anders erleben und interpretieren; aber der Leser erfährt es nicht. Es drängt sich eher der Eindruck auf, dass er kaum eine innere Distanz gegenüber dieser latent feindselig erscheinende Handlung einzunehmen vermag, die sich vor einem externalisierten Über-Ich zu exkulpieren sucht und eine entsprechende Regung im Historiographen zum Schwingen bringt: »diese Gespräche waren der DPG aufgenötigt worden« (S. 1106). Wieder scheinen sich Denken und Fühlen der deutschen Psychoanalytiker jener Jahre in M. Schröters Text zu reinszenieren. Als ob er im Schreiben über jene von deren Denken, Haltung und Motivation geschrieben wird.
Die »Arisierung« der »jüdischen« Psychoanalyse – eine »Enteignung«? Das tiefe Unbehagen an jener Vorstellung von einer »historischen Einheit« entspringt auch aus der historiographischen Abstraktion und (scheinbaren) Erinnerungslosigkeit von der in den vielen Jahrhunderten zur zweiten Natur gewordenen Judenfeindlichkeit, von der auch die deutschen Analytiker nicht frei waren und die einen zentralen Kern der nationalsozialistischen Identifizierung der deutschen Gesellschaft darstellte. In diesem Lichte enthält die Rede von der »Arisierung« (vgl. S. 1085, 1091, 1094, 1122) der DPG eine mehrfache Dimension: Alltagssprachlich meint dies heute zum einen die »Ersetzung« jüdischer Funktionäre durch nicht-jüdische Deutsche; ein »Ersetzen«, ein »Überflüssig- und Unbrauchbarwerden einer Sache« – wie kann denn eine konkrete Person ersetzt werden? -, das ein Verschwinden der jüdischen Bürger ankündigte. »Arisieren« meinte zum zweiten auch eine »Enteignung« jüdischen Eigentums, dessen Überführung in »arisches«. Auf diese Weise wurde das (bürgerliche) Gesetz gebrochen; Diebstahl, Raub und Plünderung wurden zum staatlich legitimierten Aneignen. Aber in unserem Kontext weist der Ausdruck »Arisierung« der DPG zugleich auf ein Drittes: Aus der Unterscheidung zwischen deutschen und jüdischen Analytikern wird, auch im historiographischen Blick M. Schröters, schleichend ein Unterschied zwischen Analytikern und Juden; auf diese Weise erscheinen schließlich die deutschen Analytiker überhaupt als die Repräsentanten der Psychoanalyse, von der die Juden ausgeschlossen sind/werden. In diesem Lichte meint »Arisierung« der DPG das Auftreten einer »deutschen« Psychoanalyse, die als »arisierte« noch von den Spuren einer gewaltsamen Dissoziation, Trennung und »Enteignung jüdischen Eigentums« kündet. Aber wie kann vernünftigerweise die »Enteignung jüdischen Denkens« gedacht werden? Welchen Sinn könnte die Vorstellung einer »Ent-Eignung« einer »jüdischen Psychoanalyse« machen? Vorschnell kann hier das Missverständnis aufkommen, hier werde einer »jüdischen Psychoanalyse« das Wort geredet. Aber in dem (vorgeblichen) Anspruch der deutschen Analytiker, mit der Etablierung des Nationalsozialismus und der Institutiona-lisierung der Judenfeindschaft das Allgemeininteresse der psychoanalytischen Community, »das Große der psa. Sache« zu vertreten, verbirgt sich eine immer wiederkehrende Denkfigur; eine Vorstellung, die vom Text M. Schröters, der die Erinnerung verbannt, nicht benannt, allenfalls unbewusst perpetuiert zu werden vermag und worüber die deutschen Analytiker bewusst/unbewusst nicht reflektierten: In jenem Anspruch wird erneut – wie im kollektiven abendländischen Denken seit der Institutiona-lisierung des Christentums – das Interesse und Denken der Juden als partikular, das der Christen, nun der Deutschen, als allgemein und universell behauptet. Diese das jüdische Denken resp. die jüdische Position verdrängende Gegenbesetzung reproduzierte sich schließlich in der deutschen Aufklärung und feiert auch nach 1945 Urständ im zeitgenössischen psychoanalytischen Denken.11
Die Rede von einer »jüdischen Psychoanalyse« verdankt sich kulturgeschichtlichen Bedingungen und spricht eine »historische Wahrheit« (Freud 1939a) aus: Das Denken des radikalen Monotheismus in der jüdischen Text-Tradition wird von dem das abendländische Denken prägenden Christentum dissoziiert und abgespalten, indem sich der hellenistisch-rationalistische »Logos« eine inkarnierte Gestalt gibt, die sich zugleich dogmatisch als transzendent setzt. Diese Hypertrophie menschlicher Ratio sucht sich schließlich in der Aufklärung als die sich selbst setzende autonome Vernunft zu inthronisieren.12 Demgegenüber erscheint die jüdische Text-Tradition, die das Fremde in sich anerkennt und daher verweigert, sich identisch mit der Wahrheit zu setzen, in der jahrhundertealten Position, die herrschenden Denkhorizonte in Frage zu stellen. Mit der durch die Psychoanalyse initiierten »Umwertung aller psychischen Werte« (Freud 1900a, S. 335) und ihrer Erkenntnis von der Unmöglichkeit, das Denken zu totalisieren, erscheint nun die Psychoanalyse als eine
»jüdische Angelegenheit«. »Die Psychoanalyse funktioniert wie eine Katastrophe. Als Infragestellung des abendländischen Textgebrauchs ist die Psychoanalyse eine Panne für die Hierarchie des Denksystems« (Legendre 1989, S. 23; Hervorh. Y. B.). Anders ausgedrückt: Nicht (in erster Linie) weil S. Freud jüdischer Herkunft ist, erscheint sein Werk und das psychoanalytische Denken als eine »jüdische Angelegenheit«; sondern weil dieses Denken quer zum abendländischen und das heißt christlichen Denken und das der Aufklärung steht. Eine »deutsche« Psychoanalyse zu entwickeln bedeutete dann auch, die Psychoanalyse kulturgeschichtlich »auf Linie zu bringen«, sie in der Tat »gleichzuschalten«. In dieser Perspektive hat S. Hönicke-Lersch darauf hingewiesen, dass die von M. Schröter aufgenommenen historiographischen Spuren auf archaisch-narzisstische Verlust- und Vernichtungsängste bei den deutschen Psychoanalytikern schließen lassen; auf tiefe Ohnmachts- und Kränkungsgefühle, das ihnen kulturell fremde »Querdenken« der Psychoanalyse in unzureichendem Ausmaß zu vermögen; andererseits mit der Psychoanalyse S. Freuds notwendigerweise querdenken zu müssen, sich auf diese Weise auch der Gefahr auszusetzen, im totalitären NS-Regime ausgeschlossen, allen Selbstwerts beraubt und schließlich vernichtet zu werden (pers. Bemerkung). Tatsächlich könnte im vorauseilenden Gehorsam und in der Chance, ab 1933 unter den Bedingungen des Nationalsozialismus eine »deutsche Psychoanalyse« zu entwickeln, die Manifestation eines destruktiven Narzissmus gesehen werden, der die Möglichkeiten einer Abwehr, geschweige denn einer Integration destruktiver Neid-und Insuffizienzgefühle kaum noch Raum zu geben vermochte. Diese Ausstoßungs- und Vernichtungsängste – und dies liegt ganz in der Konsequenz S. Hönicke-Lerschs Interpretation – waren wohl mit einer intensiven Neidproblematik verknüpft, die sich in der Identifizierung mit der Psychoanalyse S. Freuds verbirgt; nämlich wie die Juden trotz oder gerade wegen ihrer exilischen Situation als Ausgeschlossene und Diskriminierte in einer stabilen kollektiven Identität und Tradition zu überleben vermochten. In diesem (unbewussten) Neidkomplex wären daher Ver-nichtungsängste und -wünsche verknüpft und verborgen, die in einem zerstörerisch gewendeten Narzissmus sich in der »Arisierung« der Psychoanalyse S. Freuds Ausdruck verschafft haben – eine vernichtende »Ent-Eignung« und »An-Eignung« dessen, was das feindselig besetzte jüdische Kollektiv auszeichnet. Judenfeindschaft meint deswegen immer auch »Psychoanalyse-Feindschaft«, weil die Psychoanalyse wie die jüdische Tradition aus der Anerkennung des Fremden im Eigenen lebt und dies voraussetzt; gleichsam eine anti-totalitäre und anti-institutionelle Position einnimmt. Daher kann auch gesagt werden, dass die Psychoanalyse S. Freuds im abendländischen Denken die jüdische Position einnimmt. Das jüdische Herkommen S. Freuds mag diese Identifizierung noch befördert haben. Das ressentimentgeladene Reden von einer »jüdischen« Psychoanalyse externalisiert ein Unbehagen und verweist daher mehr noch auf eine mangelnde Reflexion über die Bedingungen des eigenen Denkens und verwechselt den Menschen mit seinem Denken und der »Sache«.
Die Spaltung im Vater-Mord Kulturgeschichtlich besehen steht in der Tat die jüdische Position bzw. die Repräsentanz jüdischen Denkens quer zu einem Denken, das sich einer »Sache« verschreibt und von den handelnden Personen zu abstrahieren sucht; als ob die »Sache« von dem konkreten Menschen getrennt werden könnte. Das Verschweigen der judenfeindlichen Ressentiments der deutschen Analytiker mutet dem Leser eine Dissoziation in der Annäherung an das historische Geschehen zu, das affekt-isoliert verstanden werden soll. Dies wird geradezu explizit und gar als Anspruch formuliert. Damit aber vergegenwärtigt sich in unserem historiographischen Text jene Affektisolierung der deutschen Analytiker, die alle Beziehung aufkündigte, und reinszeniert – in Funktion einer Abwehr der feindseligen Besetzung -jene vermeintliche »Hoffnung« in der »historischen Einheit«. Lässt das (Ver-)Schweigen der Judenfeindlichkeit überhaupt erst jene Konstruktion einer »historischen Einheit« zu, so erhellt die Dissoziation und Affektisolierung in der Lektüre, wie die Psychoanalyse zu einer »Sache« werden kann, in der alle persönlichen Kontakte entmenschlicht werden. Der »Vorrang«, den das »Interesse der »Sache« haben [sollte]« (S. 1093), lässt schließlich die deutschen Analytiker das »Schicksal der Psychoanalyse in Deutschland von dem der jüdischen Analytiker« (ebd.) trennen, forciert die Distanzierung und Spaltung und stößt schließlich die jüdischen Analytiker aus.
R. Lockot berichtet von einem an sie gerichteten Brief A. Freuds, die sich an eine Begegnung mit F. Boehm erinnert:
»Es stimmt auch, daß ich ein Gespräch mit Dr. Boehm bei seinem Aufenthalt in Wien gehabt habe, in dem er mir auseinandergesetzt hat, daß man die jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der Vereinigung auffordern muß, was ich schlecht aufgenommen habe. Ich habe ihn gefragt, ob er denn bereit wäre, auch meinen Vater zum Austritt zu veranlassen, was er bejahend beantwortet hat. Ich könnte noch hinzusetzen, daß mein Vater nichts tun wollte, um es den Berlinern schwerer zu machen, aber einverstanden waren wir mit deren Handlungsweise natürlich nicht« (1985, S. 117).13
Diese Erinnerung gestattet uns, die Haltung F. Boehms zu verstehen und im historiographischen Kontext M. Schröters zu vergegenwärtigen: A. Freud überliefert uns jene Schwierigkeit der deutschen Analytiker, mit den jüdischen Kollegen auch in ihrer Identität als Juden in eine persönliche Beziehung zu treten. Als Repräsentant der deutschen Psychoanalytiker votiert F. Boehm unverblümt und ohne ein Schamgefühl für das Aussto-ßen des Gründungsvaters des Kollektivs, in dessen Namen er auftritt und das dieser begründet hat.14Ein Votum, das eine affektisolierende Dissoziation, Abspaltung und Trennung von der Tradition des väterlichen Gesetzes ausspricht und dergestalt eine Verleugnung der eigenen persönlichen Geschichte, die jenes imponierende Fehlen aller Scham hervorruft. Damit spricht er die in seiner inneren Welt herrschende Tyrannei verfolgender Ängste vor Verlust von Zugehörigkeit und Anerkennung wie auch die feindselige Besetzung und Zerstörung der väterlichen Repräsentanz aus, die den Kern nationalsozialistischen und judenfeindlichen Denkens darstellen. S. Hönicke-Lersch versteht dieses immer wieder auffallende fehlende Schamgefühl im Zusammenhang einer völligen Entwertung und gar Vernichtung des inneren Objekts; was die ebenso imponierende Empathielosigkeit und -verweigerung der deutschen Analytiker erhellen könnte (persönl. Bemerkung). A. Freud überliefert uns damit ein Zeugnis der Zerstörung des Über-Ich und einer universellen Ethik, des Zerfalls von Schuldfähigkeit, Verantwortung und Solidarität – gleichsam eine Vorweg-nahme jenes realen Bruchs der Zivilisation.
Die manische Abwehr der Beziehung zu den jüdischen Analytikern
Wenn wir die Erinnerung A. Freuds in die Historiographie jener bezweifelbaren »historischen Einheit« und vermeintlichen »Hoffnung« aufnehmen, dann lassen die von M. Schröter aufgenommenen Spuren der Vergangenheit in keiner Weise den Schluss zu, dass F. Boehm als Repräsentant der deutschen Analytiker in seiner Identifikation eine wesentliche Änderung in den Jahren 1933-36 durchlief. Vielmehr – und darin liegt die Bedeutung dieses historiographischen Artikels – spiegelt und reinszeniert sich F. Boehms Abwehr der Auseinandersetzung mit dem judenfeindlichen Ressentiment in der Art und Weise, wie dieser Text die Spuren der Vergangenheit interpretierend aufnimmt.
Dies wird noch an einer weiteren Spur deutlich: Im März 1934 beschrieb F. Boehm gegenüber dem bereits emigrierten M. Eitingon das »Selbstverständnis oder Gruppenerleben der in Deutschland verbliebenen Analytiker« (S. 1095) als »>ein [fast allseits] starker Wunsch zu gemeinsamer, reibungsloser Zusammenarbeit«< (ebd.). M. Schröter gibt dem »andere Worte«: »Der Druck von außen, der auf allen lastete, zwang sie, ob Juden oder Nicht-Juden, zum Zusammenhalt im Zeichen der Psycho-analyse« (ebd.). Hier exkulpiert M. Schröter externalisierend das dissoziierende und spaltende Handeln der deutschen Analytiker. Das von K. Dräger benannte »Katakombengefühl der Zusammengehörigkeit« (ebd.) aufnehmend, bringt sein Text die Phantasie zum Schwingen, hier handele es sich um jene antiken Christen, die von der römischen Institution verfolgt werden und sich in den Katakomben Roms verbergen; eine Phantasie, in der nicht nur die Juden zu Christen werden, sondern alle Gruppenkonflikte ausgelöscht scheinen angesichts der übermächtigen feindlichen Institution Roms, sprich: des nationalsozialistischen Regimes. Unmittelbar anfügend: »Ende 1935, als dieser Zusammenhalt gerade am Zerbrechen war, erklärte Boehm […]: >Hier staunt man ganz allgemein, welches Paradies, welches Eldorado ich hier für unsere jüdischen Kollegen aufrechterhalten habe und welcher Mut meinerseits dazu gehört; eine Gesellschaft, in welcher jetzt noch Juden und Nichtjuden vollkommen gleichberechtigt arbeiten, dürfte wohl einzig in Deutschland sein«< (ebd.; Hervorh. Y. B.).15 M. Schröter sieht sich hier allenfalls bemüßigt anzumerken, »daß freilich die >Gleichberechtigung< der Juden nichts weniger als >vollkommen< war und das >Paradies< allenfalls ein sehr relatives, scheint in der ver-rückten Perspektive von damals gar nicht mehr wahrgenommen worden zu sein – außer von den Betroffenen natürlich« (ebd.), die ihrerseits, dies muss der Leser mitdenken und sich erinnern, größtenteils bereits emigrieren mussten. Offenkundig vermag M. Schröter selbst sich nicht mehr in eine solche »ver-rückte Perspektive« einzufühlen. Hier wird das bereits mehrmals aufgefallene Fehlen einer Scham erneut deutlich. Wenn wir F. Boehms Worten keine zynische und bewusst verhöhnende Haltung unterstellen wollen, dann müssen wir von einer ausgesprochen hermetischen Derealisierung ausgehen, die noch manisch abgewehrt wurde.16In seinem Erleben ging es um »den Juden«, dem er mutig und heldenhaft ein »Paradies« und ein »Eldorado« verschafft habe, als die soziale Realität für die jüdischen Bürger und Kollegen zur Hölle zu werden begann.
In der skotomisierenden historiographischen Interpretation M. Schröters wie auch in seiner Kommentierung der von C. Müller-Braunschweig Anfang 1934 geforderten »Trennung« der »Sache« von der Person wiederholt sich/wiederholt er gleichsam (zwischen den Zeilen) die Spaltung der DPG. Als ob im Text sich der Gegensatz zwischen den jüdischen und deutschen Analytikern Bahn bricht und der Leser, der sich in das »realistische« Denken der deutschen Akteure einfühlen soll, (s)eine Dissoziation (vom späteren historischen Verlauf) aufrechterhalten – und damit auch die Frage nach der Beziehung zu den jüdischen Analytikern vermeiden – muss.
Diese Frage ist notwendigerweise mit einer anderen verknüpft:
»Soviel ich weiß, hat es niemals so etwas gegeben wie eine Selbstprüfung der führenden Personen der deutschen Psychoanalyse hinsichtlich ihres Nationalismus, ihrer Unterwerfungsbereitschaft, der raschen Aufgabe ihrer Bindung an ihre jüdischen Lehrer und Kollegen. Statt Selbstanalyse gab es nur die opportunistische Anpassung an den Zeitgeist jener Tage […]. Auch an ihre jüdischen Lehrer und Vorgänger, an Freud, Abraham und Eitingon, konnten sie sich nicht erinnern, sowenig wie sie es vermochten, sich die Stärke dieser Bindungen und ihre Abhängigkeit davon einzugestehen« (Wangh 1996, S. 109f.).
Die von C. Müller-Braunschweig erklärte Selbstverständlichkeit einer Loyalität dem Nationalsozialismus gegenüber darf daher auch M. Wangh fragen lassen, was die deutschen Psychoanalytiker »nolens volens zu Nationalsozialisten werden« (S. 117) ließ? Mit der uns von R. Lockot überlieferten Erinnerung A. Freuds (s. o.) erhält M. Wanghs Frage eine umso größere Dringlichkeit: »Welche Erniedrigung ihre Abhängigkeit [d.h. der deutschen Psychoanalytiker; Y. B.] von Freud – von dem sie erwarteten, dass er ihren Verrat an den jüdischen Kollegen und an dem essentiellen Individualismus der Psychoanalyse billige – und ihre armselige Unterwerfung unter den Führer Adolf Hitler und seine Paladine bedeuteten« (S. 118). Diese Fragen scheinen angesichts der Historiographie M. Schröters geradezu ihre Zukunft noch vor sich zu haben.
»Zusammenbruch« der »historischen Einheit« und der »Hoffnung« -und die dissoziierende Abwehr
Angesichts der stabilen Überzeugungen und Identifizierungen der (Repräsentanten der) deutschen Analytiker erscheint die historiographische Interpretation, sie hofften 1933-36 die Tradition S. Freuds noch fortsetzen zu können, bereits für den Zeitpunkt Januar 1934 mehr als fragwürdig. Unabweisbar verdichten sich diese Zweifel Ende 1934, als der DPG-Vorstand mit der fundamentalen Voraussetzung psychoanalytischen Denkens und Handelns brach: Mit dem »förmlichen Verbot für Mitglieder und Kandidaten, Patienten in Analyse zu nehmen, die sich in regimefeindlicher Weise politisch betätigten« (S. 1115 f.) und einer entsprechenden zu unterschreibenden Verpflichtung zerstörten die deutschen Analytiker die Voraussetzungen psychoanalytischer Arbeit in der Tradition S. Freuds, die u. a. in der Herstellung und im Aufrechterhalten einer haltenden und bergenden analytischen Beziehung besteht.17 Unmissverständlich und in aller Klarheit zitiert M. Schröter diese Zerstörung aller Bedingungen psychoanalytischen Arbeitens durch das Handeln des DPG-Vorstandes in der Argumentation F. Boehms: »[Man] könne von einem Patienten nicht verlangen, >daß er uns, die analytischen Grundregeln befolgend, Dinge mitteilt, welche wir anzeigen müssen, es sei denn, daß wir riskieren wollen, uns eines Vergehens schuldig zu machen, das mit Gefängnis […] bestraft wird«< (S. 1116; Hervorh. Y. B.).
Spätestens für das Ende 1934 muss also der Historiograph mit dieser Zerstörung der Schweigepflicht und des Schutzes der psychoanalytischen Beziehung konstatieren: »Ein business as usual war insofern vom Kern der psychoanalytischen Praxis her unmöglich« (ebd.). Kraft seiner aufgenommenen Spuren der Vergangenheit höhlt er selbst seine Konstruktion einer »historischen Einheit« der Jahre 1933-36 aus, in der noch die »Hoffnung« bestanden haben soll, unter den Bedingungen einer nationalsozialistisch gleichgeschalteten Gesellschaft die Tradition S. Freuds fortführen zu können. Genauer besehen, und dies entnehmen wir dem »Kleingedruckten« einer Fußnote, dürfen wir sogar annehmen, dass »Ende 1934« eine kaum gesicherte Vermutung darstellt. »Die Angabe >Anfang 1934< bei Boehm […] ist weniger glaubhaft, da der betreffende Vorstandsbeschluss auf eine Gesetzesänderung von April 1934 zu reagieren scheint« (S. 1115, Rn. 38; Hervorh. Y. B.). Nichts scheint also gegen die Annahme zu sprechen, dass bereits Mitte 1934 und das heißt ein halbes Jahr nach der »Arisierung« des Vorstands der DPG im November 1933 das psychoanalytische Denken S. Freuds substantiell angegriffen und aufgegeben wurde. Fügen wir noch hinzu, dass die o. a. Begründung F. Boehms für das aktive Suspendieren »des essentiellen Freiraums psychoanalytischer Arbeit« (S. 1116) sich dem Inhalt und Tenor nach wie die von C. Müller-Braunschweig gegenüber F. Lowtzky im Februar 1934 selbstherrlich angeführte Begründung für die Gleichschaltungspolitik der »DPG-Verantwortlichen« und die Erklärung einer »selbstverständlichen« Loyalität dem nationalsozialistischen Staat gegenüber liest.
Obwohl also die Vorstellung jener »historischen Einheit« spätestens mit den Spuren des Jahres 1934 mehr als fragwürdig geworden ist, erkennt M. Schröter erst angesichts F. Boehms Memorandum vom 29. 1. 1936 »ein Maß an Zustimmung zur Rassenpolitik des NS-Staates, das schwer zu ertragen – und das gegenüber früheren Dokumenten neu ist« (ebd.; Hervorh. Y. B.). Was aber ist so »neu« an diesem Zeugnis? »Wir Psychoanalytiker sind der Ansicht, daß nur Arier diese Nacherziehung in unserem Staate erfolgreich leisten können. Die >Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft< besteht jetzt nur aus Ariern« (S. 1122), sprich: nunmehr sei das Kollektiv deutscher Psychoanalytiker in der Lage, eine nationalsozialistische Erziehungsarbeit zu leisten, denn es sei »judenrein« – » [Anfang Dezember 1935] wurden die verbliebenen jüdischen Mitglieder zum Austritt genötigt« (S. 1121). Es ist schon erstaunlich genug, dass M. Schröter an dieser Stelle »Verständnis für Boehms Bemühungen um ein Überleben der Psychoanalyse in feindlicher Umwelt« (ebd.; Hervorh. Y. B.) findet: Sein Versuch, sich in die innere Welt der deutschen Analytiker einzufühlen, reflektiert eine verleugnende Externalisierung der judenfeindlichen Ressentiments der deutschen Analytiker; in Identifizierung mit ihnen projiziert er die feindselige Besetzung der Psychoanalyse in die »feindliche Umwelt«. Was hier aber vor allen Dingen ein Erstaunen hervorrufen muss: Erst im Januar 1936 erkennt er eine »Identifikation [der deutschen Analytiker; Y. B.] mit dem Aggressor« und deren »Maß an Zustimmung zur Rassenpolitik des NS-Staats«, das ihm nun schwer erträglich ist. Nachdem er – um nur an einige bislang aufgenommenen Spuren jener Zeit zu erinnern – registriert, dass F. Boehm »schon bevor er offizieller DPG-Vorsitzender wurde, große Anstrengungen [unternahm], um die neuen Machthaber positiv von der Kompatibilität der Psychoanalyse mit dem NS-Staat zu überzeugen« (S. 1097); dass die »in Deutschland verbliebenen Analytiker die Zusammengehörigkeit mit ihren nicht-deutschen Kollegen [untergruben]« (S. 1102; vgl. auch S. 1105) und schließlich sich nicht nur von der Freudschen Tradition distanziert (vgl. S. 1104), sondern diese gar angegriffen und zerstört (»arisiert«) haben (vgl. S. 1115f.) -nach all diesen Zeugnissen und Spuren der Jahre 1933-34 vermag M. Schröter erst mit jenem Memorandum F. Boehms vom Januar 1936 bei der »Rest-DPG« »eine Identifikation mit dem Aggressor« (S. 1122) zu dechiffrieren, ein schwer erträgliches »Maß an Zustimmung zur Rassenpolitik des NS-Staates« (ebd.) zu empfinden und »die Identifizierung mit dem NS-Staat zur Grundlage ihrer beruflichen Praxis« (S. 1123) zu erkennen.
So bleibt hier nur noch zu fragen: Welches Maß an dissoziierender Abwehr und (Affekt-)Isolierung muss das Schreiben dieses historiographischen Textes begleitet und bewegt haben, dass er an dieser Stelle seines Textes schreiben kann: Dieses »Maß an Zustimmung zur Rassenpolitik des NS-Staats […] [ist] gegenüber früheren Dokumenten neu«? Psychoanalytisch gelesen können wir hier nur noch konstatieren: Die von ihm in seinem historiographischen Text kaum explizierte Einfühlung in die innere Welt der deutschen Analytiker lässt ihn deren Denken, Fühlen und Handeln identifikatorisch wiederholen resp. reinszenieren. Seine hypostasierte »historische Einheit« erscheint geradezu als ein Ausschnitt aus der inneren Welt der deutschen Analytiker in den Jahren 1933-36, in dem von einer Judenfeindlichkeit nicht (mehr) die Rede ist und dergestalt die Beziehung zu den jüdischen Analytiker tabuisiert und abgespalten wird.
Die »Dissoziation« der Juden von den Analytikern
und der heimliche Angriff auf die »jüdische Psychoanalyse«
Nun wird der psychodynamische Hintergrund der immer wieder bemühten und von D. Becker (2010, S. 260) zu Recht problematisierten Unterscheidung »zwischen Angriffen gegen Juden und gegen die Psychoanalyse«, die »für das Verständnis des Schicksals der Freud-Schule in den Anfängen des Dritten Reichs […] per se von kardinaler Bedeutung [ist] « (Schröter 2009, S. 1119), verständlicher. Diese Unterscheidung erweist sich als eine projektive Identifizierung: Der intrapsychische Konflikt der einzelnen deutschen Psychoanalytiker – mit einer ihnen erscheinenden (feindselig besetzten) »jüdischen Psychoanalyse« – wird in einem interaktionellen Konflikt innerhalb der DPG zwischen den jüdischen und deutschen Analytikern und schließlich zwischen der nationalsozialistischen Institution und der DPG, die sich als Repräsentantin der Psychoanalyse darstellte, externalisierend abgewehrt.
Genauer besehen unterscheidet der historiographische Text zwischen »Juden« und »Psychoanalyse«, mithin zwischen konkreten Personen einer Gruppe und einer kollektiven Denkform resp. »Sache«. Dies ist kein Unterschied, der einen Vergleich zuließe und einen Konflikt konstituieren könnte. Wenn es also heißt, dass »zu guter Letzt« »die vorhandene Feindseligkeit des Regimes gegen die Psychoanalyse, anders als zunächst befürchtet, bis 1936 zu keiner Verfolgung oder Unterdrückung [geführt]« (ebd.) hatte18 – dann offenbart dieser Blick seine externalisierende Funktion: 1. Die meisten jüdischen Analytiker, die im Erleben der deutschen Analytiker die »Freud-Schule« und eine »jüdische« Psychoanalyse reprä-sentierten, waren emigriert; 2. der feindliche Gegensatz zwischen den nationalsozialistisch identifizierten Deutschen und den Juden fand ab 1933 als ein Gegensatz zwischen den deutschen und den jüdischen Analytikern in der DPG verschwiegen Eingang: Die deutschen Psychoanalytiker haben gleichsam stellvertretend und in Identifizierung mit dem nationalsozialistischen Staat die »Freud-Schule« selbst angegriffen. C. Müller-Braunschweigs Verkehrung der Psychoanalyse zu einer »Sache«, die dann »arisiert« werden konnte, spiegelte gleichsam die aktiv betriebene Diffamierung und Dissoziation einer »jüdischen« Psychoanalyse, in der not-wendigerweise ihre Träger diskriminiert und ausgestoßen wurden. Ein »Bündnis mit politischen Kräften [einzugehen; Y. B.], die andere, nichtdeutsche, als >jüdisch< verpönte Positionen unterdrückten« (S. 1102), impliziert, »jüdische« Positionen selbst unterdrücken zu wollen. Die nationalsozialistische Institution sah also deswegen keinen Anlass, die »psychoanalytische Sache« anzugreifen und zu »arisieren«, weil die deutschen Psychoanalytiker in ihrer Loyalität zum und Identifizierung mit dem nationalsozialistischen Staat die »jüdische« Psychoanalyse durch eine »deutsche« ersetzten, sprich: »arisierten«. Darin besteht die »kardinale Bedeutung« jener historiographisch behaupteten Unterscheidung »zwischen Angriffen gegen Juden und gegen die Psychoanalyse«.
Woher wissen nun A. Freud und M. Schröter um jene vermeintliche Unterscheidung, wonach die 25 Mitglieder der DPG 1933/34 Deutschland verlassen hatten, weil sie Juden waren und nicht als Analytiker (vgl. S. 1088 f.)? Welche Archivquellen werden hier vorausgesetzt? Was wissen wir tatsächlich über die innere Welt, die Motivationen und das Erleben der sich bedroht fühlenden jüdischen Analytiker, die sich gezwungen gesehen haben zu emigrieren? Könnte es auch sein, dass die ins Exil getriebenen Psychoanalytiker von einem untrennbaren Zusammenhang zwischen der Diffamierung, Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bürger und Psychoanalytiker ausgegangen waren? Wer kann sich in eine solche das Denken lähmende Dissoziation einfühlen? D. Becker (2010) hat diese Problematik bereits deutlich angemeldet. Könnten die jüdischen Analytiker vielmehr überzeugt gewesen sein, dass die im Kern judenfeindliche Politik des nationalsozialistischen Deutschlands das psychoanalytische Denken selbst angreifen würde und musste? Vor allen Dingen aber auch deswegen, weil mit dem staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus die Judenfeindlichkeit institutionalisiert wurde und damit, wie in der Bücherverbrennung in aller Klarheit öffentlich deutlich wurde, »das Buch als Lebensraum« (Lhvinas 2005, S. 68), von dem sich gerade das »Volk des Buches […] nährt« (ebd.), einer zerstörerischen Verfolgung ausgesetzt wurde? Dass »dort wo man Bücher verbrennt, man auch am Ende Menschen [verbrennt] « (H. Heine 1821/23)? Dass es also keineswegs nur ein pöbelhaftes Ressentiment war, gegen eine »jüdische Psychoanalyse« zu hetzen? 19 Dass die jüdischen Analytiker es als zutiefst inhuman und als Zerstörung der persönlichen Beziehungen, die zugleich auch einen Schutz bedeuten, empfunden haben, für die Idee (der Psychoanalyse) den konkret sich als Juden identifizierenden Menschen und Kollegen aufzugeben?
M. Schröter wird nicht müde, die von A. Freud getroffene Unterscheidung immer wieder zu bemühen; als ob die Vorstellung von einer »jüdischen Psychoanalyse« schwer zu ertragen ist und daher eine (unbewusste) Tendenz in Gang setzt, einer forcierten Trennung der Psychoanalyse von ihren jüdischen Trägern das Wort zu reden, damit schließlich und endgültig von jener Vorstellung nicht mehr gesprochen werden kann. Dies scheint mir nicht nur ein Versuch zu sein, unermüdlich gegen die »historische Wahrheit« einer »jüdischen Psychoanalyse« anzuschreiben; darüber hinaus könnte hierin auch ein (un)heimliches Zentrum dieses Diskurses über das Schicksal der Psychoanalyse im nationalsozialistischen Deutschland verborgen sein. Bedeutete vielleicht die Absicht, eine »deutsche« Psychoanalyse zu entwickeln, dass eine »jüdische Psychoanalyse« qua »Gunst der Stunde« zurückgedrängt und angegriffen werden musste -bis zu dem Punkt, an dem – auch für M. Schröter nunmehr – Psychoanalyse und jüdische Existenz völlig voneinander getrennt erscheinen (sollen)?
Der »dissoziierte Jude«
In der Tat kann, wenn auch aus einer anderen Perspektive, gesagt werden, dass in jener Unterscheidung zwischen Juden und Analytikern, die alsbald zu einem (feindlichen) Gegensatz wurde, »das Kernproblem« (Schröter 2009, S. 1121) gesehen werden kann: »Der neue Vorstand glaubte Eitingon, den Psychoanalytiker, auf eine Rest-Identifizierung mit der DPG ansprechen zu können, was ihnen Eitingon, der Jude, verweigerte. Für ihn hatte schon die Kooperation mit einem anti-jüdischen Regime einen unheilbaren Bruch in der Geschichte der DPG gestiftet« (ebd.). Dieser Kommentar folgt unmittelbar der berichteten Episode, wonach M. Eitingon von F. Boehm am 13. 6. 1936 an einen Schuldbetrag von 1970,50 Mark erinnert wird. M. Schröter interpretiert dies als einen »kleinliche [n], pein-liche[n] Niederschlag des Anspruchs auf Kontinuität, den die DPG nach 1933 vertrat« (S. 1120f.). Vergegenwärtigen wir uns: M. Eitingon, der die Berliner Psychoanalytische Klinik gegründet, das Institut und den Internationalen Psychoanalytischen Verlag finanziert hatte und 1933 sich zur Emigration gezwungen sah, wird 1936 – als das psychoanalytische Institut bereits nationalsozialistisch »gleichgeschaltet« war und die DPG endgültig von einer Identifizierung mit der »Rassenpolitik des NS-Staates« (S. 1122) geleitet wurde – an seine Geldschuld erinnert. Die Mahnung F. Boehms als »kleinliche[n], peinliche[n] Niederschlag« zu bewerten, erscheint doch recht euphemistisch; vor allen Dingen aber vermag der historiographische Blick M. Schröters das offenkundige Fehlen von Scham und Schuld in keiner Weise zu verstehen und deswegen gerät ihm eher der »Anspruch« als die »Kontinuität« in die Aufmerksamkeit.20 Gerade weil die Repräsentanten der DPG längst die Tradition S. Freuds als gutes Objekt zerstört hatten, konnten sie keine Scham und Schuld in ihrer Beziehung zu ihren ehemaligen jüdischen Kollegen empfinden; jegliche Kontinuität konnte nur noch als ein von allen Zusammengehörigkeitsgefühlen entleertes Phantasma behauptet werden. Hier erscheint in aller Deutlichkeit die Skotomisierung des historiographischen Blicks M. Schröters, der weder die innere Welt F. Boehms noch die M. Eitingons zu erspüren vermag. Daher scheint er nicht zu verstehen, warum der Vorstand der DPG M. Eitingon auch nicht als jüdischen Kollegen anzusprechen vermochte, der sich in der Not sah, emigrieren zu müssen. Und umgekehrt: Weshalb sieht M. Schröter nur den sich (seinen deutschen Kollegen) verweigernden Juden (vgl. S. 1085) und nicht auch den Psychoanalytiker, der sich menschlich zutiefst verletzt fühlen musste ?21M. Eitingon ist dem Historiographen M. Schröter immer wieder nur der »Jude«. Lesen wir hier nicht erneut von einer projektiven Verkehrung? Wer hat sich denn der Solidarität »im Namen der gemeinsamen >Sache«< versagt? Waren es denn nicht gerade die deutschen Analytiker, die die Solidarität verweigerten und die »Zusammengehörigkeit [untergruben] « (S. 1102; vgl. auch S. 1122)?
Im Versuch, die innere Welt der Person des jüdischen Analytikers zu verstehen, erblickt M. Schröter den Juden und damit ein Phantasma, das die persönliche Beziehung der deutschen Analytiker zu den jüdischen Kollegen äußerlich bleiben lässt, isoliert und dissoziiert. Selbst noch der »Exodus der jüdischen Mitglieder« (S. 1087, Hervorh. Y. B.) wird zu einem »Auszug der meisten Juden« (S. 1117; Hervorh. Y. B.), der das Bild des biblisch überlieferten »Exodus« aus der Knechtschaft und Unterdrückung, den die Juden vor 3500 Jahren in freiem Willen hinter sich gebracht haben, nahelegt.
Das Bannen des »dissoziierten Juden« wird noch an einer anderen Intention dieser Historiographie deutlich: Der Text sucht dem Leser nahe-zubringen, dass die jüdischen Analytiker resp. 0. Fenichel davon ausgegangen waren, die Psychoanalyse »wäre eine jüdische Angelegenheit […]. Das mag nicht wörtlich die Meinung Eitingons gewesen sein, obwohl er als einer der ersten die Psychoanalyse ausdrücklich als >etwas von einem großen Juden Geschaffenes«< empfand (Freud & Eitingon 2004, S. 871). Aber es ist unverkennbar, dass sein (besonnenes) Verhalten in der Situation von 1933 und danach getragen war von seinem Selbstbewusstsein als Jude. Sein Austritt aus der deutschen Gruppe erfolgte, soweit ersichtlich, im Protest gegen die Diskriminierung jüdischer Mitglieder und nicht etwa wegen einer Verfälschung psychoanalytischer Inhalte, ähnlich wie bei Clara Happel« (S. 1119). Was für M. Schröter »unverkennbar« und »ersichtlich« ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als unausgewiesen vorausgesetzt: Zunächst bedeutet die Tatsache, dass ein Jude die Psycho-analyse »geschaffen« habe, keineswegs, dass diese selbst als eine »jüdische Angelegenheit« verstanden wird; wenn auch deutsche und jüdische Analytiker, übrigens auch S. Freud, von einer solchen Vorstellung offenkundig nicht ganz frei waren. Zudem erscheint M. Schröters Lesart der Worte M. Eitingons (»von einem Juden Geschaffenes«) im Kontext des Briefes an S. Freud keineswegs zwingend oder eindeutig: Im Zusammenhang seiner Absicht, in Palästina ein psychoanalytisches Institut zu eröffnen, lesen wir: »Eine Neugründung, etwas von einem großen Juden Geschaffenes, Weltgeltung Habendes soll hier eine Heimstätte haben!« (Freud & Eitingon 2004, S. 871). M. Eitingon akzentuiert hier die universelle Bedeutung der Psychoanalyse, die von einem Juden geschaffen worden sei und nun eine sichere Zufluchtsstätte haben sollte; keineswegs spricht er davon, dass die Psychoanalyse eine »jüdische Angelegenheit« darstelle. Und warum sollte M. Eitingons »besonnenes Verhalten« (allein) auf » [sein] Selbstbewusstsein als Jude« zurückzuführen sein? Es ist nicht auszuschließen und Ehre genug. Aber könnte er nicht auch als Analytiker und als Person mit einem stabilen ethischen Empfinden und Bewusstsein gegen die »Diskriminierung jüdischer Mitglieder« protestiert haben, die ihm als Mensch und Analytiker wichtiger waren als die »Sache«?
In der Tat durchzieht diesen historiographischen Text die Tendenz, den »Juden« zu dissoziieren: »Es gab vor allem unter den Emigranten aus Deutschland starke Tendenzen, den Anschein der Kontinuität in der Ar-
beit der DPG nach 1933 zu durchkreuzen. Sie beruhten teils auf politisch-theoretischen Überzeugungen, teils auf einer Art von jüdischem Nationalstolz« (S. 1116). Es muss nicht verwundern, dass es vielen nicht-deutschen Analytikern ein ernsthaftes Anliegen war, deutlich zu machen, dass in Deutschland die Tradition S. Freuds aufgegeben, abgebrochen und zerstört wurde. Aber in unserem Kontext möchte man doch zu gerne wissen, wieso dieses Anliegen »einer Art von jüdischen Nationalstolz« entspringt. Desgleichen ist in keiner Weise auszumachen, wie M. Schröter auf die Interpretation kommt, M. Eitingons Einwände gegen einen Ausschluss W. Reichs »eher auf jüdischer Solidarität oder jüdischem Stolz [beruhten] « (S. 1096, Fn. 14); dessen Brief an S. Freud vom 21. 4. 1933 kann diesen Zusammenhang in keiner Weise stützen. So wird die Vermeidung der Beziehung zu den jüdischen Analytikern insbesondere in der historiographischen Betrachtung M. Eitingons deutlich. Sie sucht in gewisser Weise die Anstrengung eines »Spagats« zwischen den sich ausschließenden Identifizierungen. Aber es stellt sich immer wieder heraus, dass u. a. dem Juden und Analytiker M. Eitingon die Einfühlung verweigert wird. Dem Historiographen gerät immer wieder der (vom Analytiker »dissoziierte«) Jude in den Blick: Das Sprechen von einem »Exodus« oder »Auszug« der Juden, das die analytische Identität vermeidet; das Aufscheinen M. Eitingons als Jude, der von seiner Identität als Psychoanalytiker vermeintlich nichts mehr wissen will; weniger als Psychoanalytiker, vielmehr »als Jude« sich verletzt gefühlt habe und daher weniger als S. Freud bereit gewesen sei, Opfer zu bringen. Immer wieder fokussiert der Text ausschließlich den von der psychoanalytischen Bewegung und Organisation getrennten »Juden«. Als ob er dem Bannkreis nicht entkommen kann, den Juda Löb Baruch alias Ludwig Börne am 7 Febr. 1832 verwundert registriert:
»Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.«
Das Gefangensein in einem solchen »Bannkreis« und das Isolieren der Identität der Juden von deren Identität als Analytiker verunmöglicht gerade die Einfühlung und Aufnahme einer Beziehung zu den jüdischen Analytikern. Wenn auch die Diskriminierung der Juden und deren Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft benannt werden – die innere Welt der aktiv handelnden Personen bleibt im Dunkeln. So muss (auch) M. Schröter dem Leser schließlich die Antwort schuldig bleiben, wie es denn zum Ende jener vermeintlichen »historischen Einheit« zum Ausschluss der jüdischen Analytiker aus der DPG gekommen ist.
Zur Frage der »moralischen Grauzonen«
Es ist nicht von Belang, ob es in dieser »erzählten Geschichte [unter den Hauptpersonen] keine Schurken und keine Helden [gibt] « (S. 1125). Wenn wir aber von »eindeutigen Opfer [n] « (ebd.) sprechen können, dann auch von »entsprechend eindeutigen Täter [n] « (ebd.). Es kommt eben darauf an, von welchen Taten wir sprechen und wie wir uns auf sie beziehen, was sie uns bedeuten. Ebenso wie die Psychoanalyse (als kollektive Denkform) nicht auf zwei Beinen zu gehen vermag, ebensowenig gibt es eine Historie, die nicht von Menschen gemacht wird. Die allgemeine Identifizierung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus war keine Naturkatastrophe, die über Deutschland hereinbrach, noch eine Epidemie, die aus heiterem Himmel große Bevölkerungsschichten infizierte – auch wenn das Handeln der Akteure gleichsam aus deren zweiter Natur entsprang und z. T. unbewusst motiviert war. Sich ausschließlich an deren bewusste Motivationslage zu halten macht ihre Spuren zu nahezu sinnlosen Fakten und befördert eine dissoziierende Lektüre, in der sich die Spuren der Vergangenheit als bedeutungslos Vergangenes reinszenieren.
In diesem Lichte erscheint die historiographische Charakterisierung des »vergeblichen Bemühens der neuen DPG-Leitung um Normalität« (S. 1114) bemerkenswert: Die Feier anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Instituts am 16. 2. 1935, »die eine Demonstration der Normalität hatte werden sollen, [wurde] durch die unentrinnbare Ambivalenz der Situation [vergällt’« (S. 1115; Hervorh. Y. B.). Hier handelt es sich keineswegs um eine sprachliche Ungenauigkeit; vielmehr um einen tiefer determinierten Lapsus : Eine Situation kann nicht ambivalent sein, allenfalls im Blick des Historiographen, der unbedacht seine Wahrnehmung von seinem Erleben und seiner Interpretation isoliert und projektiv verarbeitet. Daher gerät die vermeintlich ambivalente Situation nicht in die kritische Reflexion, die erkennen ließe, dass diese Situation sich überhaupt nur herstellen konnte, weil die deutschen Analytiker gerade nicht ihre Ambivalenz aufrechterhalten konnten; vielmehr in Identifizierung mit der institutionalisierten Judenfeindlichkeit die Psychoanalyse Freuds als gutes inneres Objekt zerstörten und ihren jüdischen Kollegen spaltend die Zusammengehörigkeit verweigerten. Zudem bedeutete das Fehlen der jüdischen Analytiker, die dieses Institut gründeten, finanzierten und mit Leben füllten, gerade auch ein Fehlen lebendiger menschlicher Beziehungen, die die zentralen Konflikte hätten (zusammen-)halten können. In der »Bitterkeit […], die Boehm zu verleugnen suchte« (ebd.), verbarg sich seine Unfähigkeit, sich in die innere Welt der diskriminierten und vertriebenen Kollegen einzufühlen und daher auch die Ambivalenz zu ertragen. Indem nun M. Schröter der Situation eine Ambivalenz zuschreibt, drängt sich ihm (unbedacht?) genau diese Unfähigkeit F. Boehms auf, die er allerdings auf die Situation verschiebt, wo sie eben nicht vorhanden sein kann und damit schließlich als ungeschehen dargestellt wird. In dieser Verschiebung, die auch noch jene Rede von der »psa. Sache« zu perpetuieren scheint, ver-birgt sich zugleich noch eine weitere affekt-isolierende und exkulpierende Strategie: Wir lesen von einer »unentrinnbare[n] Ambivalenz der Situation« (Hervorh. Y. B.). Der damit insinuierten Zwangsläufigkeit des Ge-schehens, das zu dieser Situation geführt hat, begegnen wir auch in der Schlussbetrachtung: »Die unauflösbare Spannung, die 1934/35 zwischen Boehm und Müller-Braunschweig auf der einen und Eitingon auf der anderen Seite bestand, hat etwas Tragisches« (S. 1125; Hervorh. Y. B.). Wird schon in der Zuschreibung einer Situation, ambivalent zu sein, der Frage nach den tieferen Motiven der Repräsentanten der DPG ausgewichen, so erst recht in der Rede von einer »Tragik«. Bekanntlich handeln die Agenten der griechischen Tragödie auf Ratschluss der Götter, dem sie nicht entkommen können; gleichsam als blind Handelnde, aber mit Bewusstsein begabte Menschen, vollziehen sie ungewollt und zwangsläufig den Willen einer fremden Macht. Sollte die Historiographie M. Schröters tatsächlich in F. Boehm und C. Müller-Braunschweig, aber auch in allen DPG-Akteuren, Agenten einer griechischen Tragödie sehen – und damit auch keine »eindeutigen« Täter? Es darf mit gutem Grund bezweifelt werden, ob »man hinterher immer klüger ist«. Insbesondere dann, wenn das freie Denken durch unreflektierte tiefere seelische Prozesse gehemmt wird, die das historische Geschehen tradieren, nicht vergehen lassen und schließlich abstrakt und disso-ziiert erscheinen lassen. Ja, das dergestalt gelähmte Denken sucht sich schließlich noch gegen ein Infragestellen seiner selbst zu immunisieren: So läuft jeder Leser, der die Jahre nach 1936 nicht zu dissoziieren, sprich: nicht zu vergessen bereit ist, nach der Konstruktion M. Schröters Gefahr, zu einem »Besserwisser« zu werden, der eben »hinterher« klüger zu sein vorgibt. Oder er geriert sich als ein »moralischer Saubermann«, der die »moralischen Grauzonen, in denen sich unser aller Leben zumeist bewegt, [verfehlt] « (S. 1125; Hervorh. Y. B.). Der Leser sollte sich also hüten, es besser wissen zu wollen und moralisch integer aufzutreten. Diese allgemein klingende Mahnung, die in ihrer banalen Selbstverständlichkeit eher stutzig macht, muss vor ihrem realen Hintergrund konkretisiert und in den vorliegenden historiographischen Kontext gestellt werden: Der Leser, dem es, so M. Schröter, » [nicht] gelingt, die verschiedenen Identifikationen zu integrieren« (ebd.), dürfe daher nicht das »Tragische« dieser Geschichte zu einem »scharf konturierten Bild [machen], das dann gegebenenfalls auch eine moralische Verurteilung erlaubt« (ebd.), was eben zu einem Verfehlen der »moralischen Grauzonen, in denen sich unsere aller Leben zumeist bewegt«, führen würde. Konkret und im Kontext: Eine Loyalitätsbekundung dem nationalsozialistisch-judenfeindlichen Staat gegenüber wie auch eine unmissverständliche »Zustimmung zur Rassenpolitik des NS-Staates« gehören dem historiographischen Denken M. Schröters wohl noch zu »menschlich-allzumenschliche[n] Motive [n] « (ebd.) und befänden sich in den »moralischen Grauzonen, in denen sich unser aller Leben zumeist bewegt«.22
Angesichts eines solchen historiographischen Textes – nach dreißig Jahren intensiver Auseinandersetzung der deutschen Psychoanalytiker um das Schicksal der Psychoanalyse während der Zeit des Nationalsozialismus – erscheint es nach wie vor dringlich, den zerstörerischen und judenfeindlichen Kern der Identifizierung der deutschen Analytiker jener Zeit herauszuschälen und zu analysieren (vgl. auch Brainin & Teicher 2010, S. 354). Zweifellos gehört es zu einer human-zivilisatorischen Ethik, an die Mahnung des großen Talmudgelehrten Hillel zu erinnern: »Richte deinen Nächsten nicht, bis du in seine Lage gekommen bist« (Sprüche der Väter, 11/5). Wir alle wissen nicht, wie wir gehandelt hätten. Es kann keinem Akteur der Gruppe der deutschen Analytiker nach 1945 sinnvoller-und ethischerweise vorgeworfen werden, kein Held gewesen zu sein. In diesem Sinne ist es nicht von Belang, ob es »keine Schurken und keine Helden« gegeben habe. Aufrichtigkeit, Respekt und Anstand setzen (jedenfalls nicht zwangsläufig) keineswegs voraus, ohne allen »Makel« einer nationalsozialistischen Identifizierung oder Sympathie mit dem Nazi-Regime aus jener »erzählten Geschichte« »herausgekommen« zu sein. Vielmehr und von weitaus größerer Bedeutung handelt es sich um die Frage, ob eine solche Identifizierung oder Sympathie im Nachhinein einer Reflexion und tieferen Analyse unterzogen worden sind; ob eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und Denken in der Zeit 1933-45 stattgefunden hat.M. Schröters Historiographie überliefert auf ihre eigene Weise das Verschweigen der tieferen und z. T. bewussten Motive im Handeln der Akteure jener Zeit. Die immer wieder nach 1950 gehörte Losung »Zurück zu Freud« meint, ernst genommen, einen Weg der Anerkennung, Wiedergutmachung und Annahme des guten Objekts zurück zu beschreiten und eigenen Lebenssituationen, die ehemals aufgegeben, verlassen, angegriffen resp. feindselig besetzt und zerstört wurden, zu begegnen, sprich: sich zu erinnern, was sie bedeuteten und welchen Reichtum sie zur Verfügung gestellt haben. Diese Wiederbegegnung auf der »Rückreise« könnte eine Trauer initiieren. Die Psychoanalyse S. Freuds, in der das Erzählen der persönlichen Geschichte und Tradition im Zentrum steht, wurde in Deutschland 1933-45 gewaltsam unterbunden und schließlich von den deutschen Analytikern selbst zerstört. Es erschien ihnen unerträglich, an der Repräsentanz des Juden S. Freud, des Gründungsvaters ihrer professionellen Existenz, an diesem »guten« identitätsbildenden Introjekt in der Ambivalenz festzuhalten und der Spaltung und Externalisierung des »bösen« und »zersetzenden« Fremden zu widerstehen. Die Möglichkeit zu trauern und die Geschichte als Eigenes anzunehmen wird aber gehemmt, wenn die Frage nach der Bedeutung der verlorenen, vertriebenen und vernichteten jüdischen Analytiker nicht vergegenwärtigt und die Beziehung zu ihnen isolierend vermieden wird. – L. M. Hermanns kennt von C. Müller-Braunschweig »keinen Text […], in dem er sich selbstkritisch zu seiner Vergangenheitsbelastung und der seiner Gruppe geäußert hatte« (S. 47).
M. Schröter repräsentiert uns eine Historiographie gewissermaßen ohne Erinnerung, die die entscheidenden Bedingungen des Handelns und Denkens deutscher Analytiker in den Jahren 1933-36 vergessen zu haben scheint und darüber schweigt. In diesem Sinne schreibt sich das verschwiegene und tabuisierte judenfeindliche Denken und Handeln, mit dem deutsche Analytiker bereits 1933 insgeheim identifiziert waren, re-inszenierend in diese Historiographie ein. Die historiographische Konstruktion einer »historischen Einheit«, die eben eine »Hoffnung« jener Zeit unterstellt, die Tradition S. Freuds hätte noch unter judenfeindlichen Bedingungen fortgesetzt werden können, tabuisiert die feindselige Besetzung der jüdischen Analytiker. Auf diese Weise wird das eigene Wissen und die Erinnerung vermieden und zwischen den Juden und (jüdischen) Analytikern gespalten. So schließt sich M. Schröter faktisch selbst aus der Beziehung zu den jüdischen Analytikern aus, die dergestalt zu (»ewigen«) Juden und äußerlich Fremden werden. Diese Form der Historiographie, die die Beziehung zu den ausgestoßenen jüdischen Analytikern (ver-)meidet, vermag das Trauern um den Verlust im Durcharbeiten der Erinnerung und der Spuren der Vergangenheit nicht zu befördern, geschweige denn anzuerkennen.
Kontakt: Yigal Blumenberg, Finckensteinallee 90, 12205 Berlin.
E-Mail: yiblumenberg@mac.com
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Summary
Historiography without memory? The return of the repressed via (affective) isolation of anti-Semitism in »The German Psychoanalytic Society 1933-1936« by M Schröter in PSYCHE 63, 2009. – These comments problematize M. Schröter’s historiography of the »contemporary perspective of the actors« of the German Psychoanalytic Society in the years 1933-36. His notion of an »historical unity« in that period is based on the abstraction of feelings of envy and inadequacy and on the archaic annihilation anxieties and wishes of the German analysts in their relation to their Jewish colleagues and the fantasm of »Jewish psychoanalysis.« In this way, Schröter’s historiography falls to face up to the task of working through and remembering deep-seated identifications, excludes itself from the relationship to the Jewish psychoanalysts expelled from the Society in 1935, and reenacts the dissociation in the behavior of the German »actors« in the Nazi era.
Keywords: German Psychoanalytic Society (»Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft«, DPG); anti-Semitism and Nazism; psychoanalysis and Judaism
Résumé
Une historiographie sans mémoire? Le retour du refoulé par l’isolement de l’affect de
l’ antisémitisme dans: »Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933–1936« de
M. Schröter, publié dans Psyche – Z Psychoanal 63, 2009. – Ce commentaire problématise
l’historiographie de »la perspective contemporaine des acteurs« de l’Association
allemande de psychanalyse (DPG) pendant les années 1933–1936 établie par
M. Schröter. Son estimation d’une »unité historique« de ces années repose sur l’abstraction
autant des sentiments de jalousie et d’insuffisance que des angoisses et désirs
de destruction archaiques de la part des analystes allemands par rapport à leurs collègues
juifs ainsi que sur le fantasme d’une »psychanalyse juive«. Par là, une telle historiographie
renonce à une élaboration et à une mémoire d’identifications plus profondes,
se détache des psychanalystes juifs exclus en 1935 et remet en scène la dissociation
dans le comportement des acteurs allemands sous le nazisme .
Mots clés: Société psychanalytique allemande (»Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft
«, DPG); antisémitisme et nazisme; psychanalyse et judaisme
* Ich danke Gesine Zeller-Martin für die geduldige und engagierte Diskussion der folgenden Überlegungen. Ebenfalls möchte ich mich bei Sabine Hönicke-Lersch für die ausführliche und anregende Kommentierung meines Textes und Carl Nedelmann für die kritische Durchsicht bedanken.
Bei der Redaktion eingegangen am 6. 10. 2010.
1 Der vorliegende Kommentar verwendet zwar eine pathologisierend anmutende Begrifflichkeit, sieht sich aber außerstande, auf eine andere zurückzugreifen, die eine Psychodynamik der Lektüre auch nur annähernd präziser und anschaulicher zu beschreiben vermag. Im Übrigen sollte das psychoanalytische Denken darin ernst genommen werden, dass es nicht zu pathologisieren, sondern zu verstehen sucht.
2 Es scheint, als ob sich die unreflektierte Geschichte wiederholt hätte: L. M. Hermanns beschreibt den Gründungsprozess der DPV, in dem C. Müller-Braunschweig »insgeheim Beitrittskonditionen zur IPV […] [aushandelte] und dann im Sommer 1950 die DPV [gründete], in der stillschweigenden Hoffnung, die Nicht-Neoanalytiker der DPG anschließend zu einem Übertritt bewegen zu können« (2001, S. 39; Hervorh. Y. B.). Wenn auch nicht »insgeheim« oder »stillschweigend«, so erinnern diese Bestrebungen in gewisser Weise an den Beitrittsprozess der DPG in die IPV: Obwohl seit den frühen 80er Jahren zunehmend DPG-Analytiker den analytischen Austausch mit IPV-Kollegen gesucht und intensiv betrieben haben, wurden die neuen (IPV-)Ausbildungskriterien sozusagen als »Beitrittskonditionen« gesetzt und gehandelt und gerade nicht innerhalb der DPG, gleichsam aus dem Inneren der Gesellschaft heraus, zuvor entwickelt. Offenbar haben wir es in beiden Fällen – und in diesem Sinne könnten wir darin sozusagen eine Reinszenierung und Erbschaft der DPG der Jahre 1933-36 erblicken – mit tieferen und sich reinszenierenden Gruppenprozessen einer »Anpassung« zu tun, in denen idealisierende und Über-Ich-Strukturen, archaische Sehnsüchte nach Anerkennung und Konfliktvermeidung mit Ängsten, verlassen und ausgesetzt zu werden, interagieren und labil integriert scheinen.
3 Es scheint mir nicht viel Sinn zu machen, einen originären »Machttrieb« anzunehmen, der sozusagen bei der geringsten » Chance« angetriggert wird.
4 Inwieweit »diese Linie […] von Freud und seiner Tochter gedeckt wurde« (ebd.), steht auf einem anderen Blatt; die Eindeutigkeit, die M. Schröter nahelegt, darf bezweifelt werden. So lesen wir in der Kürzesten Chronik, dass Freud mit F. Boehms »Taktik«, Eitingon solle zurücktreten und die Juden sollten freiwillig aus der DPG austreten, in keiner Weise einverstanden gewesen sei (vgl. z.B. Freud 1992i [1929-39], S. 258). Die Enttäuschung und das Ausmaß der Kränkung, die Freud angesichts von F. Boehms Vorstellungen empfunden haben muss, lassen sich auch aus der Bemerkung erahnen, die Freud einige Wochen später notierte: »[Jeanne Lampl-de Groot hatte] ihr Los mit den Juden geworfen« (S. S. 263). Hier spielt Freud wohl auf das jüdische Purim-Fest (»Losfest«) an, an dem einem geplanten Völkermord an den Juden im 6. Jahrhundert v. d. Ztr. in Babylonien gedacht wird; der Urheber dieses Plans Haman soll mit dem Los das Datum der Ausrottung bestimmt haben. Freuds Eintrag, »ihr Los mit den Juden geworfen«, überliefert uns also eine völlig andere und gegensätzliche Haltung einer nicht-jüdischen Analytikerin als die Repräsentanten der DPG: J. Lampl-de Groots tiefe Identifizierung mit Freud und den jüdischen Analytikern, deren Schicksal sie zu teilen beabsichtigte. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen.
5 H. Heine, Deutschland Ein Wintermärchen (1844).
6 Es ist interessant, dass M. Schröter später von einer »Identifikation mit dem Aggressor«
(S. 1122) spricht, die, darauf weisen auch Brainin & Teicher (2010, S. 356) hin, eine Vorstufe
in der Über-Ich-Entwicklung darstellt.
7 Ein Staat mit »dem Programm des Reichskanzlers Hitlers, dessen einziger politischer Punkt ja die Judenhetze ist« (Freud 1992i, S. 246f.). »Mein Urteil über die Menschennatur, speziell die christlich-arische zu ändern war wenig Anlaß. Mein Briefwechsel mit Einstein ist gleichzeitig deutsch, französisch und englisch ausgegeben worden, er kann nur in Deutschland weder angezeigt noch vertrieben werden« (Freud 1963a, S. 151 f.; Hervorh. Y. B.). S. Freud scheint in diesen Zeilen vom 24.5.1933 ( !) an 0. Pfister nicht nur einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Bücherverbrennung, sondern auch zwischen christlicher und »arischer« Judenfeindlichkeit zu sehen.
8 So berichtet R. Lockot von A. Freuds Eindruck, dass mit der Etablierung des Nationalsozialismus »>vor allem Müller-Braunschweig< den >Umschwung der äußeren Verhältnisse< >als lang ersehntes Mittel, um sich von den »anderen« frei zu machen<, begrüße« (Lockot 1994, S. 37) – sprich: von den jüdischen Analytikern. Wenn wir die Darstellung R. Lockots (1994) hinzunehmen, dann ergibt sich bereits für die Zeit ab 1933 auch ein anders akzentuiertes und gefärbtes Bild: Nach E. Jones habe C. Müller-Braunschweig »einen leichten Hang zur nationalsozialistischen Ideologie« (Lockot 1994, S. 35) und F. Boehm »zeige einige antisemitische Züge« (ebd.); A. Freud, M. Eitingon und E. Jones sahen in C. Müller-Braunschweig »keinen uneigennützigen, vertrauensvollen Vertreter der Psychoanalyse« (S. 37), vielmehr kokettiere er »mit dem quasi-theologischen Konzept der nationalsozialistischen Ideologie und [sei] antisemitisch eingestellt« (ebd.). Auch M. Eitingon, so in der Überlieferung R. Lockots, sei (in einem Brief an E. Jones) der Auffassung, dass C. Müller-Braunschweig »sehr leicht bereit sein [wird], sich auch mit der Nazi-Weltanschauung zu identifizieren, wenn es verlangt wird, ja er dürfte es auch unverlangt tun, wenn es irgendwie opportun wäre« (S. 38) – die »Gunst der Stunde« bestand mithin in der sich abzeichnenden Erfüllung eines lang ersehntes Wunsches, sich endlich vom »Juden« »frei zu machen«.
9 Ich schließe dies aus der Tatsache, dass dieser Ausdruck nicht in Anführungszeichen gesetzt ist.
10 Ich war geneigt, diese Formulierung, die unbewussterweise und unbeabsichtigt Dank und Mitgefühl C. Müller-Braunschweigs für M. Eitingons Austritt aus der DPG ausdrückt, zu ändern. In der Bearbeitung des Kommentars habe ich mich entschlossen, diese meine Phantasie über C. Müller-Braunschweigs innere Welt als eine Manifestation dieser hier mobilisierten Matrix mitzuteilen.
11 Vgl. Blumenberg 1997; Stegmaier 2000, S. 18ff. Ein aktuelles, zeitgenössisches Beispiel für diese denunziatorischen Rede von einer »jüdischen Psychoanalyse«: Maciejewski 2002, S. 17, 44, 61, 205, 209, 273, 278, 291, 369 Fn. 66. Vgl. hierzu auch W. Hegener (2004), der die Monographie F. Maciejewskis kritisch rezensiert.
12 Vgl. z. B. Stegmaier 2000; Vogt-Moykopf 2009.
13 Es ist mir nicht möglich gewesen, das Datum dieser Unterredung aus den vorliegenden historiographischen Veröffentlichungen zu rekonstruieren: Aus der Bemerkung F. Boehms, »daß man die jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der Vereinigung auffordern muß«, könnte gefolgert werden, daß diese Unterredung vor Anfang Dezember 1935, als die »verbliebenen jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der DPG genötigt [wurden] « (Schröter 2009, S. 1121), stattgefunden haben muß. Im Kontext der Darstellung R. Lockots erscheint dagegen das verwirrende Datum »Januar 1938« (Lockot 1985, S. 116f.). E. Jones (1984 [1962], S. 224) berichtet von einem nicht näher bezeichneten Gespräch zwischen F. Boehm und A. Freud am 8.3.1936.
14 Dieses auffallende Fehlen eines Schamgefühls darf nicht vergessen werden, auch wenn wir immer wieder lesen, S. Freud habe die Politik der deutschen Analytiker »gedeckt«. Im Januar 1937 kam F. Boehm nach Wien und schilderte über drei Stunden die Lage in Berlin, »bis Freuds Geduld platzte. Er unterbrach seine Rede mit den Worten: >Genug! Die Juden haben für ihre Überzeugungen jahrhundertelang gelitten. Jetzt ist die Zeit gekommen, da unsere christlichen Kollegen für die ihrigen zu dulden haben. Ich lege keinen Wert darauf, daß mein Name in Deutschland erwähnt wird, solange mein Werk dort richtig vertreten wird.< Sprach’s und ging hinaus« (Jones 1984 [1962], S. 224; vgl. auch Lockot 1985, S. 116). S. Freud bestand also unmissverständlich auf ein klares und selbständiges Bekenntnis der »christlichen Kollegen« zu ihren psychoanalytischen Überzeugungen und verweigerte sich allen Tendenzen, einem externalisierten Über-Ich das Wort zu reden.
15 Zu F. Boehms Bild vom »Paradies« und »Eldorado« fiel mir die nationalsozialistische propagandistische Beschreibung des KZ Theresienstadt ein.
16 Eine ganz ähnliche derealisierende Abwehr scheint aus C. Müller-Braunschweigs Brief an M. Eitingon vom 1. 1. 1935 zu sprechen: »Wir leben doch sehr auf einer Insel mit unserer Ps.A. Die Politik umbrandet die Insel […] aber wir treiben unsere Arbeit still für uns nach ihren eigenen Gesetzen« (zit. nach Schröter 2009, S. 1112). Die Juden werden tagtäglich diskriminiert und aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, und C. Müller-Braunschweig erlebt sich auf einer »Insel« — tatsächlich: »so ging das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter …«
17 »Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang […] zu bändigen […] liegt in der Handhabung der Übertragung […] indem wir ihm sein Recht einräumen, ihn auf einem bestimmten Gebiete gewähren lassen. Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem ihm gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten« (Freud 1914g, S. 134; Hervorh. Y. B.).
18 Eine Bewertung der Ereignisse, die zu vergessen scheint, dass das Frankfurter Psychoanalytische Institut bereits 1933 geschlossen wurde und am 10. Mai 1933 die Bücher S. Freuds verbrannt wurden.
19 Vgl. die Faksimiles in K. Brecht et al 1985, S. 86f.
20 So scheint M. Schröter auch über seine eigene Bemerkung – » Offenbar fanden sich die Berliner Analytiker nur schwer damit ab, daß ihnen die Zuwendungen Eitingons nicht mehr zur Verfügung standen« (S. 1113) – nicht zu stutzen. Welche Gefühlslage müssen wir hinter diesem »sich nur schwer abfinden« annehmen? Der Verlust der »Sache« wird beklagt, aber nicht der der Person.
21 Wir lesen kein Wort über das Schicksal der Emigranten; von keiner Frage nach dem Wohl der vertriebenen jüdischen Kollegen im Exil. Vielmehr vom »Ton der Klage oder gar des Vorwurfs« (S. 1114), ein Lamentieren und Einfordern von »zu viel Mitgefühl« (ebd.) von M. Eitingon.
22 Es ist zu vermuten, dass diese historiographischen Bekundungen Anlass für D. Becker sind, hierin eine »Historisierung des Nationalsozialismus« (S. 261) zu sehen, »in denen versucht wird, die ungeheuerlichen Brüche, um die es geht, nicht mehr wahrzunehmen, alles einzuglätten« (ebd.; vgl. auch Brainin & Teicher 2010, S. 353). – Der Eindruck D. Beckers, M. Schröter versuche »endlich auch das angeblich verleugnete eigene Opfertum« (2010, S. 261) herauszuarbeiten, könnte in der Rede von einer »geschrumpften Gruppe« (Schröter 2009, S. 1124) der deutschen Analytiker oder von einer »>geretteten< Gruppe« (S. 1125) seine Bestätigung finden. Wenn auch der letzte Ausdruck sich zwar auf die von A. Freud erwogene Möglichkeit bezieht, »eine kleine Arbeitsgruppe in eine andere Zeit [hinüber zu retten]« (ebd.), so schwingt doch in beiden Bezeichnungen atmosphärisch der Tenor mit, diese Gruppe sei eine von »Überlebenden«. Möglicherweise verknüpft sich dies mit der Rede von den »Hiergebliebenen« (S. 1085, 1095, 1116, 1124) und »Zurückgebliebenen« (S. 1124), »die mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert waren« (5.1126).
Kontroverse
DAVID BECKER
Historisierung des Nationalsozialismus auf dem Vormarsch
Anmerkungen zu dem Artikel über die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936 von Michael Schröter*[i]
Der Artikel von Michael Schröter enthält eine Reihe von interessanten Informationen, die ich mit Gewinn gelesen habe. Nichtsdestotrotz beschlich mich beim Lesen ein zunehmend negatives Gefühl, das ich mir zunächst nicht erklären konnte. Obwohl ich hier mit einer Fülle von Fakten konfrontiert wurde, einer scheinbar sehr ausgeglichenen und detaillierten Schilderung einer außerordentlich komplizierten Zeit, hatte ich doch immer weniger den Eindruck, wirklich Geschichte zu lernen, und immer mehr die Vermutung, vom Autor eine gewisse Lesart der Geschichte nahegelegt bzw. aufgedrängt zu bekommen. Die gewünschte Wertung wird erst gegen Ende des Artikels offen ausgesprochen:
»Es gibt in der oben erzählten Geschichte (unter den Hauptpersonen) keine Schurken und keine Helden. Und es gibt zwar eindeutige Opfer, aber keine entsprechend eindeutigen Täter. […] Vor 25-30 Jahren war es in Deutschland eine notwendige, schwierige und mutige Tat, die auf starken Widerstand stieß, die Schuld der 1933 hiergebliebenen Analytiker gegenüber den vertriebenen Juden aufzuzeigen und zur Anerkennung zu bringen. An sich ist diese Sichtweise heute so berechtigt wie je, aber ihr Kontext ist ein anderer geworden: Sie entspricht mittlerweile dem politisch korrekten Mainstream, erfordert keinen Mut mehr und nicht einmal besondere Gefühlsanstrengungen. Es ist in jeder Hinsicht viel schwerer, emotional, intellektuell und wissenschaftspolitisch, den Repräsentanten der Hiergebliebenen gerecht zu werden, die mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert waren. Vielleicht kann eine sorgfältige Betrachtung der Dokumente, wie sie oben versucht wurde, dazu beitragen, auch ihnen mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen – oder doch den Punkt genau zu bestimmen, an dem Verständnis und Mitgefühl an ihre Grenze gelangen« (Schröter 2009, S. 1125f.).
Der Autor wollte mein Verständnis wecken für die seiner Meinung nach in vorangegangenen Publikationen zu einseitig oder zu uneinfühlsam beschriebenen und möglicherweise verurteilten »Hiergebliebenen«. Er wollte mich davon überzeugen, dass es viele Opfer gibt, aber keine eindeutig zu bestimmenden Täter. Und sollten alle aufgeführten Argumente noch nicht ausreichen, mich zu überzeugen, fügte er noch hinzu, dass heute der Mainstream kritisch ist und er – der Autor – mutig die relativierende Geschichtsschreibung versucht hat.
Um mit dem letzten Argument zu beginnen, möchte ich anmerken, dass ich den Artikel des Autors weder mutig noch jenseits des Mainstreams finde. Es schadet sicherlich nichts, Mainstreamartikel zu schreiben; man kann trotzdem Recht haben. In diesem Fall allerdings verkennt der Autor die Realität. Harald Welzer, Tilmann Moser – um nur zwei bekannte Sozialwissenschaftler zu nennen – sind Exponenten dieses neuen Mainstreams, und im gleichen Psyche-Heft, in dem auch der hier zu diskutierende Artikel abgedruckt wurde, finden sich in einer Kongressbesprechung Äußerungen von Werner Bohleber, die in eine ähnliche Richtung deuten (vgl. Ruschig 2009, S. 1164). Sehr viel mainstreamiger kann es nicht mehr werden.
Zurück zur zentralen These des Autors, es gäbe viele Opfer, aber keine eindeutigen Täter. Wie entwickelt der Autor seine Argumente? Bringt er irgendwelche neuen, bisher nicht bekannten Daten, die uns zwingen würden, das Tätertum der Hiergebliebenen, hier spezifisch Boehm, Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke neu und anders einzuschätzen? Meiner Ansicht nach nicht. Vielmehr stellt Schröter weitgehend bekanntes Material dar, ergänzt durch einige zusätzliche – durchaus interessante -Anekdoten, und fügt dem sich durch den ganzen Artikel hinziehende, wertende Sätze hinzu. Es geht um die »Hoffnung, dass sich die psychoanalytische Tradition auch unter den Bedingungen des Nazi-Regimes würde fortsetzen lassen« (Schröter 2009, S. 1087), um die »zeitgenössische Perspektive der Akteure« (ebd.), um »einen unabsehbaren Prozess« (ebd.), um etwas, das als »höchst naheliegender Schritt der Selbsterhaltung« (ebd.) erscheint. Es geht um Menschen, die »wohl etwas zu rasch und zu gern die Machtchance ergriffen, die sich ihnen bot« (S. 1090), die aber »diese Chance bekamen« aufgrund von Bedingungen, »die nicht von ihnen geschaffen waren« (ebd.). Eine Analytikerin jüdischer Herkunft kommentiert den Prozess in »auffallend scharfem Ton« (S. 1092), was gegenüber »den temperierten Stimmen, die wir in den Quellen zu hören bekommen« (ebd.), auffällt. »Das Illusionäre der ganzen Perspektive ließ sich damals wohl realistischerweise noch nicht absehen« (S. 1093). Die hier zitierten Satzteile stammen alle aus den ersten neun Seiten des insgesamt 45 Seiten langen Artikels. Aber auch der Rest ist von dieser Sinngebung leider nicht frei, eher im Gegenteil. Solche und ähnliche Zusätze/Wertungen ziehen sich durch den gesamten Artikel und werden hier nur aus Platzgründen nicht wiedergegeben.
Im Zentrum des Textes steht die gebetsmühlenartig wiederholte Hypothese, dass die Verfolgung damals insgesamt noch nicht so schlimm war, dass sie sich zunächst gegen Linke und dann gegen Juden, an keiner Stelle aber eigentlich gegen Analytiker richtete. Als Kronzeugin hierfür wird immer wieder Anna Freud mit dem einschlägigen Zitat erwähnt, dass die 25 Institutsmitglieder, die Deutschland verlassen mussten, das taten oder tun mussten, weil sie Juden, nicht, weil sie Analytiker waren. Es wird aufgezeigt, dass diese Linie von der IPV vertreten wurde, dass auch Freud an sie glaubte. An bestimmten Stellen des Artikels wird sie dann noch durch den Autor ausgeweitet, indem er deutet, dass die Abneigung Eitingons gegen die zurückgebliebenen deutschen Kollegen vor allem den Verletzungen geschuldet war, »die er als Jude erlitten hatte, und dass er den Interessen der psychoanalytischen >Sache<, die für Freud seit jeher vornean standen, weniger Opfer zu bringen bereit war als dieser« (S. 1125). Und an anderer Stelle heißt es im Aufsatz: »Der neue Vorstand glaubte Eitingon, den Psychoanalytiker, auf eine Rest-Identifizierung mit der DPG ansprechen zu können, was ihnen Eitingon, der Jude, verweigerte« (S. 1121).
Nun wird ein Gedanke dadurch, dass man ihn immer wiederholt, nicht richtiger. Und auch die Tatsache, dass Anna Freud etwas gesagt hat, macht die Idee nicht per se
zu einer richtigen. Auch Anna Freud kann sich irren. Der Autor glaubt, dass diese Idee im Nachhinein – also aus heutiger Sicht – als falsch erkannt werden kann, dass es aber damals eigentlich nicht möglich war. »Im Rückblick kann man sagen: Psychoanalyse und Nationalsozialismus waren unvereinbar. Aber hinterher ist man immer klüger« (S. 1124). Nun gab es ja offensichtlich damals schon eine Reihe von Analytikern, die erkannten, dass die Idee falsch war, dass Psychoanalyse unter rassistischen Vorzeichen unmöglich ist. Schröter erwähnt auch einige, aber eher abwertend: Sie sind »Linke«, die Unruhe stiften (vgl. S. 1088), jüdische Exilierte, die »Konterbande« organisieren (vgl. S. 1117), oder, wie etwa Eitingon, beleidigte Juden (vgl. S. 1121 und 1125). Er selbst kommt gar nicht auf die Idee, die Hypothese auch aus damaliger Sicht zu hinterfragen.
Besagte Hypothese kann etwas Richtiges beschreiben, wenn es darum geht, die zentrale Stoßrichtung der Unterdrückung in bestimmten Phasen des Naziregimes genauer zu verstehen, oder auch wenn man versucht, die perversen Mechanismen zu beschreiben, mit denen die meisten totalitären Regime die Illusion schüren, von ihrer Verfolgung seien nur einzelne, spezifisch gefährliche Elemente der Gesellschaft betroffen und nicht in Wirklichkeit alle. Aber sobald dieses Argument dafür benutzt wird, angemessenes oder unangemessenes Verhalten Einzelner zu beurteilen, wird es falsch, weil zu einer Spaltung unterschiedlicher Identitätsanteile aufgefordert wird, die niemand im Rahmen psychischer Gesundheit leisten kann.
So muss man dann darüber nachdenken, wie viel Realitätsverleugnung notwendig war, um eine solche Spaltung vorzunehmen, oder man kann eine historische Tatsache -wie den auch von Schröter geschilderten unglaublichen Vorgang, in welchem Boehm vom bereits emigrierten Eitingon 1.970,50 Mark Schulden einzufordern versuchte -analysieren. Sollte sich von dieser Geldforderung der Analytiker oder der Jude angesprochen fühlen? Ist die saubere Spaltung zwischen Judentum und Psychoanalyse ein Ergebnis der faschistischen Bedrohung? Warum muss der Zusammenhang zwischen Politik und Wissenschaft verleugnet werden? Wenn der Jude vertrieben wird, bleibt der Analytiker dann in Deutschland? Wenn der Linke umgebracht wird, überlebt dann der Jude oder gar der Analytiker?
Es genügt, sich diese Fragen zu stellen, um zu begreifen, wie aberwitzig diese Konstruktion ist. Interessant ist es in diesem Zusammenhang, sich zu fragen, wie es möglich war, dass noch bis 1935 Täter und Opfer oder auch solche, die sich weder als das eine noch als das andere verstanden, geglaubt haben, eine solche Spaltung könne Sinn machen. Der Autor ist mit dieser Hypothese erschreckenderweise noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen identifiziert. Während er einerseits rückblickend anerkennt, dass sie nicht stimmt, benutzt er sie gleichzeitig als zentralen VerteidigungsBaustein seiner Überzeugung, dass es viele Opfer, aber keine eindeutigen Täter gibt. Dabei läuft er schließlich Gefahr, selbst rassistisch abzugleiten, so z.B. wenn er behauptet, der »Jude Eitingon« habe eine Restidentifizierung mit der DPG verweigert bzw. habe als Jude Verletzungen erlitten. Der Mensch Eitingon, der Jude und Psychoanalytiker und sicherlich noch vieles mehr war, wird hier als nicht-auseinander-dividierbare Einheit gar nicht mehr wahrgenommen.
Da wird des Weiteren eine merkwürdige Symmetrie zwischen beiden Seiten konstruiert, die schon damals nicht stimmte. Auf der einen Seite Boehm, Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke, auf der anderen Eitingon, Jacobson, Reich und die vielen nicht genannten jüdischen Analytiker, die emigrieren mussten. Während den ersteren zugebilligt wird, sich mit »nationale [n] oder sonstwie gruppentypische[n]
Ausprägungen der Psychoanalyse zu identifizieren und [sie] zu pflegen« (S. 1102), und ihre eigentliche Missetat darin besteht, das Bündnis mit politischen Kräften einzugehen, »die andere, nicht-deutsche, als >jüdisch< verpönte Positionen unterdrückten« (ebd.), wird den anderen unterstellt, an gewisser Stelle so etwas wie »jüdischen Nationalstolz« (5.1116) entwickelt zu haben, der es ihnen nicht erlaubte, sich im Dienste der gemeinsamen Sache weiter zu opfern. Was glaubt der Autor war 1933 »jüdischer Nationalstolz«? Auf welche Nation sollen sich »die Juden«, von denen er hier spricht, wohl damals bezogen haben?
Und dann kommt der Autor zum Gipfel der falschen Schlussfolgerung, wenn er schließlich ausführt, dass die Strategie des Überlebens in Deutschland am Ende funktioniert hätte, denn schließlich sei ja die so »gerettete Gruppe […] zum Keim« (5.1125) der neuen deutschen Psychoanalyse nach 1945 geworden. Dazu kann ich nur anmerken: Wenn es wahr ist, ist es umso schlimmer.An keiner Stelle entwickelt der Autor ein überzeugendes Argument dafür, weshalb die sich mit Nazideutschland identifizierende und in ihm aufgehende deutsche Rest-Psychoanalyse ein besonders hilfreicher Beitrag für deren Wiederentstehung nach 1945 war. Vielleicht wäre es viel besser gewesen, sie hätte sich wirklich aufgelöst. Ein klarer Bruch hätte vielleicht eine unverstelltere Aufarbeitung der Vergangenheit ermöglicht als das, womit man sich offensichtlich bis zum heutigen Tage herumschlagen muss und was in seiner Schaurigkeit immer noch unverstanden ist, wie der Artikel von Herrn Schröter zeigt.
Es geht mir nicht darum, Boehm, Müller-Braunschweig und andere einfach zu verteufeln. Es geht nicht darum – und ist meiner Meinung nach auch in den bisherigen historischen Darstellungen nie darum gegangen -, hier eine simple Konstruktion zwischen Gut und Böse aufzubauen. Aber umgekehrt, eine Art Rechnung aufzumachen, die alle Unterschiede verwischt bzw. letztendlich verharmlosend und banal festhält, dass die Hiergebliebenen »ehrenhafte« und »menschlich-allzu menschliche Motive« hatten, scheint mir eine unzulässige Vorgehensweise. Ich halte das auch nicht für ausgewogen, sondern im Gegenteil für eine Art der Moralisierung, die sich selbst in das Gewand einer objektiven Geschichtsschreibung zu kleiden versucht. Schröters Text kann verstanden werden als Teil der aktuellen Bemühungen um eine Historisierung des Nationalsozialismus, in denen versucht wird, die ungeheuerlichen Brüche, um die es geht, nicht mehr wahrzunehmen, alles einzuglätten, Raum zu schaffen, damit man endlich auch das angeblich verleugnete eigene Opfertum herausarbeiten kann.
Kontakt: Priv.-Doz. Dr. David Becker, Office for Psychosocial Issues (OPSI), FU Berlin – INA, Königin-Luise-Str. 29, 14195 Berlin. E-Mail: david.becker@fu-berlin.de
LITERATUR
Ruschig, C. (2009): Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimes (Wien). Psyche -Z Psychoanal 63, 1161-1164.
Schröter, M. (2009): »Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten …« Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936. Psyche – Z Psychoanal 63, 1085-1130.
[i] * Erschienen in: Psyche — Z Psychoanal 63, 2009, Heft 11, S. 1085-1130. Psyche — Z Psychoanal 64, 2010, 258-261
Kontroverse
ELISABETH BRAININ UND SAMY TEICHER
Kommentar zu: »Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936« von Michael Schröter in Psyche 63, 2009, Heft 11
Es ist unvermeidbar, bei dem Thema »die DPG zwischen 1933-1936« moralische Wertungen vorzunehmen, wobei der eigene moralische Standpunkt des Beobachters definiert sein muss, um eine wissenschaftlich nachvollziehbare Untersuchung durchführen zu können. »Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen etwa von Juden, Deutschen und Holländern während des Nationalsozialismus müssen bei der Auseinandersetzung mit dieser Zeit zu verschiedenen Ansatzpunkten führen« (Brainin & Kaminer 1982, S. 989f.)
In Schröters Position kann man unschwer die Aufhebung der Täter-Opfer-Dichotomie ausmachen. Dies führt zu einer Verwischung der Gegensätze, die moralischen Grauzonen sollen gesellschaftsfähig gemacht werden.(Nur wenn sie die Täter entlasten Anm.JSB)
Schröter scheint das Phänomen der »moralischen Grauzonen« (Schröter 2009, 5.1125) als unhinterfragbare Realität des Lebens vorauszusetzen. Die Fakten des Quellenmaterials scheinen bei seiner Interpretation in den Hintergrund zu treten, weil die Grauzonen angeblich unausweichlich sind. Die Fakten der Quellen stehen den Grauzonen der Interpretation gegenüber.
Worin unterscheidet sich Schröters Schlussfolgerungen von der Position Baumeyers, der 1971 schrieb, »daß die Psychoanalyse nur durch >Arier< in Deutschland vertreten werden durfte und daß Hinweise auf die jüdische Abkunft vermieden werden mußten […] Mir scheint, dass das Ergebnis nachträglich das kompromissbereite Vorgehen der DPG gerechtfertigt hat: Die Psychoanalyse ist in Deutschland erhalten geblieben … ! […] 1946 wurde nicht eine neue DPG gegründet, sondern die alte DPG (die alten Mitglieder und der alte Vorstand) nahmen ihre Tätigkeit wieder auf« (Baumeyer 1971, S. 205, 234, zit. nach Brainin & Kaminer 1982, S. 1000).
Geht es Schröter unterschwellig um die nachträgliche Rechtfertigung der Aussöhnung (keine Aussöhnung, sondern Opportunismus Anm.JSB) von beiden deutschen psychoanalytischen Gruppierungen mit der IPA?
Schröter will Müller-Braunschweig und Böhm gerecht werden, wieso spricht er von den angeblich ungerechten Vorhaltungen Eitingons?
Gleich zu Beginn erwähnt er die »jeweils verschiedenen Spielräume des Verhaltens« (Schröter 2009, S. 1087), die sich den Akteuren boten. Hätten alle Beteiligten denselben Handlungsspielraum, könnte man tatsächlich nicht zwischen Opfern und Tätern unterscheiden.
Er schreibt: »Von heute aus erscheint es als ein höchst naheliegender Schritt der Selbsterhaltung, daß die meisten jüdischen Analytiker 1933 emigrierten« (S. 1087). Sind damit die Spielräume gemeint? Weil damals noch keine Vernichtungslager existierten, gilt es als Spielraum, sein Land, seine Kultur zu verlassen, seine Existenz aufzugeben? Wieso bleibt der nicht jüdische Analytiker Kamm bei Schröter unerwähnt, der »seine Mitgliedschaft unter Protest niederlegte und gemeinsam mit den jüdischen Kollegen auswanderte« (Brainin & Kaminer 1982, S. 991 f.)?
Dann schreibt Schröter weiter, »die jüdischen DPG-Mitglieder gingen nicht deshalb in die Emigration, weil sie als Psychoanalytiker besonders verfolgt worden wären« (S. 1088). Fast alle Psychoanalytiker, die Deutschland bis 1936 verließen, waren vor allem als Juden in ihren Arbeits- und Lebensmöglichkeiten beeinträchtigt. Zu folgender Schlussfolgerung kommt er jedoch nicht: Als »arischer« Psychoanalytiker, der sich konform verhielt, hatte man absolut nichts zu befürchten.
Somit könnte man die Analytiker, die Nazi-Deutschland verließen, als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen, da sie ja nicht, noch nicht, vom Tode bedroht waren und dennoch das Land verließen. Ihre Arbeitsmöglichkeiten als Juden oder als Gegner des Regimes waren mehr als beeinträchtigt. Sie versuchten in anderen Ländern Fuß zu fassen, was nicht gerade leicht war. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Auch Schröters neue Quellen lassen die Annahme zu, dass Böhm und Müller-Braunschweig ihre Macht und ihren Einfluss auf Kosten der jüdischen Kollegen ausbauten, indem sie die Gunst der Stunde nutzten. Dies ist ihnen auch gelungen, sie wurden die jüdischen Kollegen los, sie übernahmen den Vorstand des Instituts, seine Mittel, seine Einrichtung, alles was Eitingon und die anderen Kollegen in Berlin geschaffen hatten! Was die Nutznießer der Verhältnisse dann nach dem Krieg als besondere Gefährdung und als ihren Mut darstellten, sich der »freudianischen Sache« weiter angenommen zu haben, würden wir heute als nachträgliche Umdeutung der Situation bezeichnen. Man kann sagen, dass sie ihre eigene fragwürdige Rolle während der Nazizeit heroisierten und sich als Retter der Psychoanalyse in Deutschland stilisierten. (Tatsächlich haben sie jedoch die Psychoanalyse in Deutschland gekapert, geraubt und geplündert Anm.JSB)
Sich nicht damit auseinanderzusetzen, dass man auf Kosten der jüdischen Mitglieder selbst Vorsitzender des Vorstandes und des Lehrausschusses wurde – ist das eine der Grauzonen, von denen Schröter spricht? Ideologische Nazi-Artikel im Reichswart zu schreiben gehörte wohl auch in die Grauzonen, ebenso die vorauseilende Anfrage Böhms an die Ärztekammer, ob die jüdischen Kollegen aus dem Ärztekalender zu streichen seien? Dies gehört auch in die von Schröter beschriebene Grauzone oder in die Zone des Grauens. (Deutschland: eine Grauzone Anm. JSB)
Schröter verweigert Böhm und Müller-Braunschweig nicht seine Einfühlung. Er fühlt sich in ihre Beweggründe ein, auf Eitingons Schreiben lange Zeit nicht zu antworten. Da meint er: Wie »befangen sich die beiden Deutschen Eitingon gegenüber fühlten. […] [sie] verfallen in Finanzdingen in einen Ton der Klage oder gar des Vorwurfs« (S. 1114), und weiter ahnt Schröter dann, dass es bei den beiden »Deutschen« um Gefühle der Trauer, Ohnmacht und Schuld geht.
Auch hier stellt sich die Frage, ob nicht andere Interpretationen für die affektive Seite des Geschehens möglich wären. Wie begründet Schröter diese Interpretation wissenschaftlich? Welche Texte, die diese Interpretation zulassen, werden uns vorenthalten?
Vielleicht hat das lange Schweigen Müller-Braunschweigs, auf das sich Schröter bezieht, mit schlechtem Gewissen (oder einach mit Verlegenheit Anm. JSB) zu tun, sich nicht nur eines langjährigen Kollegen entledigt zu haben (Eitingon), sondern auch sein Vermögen in Besitz genommen zu haben (wir beziehen uns da natürlich nur auf das DPG-Raubgut). Die Bibliothek hatte Eitingon >ja leider< nach Jerusalem mitgenommen, die mussten die jungen Kollegen nun entbehren, wie die beiden (Böhm und Müller-Braunschweig) beklagten.
Nach Schröter »mokiert« sich Eitingon über seine »Nachfolger« (sic) (S. 1115) in einem Brief an Anna Freud. Juden formulierten »spitz«, wie Schröter schreibt, als es um die Feier zum 15-jährigen Bestehens des Instituts ging, sie waren schließlich auch der Feier fern geblieben. Sie wurden zum Austritt aus dem Verein gezwungen, den sie geschaffen hatten, und bleiben dann der Feier fern!
Und zuletzt interpretiert Schröter die Feier wertend: » So wurde die Feier, die eine Demonstration der Normalität hatte werden sollen, vergällt durch die unentrinnbare Ambivalenz der Situation« (S. 1115). Wir wissen nicht, ob man die reale Situation 1935 in Deutschland als ambivalent bezeichnen kann, Gesetze ließen wenig Interpretationsspielraum zu, Menschen, die als Juden galten, wurden aus allen Vereinen entfernt.
Uns fällt eine Dichotomisierung der verwendeten Begriffe auf. Für die deutschen Analytiker verwendet Schröter Worte wie: Trauer, Ohnmacht, Schuld oder Befangenheit, während er für die jüdischen Analytiker Begriffe wie hämisch, mokierend, spitz und scharfer Ton verwendet. Uns scheint dies keine zufällige Wertung zu sein, die auf eine Umkehrung des Verhältnisses Opfer-Täter hindeutet. Die Einfühlung in die Motive der »deutschen« Analytiker, der Hiergebliebenen, gelingt erschreckend gut, die Distanz zu seiner Einfühlung kann Schröter jedoch auch nachträglich nicht herstellen.
Die »unschlichtbare Diskrepanz« (S. 1126) macht Schröter die Identifikation mit beiden Seiten unmöglich. Man könnte den erwähnten Brief Eitingons auch als verständliche Reaktion auf den erzwungenen Austritt interpretieren.
Schröter scheint es schwerzufallen, sich in die Reaktionsweisen der ehemaligen jüdischen Mitglieder des Instituts einzufühlen, er interpretiert ihr Verhalten im Sinne beleidigter Wehleidigkeit.
Weiters betont er die starken »Tendenzen, den Anschein der Kontinuität in der Arbeit der DPG nach 1933 zu durchkreuzen. Sie beruhten teils auf politisch-theoretischen Überzeugungen, teils auf einer Art von jüdischem Nationalstolz« (S. 1116). Dies wird nochmals in einer Fußnote auf S. 1096 über den Ausschluss Reichs unterstrichen, den Eitingon nicht guthieß. Seine Position interpretiert Schröter ebenso als »jüdische Solidarität oder jüdischen Stolz im Angesicht der Bedrohung«.
Bemerkenswert, dass Schröter sich gezwungen fühlt, mehrmals auf den jüdischen Nationalstolz hinzuweisen, ohne uns darüber aufzuklären, worin dieser besteht. Lässt der Nationalstolz die »deutschen« Kollegen die arische Psychoanalyse im Reichswart gegen den jüdischen Nationalstolz verteidigen?
Schröter unterstellt den jüdischen Analytikern, ihre partikulären, nationalen Interessen (welcher Nation sollten sie angeblich angehören? Anm.JSB) vor die »freudianische Sache« zu stellen. Sie seien in ihren Interessen so gefangen, dass sie sogar das Land verlassen müssten und ihr Vermögen aufgäben etc. Ihr persönliches Interesse stellten sie vor das der Psychoanalyse und wollten beim Internationalen Kongress in Luzern 1934 sogar gegen die DPG protestieren.
Dabei spricht er von Konterbande, wenn er über die oben erwähnten Aktivitäten der jüdischen Analytiker schreibt. »Ernster als diese Konterbande« (S. 1117) sieht er die Bestrebungen in Luzern. Auch da ist wieder ein wertender Ton aufzufinden. Da uns nicht klar war, was Schröter mit Konterbande meinte, gingen wir dem nach und fanden folgende Stelle in Wikipedia: »Bei der Konterbande handelte es sich um unmittelbares Kriegsmaterial (Waffen, Munition usw.)« (http://de.wikipedia.org/wiki/Konterbande) Ist dies als Fehlleistung des Autors zu verstehen, dass er einen militärischen Begriff für die Aktivitäten der »Einheitsfront von Reich bis Eitingon« (S. 1118) verwendet? Ging es etwa doch um den Krieg, den die Juden dem deutschen Reich erklärt hätten?
Schröter interpretiert die Vorgängen zwischen 1933 und 1936 immer wieder in der Dichotomie >Deutsche< und >Juden< und kommt zu erstaunlichen Interpretationen: »Der neue Vorstand glaubte Eitingon, den Psychoanalytiker, auf eine Rest-Identifizierung mit der DPG ansprechen zu können, was ihnen Eitingon, der Jude, verweigerte« (S. 1121). Hier scheint er wiederum auf den sogenannten jüdischen Nationalstolz zurückzugreifen, ohne zu bedenken, dass Eitingon damals bereits als Flüchtling in Jerusalem lebte.
Schröter bemüht sich, Böhm zu verstehen, und deutet bei ihm eine »Identifikation mit dem Aggressor« (S. 1122)! Böhm schrieb 1936 in einem Memorandum: Die Psychoanalyse habe eine »Nacherziehung« für Menschen zu leisten, die nicht »realitätsgerecht zu leben verstehen […] Wir Psychoanalytiker sind der Ansicht, daß nur Arier diese Nacherziehung in unserem Staate erfolgreich leisten können. Die >Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft< besteht jetzt nur aus Ariern« (Schröter 2009, S. 1122).
Mit welchem Aggressor scheint sich Böhm da zu identifizieren? Er wurde doch schließlich durch die »Arisierung« in den Vorstand gehievt und nicht angegriffen, schon gar nicht vom neuen Regime. Aber es war Böhm, der die jüdischen Kollegen zum Austritt drängte, der in vorauseilendem Gehorsam bei der Ärztekammer nachfragte usw. Sieht Schröter außer dem neuen Regime noch einen anderen Aggressor in dieser Geschichte? Vielleicht meint er bei Böhm eine Vorstufe der Über-Ich-Entwicklung (Oberst-Ich vielleicht? Anm.JSB) aufzufinden, wie sie Anna Freud als Identifikation mit dem Aggressor beschrieben hatte, und er verwendet deshalb diesen Begriff. Da hätte er wahrscheinlich recht.
Wir halten einen moralischen Standpunkt (Einfühlung und Mitgefühl reichen völlih aus, Moral braucht man nicht. Anm. JSB) nicht nur für legitim, sondern für geboten. Woran misst sich Handeln, wonach können Handlungsspielräume beurteilt werden, wenn nicht auch nach moralischen Gesichtspunkten? (nach Mitgefühl! Anm. JSB) Schröter will eine Sichtweise in anderem Kontext, für die er postuliert, den »Hiergebliebenen gerecht zu werden, die mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert waren« (S. 1126).
Abgesehen davon, dass wir die Interpretationen Schröters keinesfalls teilen, auch auf die Gefahr hin, als feige, dem Mainstream verpflichtet zu gelten, meinen wir, dass er psychoanalytische Begriffe für historische Fakten anwendet und den Affekt in Quellen interpretiert, den er zu verspüren meint. Dies erscheint uns nicht zuletzt deshalb problematisch, weil er als zentralen Begriff die »Einfühlungsverweigerung« bemüht.
Grubrich-Simitis (1995) führte diesen Begriff für die problematischen Reaktionen deutscher Psychoanalytiker bei der Behandlung von KZ-überlebenden ein: Der Analytiker muß die Tendenz zur Einfühlungsverweigerung überwinden, die sich sogar bei bloß mittelbarer Berührung mit den Fakten des Holocaust spontan einstellt« (S. 372). Wir sind nicht sicher, ob Schröter das richtig verstehen kann.
Er verwendet den Begriff für die vermeintlichen Traumen von Kollaborateuren und Nutznießern. Er will Böhm und Müller-Braunschweig die Einfühlung in ihre Motive nicht verweigern, verweigert sie aber den jüdischen Analytikern und nimmt damit unausweichlich einen moralischen Standpunkt ein, den wir seinen Grauzonen zuschreiben müssen. Welches Erkenntnisinteresse steht da dahinter?
Kontakt: Dr. med. Elisabeth Brainin, Halbgasse 6/30, A-1070 Wien. E-Mail: elis ab eth .brainin @ gmail . com
Baumeyer, F. (1971): Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. 60 Jahre DGP. Z psychosom Med Psa 17, 203-240.
Brainin, E. & Kaminer, I. (1982): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Psyche — Z Psychoanal 36, S. 989-1012.
Grubrich-Simitis, I. (1984): Vom Konkretismus zur Metaphorik. Gedanken zur psychoanalytischen Arbeit mit Nachkommen der Holocaust-Generation — anläßlich einer Neuerscheinung. Psyche — Psychoanal 38, 1-28; überarbeitete Fassung nachgedruckt in: Bergmann, M. S., Jucovy, M. J. & Kestenberg, J. S. (Hg.): Kinder der Opfer Kinder der Täter; Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt/M. (Fischer) 1995, 357-379.
Schröter, M. (2009): »Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten …« Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936. Psyche — Z Psychoanal 63, 1085-1130.
URSULA KREUZER-HAUSTEIN
Die Beziehungsgeschichte von DPV und DPG 1945 bis 1967: Offene und verborgene Auseinandersetzungen mit der NS-Geschichte*[i]
Übersicht: Die Autorin untersucht einige DPG- und DPV-Archivdokumente der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte, in denen es um Auseinandersetzungen von Psychoanalytikern beider Gesellschaften mit der Geschichte der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus geht. In einem ersten Teil beschäftigt sie sich mit offenen, verbalisierten Auseinandersetzungen, die sich prototypisch als Versuche verstehen lassen, die gemeinsame Geschichte über wechselseitige Beschuldigungen aneinander abzuarbeiten. In einem zweiten Teil geht es um verborgene Auseinandersetzungen, die sich in den Dokumenten als Abkömmlinge des Unbewussten in Begriffen, Redewendungen und Assoziationen erkennen lassen. Auf diesem methodischen Weg hermeneutischen Erfassens unbewusster Sinnstrukturen lässt sich die Autorin von drei ausgewählten Topoi leiten: » Gewalt und Fruchtbarkeit«, »Radikalamputation« und »Das Räuberische, das Auffressen« zeigen etwas von den unbewussten Ängsten, Verleugnungen und projektiven Bewegungen, eine Abwehr, die gleichzeitig wie eine vorbewusste Annäherung an die Wahrnehmung der Teilhabe an einer schwer erträglichen Regression und Barbarei erscheint, die stattgefunden hatte.
Schlüsselwörter: Psychoanalyse im Nationalsozialismus; DPV/DPG-Beziehungsgeschichte; Sündenbockfiguration; Gruppenprojektion
Die methodischen Herausforderungen, mit denen Psychoanalytiker zu tun haben, wenn sie historische Dokumente erforschen, liegen nicht nur im Bemühen um Sorgfalt und Klarheit, mit denen die Quellen ausgesucht, vorgestellt und im geschichtlichen Gesamtkontext zu lesen versucht werden. Dieses Bemühen (und das Wissen um seine Grenzen) erfordert eine ständige Reflexion des eigenen subjektiven historischen Standorts und gilt für alle, auch professionelle Geschichtsforscher. Wenn wir uns als Psychoanalytiker auf diesem Terrain bewegen und die Quellen zur Psychoanalyse in Deutschland während und nach der Zeit des Nationalsozialismus auf ihre möglichen unbewussten Bedeutungen zu entziffern versuchen, geht es darüber hinaus um eine Auseinandersetzung mit den eigenen emotionalen Antworten auf das belastende und komplizierte historische Material sowie um die Reflexion dieser Verstrickungen, um zu einem (sich immer
wieder ändernden) persönlichen und professionellen Standort zu kommen. Regine Lockot hat während unserer Arbeit in der Archivkommission zum Stichwort »Psychoanalytiker als Historiker« von »einer ganz eigenen Methode in diesem Zwischenland« (Lockot 2010, persönl. Mitteilung, E-Mail Archivkommission 10.7 2010) gesprochen, die es vielleicht noch zu entwickeln gebe. Sie vermutet unter den Mitgliedern der beiden Fachgesellschaften eine Tendenz, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte an die »Historiker« zu delegieren, manchmal wohl auch, um sich dieser Auseinandersetzung zu entledigen. Der Verweis auf die schwer zu bewältigende Materialfülle der Dokumente fungiere dann als Rationalisierung. Die eher randständige Diskussion über methodische Probleme einer »psychoanalytischen Geschichtsforschung« in beiden Fachgesellschaften lässt diese Einschätzung plausibel erscheinen. Doch die Vermittlung psychohistorischer Forschung könnte eine interessante Diskussion über einen genuin psychoanalytischen Zugang zu den Dokumenten der eigenen Geschichte ermöglichen. Sie würde das zunächst fremde Terrain der Geschichtsforschung durch den eigentlichen psychoanalytischen Blick auf unbewusste Prozesse und Strukturen in der Geschichte der Psychoanalyse vertrauter und interessanter machen.
Vor genau 10 Jahren verwies ich in der Arbeit »Die Vertreibung der jüdischen Analytiker aus der DPG – die Suche nach dem Verlorenen« (Kreuzer-Haustein 2003) auf die Notwendigkeit des Dialogs für diesen Forschungs- und Selbsterforschungsprozess:
»Wenn wir uns mit der Geschichte der Psychoanalyse im Nazideutschland beschäftigen, haben wir es nach Lockot (2000) mit dem Kennenlernen der faktischen Geschichte und mit emotionalen Antworten zu tun, oftmals […] Affekte des Erschreckens. Je mehr wir uns diesem Prozess, und eben auch dem Schrecken öffnen, umso mehr seien wir bereit, den Dialog (Dialog klingt immer gut, aber mit wem denn? Anm.JSB) zu suchen« (Kreuzer-Haustein 2003, S. 249).
Die folgende Arbeit ist aus einem solchen Dialog entstanden, der fünf Jahre später, 2008, mit der Gründung der DPG/DPV-Archivkommission begann. Auf welche Weise die sehr wertvolle Auseinandersetzung mit den Kollegen beider Gesellschaften meine Überlegungen und meinen jetzigen Standort geprägt haben, kann ich noch gar nicht einschätzen. Ich kann jedoch vorläufig zwei Punkte benennen:
– Es ist inzwischen möglich geworden, die historische Verantwortung für das Zerbrechen der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus jenseits der wechselseitigen Projektionen beider Fachgesellschaften als etwas Gemeinsames anzuerkennen und zu erforschen, worum während der Nazarethkonferenzen zwischen 1994 und 2000 noch gerungen wurde, (vgl. Erlich, Erlich-Ginor & Beland 2009; Kreuzer-Haustein 1996, 2010).
– Die Ergebnisse meiner folgenden Untersuchung unterstreichen die Einschätzung, dass wir es in Bezug auf die psychoanalytische Kultur und Community in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur mit einer Dichotomie zwischen Rettung und Zerstörung zu tun haben, sondern um deren »Zer-brechen«, wie Kafka es auf dem IPV-Kongress 2007 in Berlin in seinem Vortrag »Zerbrechen und Unterbrechen« formulierte (Kafka 2007). Die von mir untersuchten Dokumente machen verstehbar, warum es einiger Jahrzehnte bedurfte, bis auch die Psychoanalytiker wie viele andere professionelle Gruppen damit begannen (begannen, aber nicht vollbracht. Anm.JSB), sich mit ihrer schockierenden (für wen schockierend? Für mich nicht. Arschlöcher sind überall. Anm.JSB) und schmerzlichen Geschichte auseinanderzusetzen und anzuerkennen, dass sie trotz aller Bemühungen, die Psychoanalyse zu retten (wer Psychoanalyse retten wollte, musste versuchen, (jüdische) Psychoanalytiker zu retten. Anm. JSB), an ihrem Zerbrechen mitgewirkt haben. So sind in dem von mir untersuchten frühen Zeitraum der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte erwartungsgemäß nur wenige explizite, offene Auseinandersetzungen mit diesem schmerzlichen Prozess (schmerzlich – für wen denn? Anm.JSB) zu finden – überwiegend in Form von projektiven persönlichen Anschuldigungen -, aus denen ich drei ausgewählt habe.
Offene Auseinandersetzungen
»Hitlerismus« – Nazi-Beschuldigungen von Müller-Braunschweig gegen Schultz-Hencke
Müller-Braunschweigs Bemühungen, unmittelbar nach Kriegsende einen Platz im »Institut für Psychotherapie« zu finden (vgl. Lockot 1994, S. 94), nahm Schultz-Hencke außerordentlich zögernd bis ablehnend auf. In einem Brief vom 8. 7 1945 kritisiert Müller-Braunschweig den Entwurf eines Studienplans für das Institut, in dem der Grundlehrgang ausschließlich Schultz-Henckes Lehrmeinung repräsentiere:
»Sie haben die Idee der Freiheit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht bedingungslos Wirklichkeit werden lassen. Wie hätten Sie sonst Ihrer eigenen Lehrmeinung einen solchen Vorrang gegenüber den Theorien der anderen Richtung geben und zunächst einen >Grundlehrgang< planen können, in dem Sie – es drängt sich fatalerweise der Vergleich mit dem Jungvolk und der Hitlerjugend auf – zunächst die Schüler mit einem schweren –Übergewicht an Vorlesungen und Seminaren für Ihre eigene Lehre vereinzunehmen suchen. Es ist kein bloßer Zufall und müsste auch Ihnen ernsthaft zu denken geben, dass ich von mehreren Seiten den Vergleich des Hitlerismus zu hören bekam […] : Hier wie dort die gleiche Überzeugtheit von der einzig wahren Lehrmeinung, der gleiche >unbeugsame< Wille, die Lehre zum Siege zu führen« (Müller-Braunschweig/Schultz-Hencke Briefwechsel, DPG-Archiv, Dokumente Helmut Bach; Hervorh. U.K.-H.).
Der außerordentlich scharfe Duktus dieser Passage geht weit über eine von Frostigkeit, Kränkung und erbitterter Rivalität getragene Auseinandersetzung hinaus. Es sind Diffamierungen, mit denen Müller-Braunschweig Schultz-Hencke als Nazipädadogen zu stilisieren versucht, der seine psychoanalytischen Schüler indoktrinieren will. Auch seine Anschuldigungen in den nächsten Jahren kreisen – im Ton etwas weniger diffamierend – um Schultz-Henckes Versuch einer »Unifixierung der Wissenschaft«, die ein fruchtbares Austragen wissenschaftlicher Differenzen verhindere (vgl. Brief von Müller-Braunschweig vom 5. 11. 1949, in Brecht et al. 1985, S. 187). Doch indem Müller-Braunschweig in diesem Brief durch die Bemerkung »Ich glaube, dass die Differenz weniger auf wissenschaftlichem Gebiet liegt« die vielleicht ungewollte Selbsteinschätzung anklingen lässt, dass die »Wissenschaft« lediglich das Kampffeld für sehr persönliche Rivalitäten und Verletzungen darstellt, wird klarer, um was es geht: Schultz-Hencke zum Sündenbock für die eigene, uneingestandene Kollaboration mit den nationalsozialistischen Repräsentanten1[ii] zu machen, was schließlich in der gesamten Präsentation gegenüber der IPV in Zürich 1949 besonders deutlich wird (s.u.).
Gegen Ende des oben zitierten diffamierenden Briefs aus dem Jahr 1945 wirft Müller-Braunschweig Schultz-Hencke vor, den »Todeskeim« des Nationalsozialismus weiterzuführen, und proklamiert anschließend einen humanistischen Neubeginn, eine
»Zeit, die sich erneut auf die hohen Werte einer echten Menschlichkeit und einer Demokratie im idealen Sinne zu besinnen beginnt« (zit. nach Brecht et al. 1985, S. 187).
Der letzte Satz liest sich wie ein Aufruf zur Restitution politischer Vernunft und gleichzeitig wie ein verzweifelter Versuch, einen Rettungsanker zu beschwören, um in einem Land, das 1945 in Schutt und Asche lag und dessen Soldaten eine schreckliche Verwüstung angerichtet hatten, überhaupt zu überleben. Indem Müller-Braunschweig in Schultz-Hencke eine Projektionsfigur für die eigene Kollaboration mit nationalsozialistischen Repräsentanten findet, lesen sich seine scharfen Anschuldigungen wie eine projektive Verarbeitung seiner eigenen Ansteckung mit dem »Todeskeim«, dem auch er, Müller-Braunschweig, nicht entgehen konnte. Vor allem aber suggeriert das Bild des »Todeskeims« eine passiv erlittene lebensbedrohliche Situation. Eine Ansteckung mit dem »Todeskeim« beschwört etwas Schicksalhaftes, dem man nicht entkommen konnte, und entzieht sich der eigenen Verantwortung.Auch wenn Müller-Braunschweig der Aufforderung der Gestapo, in die NSDAP einzutreten, nicht nachkam, sind sein Denken und seine Begrifflichkeit in seinen Publikationen von einer solchen »Ansteckung« nicht frei und Teil seiner Kollaboration. Dazu gehören sowohl seine Veröffentlichung von 1933 über »Psychoanalyse und Weltanschauung« als auch ein Typoskript vom Juni 1935 mit dem Titel »Nationalsozialistische Idee und Psychoanalyse« (vgl. die Analyse von Schröter 2010, S. 1138-1141).
Anschuldigungen nach dem Zürcher Kongress von Schultz-Hencke an Müller-Braunschweig
Nach dem Züricher Kongress macht Schultz-Hencke in einem Brief vom 5. 11. 1949 Müller-Braunschweig heftige Vorwürfe, weil der die Zensur im Nationalsozialismus nicht benannt habe:
»Sie wußten, daß es ausdrücklich verboten war, Freud auch nur kritisch zu erwähnen. Sie wußten, dass ich im 3. Reich unter keinen Umständen anders veröffentlichen konnte, als ich es tat. […] Darüberhinaus aber wußten Sie ganz genau, dass Ihre Hörer in Zürich alle diese Daten nicht kannten. Kameradschaftlicherweise hätten Sie die unter allen Umständen nennen müssen! Das bemängele ich!« (zit. nach Lockot 1994, S. 234).
Was Schultz-Hencke hier kritisiert und nachträglich einklagt, ist eine Situation, die vermutlich zu einem noch größeren Desaster in Zürich geführt hätte als der interne, nun öffentlich inszenierte Bruderkampf zwischen Schultz-Hencke und Müller-Braunschweig. Denn wenn Müller-Braunschweig 1949 vor den internationalen Kollegen in Zürich, darunter vielen jüdischen Emigranten, das Verbot, »Freud auch nur kritisch zu erwähnen«, ausdrücklich benannt und zur Diskussion gestellt hätte, dann hätte das vermutlich bei einem Teil der Zuhörer, und vor allem bei den jüdischen Emigranten, die Verbrennung der Freudschen Schriften in Erinnerung gebracht. Und damit wäre eine Situation entstanden, in der die Analytiker der DPG die von ihnen aus der DPG vertriebenen jüdischen Kollegen an das Trauma erinnert hätten, das sie ihnen zugefügt hatten und das wahrzunehmen sie selbst noch nicht bereit und in der Lage waren. Denn von einem Verbot zu sprechen, »Freud auch nur kritisch zu erwähnen«, ist eine bagatellisierende Umschreibung einer menschenverachtenden Bücherverbrennung, und macht deutlich, wie sehr sich die Analytiker 1949 vor der Wahrnehmung nationalsozialistischer Zerstörung »artfremder« Kunst und Wissenschaft schützen mussten. Stattdessen stellt Schultz-Hencke in Zürich einen schwer verständlichen, in einer ganz eigenen Gedankenwelt versponnenen Vortrag zur »Psychoanalytischen Begriffswelt« zur Diskussion (zit. nach Lockot 1994, S. 343-348), der anschließend »von Müller-Braunschweig […] in Grund und Boden gestampft wurde [n]. Ob Schultz-Hencke narzisstisch und selbstgerecht seine rationalistischen –Überlegungen zur psychoanalytischen Theoriebildung durchgezogen hat, ohne Rücksicht auf die Gefühle der im Saale sitzenden emigrierten Kollegen zu nehmen, oder ob Müller-Braunschweig mit Kalkül und nachgerade heimtückisch Schultz-Hencke auf diesem internationalen Podium als Dissidenten gebrandmarkt und damit erledigt hat, das unterliegt der wechselnden Perspektive des Beobachters« (Hermanns 2010, S. 1163).
Meiner Einschätzung nach ergeben beide Perspektiven zusammen ein annähernd stimmiges Bild. Aus einer gruppendynamisch-politischen Perspektive lässt sich das Geschehen in Zürich als Versuch einer Sündenbockfiguration per Identifizierung mit dem Angreifer interpretieren. (Ach, wie kompliziert! Eine dicke Lüge als Schutzbehauptung, reicht auch. Anm.JSB) Müller-Braunschweig konnte
»angesichts einer verfahrenen internen Situation […] seine Identifizierung mit den potentiellen Angreifern aus der IPV zum Ausdruck bringen. Als >deutscher Sündenbock< ist nun Schultz-Hencke gekennzeichnet. Tatsächlich ist ja auch er, gemeinsam mit Kemper, derjenige gewesen, der die strukturelle Tradition des Göring-Instituts fortgesetzt hat, wenn ihn auch weniger seine Inhalte, als sein diktatorischer Stil in der Nähe des Nationalsozialismus hat erscheinen lassen […]. Damit erschien Schultz-Hencke in verhängnisvoller Weise als mit der durch die Nationalsozialisten vollzogenen >Gleichschaltung< identifiziert« (Lockot 1991, S. 64).
So lässt sich der Kampf zwischen Schultz-Hencke und Müller-Braunschweig in Zürich wie ein Schaukampf vor den internationalen Kollegen verstehen, um von der gemeinsamen Verantwortung für die Geschichte abzulenken und auf diese Weise sowohl die zu vermutende enorme Angst (vor der Rache der jüdischen Kollegen) zu bewältigen als auch die Angst, den eigenen Schuld- und Schamgefühlen zu begegnen. Damit zeigt die oben genannte Briefpassage im Rahmen des Zürcher Gesamtgeschehens beispielhaft etwas von den Inszenierungen beider Gesellschaften nach dem Krieg, über Kämpfe, wechselseitige Beschuldigungen und paranoide Reaktionen die gemeinsame Geschichte aneinander abzuarbeiten. Es brauchte einige Jahrzehnte, schwer Scham und Schuld Raum zu geben, d. h. die depressive Position zu wagen und anzuerkennen, trotz aller Bemühungen, die Psychoanalyse zu retten, an ihrem Zerbrechen mitgewirkt zu haben.
Diese Erkenntnis war 1949 nur sehr vereinzelt möglich. Doch wie in jeder Abwehr lässt sich auch im Brief Schultz-Henckes etwas vom Abgewehrten selbst erkennen: Er verweist, wenngleich bagatellisierend, darauf, dass er »im 3. Reich unter keinen Umständen anders veröffentlichen konnte, als […] [er] es tat«. Das hätte in der DPG eine Diskussion über das Leben als Psychoanalytiker in der Nazidiktatur eröffnen können, aber in einer solchen Auseinandersetzung wäre wohl schmerzhaft deutlich geworden, dass die meisten der DPG-Kollegen dem Verbot, »Freud auch nur kritisch zu erwähnen«, nachgekommen waren.
Der Vorwurf der Parteizugehörigkeit und der Streit um das Kürzel »gegr. 1910« -Schwidder an Scheunen
Als Werner Schwidder im Januar 1959 Nachfolger von Böhm wird und sich sowohl um Kontakte mit der DPV bemüht als auch darum, eine eigene internationale Vereinigung (die spätere IFPS) zu organisieren (s. u.), verschärfen sich die Rivalitäts- und Revierkämpfe zwischen den beiden Fachgesellschaften. Ein Streitpunkt ist das »gegr. 1910«, das die DPG als Zusatz in ihrem Namen verwandte. Das Kürzel fungierte zweifellos wie ein Symbol für die Zugehörigkeit zur psychoanalytischen, von Freud begründeten Tradition und wurde für die DPV ein zunehmendes Ärgernis, weil sie zwar inzwischen Mitglied in der IPV war, gleichzeitig jedoch nach wie vor in der IPV um Anerkennung kämpfen musste und deshalb auch bemüht war, als alleinige Nachfolgegesellschaft der »alten« DPG zu gelten. Lockot sieht im »>angemaßte[n]< >gegr. 1910< […] [einen] Fetisch für Integrität den Vertriebenen gegenüber« (Lockot 2010, S. 1239). Ähnlich sieht sie in den damaligen Beschuldigungen, Schultz-Hencke verfolge mit seinem Amalgamierungskonzept »Vernichtungsambitionen«, eine »Dämonisierung Schultz-Henckes« (ebd.). Beides – die Dämonisierung Schultz-Henckes und der Kampf um das »gegr. 1910« – seien »>notwendige< Station[en] […], sich dem Geschehenen zu stellen und es zugleich verleugnend zu verschieben« (ebd.).2[iii]
Im Zuge einer dieser Kontroversen um das »gegr. 1910« wandte sich Schwidder an Scheunen und verwahrte sich gegen die historische Interpretation in der DPV, nach der die DPG 1945/1946 (neu) gegründet worden sei. Vielmehr gehe es nach der »erzwungenen Auflösung« 1938 um eine Wiedergründung der DPG, weshalb sie auch das Recht auf den Traditionszusatz »gegr. 1910« habe. Dann schreibt Schwidder, dass zur Zeit der Wiedergründung nach den
»damaligen Bestimmungen […] alle Mitglieder, die sich nicht nationalsozialistisch betätigt hatten, wieder aufgenommen […] [wurden]. Das war bei allen der Fall mit einer Ausnahme: Sie wissen, dass es sich um Ihre Person handelt« (Schwidder, Brief an Scheunert vom 14.4.1962, DPG-Archiv).
Hier bringt Schwidder Scheunerts Parteimitgliedschaft ins Spiel, Scheunert wird als Person und Repräsentant der DPV zur Zielscheibe eines nicht genau benannten Angriffs, der sich jedoch im Gedankenfluss selbst, in der Abfolge der Argumente dieser Passage erschließen lässt. Zunächst besteht Schwidder darauf, dass die DPG 1946 keine Neugründung war, sondern eine Wiedergründung. Er begründet das mit einer »erzwungenen Auflösung« und meint damit eine von den Nationalsozialisten erzwungene Auflösung. Doch die DPG stimmte – zwar nach zunehmender Kontrolle und Überwachung des Lehrbetriebs durch Göring – auf ihrer Generalversammlung vom 19. November 1938 für eine Gleichschaltung, was einer Auflösung gleichkam. Sie gab dem politischen Druck nach.3[iv] Schwidder reduziert diese Ereignisse auf eine passiv erlittene »erzwungene Auflösung«, sodass die »wiedergegründete« DPG nach dem Krieg berechtigt sei, den Zusatz »gegr. 1910« in ihrem Namen zu verwenden. So liest sich diese Gedankenfolge wie ein Versuch, sich als eine Gesellschaft zu legitimieren, die gleichsam ungebrochen (oder allenfalls durch eine erzwungene Auflösung »unterbrochen«) in einer Traditionslinie der alten, freudianischen DPG steht. Auf diesen Selbstbehauptungsversuch folgt, scheinbar völlig unvermittelt, der Hinweis auf die NSDAP-Mitgliedschaft von Scheunert. Diese kurze Passage gibt damit einen Einblick in einen vergeblichen unbewussten Versuch, an eine ungebrochene psychoanalytische Tradition anzuknüpfen: 1. Wir stehen in der psychoanalytischen Tradition der alten (guten) DPG. 2. Die Auflösung der DPG war erzwungen und steht nicht in unserer Verantwortung. 3. Die DPV hat ein prominentes NSDAP-Mitglied, nicht wir!4[v]
Doch es ist insgesamt fragwürdig, das Kriterium der Parteizugehörigkeit für die Frage nach der historischen Verantwortung heranzuziehen, vergleicht man z. B. die Lebensläufe von Scheunert und Müller-Braunschweig: Während Scheunert NSDAP-Mitglied war und diese Mitgliedschaft nie geleugnet hat – er hat sie nur nicht »vor sich hergetragen«, wie er mehrmals bemerkte -, hat Müller-Braunschweig durchaus, wie bereits erwähnt, nationalsozialistische Ideen in Form »substantieller Zugeständnisse« (Schröter 2010, S. 1138) formuliert. Und er hat nach Hermanns (2001) an keiner Stelle seiner Schriften etwas Selbstkritisches über sich oder seine Gruppe gesagt, während Scheunert bereits 1956 einige selbstkritische Überlegungen über die Verwicklungen mit dem Naziregime formuliert hat, was für diese Zeit ungewöhnlich war. Hermanns fragt, ob nicht »auf dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Scheunen in der kleinen DPV-Gruppe ein Großteil der politischen Belastungen abgeladen worden ist« (Hermanns 2001, S. 49).
Diese Einschätzung ist Teil einer Analyse der DPV-internen Auseinandersetzungen in den 80er und 90er Jahren, während der Brief von Schwidder ein Vierteljahrhundert früher datiert ist. Ich füge diese verschiedenen Zeitachsen zusammen, um deutlich zu machen, dass sowohl Schwidders Legitimierungsversuch als auch die Einschätzung über die Sündenbock-rolle von Scheunert für die DPV den gleichen Mechanismus (auf verschiedenen Terrains) erkennen lässt: In der DPV ging es in der Diskussion um Scheunert um eine gesellschaftsinterne Regulation von historischer Verantwortung, sie war Teil der gesamten heftigen historischen Kontroverse, die u. a. in der Psyche 1982/83 ausgetragen wurde. Im Brief von Schwidder an Scheunen 25 Jahre früher ging es um einen Regulationsversuch dieser Verantwortung zwischen den beiden Gesellschaften. Schwidders Anschuldigung der Parteizugehörigkeit Scheunerts ist in einen Assoziationsfluss eingebunden, der insgesamt vor der Wahrnehmung der historischen Realität schützen soll: dass es unabhängig von persönlichen Lebensläufen und Parteizugehörigkeiten eine gemeinsame historische Verantwortung für das Zerbrechen der psychoanalytischen Kultur in Deutschland gibt. Das »gegr. 1910« wird zum Legitimierungs-Symbol pervertiert, die Mitverantwortung für dieses Zerbrechen wird verleugnet. Es geschah längst vor der administrativen »Auflösung« der DPG, nämlich bereits ab 1933, dass die DPG sich die nationalsozialistische Rassendefinition für eine Mitgliedschaft in der DPG zu eigen machte: Im November 1933 übernahmen Müller-Braunschweig und Böhm den Vorsitz der Gesellschaft und entließen den jüdischen Vorsitzenden Eitingon aus seinem Amt. Im Dezember 1935 wurden die jüdischen Mitglieder aufgefordert, die DPG zu verlassen.
In den 80er Jahren begann, ähnlich wie in der DPV, auch in der DPG eine Auseinandersetzung über die eigene Geschichte, in der auch das »gegr. 1910« zum Thema wurde und heftige Kontroversen über dessen Symbolgehalt auslöste. Ein Teil der Mitglieder sahen in diesem Namenszusatz geradezu eine Art »Bekenntnis zur Geschichte«, weil in der Zeitmarkierung 1910 die gesamte Geschichte der DPG und damit auch die Beschädigung der Psychoanalyse – eher im Sinne eines »Unterbrechens« (Kafka) – mit gedacht werde. Ein anderer Teil der Mitglieder interpretierte das Festhalten am Traditionssymbol dagegen als Leugnung des »Zerbrechen« (Kafka) der psychoanalytischen Kultur. Da sich auf diese Weise in dieser Kontroverse sehr unterschiedliche Positionen entzündeten, brauchte es ca. 20 Jahre, bis die Mitglieder 2003 beschlossen, den Zusatz »gegr. 1910« aus dem Namen der Gesellschaft zu streichen. Er war übrigens nie im Vereinsregister eingetragen, was Regine Lockot damals bei ihren Recherchen herausfand.
Verborgene Auseinandersetzungen
Der Austritt der DPV-Mitglieder auf der Generalversammlung der DPG Ende 1950: »Gewalt und Fruchtbarkeit«
An der entscheidenden Generalversammlung der »Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft« vom 3.12.1950 (vgl. Protokoll der Generalversammlung) nahmen 21 Mitglieder teil. Acht Mitglieder, die bereits am 13.5.1950 die Planung einer eigenen Gesellschaft beschlossen und am 10.6.1950 die »Deutsche Psychoanalytische Vereinigung« gegründet hatten, ohne dies in der DPG bekannt zu machen, erklären am Ende der Sitzung ihren Austritt: Dräger, Kath, March, Ada und Carl Müller-Braunschweig, Scheunen, Steinbach und Werner.
In dieser turbulenten und dramatischen Sitzung geht es an mehreren Stellen um die Begriffe » Gewalt« / »gewalttätig« und gleichsam als Kontrapunkt um »Fruchtbarkeit«. Müller-Braunschweig hatte offensichtlich in seinem anfangs verlesenen Bericht von » Gewaltmaßnahmen des Instituts« gesprochen (dem »Institut für Psychotherapie«), dem Baumeyer entgegenhält: »M-BR spricht von Gewaltmaßnahmen des Instituts E.V. Ist es etwa keine Gewalt, wenn ein Vorsitzender wie Sie so gröblich seine Pflichten verletzt? «
Hier bezieht Baumeyer sich vermutlich auf Müller-Braunschweigs heimliche Gründung der DPV ein halbes Jahr zuvor, vielleicht aber zusätzlich auf dessen Schreiben an Jones vom 30. 4. 1950, in dem Müller-Braunschweig eine Aufnahme der noch zu gründenden DPV in die IPV sicherstellen wollte. Frau Fuchs-Kamp, DPG, spricht von einem Irrtum Müller-Braunschweigs, wenn er glaubt, dass
»viele Mitglieder mit fliegenden Fahnen zu ihm überschwenken. Aber gerade hier irrt er, sein Fait accompli ist ein Gewaltakt«.
Frau Fuchs-Kamp verweist auf die Verständigungsbereitschaft der neoanalytischen Gruppe und beklagt sich über March, DPV, der offensichtlich weitere Verhandlungsangebote über die Konflikte abgelehnt hatte, und fügt hinzu, dass von Seiten der DPG »keine gewalttätige Abdrängung« vorliege. Später begründet March, warum die DPV-Gruppe nicht eher ausgetreten sei:
»Man hat bereits die Fruchtbarkeit der Begegnungen hervorgehoben. Gerade aus Fruchtbarkeit haben wir gemeint, dass sich in der DPG diese Begegnung ergeben wird.«
Und schließlich greift Wiegmann, DPG, eine Bemerkung Scheunerts auf, der »die Unfruchtbarkeit als Ergebnis der Atmosphäre« erwähnte. »Wieso soll Schultz-Hencke dazu beigetragen haben? Schultz-Hencke führt die Freud’sche Lehre fruchtbar weiter« (Hervorh. U.K.-H).
Die Begriffe und Redewendungen lassen eine Dichotomie von Gewalt und Fruchtbarkeit erkennen. Die wechselseitigen Beschuldigungen und Rechtfertigungen zeigen, wie sehr der Wunsch nach fruchtbarer Auseinandersetzung in der DPG Ende 1950 eine Illusion war. Er musste scheitern, weil die Wahrnehmung und Anerkennung einer schwer erträglichen Realität noch nicht möglich war: daran mitgewirkt zu haben, dass die Kollegen, die in Deutschland lebten und arbeiteten und die die Nationalsozialisten zu »Juden« gemacht hatten, die DPG und Deutschland verlassen mussten. Damit waren kollegiale und freundschaftliche
stört, ebenso die Tradition einer psychoanalytischen Kultur und Community. Besonders eindrucksvoll und knapp zeigt sich für mich die Verkennung dieser Realität in einer Einschätzung von Böhm, die in indirekter Rede gegen Ende des Protokolls zusammengefasst wird:
»1945 hätte M-B eine blühende Gesellschaft übernommen. Als Facit seiner 5jähr. Tätigkeit hinterliesse er eine ruinierte Gesellschaft, einen Torso.«
Die DPG von 1945 als »blühende Gesellschaft« zu charakterisieren, ist angesichts der gerade beschriebenen Situation eine so radikale Umdeutung und Missrepräsentation der Realität dieser Gesellschaft, dass sich diese Formulierung Böhms am ehesten als massive Abwehr der damaligen schwer erträglichen Bedrohung und Angst verstehen lässt. Und gleichzeitig finden Bedrohung und Angst ihren Ausdruck in Chiffren wie »Gewalt« und »gewalttätige Abdrängung«, die sich durch die gesamte Mitgliederversammlung ziehen. Sie zeigen sowohl die persönlichen erbitterten Rivalitätskämpfe als auch die Ungewissheit über die Zukunft der eigenen professionellen Existenz. Doch darüber hinaus lassen sie eine unbewusste/vorbewusste Ahnung der verleugneten viel schlimmeren, »tatsächlichen« Gewalt erkennen, die längst passiert war. Gezwungenermaßen, gewaltsam haben die meisten Kollegen, die zu »Juden« gemacht wurden, Deutschland (zum Teil auch diese Welt Anm.JSB) verlassen, sie wurden »abgedrängt«. 42 von insgesamt 56 jüdischen Psychoanalytikern mussten die DPG und Deutschland verlassen, 23 wurden ermordet oder in den Tod getrieben (vgl. Hermanns 2001, S. 46; Lockot 2000, S. 135; Kreuzer-Haustein 2003, S. 235). Doch im Verborgenen lässt sich in den unbewussten projektiven Bewegungen dieser Generalversammlung, in den feindseligen Vorwürfen gegen die eine oder die andere Gruppe, ein verzweifeltes Ringen um Auseinandersetzung und Verständigung und um die Sehnsucht nach einem blühenden Neuanfang erkennen. Die Versammlung endet mit der Austrittserklärung der 8 DPVKollegen, deren Namen im Protokoll genannt werden:
»Böhm kann Tränen der Rührung nicht vermeiden, wie er selbst sagt. Dräger, Kath, March, 2x Müller-Braunschweig, Scheunert, Steinbach und Werner verlassen den Ausschank.«
Wir wissen nicht, was sich in diesen Tränen verbarg.
»Radikalamputation«
Böhm gibt dem Bild des Torso (vgl. dazu auch Hermanns 2013), das er in
der Generalversammlung verwendet, seine eigene Interpretation: eine
»ruinierte Gesellschaft«. Ähnlich wie in der beschriebenen Dichotomie
von »Gewalt und Fruchtbarkeit« ist im Topos des »Torso« sowohl Zerstörung als auch ehemaliger Glanz repräsentiert, denkt man z.B. an den Torso einer antiken Skulptur. Ist in diesem Topos also beides vereint, so löst der der »Radikalamputation«, den Kemper in einem Brief an Böhm vom 31. 1. 1951 verwendet, ausschließlich zerstörerische Assoziationen aus. Im Zusammenhang mit der Gründung der DPV bezweifelt er, »dass die Gruppe von Müller-Braunschweig […] durch die Radikalamputation ihrerseits […] die Anerkennung [in der IPV, U.K.-H] erzielen wird. Hat diese Gruppe denn überhaupt Nachwuchs? Sie wissen, dass Müller-Braunschweig mein Lehrer war. Ich hätte ihm persönlich einen anderen Abgang vom psychoanalytischen Welttheater gewünscht. Durch seinen unseligen Vortrag in Zürich hat er aber erst die volle Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Dinge gelenkt, die auf jeden Fall intern hätten geregelt werden müssen. Schade! Mir scheint, dass er ein Grossteil seines Ressentiments aus der Hitlerzeit jetzt in verschobener Form abgeladen hat« (Kemper, Brief an Böhm vom 31. 1. 1951, DPG-Archiv; Hervorh. U.K.-H.)
In dieser scharfen Kritik wirft Kemper Müller-Braunschweig vor, mit nationalsozialistisch gefärbten Ressentiments gegen Andersdenkende -gegen Schultz-Hencke und gegen die in der DPG verbliebenen Kollegen -vorzugehen, um sich ihrer per »Radikalamputation« zu entledigen.Der drastische Topos der Radikalamputation ist mit der Vorstellung verbunden, schwerkranke Teile des Körpers chirurgisch abzutrennen, um das Leben eines Menschen zu retten, d. h. ein Teil des Körpers wird amputiert, damit der restliche Körper lebensfähig bleibt. Auch wenn der Begriff »radikal« ein gängiger Begriff ist, der in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwandt wird, so lässt der Begriff der »Radikalamputation«, den Kemper verwendet, um die »Abtrennung« der DPV von der DPG zu beschreiben, an die Rassenideologie der Nationalsozialisten denken: an die »Radikallösung« nämlich, die Vernichtung der Juden, um den »gesunden Körper des deutschen Volkes« lebensfähig zu halten. Und auch die deutschen nicht-jüdischen Psychoanalytiker haben sich radikal aller deutschen und ausländischen jüdischen Kollegen im November 1933 und im Dezember 1935 »entledigt«. Auffallend ist außerdem, dass Kemper sich hier, sonst ein eher um Integration bemühter Mensch, ausschließlich gegen Müller-Braunschweig und dessen (Gegen-)Vortrag in Zürich richtet und nicht auch Schultz-Hencke zumindest erwähnt, dessen Vortrag ja gerade die »Weltöffentlichkeit« 1949 so irritiert hat. Auch wenn er Schultz-Hencke freundschaftlich-loyal verbunden war, ist diese einseitige Positionierung augenfällig, mit der er die schon bestehende Spaltung weiter festigt. Er stellt sich ganz an Böhms Seite und stellt damit eine Nähe zum »amputierten Opfer« her, d. h. zu Böhm und zu den in der DPG verbliebenen Kollegen, und nimmt allein Müller-Braunschweig in die Verantwortung für das Desaster in Zürich und für den folgenreichen Alleingang, die heimliche Gründung der DPV.
Es geht an dieser Stelle nicht um die Person Kempers, sondern um Kemper als Repräsentanten unbewusster Gruppenbewegungen, mit denen die Psychoanalytiker im damaligen Deutschland schwer erträgliche Schuld, Scham und Verantwortung zu regulieren versucht haben. Auch wenn eine solche Lesart spekulativ ist, ist unbestritten, dass die Psychoanalytiker während der NS-Herrschaft in ihrem täglichen professionellen und privaten Leben mit den Naziideologien konfrontiert waren und deshalb auch unbewusste Identifizierungen anzunehmen sind, denen schwer zu entkommen war. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, eröffnet uns die Sprache der Dokumente etwas von diesen Identifizierungen.
In ähnlicher Weise verstehe ich eine kurze Passage von Schultz-Hencke aus seinem Lehrbuch der Analytischen Psychotherapie aus dem Jahr 1951, auf die Armin Pollmann mich aufmerksam machte. Schultz-Hencke, der nach den uns vorliegenden Quellen kein überzeugter oder gar aktiver Nationalsozialist war, beschäftigt sich an dieser Stelle in einem bedauernden Ton mit den Grenzen/dem Versagen der Aufklärung, dem immer wiederkehrenden Versagen des »Verstands«: Er schließt mit dem Satz:
»Daher schwelt mit wachsender Rauchentwicklung das Feuer der Unzufriedenheit mit dem in Wirklichkeit nur überschätzten Verstand und mit dem Versagen der Aufklärung, der Wissenschaft. In den 30er Jahren war es Angelegenheit eines Teils der SS, die solchen Rauch entwickelte« (SchultzHencke 1951, S. 167).
Ähnlich wie im Topos der »Radikalamputation« sind auch in dem der »Rauchentwicklung« unbewusste Spuren von Erfahrungen aus der Nazizeit erkennbar. Pollmann sieht im Topos der »Rauchentwicklung« eine »besonders krasse Verdrängung und […] Wiederkehr des Verdrängten« (1992, S. 6). Die einzige ihm bekannte Äußerung Schultz-Henckes zur SS habe dieser »- man muß wohl annehmen völlig unbewusst – in einem Atemzug mit >Rauchentwicklung< erwähnt, ohne dass ihm die Nähe zu Bücherverbrennung und Vernichtungsöfen deutlich zu werden scheint« (ebd.).
So lesen sich diese Dokumente wie exemplarische Belege für die These des Historikers Jörn Rüsen, der in seiner Arbeit »Holocaust-Erfahrung und deutsche Identität« (2001) schreibt:
»In der ersten Epoche der Nachkriegszeit blieb natürlich der Nationalsozialismus im Bewusstsein und erst recht im Unbewussten aller Zeitgenossen lebendig. Seine Verbrechen hatten sich in die Erinnerung der Täter und der Opfer und all derer, die über sie Bescheid wussten oder sie zumindest ahnten, eingebrannt« (Rüsen 2001, S. 96).
Das »Räuberische«, das »Auffressen«, »An die Wand gedrückt werden«
In einem persönlichen Brief von Werner Becker, dem damaligen Leiter des Berliner Psychoanalytischen Instituts (BPI), an Baumeyer vom 16. 7 1966 taucht der Topos des »Auffressens« auf. Hintergrund ist eine längere Kontroverse, in der es um eine Position Schultz-Henckes geht, der einen Prozess zunehmender Verschmelzung verschiedener analytischer Schulmeinungen in Nordamerika zu beobachten meinte. Becker hält die Einschätzung Schultz-Henckes für nicht zutreffend. Allerdings gebe es sehr wohl gelungene Bemühungen der Kooperation verschiedener Schulen, aber die »Amalgamierungsbestrebungen« [Begriff von Schultz-Hencke] würden »als bedrohliches Auffressen empfunden«; die »Vertreter verschiedener Schulen [könnten] unter anderem deswegen in einer psychoanalytischen Vereinigung sein […], weil keine Gruppe versucht, eine andere quasi >aufzufressen< und/oder ihre >Lebensfähigkeit< zu bestreiten. Gerade dies jedoch ist ja die Tendenz der Neoanalytiker gegenüber den >Freudianern< in Berlin gewesen« (Becker, Brief an Baumeyer, DPV-Archiv; vgl. Lockot 2009, S. 4).
Baumeyer hingegen glaubt nicht,
»dass innerhalb der DPG irgendwo die Neigung besteht, andere >aufzufressen< oder ihre >Lebensfähigkeit< zu bestreiten. Sie begehen überhaupt, wie mir scheint, den Irrtum, die DPG mit Schultz-Hencke gleichzusetzen« (Brief an Becker, DPG-Archiv).
Richter formuliert in einem Brief an Scheunert vom 20. 09. 1962 die im BPI grassierende Angst, wegen des federführend von Frau Dührssen betriebenen Vorhabens des sogenannten Kulturplaninstituts (vgl. die Arbeit von Lacher 2013) in Bedeutungslosigkeit zu verschwinden:
»Wenn wir aus der Angst heraus verhandeln, am Ende doch von den Schultz-Hencke-Leuten gefressen zu werden, so ist natürlich nichts zu holen« (Brief von Richter an Scheunert vom 20.9.1962, DPV-Archiv).
Im Juli 1961 greift Laforgue, Ehrenmitglied der DPG in einem Brief an
Schwidder eine Formulierung auf, die Schwidder zuvor benutzt hatte,
seine Angst nämlich, »an die Wand gedrückt zu werden«. Doch dieser Gefahr, so Laforgue, seien »die Orthodoxen ausgesetzt – aber nicht wir«. Es sei »die Zeit gekommen, auszuschwärmen wie die Bienen« (»essaimer comme les abeilles«) (Brief von Laforgue an Schwidder vom 4. 7 1961, DPG-Archiv; vgl. Lockot 2009, S. 16).
Laforgue war Mitbegründer der freudianischen Societe Psychanalytique de Paris und einer der internationalen Kollegen, mit denen Schwidder im Kontakt war mit dem Ziel, einen eigenen internationalen Zusammenschluss nichtorthodoxer Gesellschaften als Pendant zur IPV zu gründen, verbunden mit dem Wunsch, zum geplanten Gründungskongress 1961 auch »orthodoxe« Freudianer mit einzubeziehen.5[vi] Die sehr interessante Korrespondenz von Schwidder mit vielen interessierten internationalen Kollegen im ersten Halbjahr 1961 zeigt sein großes Engagement und Bemühen, eine nichtorthodoxe Bewegung und auch Organisation zu kreieren – die spätere IFPS -, ohne dass es zu einem Bruch mit der IPV kommt (vgl. DPG-Archiv sowie Lockot 2009, S. 14-19). Die zunehmenden, vor allem internationalen Aktivitäten Schwidders und der DPG zu dieser Zeit beunruhigten einige DPV-Kollegen, die schon 1959 das Programm der DPG-Jahrestagung in Göttingen mit Argwohn beobachtet hatten. Sie zogen sich frostig zurück, Gesprächsangebote und Einladungen Schwidders zu DPG-Tagungen wurden abgewiesen, die DPV wird angesichts der internationalen Aktivitäten von Schwidder besorgt über ihre alleinige (deutsche) Mitgliedschaft in der IPV (vgl. auch Hermanns 2013).
»Für die von der DPG im Oktober 1961 nach Düsseldorf einberufene internationale Tagung zieht die DPV erfolgreich alle Register bei der IPV, um die Teilnahme von vielen bekannten IPV-Mitgliedern aus aller Welt zu verhindern, was ihr auch gelingt« (Hermanns 2013, S. 708).
Das Bild des »Gefressenwerdens« war damals ein gängiges Bild zwischen der Psychiatrie und der Psychotherapie. Im hier untersuchten Archivmaterial zeigt es – ebenso wie die Topoi »An die Wand gedrückt werden«, »Radikalamputation« – etwas von der damaligen heftigen Rivalität um den Einfluss in der psychoanalytischen Landschaft. Doch all diese Topoi, vielleicht vor allem der orale des Auffressens, lassen in einer Zeit beginnenden wirtschaftlichen Wachstums die Spuren der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen basaler Ängste und Nöte wie Hunger, Raub und physische Bedrohung erkennen. Sie zeigen zudem etwas von den affektiven Spuren der vergangenen starken Bedrohungen des professionellen Lebens als Psychoanalytiker im Nazideutschland: das Misstrauen, die Angst vor Verrat, die Angst, als Analytiker keine Bedeutung mehr zu haben, einen sozialen Tod zu sterben. Doch darüber hinaus geben uns diese Dokumente Einblick in ein Ahnen darüber, an einer bedrückenden, katastrophalen zerstörerischen Regression teilgehabt zu haben, deren Folgen sich vielleicht auf bedrängende Weise während der Eichmannprozesse unterschwellig bemerkbar gemacht haben. Einige dieser letztgenannten Briefe von 1961 und 62 sind in der Zeit der Eichmannprozesse entstanden (vgl. Lacher 2013). Der Versuch der »arischen« Psychoanalytiker im nationalsozialistischen Deutschland, in einer Dichotomie von Rettung und Zerstörung der psychoanalytischen Kultur und Community zu taktieren und zu überleben, führte schließlich dazu, dass die »Lebensfähigkeit« der jüdischen Kollegen bestritten wurde, sie »an die Wand gedrückt«, inhaftiert und einige von ihnen ermordet wurden.
Ich habe versucht, zu beschreiben, auf welche Weise in einigen ausgewählten, exemplarischen Topoi Abwehrbewegungen erkennbar sind, die etwas von den Spuren einer schwer erträglichen katastrophalen Erfahrung ahnen lassen. Die Teilhabe an dieser Katastrophe hat von Dohnanyi, der damalige Hamburger Bürgermeister, treffend in seiner viel beachteten Rede zum IPV-Kongress in Hamburg 1985 als einen unheimlichen, schleichenden Prozess beschrieben. Ohne den Gestus dessen, der glaubt, damals wachsamer und mutiger gehandelt zu haben, sagte er:
»In der Gefahr, das Ganze zu verlieren, wurde Teil auf Teil geopfert. Ein jeder Schritt rational und zugleich in der falschen Richtung. Hier ein Kompromiss der Personen, dort einer in der Sache: immer im vermeintlichen Interesse des zu bewahrenden Ganzen – das es am Ende nicht mehr gab« (Dohnanyi 1986, S. 86 f.).
Brecht, K., Friedrich, V., Hermanns, L.M., Kaminer, I.J. & Juelich, D.H. [unter Mitwirkung von Lockot, R.] (Hg.) (1985): »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter …« Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Hamburg (Kellner).
Dohnanyi, K. von (1986): Eröffnungsrede zum 34. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung am 28. Juli 1985. Psyche – Z Psychoanal 40, 860-863 (sowie Forum Psychoanal 1, 1985, 324-326).
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Hermanns, L.M. (2001): Fünfzig Jahre Deutsche Psychoanalytische Vereinigung. Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland 1950 bis 2000. In: Bohleber, W. & Drews, S. (Hg.): Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart. Stuttgart (Klett-Cotta), 35-57
(2010): Die Gründung der DPV im Jahre 1950 – im Geiste der »Orthodoxie« und auf der Suche nach internationaler Anerkennung. Psyche – Z Psychoanal 64, 1156-1173.
(2013): Gedanken zu den Gruppenbeziehungen von DPG und DPV in den Jahren 1950-1967 Psyche – Z Psychoanal 67, 696-714.
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Summary
The history of relations between DPG and DPV from 1945 to 1967: Overt and covert engagement with Nazism. – The author investigates a number of documents from the archives of the German Psychoanalytical Society (DPG) and the German Psychoanalytical Association (DPV) dating from the 20 years after the Second World War. They revolve around the engagement of psychoanalysts from both bodies with the history of psychoanalysis during the Nazi era. The first part examines overt explicitly verbal responses that can be understood prototypically as attempts to come to terms with this common history by way of mutual accusations. The second part looks at covert forms of engagement identifiable in the documents as unconscious derivations manifesting themselves in concepts, idioms, and verbal associations. In this hermeneutic approach to unconscious structures of meaning, the author gears her remarks to three selected topoi: »violence and fertility,« »radical amputation,« and »predatory devouring.« They all reflect something of the unconscious anxieties, denials, and projections forming a complex defense mechanism that at the same time resembles a preconscious approach to the perception of involvement in the almost intolerable regression and barbarism that took place in the period in question.
Keywords: psychoanalysis in the Nazi era; relations between German Psychoanalytical Society (DPG) and German Psychoanalytical Association (DPV); scapegoat configuration; group projection
Résumé
L’histoire de la relation DPV/DPG de 1945 à 1967: les débats ouverts et les débats
couverts sur l’histoire du national-socialisme. – L’auteure examine certains documents
d’archives de la DPG (»Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft«, Société psychanalytique
allemande) et de la DPV (»Deutsche Psychoanalytische Vereinigung«, l’Association
psychanalytique allemande) datant des deux premières décennies d’aprèsguerre
et ayant pour sujet les débats des psychanalystes des deux associations sur l’histoire
de la psychanalyse sous le national-socialisme. Dans la première partie, elle traite
les débats ouverts et verbalisés qui peuvent être saisis en tant que prototypes de tentatives
d’élaboration de l’histoire commune concernant les accusations réciproques.
Dans la seconde partie, il s’agit des débats couverts se manifestant dans les documents
comme résidus de l’inconscient dans leurs termes, formulations et associations. Sur ce
chemin méthodologique de la compréhension herméneutique de structures de sens
inconscientes, l’auteure se laisse guider par les trois topoi qu’elle a choisi de retenir.
»Violence et fécondité«, »amputation radicale« et »piller et dévorer« révèlent les peurs
inconscientes, les dénis et mouvements projectifs: une défense qui semble simultanément
avoir représenté une approche pré-consciente de la perception d’avoir participé à
une régression et barbarie insupportables.
Mots clés: psychanalyse sous le national-socialisme; histoire des relations »Deutsche
[ii] 1 Hier vor allem der Vetter von Hermann Göring, der Psychotherapeut Mathias Heinrich Göring, der Leiter des im Februar 1936 gegründeten »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie« (»Göring-Institut«) war.
[iii] 2 Die Interpretation, Schultz-Hencke habe mit seinem »Amalgamierungskonzept« Freuds Theorie einebnen/zunichte machen wollen, ist ähnlich wie der unten beschriebene Topos der »Angst, aufgefressen zu werden« zu verstehen.
[iv] 3 Der beschlossene Tagesordnungspunkt hatte den Wortlaut: »Die Gesellschaft wird aufgelöst infolge ihrer Überführung in das Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie als dessen Arbeitsgruppe A« (»Katwan-Bestand« im Archiv der DPG, Archivnummer 2.47; vgl. auch Schröter 2010, S. 1151). Schröter analysiert einige diesem Beschluss vorausgegangene Briefwechsel und Treffen von Müller-Braunschweig und Böhm mit den internationalen Repräsentanten Jones und Anna Freud, in denen es um die damalige Situation der DPG und ihren Verbleib in der IPV ging, nachdem die DPG bereits 1936 ihren Austritt aus der IPV erklärt hatte, den sie anschließend wieder zurücknahm.
[v] 4 Interessant ist übrigens, dass nie eine Diskussion um die Parteimitgliedschaft von Wieg-mann (DPG) stattgefunden hat, der seit April 1940 NSDAP-Mitglied war. Vielleicht ermöglichte die Nazi-Projektion der DPV auf Schultz-Hencke, Wiegmann als DPG-Repräsentanten in der DPG zu schützen (pers. Hinweis von Regine Lockot).
[vi] 5 Zu dieser Bewegung gehörten neben Laforgue vor allem Erich Fromm (Mexiko), Westerman-Holstijn (Holland) und Kollegen der Horney-Gruppe. Ein Brief von Westerman-Holstijn an Schwidder vom 26. 2. 1961 scheint mir die politische und psychoanalytische Richtung und das damit verbundene Dilemma (der großen Ambivalenz der Psychoanalyse gegenüber) treffend zu charakterisieren: er teile »Freudsche Grundbegriffe, viele andere aber nicht« und hoffe auf einen Ausweg zwischen Scylla (Dogmatismus) und Charybdis (Alles darf) (vgl. Lockot 2009).
Buchbesprechung
ULRICH SCHULTZ-VENRATH, KÖLN
Der Mißbrauch von Geschichte als transgenerationelles Traumatisierungsphänomen*[iii]
Es gibt wohl nur wenige Bücher, die bei Psychoanalytikern so vehemente Gefühle freigesetzt haben wie die jüngste Veröffentlichung von Annemarie Dührssen, emeritierte Ordinaria des Lehrstuhls für Psychotherapie und psychosomatische Medizin des Klinikums Westend[iii] der Freien Universität Berlin, Jahrgang 1916 und Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft.
Die erregten Äußerungen, die seit dem Erscheinen laut wurden, reichen vom »erneuten Einzug des intellektuellen Antisemitismus in die Psychoanalyse« bis zu resignativ verkehrten Wünschen, »leider könne man Frau Dührssen nicht wegen Volksverhetzung anzeigen«. Natürlich wird unter ihren Anhängern beschwichtigt, der Vorwurf des Antisemitismus bekümmere sie sehr, sei ihr doch eine solche Einstellung völlig fremd. Aber welcher Analytiker ist schon frei von jenen personal-, instituts- und vereinsbedingten Abhängigkeiten, die das jeweilige Gesichtsfeld in jahrelangen Korrekturen der Wahrnehmung vermutlich mehr eingeengt als erweitert haben? Bei Büchern, die derartige Affekte auslösen, sollte man die unbewußten Motive besonders untersuchen, wenn es sich nicht um ein kalkuliertes Manöver handelt, um bloß nicht in Vergessenheit zu geraten.
Dührssens Buch entzieht sich zunächst jeder Einordnung; denn weder läßt es sich als Zeugnis einer Zeitgenossin noch als Werk einer Historikerin rezensieren. Die Autorin teilt uns weder ihre persönlichen Erfahrungen mit, die sie als Ausbildungskandidatin bzw. Psychotherapeutin am Reichsinstitut für Psychologische Forschung und Psychotherapie und dem Nachfolge-Institut der DPG gemacht hat, noch nutzt sie die Standards und Regeln, die das Handwerk des Historikers auszeichnen. Sie hat es nicht nötig, Zitate zu belegen oder Quellen zu benennen, die
ausgewählte Literatur ist nicht auf dem Stand der gegenwärtigen historischen Forschung. Weder ist ihr der Nachtragsband der Gesammelten Werke Freuds von 1987 bekannt, noch, daß es seit 1988 mit Luzifer-Amor eine Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse gibt, noch wird auf den denkwürdigen Katalog anläßlich des 34. Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Hamburg zur Geschichte der Psychoanalyse (Brecht et al., 1985) oder auf andere seriöse Historiker, wie z. B. Grubrich-Simitis (1993), Bezug genommen. Insofern werden die sachlichen Interessen eines historiographisch interessierten Lesers gleich vielfach verletzt. Aber genau das ist das Dilemma des Rezensenten : Wollte man all die Fehler, die skotomhaften Auslassungen und suggestiven Verdrehungen wirklich auflisten, würde man den Leser nur langweilen.
Der scheinbar neutrale Titel des Buches, in dem das Adjektiv »psychoanalytische« groß geschrieben ist (gibt es also doch noch eine heimliche Idealisierung der Psychoanalyse ?), täuscht und enttäuscht die Erwartung des Lesers. Es handelt sich keinesfalls um eine historische Analyse der psychoanalytischen Bewegung. Dazu ist das Buch zu sehr aus der Perspektive der Selbstrechtfertigung geschrieben. Es handelt sich allenfalls um die Dokumentation einer einseitigen Vereinnahmung abweichender psychoanalytischer Konzepte, etwa am Beispiel Ranks (»Ich halte nichts von einer lang hinausgezogenen Psychoanalyse« [S. 92]), die dem Phantom einer »fundamentalistischen« Position entgegengestellt werden: »Die psychoanalytische »Identität« sollte sich nach den Vorstellungen der Fundamentalisten daran knüpfen, daß das reine Gold der >strengen, der tendenzlosen Analyse< als die beste und wirksamste Behandlungsmethode anerkannt wurde und daß die Durchführung solcher Psychoanalysen die Grundvoraussetzung dafür abgab, daß ein Bewerber in die Internationale Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde« (S. 96). Abgesehen davon, daß jede Gruppe ihre Standards der Ausbildung selbst festlegt und das Freud-Zitat vom Gold der strengen Analyse doch schon weitsichtig auf die Probleme der zukünftigen Versorgungsrealität der Psychoanalyse hinwies, fragt man sich angesichts der Parteinahme Dührssens für Kurztherapie oder niederfrequente Psychotherapie, ob sie sich selbst im Fall einer Herz- oder Nierentransplantation mit einem Chirurgen zufriedengäbe, der seine operativen Erfahrungen ausschließlich am entzündeten oder »unschuldigen« Appendix gesammelt hat.
Es geht Dührssen um eine höchst persönliche Bilanz, unter Ausschluß
ihrer Biographie, die pathetisch mit dem ersten Satz eingeleitet wird:
≫Wir stehen am Ende eines Jahrhunderts≪, obwohl intendiert ist, ≫wir
stehen am Ende der Psychoanalyse≪. Und dies nicht, weil sich einige Historiker
in ≫einem wahren furor biographicus≪ in Annaherung an Freud
als Person zu sehr fur die Länge seiner Fußnägel oder die Position seiner
Zahnbrücken interessiert hatten (Grubrich-Simitis, 1993), sondern weil
die Gruppendynamik der ≫elitär, auserwählt, aber auch als verfolgt erlebten
≪ aufweise, die sich ≫bis heute unter den orthodoxen Psychoanalytikern
erhalten haben≪ (S. 23). Es ist für Dührssen beinahe wie
im Leben, daß Sektierer nicht nur immer die anderen, sondern auch an
ihrem Aüßeren zu erkennen sind, weshalb sie nach körperlichen Gebrechen
bei den Mitgliedern des ≫Geheimen Komitees≪ sucht, uber die
Jones angeblich gesagt haben soll: ≫Keiner von uns war ein gut aussehender
Mann≪ (S. 66). Mit Erstaunen ist festzustellen, das sie das tatsachlich
ernst meint: Als Beleg werden Karikaturen von Szekely-Kovacs
und Bereny (1954) angefuhrt, deren Quelle sie mit dem Geheimnis des
≫Privatdrucks≪ umhüllt, obgleich jedes gut geführte psychoanalytische
Antiquariat diese Karikaturen heute führt und Lück und Mühlleitner
(1993) diese sogar kürzlich herausgegeben haben: ≫Tatsächlich fällt diese
Eigentümlichkeit dem Betrachter der wenigen Bilder, die von den Beteiligten
erhalten sind, besonders auf. Keiner sah gut aus, keiner war groß
gewachsen≪ (S. 66). Was anderes als tiefer Antisemitismus soll denn diesem
durchgehend entwertenden Schreibstil zugrunde liegen, der sich der
Aufzählung von persönlichen Schwächen nicht zu schade ist, etwa wenn
sie auf das Stottern Eitingons gleich zweimal Bezug nehmen muß (S. 68,
193), das ihn zunächst am erfolgreichen Abschluß des Gymnasiums gehindert
habe, oder wenn sie die beruflichen Umwege Eitingons und Simmels
mit dem Weg (des Ariers) Borhm vergleicht: ≫Im Gegensatz zu den
beiden Altersgenossen Max Eitingon und Ernst Simmel hat er (Borhm)
sein Medizinstudium mit eindeutigem Berufsziel begonnen≪ (S. 193).
Die (un)heimliche Bindung Dührssens an hochgewachsene, blauäugige,
blonde Männer, führt sie zu der antifeministischen Äußerung, daß die
Komitee-Mitglieder ≫in ihrer männlichen Identität… erschüttert und
verunsichert≪ oder nicht groß genug gewachsen waren (S. 67).
Ihre Methode ist in der heutigen Literatur zur Selbsthistorisierung der
Psychoanalyse ohne Vorbild, ihre Wahrheiten sind weder neu noch originell,
es handelt sich um ≫Als-ob≪-Wahrheiten, vermutlich weil sie sich
mit der Psychoanalyse Freuds weder partiell noch ganz identifizieren
konnte oder durfte (oder wollte. Anm. JSB). So bergen Dührssens Zeilen oft Züge eines tragischen, wenn nicht perversen, Mißverständnisses, was bereits auf den ersten Seiten des Vorworts deutlich wird: ≫Immerhin wurde im Jahre 1992
auf der Delegiertenversammlung des Deutschen Ärztetages der neue
›Facharzt für psychotherapeutische Medizin‹ in die Weiterbildungsordnung
der Ärzte eingeführt und damit eine Entwicklung zum Abschluß
gebracht, die genau 90 Jahre zuvor unter dem Einfluß Freuds und der ersten
Psychoanalytiker ihren Anfang (Hervorhebung USV) genommen
hatte≪ (S. 9). Woher weiß Dührssen, das Freud schon diesen Facharzt
wollte, der heute so berechtigt sein mag? Statt die verschiedenen Spannungsfelder
der Institutionalisierung der Psychoanalyse – Therapie versus
Wissenschaft, Ausbildung in Privatvereinen versus universitäre Einbindung,
Psychoanalyse versus Psychotherapie mit oder ohne Laienanalyse
– zu diskutieren, mißbraucht Dührssen Freud für ihr gesundheitspolitisches
Interesse gleich zweimal: 1. der richtige, in der Tradition der
Psychoanalyse gedachte Abschluß mit Integration in die Medizin wäre
der Arzt für Psychoanalyse. Die Probleme, die Psychologen oder Laienanalytiker
mit einer solchen Bezeichnung hatten, sind andernorts zu
diskutieren, da Dührssen fur beide nichts übrig hat, aber die Folgen sind
dramatisch: Die theoretische Flachheit einer Professorin für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie über die Psychoanalyse ist ebenso
verwunderlich (als hatte sie Freud nur selektiv gelesen) wie das völlige
Fehlen der psychoanalytischen Kulturtheorie. 2. beginnt die psychoanalytische
Bewegung mit dem Hypnotismus und spaltet sich davon ab.
Als unvoreingenommener Leser wundert man sich über Dührssens Logik:
≫Man konnte kaum im Ernst behaupten, daß die Entwicklung bis
zu einem ›Facharzt fur psychotherapeutische Medizin‹ vor allem durch
jene Psychoanalytiker vorangetrieben wurde, die sich zu den Mitgliedern
der ›Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung‹ zählen. Eher
im Gegenteil!≪ (S. 10). Das überrascht, ging es den Psychoanalytikern
der ersten Stunde doch um Aufbau, Entwicklung und Forderung einer
psychoanalytischen Wissenschaft und nicht um einen Facharzt, auch
wenn sich nicht wenige, wie zum Beispiel Felix Deutsch (1959), später
die Frage stellten, wie es dazu kommen konnte, das die Medizin als
Mutterwissenschaft ihr begabtestes Kind, die Psychoanalyse, beinahe
verloren oder so zurückgewiesen habe, daß das Kind für lange Zeit nicht
mehr nach Hause zurückkommen wollte. (Wobei die Frage, welchen
Anteil das weggelaufene Kind, die Psychoanalyse, hatte, trotz Dührssen,
heute ebenfalls noch unbeantwortet ist). Noch überraschender ist allerdings,
daß Dührssen wider besseren Wissens (Dührssen, 1992) oder in
neidvoller, unverarbeiteter Ambivalenz in diesem Zusammenhang verschweigt, daß es immerhin Ernst Simmel war, der als erster (und als IPV-Mitglied) das Profil dieses Facharztes 1926 formulierte, ohne den Boden der Psychoanalyse zu verlassen (Simmel, 1927a). Als Jude, Sozialist und Psychoanalytiker war Simmel Dührssen und ihren Anhängern schon auf der Hamburger DKPM-Tagung 1990 ein Dorn im Auge, als aus ihrem Kreis das Gerücht in die Welt gesetzt wurde, Simmel habe sich gerichtlich wegen Scharlatanerie verantworten müssen.Natürlich war es für die alte sogenannte »Neo«-Analytiker-Fraktion ein Ärgernis, daß Simmel wie im Hase-und-Igel-Spiel immer schon da war, wohin die Bande des Reichsinstituts unter Verleugnung des Unbewußten, der Sexualität und psychoanalytischen Psychosomatik auch wollte, seien es die ersten Verhandlungen mit den Krankenkassen 1918, sei es die Gründung der ersten psychoanalytischen Poliklinik 1919, sei es der Facharzt für Psychotherapie oder sei es die Einrichtung einer ersten psychoanalytischen Klinik in Sanatorium Schloß Tegel 1927 (Simmel, 1993; SchultzVenrath, 1992). Nur aus der Kränkung, sich letztlich nicht gut genug zu fühlen, kann man die Projektion verstehen, etwa wenn Dührssen wiederholt auf einen Arier-Juden-Vergleich zurückgreift. Nur einer sei angeführt: »Boehm war gewiß ein treuer und ergebener Anhänger von Freud. Verglichen mit Eitingon und Ernst Simmel (der ein Sanatorium, aber keine Ambulanz leitete)« — letzteres ist nachweislich falsch — »waren seine therapeutisch-psychoanalytischen Erfahrungen jedenfalls umfangreicher« (S. 193). Man fragt sich, woher Dührssen weiß, daß »Ernst
Simmel zu klein war, um Schauspieler zu werden« (S. 193), auch wenn sie sich auf Lockot (1985) beruft, die das gar nicht geschrieben hat.
Die Melange aus Geschichte, tiefer Gekränktheit und egoistischen berufspolitischen Interessen mündet in einen eigenwilligen und fremdartigen Stil. Immer wieder fühlt man sich ihrem suggestiven Wunsch nach Kontrolle und Manipulation der Geschichte ausgesetzt. Auch wird man an den perversen Modus erinnert, ein nie besessenes oder verlorenes Primärobjekt (das in diesem Falle Freud heißt) (wieder)zugewinnen (Khan, 1989). Nach der Unfähigkeit zu trauern sind wir nun mit dem Mißbrauch der Geschichte konfrontiert, einer neuen Form der transgenerationellen Traumatisierung, die der Nationalsozialismus der Psychoanalyse und der psychosomatischen Medizin in Deutschland zugefügt hat. Die transgenerationelle Traumatisierung des psychoanalytischen Nachwuchses durch jene Psychoanalytiker, die im Dritten Reich groß geworden sind und vom Verlust des jüdischen Erbes am direktesten betroffen waren, ist durch das Skotom der Idealisierung (keine Idealisierung, sondern Tabuisierung als Totem der machtakkummulierenden Psychokratie und ihrer Nomenklatura Anm.JSB)) noch nicht ins Blickfeld geraten. Wer aber ein solches Skotom aufhebt, bleibt nicht ungestraft: Die Titulierung als »Vatermörder« ist noch das Geringste, das man zu erwarten hat. Aber weder Kandidaten noch Analytiker haben sich der schmerzhaften Auseinandersetzung bisher stellen wollen, daß gerade jene Generation, die während des Dritten Reichs und nach 1945 ihre psychoanalytische Ausbildung begann und die Lehrstühle für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie besetzte, heute zu den heftigsten Kritikern Freuds zählt. Besteht vielleicht ein reziproker Zusammenhang darin, daß sie — als Folge der Emigration der jüdischen Analytiker-Fraktion — die schlechteste Ausbildung erhalten hat? Diese transgenerationell traumatisierte Generation, die zwar gerne psychoanalytische Ausbildungskandidaten als Assistenten einstellt, aber einen Gestalt- oder Verhaltenstherapeuten zu deren Oberarzt macht, betont gebetsmühlenartig die Mängel und Schwächen der Psychoanalyse. Das schizoide Dilemma jener Akademikerfraktion, die die Psychoanalyse zur Verbesserung der eigenen Abwehr einsetzt und sie gerne auf dem Scheiterhaufen der Methoden sehen möchte, hat für die historische Forschung nur ein sarkastisches Lächeln übrig. Ihr Primat sind Empirie und Psychometrie als moderne Abwehr der Traumatisierung des eigenen Fachs. So ist bis heute nicht recht zu verstehen, warum die (durchaus berechtigte) Kritik an manchen Irrtümern Freuds immer mit dem Beigeschmack der Verachtung oder des hämischen Triumphs geäußert werden muß.
Dührssens Kritik an Freud reiht sich in den ahistorischen mainstream ein. Ohne Beleg behauptet sie: »Für Freud wurde die Hypothese, daß die Sexualität bei der Entstehung der Neurosen eine vorrangige Bedeutung spielte, lange Jahre hindurch zu einem festgefügten Dogma« (S. 16). Abgesehen davon, daß sie an dieser Stelle den Dogma-Begriff mit dem des Paradigmas verwechselt — die Auseinandersetzung mit der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung unter dem Aspekt der Entwicklung wissenschaftlicher Revolutionen und der Entstehung eines Paradigmas (Kuhn, 1993) hätte ihr diese Verwechslung vielleicht erspart —, war die Sexualität für Freud niemals ein Schibboleth, wie sie — wieder ohne jeglichen Beleg — diffamierend behauptet. Spätestens 1918 war die sexuelle Traumatheorie durch das Konzept der narzißtischen Traumatisierung für das Verständnis der Symptombildung ersetzt oder zumindest ergänzt worden (Simmel, 1919 a), was von der Kriegsneurosen-Debatte eigentlich hätte bekannt sein müssen. Viel schwerer wiegt jedoch: Dührssen stellt sich mit dem Sexualitätsvorwurf auf die Stufe jener völkischen Freud-Kritiker, die eine »Ganzheitsmedizin« vertraten. Es war der prominenteste psychotherapeutische Mediziner der Weimarer Zeit, Erwin Liek (1940), dessen Kritik am »Wühlen im Sexuellen« den nazistischen Feuerspruch — »Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele« — intellektuell vorbereiten half, mit dem Freuds Bücher schließlich auf dem Scheiterhaufen landeten. Schon 1931 hatte dagegen der von ihr ansonsten (wegen Abweichung!) geschätzte Franz Alexander in seiner New Yorker »Harvey Lecture« die Abwehr der Sexualität mit den ehemaligen Widerständen gegen die Einführung der Obduktion in die Medizin verglichen: »Man hatte all die gefühlsmäßigen Vorurteile jener Zeit zu überwinden, so wie heute die Sezierung der Persönlichkeit alle gefühlsmäßigen Vorurteile des heutigen Menschen zum Gegner hat. Wenn man die Schriften gewisser Kritiker Freuds in Deutschland liest und für die Worte >Persönlichkeit< oder >Seele< das Wort >Körper< einsetzt, so steht man vor den gleichen Argumenten, die im 16. und 17. Jahrhundert gegen die Sezierung des Körpers vorgebracht wurden. Die Psychologie ist eine Entweihung, sie degradiert die Seele, zieht unsere höchsten Seelenbesitztümer in den Schmutz … Sicher führten Anatomie und Physiologie zu einer großen Enttäuschung: die Wissenschaft konnte die Seele nicht unterbringen« (Alexander, 1931).
Auch Dührssen zählt zu den Enttäuschten, aber in einem anderen Sinne: Das scheinbar spurlose Verschwinden ihrer alten »Weltanschauung« hinterläßt bei ihr nur das Verlangen nach leerer Aggression.Unter den Bedingungen des Krieges und nach erzwungenem Ausschluß der jüdischen Analytiker war ihre Ausbildung so miserabel wie die ihrer Kollegen — üblicherweise betrugen die Lehranalysen damals allenfalls 250 Stunden. (Ist es nicht eine Parodie der Geschichte, daß aus der Not dieser Stundenzahl 150 Stunden für den neuen Facharzt als hinreichend angesehen werden ?) Dieser Mangel konnte nur zu einer Imitation der Psychoanalyse führen.2[iii]Nicht ohne Hintersinn heißt Dührssens Konzept »dynamische Psychotherapie«, das ihren jüngsten, aber sicherlich nicht letzten, Niederschlag in der Frequenzdebatte (drei statt vier Stunden) findet. Die tiefe unbewußte Enttäuschung über eine psychotherapeutische Ausbildung ohne Psychoanalyse, das Getrennt- oder Ausgeschlossensein vom primären Objekt »Freud« wird zum Ressentiment. In dieser Hinsicht gleicht ihr nur noch Peters (1992), der Die Emigration der dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933-1939 beschreibt, obwohl es eine solchermaßen definierte Psychiatrie in Deutschland — trotz Ammon — zu keiner Zeit gegeben hat. Dührssen muß Freud deshalb den Vorwurf machen, er habe nachhaltig dazu beigetragen, »daß die elitäre Abgrenzung der Psychoanalyse von den anderen psychotherapeutischen Verfahren erhalten blieb und bis heute durch die >Fundamentalisten< unter den Freudianern weiterhin kultiviert wird« (S. 74). Der hämische Ton, mit dem sie jede Spaltung und Differenz innerhalb der psychoanalytischen Bewegung in ihrem Buch begleitet, macht sie selbst zu einer Fundamentalistin mit radikalem Selbstverlust und Schwund der rationalen Urteilskraft.Der unendliche Kampf gegen Freud als Enttäuschungsobjekt, der immer dann ausbricht, wenn der Widerstand des Objekts die omnipotente Kontrolle über den Partner in Frage stellt und den erhofften »Zauber« zerstört, wird von einer besonderen Form des Erinnerns begleitet, das projektive und paranoide Züge trägt. Die zahlreichen sachlichen Fehler, die man als Historiker unter »schlampig und verantwortungslos recherchiert« (Hans-Martin Lohmann) einordnen würde, reichen bis in die Gegenwart, etwa wenn Dührssen meint: »Lohmann und Dahmer gehörten gewiß noch zu jener Ausbildungsgeneration, die ihre psychoanalytischen Informationen nur in dem sehr engen Kreis um Mitscherlich erhalten hatte« (S. 219), wo doch beide weder eine psychoanalytische Ausbildung erfahren haben noch zu den Mitgliedern der DPV zählen. Was soll dann der Satz, beide seien »unter der Glocke des Schweigens und Vertuschens der DPV aufgewachsen« ? Gerade ihr Status als Outsider hat Dahmer und Lohmann doch die frühe Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler ermöglicht, während Dührssen phantasiert, sie hätten jahrelang stillgehalten, um 1982, nach Alexander Mitscherlichs und Anna Freuds Tod, die Katze endlich aus dem Sack zu lassen.
Man sollte annehmen, daß Dührssen weiß, daß ihr Buch zwar nicht die Psychoanalyse, aber doch die psychoanalytische Bewegung zerstören soll, was ein Grund für die heftigen Affekte sein könnte. Die Art dieser Zerstörung hat etwas von Selbstverstümmelung, die nicht nur als Nebeneffekt in Kauf genommen wird, sondern — fast wie zur Zeit in Bosnien — das eigentliche Ziel ist (Verbrannte Erde). Andererseits hat Dührssens mehr oder weniger sublime Identifikation mit dem Nationalsozialismus etwas mit dem »fortschrittlichen« und sozialpolitisch »modernen« Hitler zu tun, dem man — ähnlich wie beim altbekannten Autobahnbau-Argument — für dessen Gesellschaftskonzept, zumindest wenn man unglücklicherweise doch Psychologe und Laienanalytiker sein sollte, auch noch dankbar sein soll: »Hätte nicht im >Dritten Reich< M. H. Göring den Beruf des >behandelnden Psychologen< geschaffen, der berechtigt sein sollte, im Auftrage eines Arztes in der Heilkunde tätig zu werden, dann wären die Laienanalytiker in Deutschland ganz gewiß in eine schwere existentielle Krise geraten« (S. 116).
Insgesamt ist es auch bemerkenswert, daß sie 100 Jahre nach Einführung des Konversionsbegriffs (Freud, 1894 a), mit dem die Psychoanalyse ihren Anfang nahm, ausgerechnet auf dem Höhepunkt von Fremdenhaß und Rechtsradikalismus die Freudsche Psychoanalyse auf verschlungenen Wegen wieder als jüdische Wissenschaft brandmarkt (S. 184 f.). Es wäre einzuwenden, daß dies auf den ersten Seiten schon vorauszusehen war, wenn sie »Freud … (in der) Rolle eines Religionsstifters« (S.21) sieht und Psychoanalytiker dafür kritisiert, daß sie sich »im Besitz einer neuen Wahrheit fühlten« (S. 23), was doch für jeden Entdecker eines Paradigmas gilt. Sollte es sich bei den Bemühungen Dührssens vielleicht um die späte Rache des — von Matthias Heinrich Göring geleiteten —Reichsinstituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie an den Überlebenden und Opfern handeln? Man ist geneigt, diese Frage zu bejahen, da sie »die Elemente … (der) sektiererischen Gefühlseinstellungen in gewissen Abwandlungen bis heute unter den orthodoxen Psychoanalytikern« findet, welche — wo sonst? — unter den Mitgliedern der IPV und DPV, den Fundamentalisten, zu suchen sind. Welche Genugtuung dürfte Dührssen verspürt haben, als mit Scheunerts Mitgliedschaft in einer NS-Organisation endlich die DPV von der Vergangenheit eingeholt worden war! Auch wenn das schon längst bekannt ist, ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß eines Tages noch mehr Psychoanalytiker und Psychosomatiker als NSDAP-, SA- oder SS-Mitglieder bekannt werden. Dies ist besonders schwer erträglich für jene, die aufgrund einer nicht hinreichend bearbeiteten negativen Übertragung ihre Identifizierung und Idealisierung nicht aufgeben können. Insofern ist die projektive und oftmals gehässige Auseinandersetzung zwischen DPG und DPV um die »richtige« Analyse eigentliche Abwehrarbeit bezüglich der inneren und äußeren Kontinuitätsfragen zum Nationalsozialismus. Dührssens Bekenntnis, daß sie »persönlich die Gruppenkämpfe, die sich seinerzeit abspielten, mit Verwunderung und Abneigung zur Kenntnis genommen habe«, ist hinsichtlich der Wirkung ihres Buches eine glatte Verkehrung ins Gegenteil. »Ich war zwar kein Mitglied der >Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft< und hatte auch nie den Wunsch verspürt, zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zu gehören. Es war eher eine Horrorvorstellung, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die ihre Mitglieder wegen abweichender wissenschaftlicher Positionen ausschloß« (S. 209). Nein, Dührssen war schon damals »als sachverständige Beraterin der Weltgesundheitsorganisation« etwas ganz Besonderes: Sie konnte die »unterschiedlichen Landesgruppen« der IPV sozusagen von oben beobachten: »Bei aller Faszination, die von einzelnen, hochbegabten Persönlichkeiten in diesen Gruppen ausging, war es doch befremdend, in welchem Ausmaß unwissenschaftliche Meinungskämpfe jeweils an der Tagesordnung waren. Zugleich war unverkennbar, daß sich in diesen Gruppen Machtstrukturen ausgebildet hatten, die dem Machtmißbrauch Tür und Tor öffneten« (S. 209). Natürlich kann in jeder Gruppe Machtmißbrauch vorkommen, aber wie wird man eigentlich ohne Mitgliedschaft in einer psychoanalytischen Vereinigung oder Gesellschaft deren »sachverständige( !) Beraterin« ? Ist das nicht Hochstapelei oder Anmaßung?
Dührssens Buch ist ein trauriges Buch, weil es den mit der Geschichte nicht vertrauten Leser zu dem Schluß kommen lassen könnte, das Jahrhundert der psychoanalytischen Bewegung sei zu Ende : Es lebe das Jahrhundert der psychotherapeutischen Bewegung! Die Zerstörung der Psychoanalyse hat natürlich nicht mit ihren Dissidenten und auch nicht mit Klaus Grawe begonnen, sondern mit dem Jahr 1933. Indem sich Dührssen in die Tradition der Zerstörung der Psychoanalyse stellt, werden die bis heute nicht verstummenden und selbstquälerischen Fragen nach der Identität der Psychoanalyse und ihrer Mitglieder verständlicher. Was aber noch erschütternder ist: Nachdem sich weder die »NeoAnalyse« Schultz-Henckes mit ihrer NS-verbrämten Sprache (Kütemeyer, 1991) noch Dührssens Kreation einer »dynamischen Psychotherapie« in Deutschland durchgesetzt haben, muß die Autorin — ein weiterer Etikettenschwindel — den Namen Psychoanalyse als Prestige-und Markenzeichen verwenden, obwohl sie sich logischerweise nicht mehr Psychoanalytikerin nennen kann. Insofern mißbraucht Dührssen mit diesem Buch die Psychoanalyse und die psychotherapeutische Medizin ein weiteres Mal. Da sie immer auch Politikerin war, kann der Zweck dieses Buches eigentlich nur darin liegen, all jene DPG-Kollegen zu warnen, die sich der »fundamentalistischen« DPV in den letzten Jahren theoretisch und praktisch angenähert haben. Oder soll vielleicht von der viel brisanteren Auseinandersetzung abgelenkt werden, daß in Zukunft psychoanalytische Institute einen Teil ihres Ausbildungs-Monopols — zumindest bezüglich des Facharztes für psychotherapeutische Medizin — aufgeben müssen?
Es ist der jüngeren Generation zu danken, daß sie sich nicht auf Dührssen, sondern auf ihr verlorenes jüdisches Erbe besinnt. (Wie denn, mit „Israelkritik“? Anm.JSB) Erst kürzlich veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin in Berlin einen Kongreß über »Ernst Simmel als Pionier und Visionär«.
Auch wenn andere Pioniere der psychotherapeutischen Medizin nicht vergessen werden sollten (z. B. Balint, Deutsch, Ferenczi, Meng), so eignet sich Simmel geradezu idealiter als Identifikationsfigur. Er hat das Spannungsverhältnis zwischen Psychoanalyse als Forschungsinstrument für wenige und Psychotherapie als Behandlungsinstrument für viele ausgehalten, ohne mit dem einen das andere zu diffamieren, was auch für eine gelungene Integration gegensätzlicher Impulse durch die psychoanalytische Ausbildung spricht. In dieser Hinsicht hat Dührssen nicht nur ihrem Ruf geschadet, den sie — zumindest in der Psychosomatik — zu verlieren hatte. Sie hat auch den Fachvertretern für psychotherapeutische Medizin geschadet, die die Intention eines solchen Werkes nur schwer ohne Identitätsstörung vertreten können. Nichts wäre zur Zeit unsinniger für den Arzt für psychotherapeutische Medizin als die Immunisierung gegen die Psychoanalyse.
(Anschrift des Verf. : PD Dr. med. Ulrich Schultz-Venrath, Johannes Müller Str. 61, 50735 Köln)
BIBLIOGRAPHIE
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Medicine in New York, am 31. Januar 1931. Int. Z. Psychoanal., 17,212-233.
Brecht, K. et al. (1985) (Hg.): »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter …« Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Hamburg (Michael Kellner). Deutsch, E (1959): On the mysterious leap from the mind to the Body. A study an the theory of conversion. New York (Int. Univ. Pr.).
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Grubrich-Simitis, I. (1993): Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt/M. (S. Fischer).
Khan, M. M. R. (1989): Entfremdung bei Perversionen. Frankfurt/M. (Suhrkamp). Kütemeyer, M. (1991): Die Sprache der Psychosomatik im Nationalsozialismus. In: W.Bohleber und I. Drews (Hg.): »Gift, das du unbewußt eintrinkst …« Der National-
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Schultz-Venrath, U. (1992): Ernst Simmels psychoanalytische Klinik »Sanatorium Schloß Tegel GmbH« (1927-1931). Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte einer psychoanalytischen Psychosomatik. Habilitationsschrift, Universität Witten/Herdecke.
Simmel, E. (1919a): Zweites Korreferat: Die Psychoanalyse der Kriegsneurosen. In: Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Internationale Psychoanalytische Bibliothek Nr. 1, Leipzig und Wien (Internationaler Psychoanalytiker Verlag), 42-60.
[iii] Anmerkungen zu Annemarie Dührssens Buch Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung in Deutschland. Die Psychotherapie unter dem Einfluß Freuds. Göttingen (Van-denhoeck & Ruprecht) 1994. 267 Seiten, 68 DM.
[iii] 1 Auf der letzten Seite heißt es »über die Autorin«, daß sie im Klinikum Virchow diese Abteilung inne hatte. Dies kommt sachlich einer Geschichtsmanipulation gleich, weil die Umbenennung erst Jahre nach ihrer Emeritierung durchgeführt wurde.
[iii] 2 Diese Idee ist Gemma Jappe zu verdanken, die auf der DPV-Herbsttagung 1994 über »Tradition, Identifikation, Imitation — Ein Nachwort zu den Frequenzseminaren« sprach.
Diskussion
URSULA KREUZER-HAUSTEIN, GÖTTINGEN, UND GÜNTHER SCHMIDT, MANNHEIM
Kritischer Kommentar zu Annemarie Dührssens Buch
»Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung in Deutschland«*[i]
Vorbemerkung: Das vor zwei Jahren erschienene Buch von Annemarie Dührssen hat auf beklemmende Weise veranschaulicht, daß ein (wie immer großer oder kleiner) Teil der deutschen Psychoanalytiker nach wie vor bereit ist, die Geschichte der Psychoanalyse, insbesondere die zwischen 1933 und 1945, so umzuschreiben, daß die Ausgrenzung der jüdischen Analytiker aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und ihre Ausbürgerung und Vertreibung aus Deutschland — wofern sie nicht umgebracht wurden — im nachhinein als Erfolgsgeschichte der Psychotherapie gelesen werden können. Vielleicht war sie das auch wirklich; einige wohlwollende bzw. verharmlosende Rezensionen des Dührssen-Buches lassen jedenfalls darauf schließen. Obwohl schon vor mehr als einem Jahr in der Psyche eine überaus deutliche Stellungnahme (von Ulrich Schultz-Venrath in Heft 4/1995, S. 392-403) erschienen ist, kommen wir ein weiteres Mal auf den Skandalfall zurück, weil offenkundig scheint, daß die Geschichte, hier für die Mitglieder der DPG (deren ehemalige Vorsitzende und heutiges Ehrenmitglied Dührssen ist), noch längst nicht ausgestanden ist. (H.-M. L.)
Das 1994 erschienene Buch von A. Dührssen Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung in Deutschland. Die Psychotherapie unter dem Einfluß Freuds hat in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, deren Ehrenmitglied und ehemalige Vorsitzende die Autorin ist, eine erneute wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung über die Psychoanalyse und ihre Geschichte hervorgerufen. Die Provokanz der Denktraditionen, in denen Dührssen sich bewegt, die historiographischen Verzerrungen und die Psychoanalysefeindlichkeit führten zu heftigen Reaktionen unter den Mitgliedern. Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen bestätigt das, was Dührssen verleugnet: Die Gegenwärtigkeit der Folgen des Nationalsozialismus auf die Psychoanalyse und die psychoanalytische Identität, die immer wieder neue Auseinandersetzungen mit unserer Geschichte erfordert. Das Buch ist zum einen ein historisch und politisch ideologisches Buch; zum anderen repräsentiert es Gefahren und Bereitschaften, mit denen wir uns nicht nur als Psychoanalytiker immer wieder konfrontiert sehen. Es geht um Gefahren der Bagatellisierung des Nationalsozialismus und des Antisemitismus sowie um Versuche projektiver Schuld- und Trauerabwehr, die in unserer Profession in der Spaltung der DPG ihren Ausdruck fand. Das Buch zeigt außerdem die Gefahr, Psychoanalyse auf der Basis plakativer charakterologischer Zuschreibungen als etwas »Jüdisches« und von Ausstoßung Bedrohtes darzustellen, ohne daß differenzierte wissenschaftliche Untersuchungen über jüdische Elemente oder Wurzeln der Psychoanalyse berücksichtigt werden. Das Buch ist außerdem in seinem ganzen Duktus ein Buch gegen wesentliche Essentials der Psychoanalyse und — berufspolitisch von besonderer Bedeutung — gegen die hochfrequente Analyse. Unser Interesse ist es, einen Teil der DPG-internen Auseinandersetzungen über das Buch von Dührssen öffentlich zu machen. Dührssen ist zweifellos eine wichtige Repräsentantin der DPG und der deutschen Psychotherapie. Aber bei der Beschäftigung mit ihrem Buch geht es darüber hinaus um den Versuch der Auseinandersetzung mit bestimmten Denktraditionen in der Geschichte der DPG.
Sprache
Die Diskussionen über das Buch führen zu Auseinandersetzungen über die Frage, ob dessen Diskurs antisemitisch zu nennen sei. Die Spannbreite der Einschätzungen reicht von der Bewunderung für Dührssen, mutig Tabus aufgegriffen zu haben, bis zu der Einschätzung, antisemitische Passagen seien nicht zu übersehen. Zum Teil würden sie sich erst bei genauerer Textanalyse dem mit Äußerungsformen latenter antisemitischer Haltungen Vertrauten erschließen. Karikaturen über die »jüdischen Köpfe« des Komitees, Tabellarien, Zahlen und auch persönliche, glaubwürdig erscheinende Erinnerungen, die die reiche Erfahrung von Dührssen »belegen«, können den Eindruck sorgfältiger Recherchen entstehen lassen. Doch dieser erste Eindruck mischt sich mit Unbehagen, das einen zweiten Blick — auf die Stilmittel — erforderlich macht. Wir wollen auf vier aufmerksam machen.
Die Verschleierung eigener Positionen durch Zitate und Zitatselektion dient dazu, eigene Positionen unkenntlich zu machen. Sich hinter anderen Autoren verbergend, nimmt Dührssen Zuschreibungen z. B. in Form charakterologischer Merkmale an Juden vor: Selbstausgrenzung, Selbsthaß und anderes mehr. Sie zitiert vor allem Bienenfeld, der 1937 in Wien »einen obskuren Vortrag« (Gay, 1994) über »Die Religion der religionslosen Juden« hielt. Dührssen zieht Karikaturen der Mitglieder des Komitees aus einem privaten Karikaturenalbum heran (erschienen im renommierten Internationalen Psychoanalytischen Verlag). Aus einer Fülle weiterer Zitate schließt sie dann: »Keiner sah gut aus, keiner war großgewachsen« (S. 66). Sie führt weiter aus, »daß sie in ihrer männlichen Identität recht erschüttert und verunsichert waren« (S. 67). Diese Form von »Charaktermorden« (Gay, 1994) wird mit den Worten fortgeführt: »Sie waren — in psychopathologischer Hinsicht — jedenfalls Betroffene …« (S. 68). Die Schilderungen Dührssens stützen sich auf »Fakten« : Einen Sprachfehler Eitingons, ärmliche Verhältnisse Ranks, den Satz Jones‘ »Keiner von uns war ein gutaussehender Mann« (S. 66) »belegt« Dührssen mit »Zitatfakten«. Sie suggerieren das Bild einer solide arbeitenden Wissenschaftlerin. Doch das Bild, das sie mit Versatzstükken ihrer Zitatauswahl von jüdischen Analytikern der ersten Generation zeichnet, ist Ergebnis subjektiver Auswahl und drückt allein die Intentionen der Autorin aus.
Ein weiteres Stilmittel läßt sich als Diffamierung per Assoziation beschreiben. In Begriffen mit bestimmten Assoziationshöfen und mit einem z. T. assoziativen Erzählstil, verbunden mit persönlichen Erfahrungen und subjektiven Einschätzungen, reiht Dührssen Episoden, Szenen und Fakten aneinander, die eine diffamierende Bedeutung erhalten. So werden z. B. Psychoanalytiker, die die hochfrequente Psychoanalyse befürworten, als »Fundamentalisten« (S. 240) bezeichnet. Dieser Begriff erinnert an den Typus des religiösen Fanatikers. An einer anderen Stelle zeichnet sie — ebenfalls mit dem Stilmittel der Diffamierung per Assoziation — das Gespenst des gefährlichen »marxistisch-jüdischen Typus« : »War doch schon damals von den Marxisten — die sehr häufig Juden waren — der >Marsch durch die Institutionen< als Programm aufgestellt worden …« (S. 139). Wenig später ist vom »grausige(n) Vorbild der russischen Vernichtungslager« die Rede (ebd.; vgl. dazu Blumenberg, 1995, S. 156 f.).
Als weiteres Beispiel sei folgende Passage (S. 139) angeführt: »Die >Ariergesetze< mit ihrem Verbot der >Mischehe< trafen allerdings in weiten Kreisen auf erhebliche Mißbilligung. Aber immerhin wußte man, daß die gläubigen Juden ihrerseits das strenge Verbot der Mischehe und damit identische oder noch schärfere Gesetze für ihre >Geschlechterreinheit< — wie sie sagten — hatten. Kein Jude konnte in seiner Gemeinde ein Amt ausüben (Richteramt oder Priesteramt), der nicht nachweisen konnte, daß seine Vorfahren vier Generationen zurück jüdischen Glaubens gewesen waren … Das Verbot der Mischehe und die Verfolgung der Nachkommen aus diesen Mischehen waren noch strenger. Ein Jude, der eine Nichtjüdin heiratete (eine Goysche), wurde aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen, galt für tot und wurde betrauert« (S. 139 f.). Zunächst versieht Dührssen die »Ariergesetze« mit dem verharmlosenden Kommentar, diese seien »auf erhebliche Mißbilligung« gestoßen. Statt diese Aussage zu belegen oder sich weiter damit auseinanderzusetzen, wechselt sie das Thema und erwähnt das »Verbot der Mischehe« in der jüdischen Religion. Sie kommt auf einen anderen Gegenstand aus einem anderen Kontext zu sprechen und stellt fest, daß Juden, die Nicht-Jüdinnen heiraten, für »tot« gelten. Mit Hilfe solcher diskursiver Mittel weckt Dührssen Assoziationen, die vorbewußte und bewußte Wirkungen nach sich ziehen: Ist nicht der Jude selbst derjenige, der sich tötet? Haben die Juden etwa sich selbst, indem sie das Verbot der »Mischehe« aussprachen, die Ariergesetze zuzuschreiben? Letzten Endes erscheinen nicht Ariergesetze als Ursache von Verfolgung und Tod, sondern die Juden selbst. Hier mischt sich die »Diffamierung per Assoziation« mit einem dritten Stilmittel°[ii], nämlich mit dem
Konstrukt der Gemeinsamkeiten von Juden und Deutschen. Wenn Dührssen von »sehr subtilen Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Deutschen« spricht (S. 195), so beginnt die Verzerrung bereits in der Gegenüberstellung von »Juden« und »Deutschen«. Juden in Deutschland waren und sind Deutsche. In der Sprachregelung von Dührssen sind Juden jedoch bereits ausgegrenzt. Allenfalls wäre die Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Jüdischem und Christlichem sinnvoll. Doch mit Hilfe der Sprachregelung »über die Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Deutschen« entwickelt Dührssen eine verzerrte Perspektive mit dem Ziel, die Grenze zwischen Tätern und Opfern zu verwischen. Die proklamierten Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Deutschen, ihre »geheime unterirdische Verbindung« (S. 195) lägen im »Traum von einer Weltherrschaft«, »im elitären Selbstverständnis« sowie im »messianische[n] Gedanken« (ebd.). Auch der proklamierte deutsche und jüdische »Selbsthaß« seien verwandt, ebenso die »Unterwerfungsbereitschaft unter Gebote und Verbote« (ebd.).
Diese Zuschreibungen werden zwar mit Formulierungen wie »vielleicht« (ebd.) und »vermutet« (ebd.) versehen. Doch sie werden genannt
und suggerieren die Hypothese einer sozialcharakterologischen Basis, auf der sich totalitäre Regime wie der Nationalsozialismus entwickeln können. Wenn also beide — Juden und Deutsche — solche Bereitschaften in sich tragen, dann können auch Juden Nazis und Nazis Juden sein. Damit ist die Grenze zwischen Nazitätern und jüdischen Opfern diskursiv aufgehoben.
Doch die (diskursive) Konstruktion eines dialektischen Verhältnisses von Tätern und Opfern eignet sich keinesfalls als politische oder historische Erkenntniskategorie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft, der Juden ausgesetzt waren. Wodak (1990) versteht solche Konstrukte, Gemeinsamkeiten von Juden und Deutschen zu beschreiben, als »Strategie des Rechtfertigungs-Diskurses« (S. 352).Solche Strategien gleichen Darstellungen, in denen Juden zum Urheber ihres eigenen Unglücks gemacht werden, indem ihnen Wesensarten zugeschrieben werden, die Verfolgungs- und Vernichtungsaktionen provozieren.
Euphemismus und Verschweigen: Der Text von Dührssen weist eine Reihe von Euphemismen auf. Einige seien exemplarisch zitiert:
So wird vom »Austritt« jüdischer Mitglieder aus der DPG gesprochen (5. 175) und von der »Notwendigkeit, die beiden jüdischen Vorstandsmitglieder … zu ersetzen« (5.173). Im Zusammenhang mit dem Nazieinmarsch in Österreich wird von der » Übernahme der Wiener Gesellschaft durch die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft« (S. 177) gesprochen.
In ähnlicher Weise erfolgt die Beschreibung der Verfügbarkeit von Freud Texten im Reichsinstitut :
»Freuds Texte waren trotz der öffentlichen Verbrennung … problemlos … in der Bibliothek greifbar. Man konnte sie ausleihen, selbstverständlich — wie in allen anderen Bibliotheken — gegen eine Unterschrift« (S. 179). Auch hier zeigt der Diskurs Bagatellisierungen und Verschleierungen durch Verwendung beschönigender Hüllworte. Er verweist damit auf verbergende Rechtfertigungen (vgl. auch Wodak, 1990, S. 12, 357).
Ein weiteres Stilmittel Dührssens ist das Verschweigen wissenschaftlicher Forschungen anderer Autoren. Es wird kein Bezug auf Autoren genommen, die sich mit psychodynamischen Faktoren des Antijudaismus oder Antisemitismus befaßt haben, wie Beland (1991), Brainin, Ligeti und Teicher (1993), Loewenberg (1992), Loewenstein (1971), Wangh (1992) — um nur einige zu nennen. Ebenso fehlt die Rezeption von Arbeiten, die sich mit den psychischen Folgen der NS-Vergangenheit bei Opfern wie Tätern oder mit der Gegenwart der Vergangenheit befassen (z. B. Brecht et al., 1985; Diebel et al., 1986; Eckstaedt, 1992; Ermann, 1992; Keilson, 1984; Kestenberg, 1993; Moses und Eickhoff, 1992).
Geschichte und Weltanschauung
Die Darstellungen Dührssens zur Situation der Psychoanalyse im Nationalsozialismus unterscheiden sich erheblich von historischen Beschreibungen anderer Autoren. Nach der Ausgrenzung jüdischer Kollegen 1935, der Auflösung der DPG und der Gründung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie 1936 scheint für Dührssen eine z. T. begrüßenswerte neue Situation entstanden zu sein. Die »ursprüngliche psychoanalytische Gruppendynamik« ging »damals allerdings wirklich verloren« (S. 182). »Die Psychoanalytiker waren keine kleine elitäre, verschworene Sekte mehr. Man orientierte sich nicht mehr allein am Gründer und Familienvater…. Dafür war ein gewisser Pioniergeist übriggeblieben, der Geist der Aufklärung …« (ebd., 5.182 f.).
Diese Schilderungen lassen Erleichterung über die Ausstoßung jüdischer Kollegen erkennen. Jüdischen Psychoanalytikern werden — wie bereits oben beschrieben — charakterologische Merkmale zugewiesen, die zum einen für die psychoanalytische Gemeinschaft (und zum anderen für die Gesellschaft) als belastend dargestellt werden. Das »Jüdische« der Psychoanalyse hatte dem »Pioniergeist« nicht-jüdischer Psychoanalytiker Platz gemacht. Im »Geist der Aufklärung«, verbunden mit der banalisierenden und die Veränderungen psychoanalytischer Praxis verleugnenden Behauptung, »psychoanalytisches Wissen (sei nicht) gänzlich liquidiert worden« (S. 182), konnte die Psychoanalyse als allgemeine Psychotherapie neu gestaltet werden.
Diese Passagen lassen eine Fülle von Verleugnungen der historischen Wirklichkeit erkennen. Es ist unverständlich, wie angesichts der Barbarei im Nazi-Deutschland vom »Geist der Aufklärung« die Rede sein kann.Selbst wenn die Situation des Reichsinstituts isoliert vom nationalsozialistischen Deutschland betrachtet würde, wäre eine solche Einschätzung absurd. »Die jüdischen Psychoanalytiker bangten um ihre Existenz, die psychoanalytischen Schriften wurden verbrannt und die Psychoanalyse als [jüdische Wissenschaft] gebranntmarkt. In diesem Klima der Angst und existentiellen Bedrohung erschien eine erfolgreiche psychoanalytische Behandlung … nicht mehr möglich …« (Lockot, 1985, S. 47).
Das Fehlen von Trauer und Bereitschaft zur Übernahme historischer
Verantwortung für den Holocaust ist Ausdruck von Dührssens bruchlosem Anknüpfen an die Ideologie des Vergessens und Verleugnens der fünfziger und sechziger Jahre.Zum anderen basiert dieser Mangel auf Bagatellisierungsstrategien, die die deutsche »Vergangenheitsbewältigung« bis heute begleiten, z. B. in Form von Appellen, dem deutschen Selbstanschuldigungsdrang endlich ein Ende zu machen.Dührssen schreibt unverhüllt: »Die >Deutschenschelte< ist Mode, die Akzeptanz einer Kollektivschuld bis in die 3. und 4. Generation führt zu einer Verleugnung aller achtenswerten Eigenschaften, die in Deutschland lebendig sind« (S. 198).
Die Konferenz über die Folgen des Holocaust auf die Beziehung zwischen Israelis und Deutschen 1994 in Nazareth, an der israelische und deutsche Psychoanalytiker (der DPV, DPG und DGAP) teilnahmen, hat erneut in schmerzlicher, aber auch klarer Weise deutlich gemacht, daß die Akzeptanz historischer Schuld und Verantwortung für den Holocaust unerläßlich ist. Diese Akzeptanz ist keine »Deutschenschelte« und unterscheidet sich wesentlich von diffusen unproduktiven Schuldverstrickungen, die keine Antwort auf den Holocaust sein können und nichts ausrichten (vgl. Kreuzer-Haustein, 1994).1[iii]
III. Der Kampf gegen die Psychoanalyse
Dührssen vertritt den Facharzt für psychotherapeutische Medizin. Sie will damit den Fortbestand des Fachs »Psychosomatische Medizin« an den Hochschulen sichern. Diese sinnvolle Position ist jedoch gleichzeitig mit plakativer Psychoanalysekritik und Versuchen der Amalgamierung psychotherapeutischer Methoden unter dem Begriff patientenbezogener Praxis verknüpft. Psychoanalytikern wird vorgeworfen, ein neues »Schibboleth« (S. 247) entwickelt zu haben. Damit meint die Autorin die hochfrequente Psychoanalyse. Das Konzept der Bedeutung der Sexualität für die Entstehung von Neurosen wird unter der Behauptung, es sei das einzige zentrale Paradigma der Psychoanalyse, als »fehlerhaftes und unhaltbares Konzept« (S. 16), als »alter, langjährig kultivierter Irrtum« (S. 61) bezeichnet. Dabei erwähnt Dührssen keine weiteren zentralen Konzepte der Psychoanalyse wie das des Unbewußten oder das der Übertragung. Wie andere vor ihr versucht Dührssen, Psychoanalyse als Plagiat zu entlarven (S. 15, 98 ff.). Dabei werden wissenschaftliche Auseinandersetzungen wie z. B. die zwischen Ellenberger (1973) und Köhler (1990) nicht erwähnt, in denen Köhler kritisch zu einer differenzierenden Klärung des Freudschen Hysterie- und Verdrängungskonzeptes gegenüber den Janetschen Vorstellungen der »Einengung des Bewußtseinsfeldes« gelangt (vgl. Ellenberger, 1973, S. 449 ff.; Köhler, 1990, S. 171).2[iv]
Auch auf die sonstige in der Literatur geführte wissenschaftliche Auseinandersetzung über Plagiat und Priorität geht Dührssen nicht ein (vgl. z. B. Cremerius, 1981; Scheidt, 1986). Sie stellt sich in die Tradition der schroffsten Kritiker der Psychoanalyse (vgl. Brodthage und Hoffmann 1981, 5.172 ff., 178 ff.). Dabei läßt die Literaturauswahl eine Tendenz des Totschweigens anderer Autoren durch Nichtzitieren erkennen. Die Schlußfolgerungen der Autorin basieren auf einer schmalen Basis und rücken den Diskurs anstelle ausgewogen kritischer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen (wie bei Kernberg, 1994, oder Treurniet, 1995) in die Nähe bloßer Diffamierung.
Dührssens Auseinandersetzung mit der NSDAP-Zugehörigkeit Scheunerts ist von Schuldvorwürfen gegen die DPV geprägt und zeigt, daß sie die Ebene unproduktiver Fehde zwischen den Fachgesellschaften nicht verlassen will. Auch hier wird der Mangel an Rezeption historischer Arbeiten deutlich, in denen es um den »Sinn« der Spaltung der DPG in DPV und DPG geht, nämlich diese Spaltung als Abwehr von Schuld und Trauerarbeit mittels projektiver Mechanismen zu begreifen.
Die heftigen emotionalen Reaktionen in der DPG auf das Buch von Dührssen sind deutliche Antworten auf den Versuch der Autorin, an alten Polarisierungen festzuhalten, Geschichte zu verzerren, zu bagatellisieren und die Psychoanalyse zu diffamieren. Das Buch ist — obwohl ein schlechtes und böses — paradoxerweise in einem von der Autorin überhaupt nicht beabsichtigten Sinne auch ein »nützliches« Buch: Es zwingt zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart der Vergangenheit. Allerdings scheiden sich hier die Wege. Dührssen zementiert mit ihrem Text projektive Identifizierungen statt sie in ihrer vielschichtigen unbewußten Abwehrbedeutung durchsichtiger und für eine ersprießliche Koexistenz psychoanalytischer Fachgesellschaften nutzbar zu machen.
Postscriptum: In den Text sind die Ergebnisse von Diskussionen mit den im folgenden aufgeführten KollegInnen (u. a. auf der Sitzung des DPG-Arbeitskreises »Psychoanalyse und Kultur« im Januar 1995) eingegangen: F. Beese (Horb), Y. Blumenberg (Berlin), G. Braune (Göttingen), E. Diebel-Braune (Göttingen), R. Eckes-Lapp (Freiburg), M. Ermann (München), U. Gaitzsch (Weinheim), H. Gerbeit (Berlin), I. Gleiss (Berlin), C. Hampel (Berlin), H. Hilpert (Heidelberg), R. Jackenkroll (Osnabrück), B. Janta (Mannheim), S. Krutzenbichler (Bad Berleburg), M. Luhn (Stuttgart), C. Marahrens-Schürg (Hannover), K. Menge-Herrmann (Bad Vilbel), K. Oeter (Hannover), A. Pollmann (Berlin), I. Pollmann (Berlin), A. Rasche (Freiburg), C. Rohde-Dachser (Hannover), D. J. Salvini (Stuttgart), M. Strothmann (Kassel), C. Studt (Karlsruhe), H. Thiel (Bad Berleburg), S. Wahmhoff-Rasche (Freiburg).
(Anschrift der Verff.: Dr. Ursula Kreuzer-Haustein, Hainholzweg 23, 37085 Göttingen; Dr. Günther Schmidt, 0 6/7, 68161 Mannheim)
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Diskussion 573
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[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 10. 8. 1995.
[ii] o An dieser Stelle sei auf die Ähnlichkeit des Verschleierungsdiskurses durch Zitieren so¬wie der Diffamierung per Assoziation mit den sprachlichen Realisierungsformen antisemi¬tischen Charakters hingewiesen, die Hortzitz (1988) und Wodak (1990, z. B. S. 15, 352 ff.) beschrieben haben.
[iii] 1 An dieser Stelle sei kurz auf einige weitere historische Fehlangaben der Autorin hinge¬wiesen. Dührssen spricht davon, Freud habe sich im Jahre 1872 verlobt. Zu diesem Zeit¬punkt war Freud jedoch erst 16 Jahre alt (S. 26). Von Lohmann und Dahmer wird so ge¬sprochen, daß der Eindruck entsteht, sie seien Psychoanalytiker (S. 219). Die Ausführun¬gen zu Ferenczi (S. 99) sind schwer zu belegen. Ferenczi entwickelte seine Theorie von der »Identifikation mit der strafenden Autorität« in Zusammenhang mit der Über-Ich-Ent¬wicklung 1927 (Ferenczi, 1927, S. 363). Weitere wesentliche Arbeiten Ferenczis sind erst in späteren Jahren verfaßt und publiziert worden.
[iv] 2 In der Auseinandersetzung mit Nietzsche greift Dührssen außerdem alte Irrtümer und Unzulänglichkeiten im Bereich wissenschaftlichen Zitierens auf (S. 103). Es sei hier auf die entsprechende Literatur bei Nietzsche (1886, S. 168), Küchenhoff (1985, S. 145) sowie Nitzschke (1983, 1989) und Köhler (1990, S. 168) verwiesen
URSULA KREUZER-HAUSTEIN
Die schwierigen Jahre: Brennpunkt Seeon – Ein Neubeginn*[iii]
Was war schwierig zwischen DPV und DPG? Was fokussierte, verdichtete sich im Brennpunkt Seeon? Und: War es ein Neubeginn? Als ich meinen Bericht über Seeon, den ich nach der Konferenz vor 14 Jahren geschrieben hatte, jetzt noch einmal las, waren mir alle Szenen lebendig vor Augen. Auch meine Gedanken und Interpretationen waren mir, auch wenn ich heute einiges anders sehe, nicht fremd geworden. Und gleichzeitig hatte ich den Eindruck eines historischen Artefakts, als hätte sich das, was sich in Seeon an kaum zu überwindenden Konflikten und nicht enden wollenden Streitritualen zwischen den beiden Gesellschaften inszenierte, überholt – was zweifellos auch so ist. Sonst hätten wir diese Tagung nicht zusammen ausrichten können, ebenso nicht den IPV-Kongress in Berlin, die DPG wäre nicht component society der IPV geworden und es gäbe auch keine gemeinsame Archivkommission, in der wir die Beziehungsgeschichte von DPG und DPV in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten zu dokumentieren versuchen. Von daher haben Seeon und die Nazareth-Konferenzen zweifellos mit zu diesen Entspannungen und Veränderungen beigetragen – insofern ein Neubeginn.
Auf der anderen Seite rechne ich – auf der Ebene des Unbewussten -mit der Zählebigkeit tief verankerter, vertrauter und jahrzehntelang eingeübter innerer Bilder über die eigene professionelle Gruppe und die der anderen, der fremden Gruppe. Umso mehr, wenn die jahrzehntelangen Klischees über »die DPV« und »die DPG« vor allem dazu gedient haben, die schwer erträgliche historische Realität aus dem Blick zu drängen, die Ross Lazar, der Direktor der Seeon-Konferenz, gleich zu Beginn im Plenum formulierte: »Wäre Freud nicht rechtzeitig geflohen, wäre er vermutlich in einem Konzentrationslager ermordet worden.«
Trotz vielfältiger Auseinandersetzungen mit diesem finsteren Teil unserer Geschichte, die 1994 bereits in beiden Gesellschaften stattgefunden hatte: Als deutscher Psychoanalytiker diesen Satz von Ross Lazar, einem jüdischen Analytiker, in sich aufzunehmen, und noch dazu in einem regressiven Gruppenklima – das macht das Ausmaß der Abwehr verständlich, das die Teilnehmer in Seeon inszenierten und auch benötigten. Für mich ist Seeon heute noch mehr als damals eine Konferenz der Abwehr, doch gerade darin lag ihr großer Erkenntnis- und Lerngewinn. Denn es war der Gruppe möglich, in diesen fünf Tagen intensiver Gruppenarbeit immer wieder das Ausmaß der Abwehr als etwas zu erkennen, was sie brauchte. Und zwar, weil es um schwer erträgliche Affekte von Scham, Schuld, Destruktivität (Insuffizienz Anm.JSB) ging, um die Sehnsucht nach Vergebung und um die Brüchigkeit des Selbstwerts als deutscher Analytiker, und das traf ins Herz der psychoanalytischen Identität. Und eine weitere Frage war von hoher Brisanz: können sich beide Gesellschaften inzwischen gemeinsam mit ihrer auch gemeinsam zu verantwortenden Geschichte auseinandersetzen und die bekannten Feindseligkeiten hinter sich lassen?
Ich will zwei Gruppenbewegungen und Erkenntnisse dieser Konferenz beschreiben: 1. Klischees und Streitrituale, 2. Das Ringen um Anerkennung.
Klischees und Streitrituale
Die Konferenz war geprägt von hektisch-aggressiven, z. T. sehr lauten Auseinandersetzungen bis hin zu fast gewaltbereiten Szenen, die sich zunächst überwiegend zwischen den Fachgesellschaften inszenierten. Schultz-Hencke wurde zum Sinnbild des Verrats an der Psychoanalyse, die Streichung der 4-Stunden-Analyse aus der vertragsärztlichen Versorgung sei, so wurde ein DPV-Kollege zitiert, eine »späte Rache Schultz-Henckes«. Er habe nicht nur die Psychoanalyse verraten, sondern sich auch ganz dem Naziregime unterworfen, sei selber überzeugter Nazi gewesen, was er bekanntermaßen nicht war. Wie irrational und nachhaltig wirksam dieser Mythos auch unter den DPG-Kollegen war, zeigte sich in folgender Sequenz während einer Plenarsitzung: Es ging um das Versäumnis, so ein Teilnehmer, »Schultz-Hencke auf anständige Weise zu Grabe getragen zu haben«. Seine Verdienste kamen zur Sprache, z.B. die Bemühungen um finanzierte Psychotherapie. Daraufhin sagte eine DPG-Kollegin, es gehe ihr so, als wenn jemand sagt: Hitler hat die Autobahn gebaut. Dieser Einfall zeigt etwas von der Mächtigkeit irrationaler Geschichtsklitterungen, die trotz aller historischen Forschungen von Regine Lockot (1985, 1994) und anderen auch 1994 noch wirksam waren. Immer noch geisterte das Gespenst, dass die Nachkriegs-DPG die eigentliche Verantwortung für das Erbe des Göring-Institutes zu tragen hätte. Ich verstehe das lange Festhalten der DPG am Zusatz »gegründet 1910«, an dem sie bis 2003 festhielt, wie einen Versuch der Rache: Wenn wir schon alleine die historische Last zu tragen haben, dann beanspruchen wir auch, in der Tradition der guten DPG zu stehen, der DPG vor dem Nationalsozialismus.
Die Nachkriegs-DPG als Nazigesellschaft – wie lässt sich diese Zuschreibung verstehen? Ich will mich hier auf einen, vielleicht auch zentralen Hintergrund beschränken, die Gründung der DPV und die Aufnahme in die IPV 1950/51, während die DPG außerhalb der IPV verblieb, mit der Aufforderung, zunächst ihre psychoanalytischen Positionen zu klären. Das führte zu fundamentalen institutionellen Spannungen. Die Aufnahme der DPV in die IPV fungierte als Indiz für eine politische Rehabilitierung, und es kam zu den wechselseitigen Klischees der bösen Deutschen in der DPG und der »reingewaschenen« Kollegen in der DPV. Doch diese wechselseitigen Klischees gerieten in Seeon erheblich ins Wanken: Gleich zu Beginn wurde deutlich, wie sehr es der ganzen Gruppe, also beiden Fachgesellschaften, ähnlich wie in Nazareth um die unerfüllt bleibende Sehnsucht nach »Reinwaschung«, Vergebung und damit auch Anerkennung als Psychoanalytiker ging. Da der z. T. jüdische Staff diese Wünsche nicht befriedigte, entstanden sehr rasch destruktive Übertragungen auf ihn, seine Deutungen wurden entwertet und zerstört. Der Staff lässt sich im Erleben der Gruppe wie eine unbewusste Repräsentanz verstehen, eine Repräsentanz für die 1935 vertriebenen jüdischen Kollegen aus der DPG. Und die Destruktivität gegen den Staff kann als »Antisemitismus nach dem Holocaust« (H. Beland, mündl. Mitteilung) verstanden werden, weil er uns immer wieder mit Schuld und Verantwortung konfrontierte: »Wäre Freud nicht rechtzeitig geflohen, so wäre er vermutlich in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden.« Und die beschriebenen Streitrituale und Klischees – 4-Stunden-Analyse, Schultz-Hencke usw. – dienten dazu, sich genau damit nicht zu beschäftigen: dass wir es eben mit einem »Zerbrechen« und nicht nur mit einem »Unterbrechen« der Psychoanalyse in Deutschland zu tun haben, wie John Kafka (2007) es formulierte. Die Folge ist eine nachhaltige Beschädigung des Selbstwerts als Psychoanalytiker.
Das Ringen um Anerkennung
In einer sehr eindrücklichen Szene, in der die beschriebene Abwehr der vertrauten Streitrituale einmal Pause machte, sprach eine Teilnehmerin sehr bewegt davon, wie schwer es sei, sich angesichts der Vernichtung der Juden mit ihren eigenen destruktiven Seiten zu beschäftigen. Ein Staff-Mitglied sagte: »Solange Sie diese destruktive Seite nicht als zu sich zugehörig wahrnehmen und anerkennen, wird es keine Humanität geben.« Blitzschnell löste ein anderer Teilnehmer den Begriff des »Anerkennens« aus dem Bedeutungszusammenhang dieses Satzes heraus und stellte ihn in einen ganz anderen Kontext: Die Frage sei, wie die deutschen Psychoanalytiker wirklich Anerkennung bekommen können. In dieser verblüffenden Wendung und sprachlichen Doppelbedeutung des Begriffs der »Anerkennung« verdichtete sich etwas Zentrales dieser Konferenz: der Zusammenhang von Anerkennung eigener Bereitschaften zu Destruktivität und der Anerkennung, also Wertschätzung, als Psychoanalytiker. Es tat sich ein Weg aus der Sackgasse auf: Als deutscher Psychoanalytiker Anerkennung zu bekommen, und vor allem, sie sich selbst zu geben, setzt voraus, die eigene Bereitschaft zur Destruktivität und die Zerstörung der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus »anzuerkennen« und schmerzlich zu erleben.
In dieser Gruppenszene lässt sich ein zentrales Ergebnis dieser Konferenz erkennen, dass nämlich die beschriebenen wechselseitigen Entwertungen und Streitrituale doppelt determiniert sind: Sie sind Versuche der Abwehr anzuerkennen, als deutscher Analytiker in einer zerstörerischen deutschen Tradition zu stehen. Und sie sind Versuche, die in beiden Gesellschaften jeweils unterschiedlichen Brüchigkeiten im Selbstgefühl als Psychoanalytiker zu bewältigen. Die DPV betrieb in vielen Köpfen der DPG-Kollegen gemäß ihrer Reinwaschung auch eine »reine Psychoanalyse«, d. h. sie war steril, »puristisch«, orthodox und elitär. Wir hingegen waren in unserem Selbstverständnis frei, offen in der Diskussion, unorthodox und fortschrittlich und hatten klinisch die Nase vorn. Umgekehrt waren die DPG-Kollegen für die DPV keine Analytiker, sondern Psychotherapeuten und ansonsten ein ziemlich chaotischer Verein.
Gesine Schwan (2001) hat in ihrer Analyse der gesellschaftlich-kulturellen Merkmale des »Beschweigens« in der BRD nach dem Krieg den Provinzialismus (S. 205) und den Trotz (S. 52) beschrieben. Beides trifft meiner Einschätzung nach für die DPG während der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte zu. Ein provinzieller Trotz war der Versuch, den beschädigten Wert als Psychoanalytiker zu reparieren und die unbewusste Kränkung, nicht in der IPV zu sein, zu bewältigen. Armin Pollmann (1998) hat anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Instituts für Psychotherapie Berlin ebenfalls vom trotzigen Gestus in der DPG gesprochen: eine Haltung, trotz des Abgeschnittenseins von der internationalen psychoanalytischen Community eine eigene, wertvollere und praxisnähere Psychoanalyse zu betreiben. Doch das konnte über die Existenz des Ausgeschlossenseins aus der IPV nicht hinwegtäuschen. Die Archivdokumente lassen erkennen, mit welchem Enthusiasmus und aufrichtigem Bemühen z.B. Schwidder Anfang der 60er Jahre zunächst sowohl die Verständigung mit der DPV suchte als auch um internationale Verbindungen warb, was nur spärlich gelang, und schließlich die IFPS gründete, um der IPV etwas entgegenzusetzen.
Ein trotziger Gestus inszenierte sich in der Seeon-Konferenz eindrucksvoll: Vier DPG-Kollegen wollten nicht aus einem Raum hinausgehen, obwohl sich eine andere DPG/DPV-Gruppe dort versammelt hatte, und zwar interessanterweise zum Thema eines möglichen Aneignungstabus deutscher Analytiker. Es sollte um die Frage gehen, die Hermann Beland in die Diskussion gebracht hatte: ob das historische Trauma die deutschen Analytiker daran hindert, sich die Psychoanalyse wirklich zu eigen zu machen und sie kreativ zu betreiben, was ja bedeuten würde, das zu betreiben, was sie zerstört haben. Als die vier hinzukommenden DPG-Kollegen auf keinen Fall den Raum verlassen wollten, mit der einzigen Begründung »Wir wollen bleiben, wir haben ein Recht, hier zu sein«, entstand innerhalb weniger Minuten eine fast gewaltbereite Atmosphäre, und die Diskussion über das Aneignungstabu kam erst einmal nicht zur Sprache.
Der Staff deutete diese Inszenierung als Abwehr gegen das Thema selbst. Ich interpretierte damals diese Szene darüber hinaus als ein trotziges Behaupten der DPG, ein Beharren auf dem Recht, sich nicht vertreiben zu lassen und in der psychoanalytischen und auch internationalen Community ihren Platz zu haben. Heute würde ich hinzufügen: es geht vielleicht um ein Behaupten aller deutschen Psychoanalytiker, auch das der DPV. Denn – ich erwähnte es schon – es war ein Klischee, was in der DPG über die DPV kursierte: dass sie 1951 die »Weihen« der IPV erhalten habe, ohne viel Anstrengungen oder Konflikte, und dass sich die DPG alleine mit der Last der Geschichte beschäftigt habe.
Erst in Seeon wurde für einige DPG-Kollegen spürbar, wie schwer es für die Kollegen der DPV nach deren Gründung war, einen selbstverständlichen und sicheren Platz und vor allem Anerkennung in der IPV zu finden. Dass die DPG das kaum zur Kenntnis nahm, hat mit der Wunde zu tun, von der DPV 1951 »verraten« worden zu sein. Diese tiefe Wunde brach in Seeon noch einmal auf. Interessant ist nämlich, was der Szene des trotzigen Dableibens der »4er-Bande,« wie sie später hieß, voranging: DPG-Kollegen hatten die DPV eingeladen, zusammen über das Aneignungstabu zu diskutieren. Doch dieser Einladung ging eine lange Diskussion voraus, ob sie es wagen sollten, diese Einladung überhaupt auszusprechen, aus Misstrauen und Angst, erneut mit der historischen Verantwortung alleine gelassen zu werden.
In unserem Tagungsflyer schrieben wir: »Der über Jahrzehnte hochgehaltene Vereinsgegensatz verlor angesichts der gemeinsamen historischen Verantwortung sein narzisstisches Gewicht und konnte als kollektive Abwehr verstanden werden.«
Ich habe Ihnen einen kleinen Ausschnitt aus diesem zählebigen und turbulenten Weg nahegebracht und möchte schließen mit einem Hinweis von Ross Lazar (2004), der gerade in den Gemeinsamkeiten und nicht in den Unterschieden ein hohes narzisstisches Kränkungspotential sieht. Es sind, so Lazar in seinem Bericht über die Seeon-Konferenz, die » Gemeinsamkeiten des Backgrounds, das gleiche Erbe, die geteilten Ansichten und Wurzeln, die zu unüberbrückbaren Differenzen führen« (Lazar 2004, S. 148; Übers. U.K.-H.).
Gerade das gemeinsame historische Nazi-Erbe ist das schwer Erträgliche. Auch wenn wir, DPG und DPV, nach vielen Jahrzehnten wechselseitiger Missachtung inzwischen die Früchte gemeinsamer Anstrengungen, nämlich entspannterer Beziehungen, ernten können, ist dieses Pflänzchen, so denke ich, anfällig und bedarf der kontinuierlichen analytischen Pflege durch das Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Und ich denke darüber hinaus, dass sich Themen wie Ausgrenzung und Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung als Psychoanalytiker intern in unserer Gesellschaft fortgesetzt haben, als wir begonnen haben, den Weg in die IPV zu suchen. Und mit diesem »Weg voller Ambivalenzen« setzt sich Ingo Focke in seinem Beitrag auseinander.
Focke, I. (2010): Der Weg der DPG in die IPV. Wunsch und Ambivalenz. Psyche – Z Psychoanal 64,1187-1205.
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DETLEV STUMMEYER
Im Prokrustesbett der offiziellen Geschichtsschreibung*[i]
Übersicht: Der Essay setzt sich kritisch auseinander mit der Arbeit von M. Schröter »Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936« in der Psyche 11/2009. Er knüpft vor allem an die objektivierende Schlussbetrachtung dieser Arbeit an und versucht aufmerksam zu machen und die Sinne dafür zu schärfen, wie nach Meinung des Autors ständig darum gerungen werden muss, eigenen Tendenzen entgegenzutreten, die eine gedankliche und gefühlsmäßige Anstrengung behindern, wie sie eine Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus erfordert. Er ist zudem ein Plädoyer für die Notwendigkeit einer moralischen (bitte boß kein Moralisieren, Mitgefühl reicht vollkommen! Anm.JSB) Bewertung dieser Zeit gerade heutzutage. Sie wird skizziert im Anschluss an Reemtsma (2000) und soll einer gewissen >Beliebigkeit< Einhalt gebieten.
Schlüsselwörter: Anpassungspolitik der DPG; moralische Bewertung
Die Arbeit von M. Schröter in der Psyche – Z Psychoanal 63, H. 11, über die »Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936« (Schröter 2009) irritiert. Er versucht, die Vereinsgeschichte dieser Jahre mit dem Mittel der verstehenden Einfühlung in die beiden Analytiker Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig zu erhellen. Die nebenher laufende Kommentierung, die immer wieder auch andere Sichtweisen zu erfassen sucht, bleibt zwangsläufig nur halbherzig – weil so beabsichtigt – und im Schatten der praktizierten Einfühlung – weil so gewollt. Die letzten zwei Seiten der Arbeit sollen wohl einem objektivierenden Resümee dienen; sonst hätte in der Tat dem jetzigen Titel der Zusatz »in der Sicht von Boehm und Müller-Braunschweig« hinzugefügt werden müssen. Ohne diese Schlussbetrachtung gäbe es diese Kontroverse kaum; und ohne Kontroverse wäre diese Arbeit von Schröter vermutlich nicht so gründlich gelesen worden.
Ich werde sieben Punkte meiner kritischen Lektüre herausgreifen und zu bündeln versuchen.
Geschichte aus Boehms und Müller-Braunschweigs Perspektive
Was ein Eingehen auf diesen Text so schwierig macht, ist der Umstand, dass die Kommentierung der Ereignisse und die Beschreibung der Lage die Sicht Boehms und Müller-Braunschweigs aufzeigen soll, während in dem knappen Schlussteil der Leser nicht umhin kann, sich selbst um eine vielschichtigere Sichtweise zu bemühen, um die Schlussbetrachtung prüfen zu können. Anders ausgedrückt: Oft reicht das im Hauptteil der Arbeit zur Verfügung gestellte Material nicht aus, um als Leser für das Resümee gerüstet zu sein. Ich will das an einer unauffälligen Fußnote verdeutlichen.
Auf S. 1089 (Schröter 2009) in der Fußnote 6 wird Bezug genommen auf den Hamburger Katalog zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland (Brecht et al. 1985). Es sei irreführend, moniert Schröter, das dort wiedergegebene » Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7 4. 33 als Beleg für »berufliche Beeinträchtigungen« zu Beginn der NS-Zeit anzuführen. Analytiker seien per se nicht davon betroffen gewesen. An der Wortwahl »berufliche Beeinträchtigung« lässt sich gut aufzeigen, wie schwierig es sein kann, aus der Sphäre der Empathie zu wechseln in eine distanzierte Haltung und sich frei zu machen, auch andere Sichtweisen aufzunehmen. »Berufliche Beeinträchtigung« erinnert an die von Müller-Braunschweig »Verzicht« genannte Entfernung der jüdischen Analytiker aus dem Vorstand, ein Ausdruck, der von Schröter (S. 1093) als »böser Euphemismus« gegeißelt wird. Aber ist der Ausdruck »berufliche Beeinträchtigung« angesichts der im Gang befindlichen Entrechtung der Juden nicht ebenfalls ein böser Euphemismus, der so auch aus der Feder Müller-Braunschweigs hätte stammen können? Er und Boehm – und damit auch Schröter, sobald er eine objektivierende Position einzunehmen versucht, in der aber die gefühlsmäßige Nähe zu den beiden Analytikern dominiert – stehen vor einem kaum lösbaren Dilemma, das ständiges Balancieren erfordert. Das macht auch die Arbeit von Schröter so flirrend: Einerseits muss die politische Lage als so dramatisch geschildert werden, dass eine Rettungstat in Form der Gleichschaltungspolitik mit den erforderlichen stetigen Anpassungen an die herrschende Ideologie unumgänglich erscheint, um »die Sache« zu retten. Andererseits birgt dies die Gefahr, dass man ihnen vorhalten könnte, mit den braunen Machthabern zu paktieren, die schon erkennbar ihr >wahres< Gesicht zeigen, wenn man die Lage so dramatisch darstellt. Es soll Kooperation sein, die unumgänglich ist, aber keine Kollaboration, die Grenzen überschreitet, zumindest ist das der subjektive Impuls ihres Handelns. Ein schwieriges Unterfangen.
Nebenbei bemerkt, führt die S. 36 des Katalogs den Laienanalytiker Hans Kalischer als einen von diesem Gesetz Betroffenen an (vgl. auch Hermanns 2007, S. 76).
Dessen ungeachtet heißt dies aber keineswegs, dass es nicht schon vor dem 7 4. 33 zu »beruflichen Beeinträchtigungen« von jüdischen Deutschen gekommen wäre. Im März 33 wurden jüdische Anwälte und Richter aus ihrer beruflichen Tätigkeit herausgezerrt, auch mit Gewalt, und ihnen wurde der Zutritt zu ihrer Arbeitsstelle untersagt (Aly et al. 2008, S. 81). (Was das für den >Phantasieraum< eines damaligen Analytikers bedeutete, kann man sich denken; vgl. auch Lockot 1991, S. 53.) Ganze Stadtverwaltungen entledigten sich ihrer jüdischen Mitarbeiter noch vor April 33 (so z.B. Frankfurt/M.; Aly et al. 2008, S. 97). Und gleich nach Inkrafttreten des Gesetzes übernahmen nichtöffentliche Arbeitgeber in vielen Fällen die Regelungen des Gesetzes. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, war dieses Gesetz ein Signal, dass die Nationalsozialisten Ernst mit dem machten, was sie bereits die Jahre zuvor im Reichstag durch Gesetzeseingaben zu erreichen versucht hatten: die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Der Unterschied zu früher, vor 1933, war auch, dass nun keine Empörungswellen mehr bei antisemitischen Übergriffen durchs Reich gingen: Der Antisemitismus war zur Staatsideologie geworden. Wenn man Brecht et al. kritisieren will, kann man ihnen vorhalten, dass sie das Vorhandensein eines Gesetzes zum Beleg einer Diskriminierung im NS-Staat machen. Der NS-Staat war von Anbeginn an ein Unrechtsstaat und die Willkür sein charakteristisches Merkmal. Die deutsche Judenpolitik von 1933 bis zu den Novemberpogromen 1938 muss als ein »tückische[s] Wechselspiel zwischen willkürlicher Gewalt und vorübergehender Mäßigung« (ebd., S. 38) beschrieben werden. So war ein jüdischer Zahnarzt im Mai 33 von SA-Schlägern ermordet worden. Das Verfahren gegen sie wurde eingestellt, nachdem Göring als preußischer Ministerpräsident eine Verfügung erlassen hatte, bis dahin begangene antisemitisch motivierte Straftaten nicht länger zu verfolgen; bereits Verurteilte wurden amnestiert (S. 39 u. 228). Was das für die Gemütslage eines jüdischen Deutschen, der hiervon erfuhr, bedeutete und welche Verleugnungs->Leistungen< nötig sind, um in diesen Verhältnissen zu leben, braucht hier nicht ausgeführt zu werden (vgl. Dräger 1984, S. 43 f.; sie redet vom »Terrorregime«). Soviel in aller Kürze als >Gegengewicht< zur historischen Darstellung in Schröters Arbeit.
Edith Weigert, geb. Vowinckel, seit 1929 DPG-Mitglied, berichtet 30 Jahre später von ihren Patienten, die sie an einem Vormittag in den ersten Monaten des Nazi-Regimes sah (Weigert 1962, S. 255, zit. Nach Holmes 2007; vgl. Schröter 2009, S. 1116). Auch wenn dies in verdichteter Form nach so langer Zeit geschehen sein mag, so gibt ihre Darstellung von der Allgegenwart und der Wucht der äußeren Realität beredt Auskunft und belegt, wie ungemein schwierig, wenn man nicht unmöglich sagen will, psychotherapeutisches und psychoanalytisches Arbeiten im Nationalsozialismus gewesen sein muss. Einen Gedanken aus damaliger Zeit hält sie so fest: »Wie können wir in einer wahnsinnigen, von einer Umwälzung der traditionellen Werte erschütterten Gesellschaft auf das Ziel psychischer Gesundheit hinarbeiten?« (Diese Frage stellt sich ebenso heute. Anm. JSB) Die fruchtbare Frage, weshalb Boehm und Müller-Braunschweig auf der einen, Eitingon, Happel, Vowinckel und Fenichel auf der anderen Seite von Anbeginn an so unterschiedliche Einschätzungen über die Möglichkeiten psychoanalytischen Handelns im >Dritten Reich< hatten, wird zwar zum Schluss aufgeworfen, jedoch mit dem apodiktischen Satz »Aber hinterher ist man immer klüger« (S. 1124) im Keim erstickt.
II . Eitingons » Gravur«
Nur wenig Beachtung findet die Entfernung des Namens von Max Eitingon vom gläsernen Institutsschild. Er ließ am 7 4. 33 kurz vor Antritt seiner Urlaubsreise als Vorsichtsmaßnahme, um nationalsozialistischen Aktionen gegen das Institut vorzubeugen, sowohl Simmels Namen – dieser war als sozialistischer Arzt bekannt – als auch seinen eigenen Namen vom Institutsschild entfernen. Boehm kommentiert dies, es sei aus Takt Simmel gegenüber geschehen (Boehm 1985 [1934], S. 99). Das greift für diesen symbolträchtigen Vorgang zu kurz. Folgende Interpretation drängt sich auf: Eitingon bringt das >Kunststück< fertig, einerseits durch die Unkenntlichmachung seines Namens kenntlich zu machen, dass die DPG eine andere geworden ist, der er seinen Namen entzieht: Seine Deidentifikation mit der DPG – deren Vorsitzender er war – erhält durch diesen aktiven Schritt etwas Unumkehrbares. Folgerichtig – gerade weil er an der Psychoanalyse festhält – gründet er das Jerusalemer Institut, das er als den legitimen Erben des alten Berliner Instituts ansieht. Andererseits >reinigt< er das Institutsschild und damit die DPG und bereitet den Boden vor, die Anpassungspolitik zu beginnen. Man könnte fast vermuten, dass Boehm diesen Akt unbewusst verstanden hat und dann initiativ geworden ist. Hiermit hat Eitingon die vielfach eingeforderte »Restidentität« mit der DPG praktiziert und die >Übergabe< der DPG in andere Vorstands->Hände< in Gang gesetzt. Die Entfernung gerade seines Namens ist eine »Gravur« (Lockot 1994, S. 9; Dahmer 1997, S. 169), die er vorgenommen hat als DPG-Vorsitzender und die eine Markierung signalisiert. Dieser eminente Schnitt bezeugt im weiteren Verlauf seine Unabhängigkeit von Sigmund Freud (Grubrich-Simitis 2005, S. 279). Dass versucht wird, ihn einzuebnen und eine persönliche Animosität als primäre Ursache der Entfremdung zwischen Eitingon und den zurückbleibenden Berlinern zu finden (Schröter 2009, S. 1125), lässt auf ein Interesse schließen, seine Missbilligung der Anpassungspolitik auf persönliche, weniger auf inhaltliche Gründe zurückführen zu wollen. Dabei ist ein Eitingon störend, der schon ante, nicht erst ex post hellsichtig gewesen ist. Das Reden von Eitingons persönlichen Prioritäten und seiner mangelnden Restidentität mit der DPG hört sich an wie das ferne Echo der Klagen Boehms und Müller-Braunschweigs über seine fehlende Solidarität.
Von Eitingons Gespür für die bevorstehende Entwicklung zeugt ein Brief an S. Freud vom 24. 3. 33 – mehr als 2 Wochen vor Boehms Initiative bei der Ärztekammer:
»Unter dem großen Druck, unter dem man hier in den nächsten Jahren [( !); D.S.] stehen dürfte, ist ja ein Kompromißmachen auch wider Willen, besonders bei Menschen, die nicht ganz klar sehen, was sie tun, mehr als wahrscheinlich und so auch etwas zu befürchten, was man schon eine Verrottung nennen dürfte« (Freud & Eitingon 2004, S. 849; vgl. hierzu Jones‘ Brief an A. Freud vom 2. 12. 1935 in Brecht et al. 1985, S. 114f.).
III Verflüchtigung der Verantwortlichkeit
Als ein Beispiel für die suggestive Kraft, die von Schröters Beschreibung ausgeht, möchte ich seine Formulierungen untersuchen, die sich mit Boehms Initiative zwischen dem 10. 4. 33 (seinem Vorsprechen in der Ärztekammer ohne ausdrückliche Legitimation) und mit Müller-Braunschweigs Gesprächen ab Anfang 1934 über eine geplante »Reichsfachschaft« für Psychotherapie befassen.
»Daß sie [Boehm und Müller-Braunschweig] diese Chance bekamen, lag an den Bedingungen, die nicht von ihnen geschaffen waren« (Schröter 2009, S. 1090), heißt es in diesem Zusammenhang. Ein Satz, der so wahr ist, dass man >bedenkenlos< weiterliest. Aber warum steht er da? Hat ihnen jemand den Vorwurf gemacht, sie seien dafür verantwortlich, die Bedingungen geschaffen zu haben, die diese Chance eröffnet haben? Wohl kaum – und wenn doch, ist dieser Vorwurf haltlos. Es wird also auf eine Frage reagiert, die zwar nicht gestellt wurde (zumindest erfährt der Leser nichts davon), deren Antwort aber auf jeden Fall ein Freispruch ist. Wer hat da einen Freispruch so nötig, wo doch kurz vorher ihr Handeln aus »einer gut begründeten Sorge« erklärt worden ist, was den folgenden milden Tadel mehr als wettmacht. Im Leser >verwischt< der geschenkte Freispruch den Wunsch nach einer wirklichen Debatte um Boehms Initiative (die an dieser Stelle nicht erforderlich ist, aber auch nicht nachgeholt wird), und es wird suggeriert, die Zeitumstände seien letztlich verantwortlich.(„Zeitumstände“, es gibt also keine Täter. Anm. JSB) Aber auch in diesen gibt es verantwortlich handelnde Akteure. Stattdessen wird Ernest Jones mit einer Bemerkung zitiert, die sich mit seiner Autorität wie eine Verstärkung und Bekräftigung all des in der Arbeit vorher Gesagten liest.
Schon im nächsten Absatz sind die Folgen zu besehen. Dort heißt es dann: »Es zeigte sich bald, daß die Anpassung des Vorstands an die neuen Vorschriften nur eine Frage der Zeit war« (S. 1091). Die Zeit als Akteur? Auch wenn die Rede von der Eigendynamik ein Allgemeinplatz ist, so verbergen sich oft divergierende Interessen dahinter, über die nicht offen verhandelt werden soll. Zur Veranschaulichung, wie Boehm im Rückblick im August 34 auf jene Zeit (Frühsommer 33) schaut:
»Jetzt wurde die Situation brenzlich. [Wenige Zeilen vorher hatte er von der Bücherverbrennung von Freuds Werken berichtet, D.S.] Die Stimmung unter den reichsdeutschen Kollegen, welche beschlossen hatten, in Deutschland zu bleiben, wurde wegen der Passivität des Vorstands immer erregter. Der Ausdruck >harakiri< fiel mir gegenüber wiederholt« (Boehm 1985 [1934], S. 102).
Auch wenn man berücksichtigt, dass dieser Rückblick unter dem Druck einer Rechtfertigung geschrieben sein mag und er die Lage der Gruppe möglicherweise dramatisiert hat, so kann man, auch nach Abzug dessen, Boehm und die von ihm so benannten »reichsdeutschen Kollegen« als Akteure ausmachen. Nebenbei bemerkt, könnte diese Stelle in Boehms Aufzeichnungen auch die Frage nach seiner Legitimation berühren, die sich stellte, wenn er in den folgenden Wochen mit Nationalsozialisten in Sachen Psychoanalyse verhandelte: Boehm könnte sagen wollen, dass er sich im Auftrag der von ihm beschriebenen Gruppe als Vertreter hierzu befugt fühlte.
Vollends getilgt ist der aktive Handlungsanteil, der noch einer Wahlentscheidung untersteht, in der Beschreibung Schröters: »Aber diese Gespräche waren der DPG aufgenötigt worden und sie verteidigte darin – solange es ging – ihre Selbständigkeit« (Schröter 2009, S. 1106). Gemeint sind >aufgenötigte< Gespräche, die im Laufe des Jahres 1934 geführt wurden, um die DPG-Gruppe in den Dachverband der deutschen Psychotherapeuten (DAÄG) einzubinden. Die »Selbständigkeit« ist hier nur denkbar unter der Prämisse, den bis dahin eingeschlagenen Weg der Gleichschaltung weiter zu beschreiten. Innehalten ist anscheinend keine Option.
Diese drei Hinweise mögen genügen anzudeuten, wie das einfühlende Verstehen Spuren im Text von Schröter hinterlässt und den Leser daran teilhaben lässt, was Boehm und Müller-Braunschweig innerlich bewegt haben mag. Jeder, der Gutachten verfasst hat, kennt die emotionale Anstrengung, die sich einstellen kann, wenn nach dem einfühlenden Verstehen innerlich die Identifikation soweit zurückzunehmen ist, dass die geforderte objektivierende Beurteilung geleistet werden kann. Häufig genug gelingt dies nur unzureichend. Das einfühlende Verstehen liefert wertvolle Erkenntnisse, solange seine methodische Bedingtheit gesehen wird. Bei einer objektivierenden Betrachtung wie der Schlussbemerkung verliert es seinen prominenten Platz.
Vom Verstummen zweier Kritiker
Clara Happel auf der einen, Wilhelm Reich auf der anderen Seite erleiden in der Arbeit ein besonderes Schicksal. Aus Sicht Boehms und Müller-Braunschweigs sind dies zwei Personen – die eine sehr früh und dezidiert, der andere sehr vehement -, die sich der Gleichschaltungspolitik widersetzt haben. Ich habe mich gefragt, warum Schröter, der häufig kommentierend die Perspektive wechselt und >mäßigend< eingreift, hier – bei Happel – merkwürdig still ist, dort – bei Reich – mit heftigem Affekt reagiert. »Happel agierte im Bewußtsein der Unterdrückung und Kränkung« (S. 1092), so erklärt er ihr Verhalten. Ist die deutliche Assoziationsverschiebung – »agierte« statt »handelte« – gewollt? Happel, deren Mann sich 1934 scheiden ließ, um als >jüdisch Versippter< keine beruflichen Nachteile ertragen zu müssen, wurde in den USA nie heimisch und beging nach Kriegsende Suizid. Makaber klingt dann der Satz im Ohr nach, »daß Psychoanalytiker […] relativ günstige Berufschancen im Ausland hatten« (S. 1089): Die seelischen Kosten einer Emigration werden unterschlagen. Und Happel ist gewiß kein Einzelfall. Auf jeden Fall war sie, deren Widerstand gegen die Anpassungspolitik im Sitzungsprotokoll getilgt ist, eine, die den Satz »Aber hinterher ist man immer klüger« Lügen straft. Würde sie, in ähnlich »scharfem Ton« (S. 1092) wie 1933, auch der Schlussbetrachtung Schröters widersprechen?
Es kann hier nicht darum gehen, sich mit Reichs Anschauungen zu beschäftigen. Dennoch taucht er hier als Behälter für heftige Affekte auf. Man muss sich die Szene vom 17 4. 33 ins Gedächtnis rufen, als Boehm mit Freud »die schwebende Situation in Berlin« (Boehm 1985 [1934], S.100) berät. Boehm verlässt Wien mit Freuds Plazet zu seiner Kandidatur und mit Freuds Wunsch, (u. a.) dafür zu sorgen, dass Reich aus der DPG ausgeschlossen werde. Schröters Bericht über den Versuch, im Bulletin des International Journal of Psychoanalysis den – zumindest personellen – Bruch in der Kontinuität der DPG kenntlich zu machen (Schröter 2009, S. 1117), der einen oppositionellen Akt darstellte, verweist auf dieses Agreement, das Boehm mit Reichs Ausschluss schon erfüllt hatte. Der Ärger Müller-Braunschweigs über diesen Eklat ist verständlich. Es folgt nun der auch mir (Brainin & Teicher 2010, S. 355) unverständliche Satz mit dem Ausdruck »Konterbande« (Schröter 2009, S. 1117). Unter »Konterbande« findet man im Großen Fremdwörterduden: »Schmuggelware, Bannware«. Die »Schmuggelware«, nämlich Freuds Wunsch, Reich auszuschließen, haftet der Unterredung vom 17.4.33 an und bringt sie so auf jeden Fall ins Zwielicht (vgl. Dahmer 1997, S. 179). Bei allem Ärger über Reich steht auch sein Name für diesen >Schmuggel<, für den er – in diesem Fall unverdient – wütende Attacken erntet. So wird Reich als »gläubige [m] Kommunist[en] « nicht zugestanden, anerkannt zu werden als einer, der »die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Psychoanalyse« schon früh betont hat (Schröter 2009, S. 1093). Das trägt beinahe Züge einer intellektuellen Vernichtung.
V Jude vs. Analytiker
Die für die IPV-Geschichtsschreibung so zentrale Argumentationsfigur der Identitätsaufspaltung in Jude und Analytiker wird auch in Schröters Arbeit unhinterfragt – wenn man Anna Freuds Autorität außer Acht lässt -als geeignete Methode angesehen, um die nationalsozialistische Verfolgung der jüdischen Analytiker begrifflich >einzufangen<. Dass dieses Projekt sehr zweifelhaft ist, will ich nur andeuten: Wie bei kaum einem anderen Beruf steht bei einem Analytiker eine solche Aufspaltung seiner Identität in einen persönlichen und einen beruflichen Anteil im Verdacht, eine künstliche Konstruktion zu sein.Anders gesagt: Es ist wohl kein Zufall, dass die Analyse zu einer »Nacherziehung« durch arische Analytiker (S. 1122) mutiert ist, nachdem mit ihrem Ariertum identifizierte Analytiker und Analyse sich >gefunden< hatten.
Mir geht es mehr um eine ideologiekritische Betrachtung, um die Bedeutung dieser Aufspaltung für die vereinsgeschichtliche Darstellung. Zunächst einmal ist zu vermuten, dass die Nazis bis 1933 wenig von dieser Trennung in Jude und Analytiker hielten. Sie nannten die Analyse eine jüdisch-marxistische (bolschewistische) Schweinerei, eine hochgradig tautologische Beschreibung im Nazijargon: Jedes Wort hat auch die Bedeutung der anderen Worte. Die von A. Freud vorgenommene Auftrennung in Jude und Analytiker wirkt demgegenüber eher wie ein verzweifelter Versuch, die »Sache« zu >reinigen< und damit auch in Nazizeiten zu retten. Sie hätte also ihre Entsprechung und ihren Vorläufer in der NS-Ideologie (die »Juden« sind keine homogene Gruppe). Schröter gibt dieser Aufspaltung eine reale Grundlage, indem er diese im Verhalten (nicht in irgendwelchen Äußerungen) der Nazis verortet: Juden wurden verfolgt, psychoanalytische Organisationen wurden verschont. Das möchte ich so in dieser Klarheit in Frage stellen. Mit der Verwüstung des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin und des IFSF in Frankfurt wurden zwei Institute getroffen, die in großer Nähe zur Psychoanalyse standen und gesellschaftlich relevante, antitotalitäre Forschung betrieben, wobei letzteres Institut sogar der Frankfurter Psychoanalytischen Gruppe räumlichen >Unterschlupf< gewährte: Die Nationalsozialisten fürchteten zu Recht das subversive Potential der Psychoanalyse, weshalb sie Freuds Werke vor allem und in erster Linie verbrannten.
Auf der im Hamburger Katalog aufgeführten Liste der verbotenen Bücher und Schriften der Psychoanalyse (Brecht et al. 1985, S. 91) erscheinen auch nicht-jüdische Autoren. Es war anscheinend ausreichend, um in jene Liste aufgenommen zu werden, wenn im Titel der Schrift ein offensichtlicher Bezug zur Psychoanalyse hergestellt werden konnte oder wenn im Internationalen Psychoanalytischen Verlag veröffentlicht worden war.
Entscheidender hier ist jedoch die Frage, welche Wirkung die Gespräche hatten, die Boehm seit dem Frühsommer 33 mit den nationalsozialistischen Machthabern führte. Schröter schreibt selbst, dass Boehm »große Anstrengungen« unternahm, »die neuen Machthaber positiv von der Kompatibilität der Psychoanalyse mit dem NS-Staat zu überzeugen« (Schröter 2009, S. 1097), Bemühungen, die mit dem »Memorandum« und dem Reichswart-Artikel einen vorläufigen Abschluss fanden. Wenn man die Wirkungslosigkeit der Kontakte behauptet, hat man Schwierigkeiten, die Politik der Anpassung zu begründen. Von einem Gespräch am 10. 8. 33 – im Juli wurde Reich ausgeschlossen – berichtet Boehm, dass er seinen Gesprächspartner zu dem Schluss gebracht habe, »es müsse demnach zwei Arten von Ps.-A.« geben (Boehm 1985 [1934], S. 105): Wohl eine jüdisch-marxistische und eine >saubere<, muss man schlussfolgern. Diesen Nationalsozialisten hat er insoweit überzeugt, als er in Boehm einen Vertreter der >sauberen< Psychoanalyse sah und er – wenn man Boehms Angaben traut -»eine Aktion gegen uns«, die geplant war (S. 104), vereitelte, eine von drei Aktionen, deren Verhinderung Boehm für sich reklamiert.
Im Banne der IPV
Schröters Schlussbetrachtung arbeitet mit vielen nicht weiter hinterfragten Postulaten (diese sind auch schon vorher wirksam, nur müssen sie sich jetzt einer kritischen Schau unterziehen), von denen ich zwei genauer ansehen möchte. (Von der Problematik der stillschweigend vorgenommenen Gleichsetzung der Psychoanalyse mit ihrer institutionellen Verankerung sehe ich ab.)
S.Freuds Diktum vor Reichs Ausschluss:
»Wenn die Psychoanalyse verboten wird, so soll sie als Psa. verboten werden, aber nicht als Gemisch von Politik und Analyse, das Reich vertritt« (Schröter 2009, S. 1096)
und A. Freuds Bemerkung vom März 1936 angesichts »der (illusionären) Hoffnungen« Boehms:
»Gelingt es nicht, so hat die Analyse nichts dabei verloren. Dann ist uns eben eine Gruppe verloren gegangen, die unter diesen Bedingungen nicht zu halten war. Rettet er eine kleine Arbeitsgruppe in eine andere Zeit hinüber, so ist es gut« (S. 1125)
werden gedanklich miteinander verkettet. Der heftige Wunsch, Reich auszuschließen, macht unaufmerksam in der Bewertung, ob damit die Gefahr gebannt ist, ein »Gemisch von Politik und Analyse« zu sein. Es wird allzu schnell suggeriert, dass nach Reichs Ausschluss Freuds Diktum in der Form: »Wenn die Psychoanalyse überlebt, so soll sie als Psychoanalyse überleben, aber nicht als Gemisch von Politik und Analyse« automatisch einträte. Die Argumentation A. Freuds, zumindest in jenem Zitat, hat gar nicht im Auge, dass der Fall eintreten könnte, »eine kleine Arbeitsgruppe« könnte gerettet werden, die die Sache der Psychoanalyse so vertritt, wie sie sich das nicht vorstellt. (Man muss sich zudem vergegenwärtigen, dass A. Freuds Zitat noch 9 Jahre nationalsozialistischer Diktatur bevorstehen.) So wird unter der Hand Rettung einer Gruppe mit Bewahrung der Psychoanalyse gleichgesetzt.Zweifellos hat die Gruppe A des » Göring-Institutes« die NS-Zeit überlebt, genaugenommen: »Referentenkreis für Kasuistik und Therapie« (Lockot 1991, S. 57). Ob dies zwangsläufig oder »cum grano salis« (Schröter 2009, S. 1125) die Sache der Psychoanalyse bewahrt oder aber zu wesentlicheren Beschädigungen geführt hat, bleibt unbesprochen. Welche Anhaltspunkte gibt es dafür, dass A. Freud mit der »kleine[n] Arbeitsgruppe« eine Gruppe wie die Gruppe A gemeint haben könnte? Die These, dass die IPV-Politik »auf kurze Sicht realistisch – und auf lange erfolgreich« und dass daher die Gleichschaltungpolitik der DPG im Ganzen angemessen gewesen sei, ist mit Argumenten seltsam schwach unterfüttert. Deswegen meine ich, es wird hier weniger argumentiert und abgewogen, als vielmehr postuliert. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass von Schröter selbst wichtige Hinweise (so z.B. S. 1102, 1122f.) aufgeführt, aber leider zum Schluss nicht mehr aufgenommen werden, die ein großes Fragezeichen hinter seinem »cum grano salis« aufleuchten lassen.
Die in der Schlussbetrachtung vorgenommene Bewertung ist keine Objektivierung, sondern eine Art Formatierungsprozess, in dem die im Hauptteil gewonnenen Erkenntnisse >abgeglichen< werden mit der offiziellen Geschichtsschreibung, ohne deren Prämissen (sowohl für die Zeit vor als auch nach 1945) zu überprüfen.
Dies scheint mir die Folge einer anhaltenden Identifikation mit Boehm, Müller-Braunschweig und der IPV zu sein, die es so schwer macht, anderen Sichtweisen bei der Beurteilung, ob diese »Rettung« die Anpassungspolitik rechtfertigt, einen gleichwertigen Platz zuzuweisen. »Sie [die leitenden deutschen Analytiker] gerieten dabei auf eine abschüssige Bahn, auf der sie keinen Punkt mehr erkannten, wo sich ein Weitermachen hätte verbieten sollen« (S. 1124): Hier wird die Anpassungspolitik als ein >Verlaufen ohne Orientierung< resümiert und damit eine Möglichkeit zu einer wirklichen Analyse verpasst. Das Terrain wird so vorbereitet, um am Schluss der Arbeit formulieren zu können, man werde divergierende Perspektiven akzeptieren und deren unschlichtbare Diskrepanz aushalten müssen (S. 1126). Wohl wahr. Doch dem kann man nur mit Jan Philipp Reemtsma entgegenhalten:
Es »[…] hätte erstens zur Konsequenz, Geschichtsschreibung immer dort abzubrechen, wo das Handeln von Individuen in den Blick kommt, und zweitens Reden über moralische Fragen generell mit einem Tabu zu belegen. Mit der scheinmoralischen Haltung, man wolle sich nicht über andere erheben, soll die Frage nach richtig und falsch und Recht und Unrecht überhaupt keine Rolle mehr spielen« (Reemtsma 2000, S. 286).
Weil eine moralische Beurteilung nicht vorgenommen wird, bleiben am Schluss »divergierende Perspektiven« nebeneinander gleichberechtigt stehen. Reemtsma nennt dies »moralisches Analphabetentum, das sich als Mentalität der latenten Komplizenschaft herausgebildet hatte« – »ein Folgeschaden der Jahre 1933 bis 1945« (S. 285).
VII. Eine moralische Bewertung
Ich möchte der Darstellung Schröters von der »erzählten Geschichte« – er meint die Geschichte der Anpassungspolitik, in der es »keine Schurken und keine Helden«, »zwar eindeutige Opfer, aber keine entsprechend eindeutigen Täter« (Schröter 2009, S. 1125) gegeben habe – eine andere Sicht gegenüberstellen. Schröter möchte »die moralischen Grauzonen« erfassen und wendet sich gegen das Entwerfen eines »Schwarz-Weiß-Bild[s]«. »Die unauflösbare Spannung« zwischen den arischen Analytikern und Eitingon hat primär nichts »Tragisches« (S. 1125): Sie ist Konsequenz der Dichotomisierung der Gesellschaft in Arier, die dann eine Volksgemeinschaft werden, und in >Rassefremde<, die durch die Nationalsozialisten willkürlich definiert wurden. Das ist in der Tat unauflösbar und ist eine Dichotomisierung, die sich durch keinerlei methodisches Vorgehen aus der Welt schaffen lässt. Das Bild ist schwarz-weiß grundiert. Davon unberührt bleibt eine spätere Differenzierung der Täter-Opfer-Dichotomie: Täter, die Opfern helfen.
Um dieses Bild weiter zu differenzieren, greife ich auf Reemtsma zurück. Im Anschluss an Hannah Arendt führt er (Reemtsma 2000, S. 278) das Begriffspaar der manifesten und der latenten Komplizenschaft ein, letztere, um eine Begrifflichkeit für die durch ein gemeinsames Schuldgefühl gestiftete Volksgemeinschaft zu finden. Die latente Komplizenschaft fängt mit dem »Wegsehen« an und verfestigt sich durch die Teilhabe an der »Beute« (S. 278; vgl. auch Klaus Kennel in Beland et al. [1986], S. 441). Von Beidem ist in Boehms und Müller-Braunschweigs Anpassungspolitik etwas zu finden. Weitere Kriterien zur genaueren Differenzierung gibt Reemtsma mit der Unterscheidung zwischen »begeistertem und apathischem Konsens« (Reemtsma 2000, S. 286) zur Hand. Wenn man ihr Handeln und ihre schriftlichen Äußerungen in Schröters Arbeit besieht, kommt man nicht umhin, von einem bereitwilligen »Konsens« bei Boehm und Müller-Braunschweig zu sprechen. Daran ändert auch ihre subjektive Meinung während der Zeit 1933-36 nichts, für die Rettung der Psychoanalyse zu kämpfen. Es macht diesen >bereitwilligen Konsens< vielleicht erträglicher, schließlich konnte damals keiner den Ausgang »zwingend« (Schröter 2009, S. 1124) voraussagen. Einzig Bernhard Kamm scheint ein »Unbestechlicher«, nach der Terminologie Reemtsmas (Reemtsma 2000, S. 286), geblieben zu sein. Aber es wäre empörend, seine Unbestechlichkeit auszuspielen gegen ein Zuwenig an Identifikation mit der »Sache«. Der »Unbestechliche« (für Reemtsma prototypisch: Karl Jaspers) ist eine Kategorie, die angesiedelt ist zwischen »Mitmachen und Helden des Widerstandes«. Mit dem Instrumentarium Reemtsmas ist sichergestellt, dass die Dichotomisierung, die die Nationalsozialisten vorgenommen haben, nicht verwischt wird und dass dennoch viele unterschiedliche Schattierungen vorgenommen werden können.
Es bleibt zurück eine derart scham- und schuldbesetzte Kränkung, dass wir in ihrem >Anziehungsfeld< dem verführerischen Wunsch erliegen können, das Abgewehrte zu übersehen und zu verleugnen. Schlimmer noch: Wir sind nicht geschützt vor Anfälligkeit.
Max Planck, »der sich für eine Reihe bedrohter Kollegen einsetzte«, auf einen Vorschlag im Juli 33, einen Protest prominenter Professoren gegen die Behandlung jüdischer Kollegen zu organisieren: »Wenn heute 30 Professoren aufstehen und sich gegen das Vorgehen der Regierung einsetzen, dann kommen morgen 150 Personen, die sich mit Hitler solidarisch erklären, weil sie die Stellen haben wollen« (Hahn 1968, S. 145, zit. nach Grüttner & Kinas 2007). Mutatis mutandis: Boehm äußerte im August 1945, »daß er unter dem Übergewicht der Juden am alten Institut immer gelitten habe« (Lockot 1985, S. 114).
Die andere DPG
Die andere DPG – die Deutsche Physikalische Gesellschaft – hat ihre jüdischen Mitglieder auf ministerielle Anweisung im Dezember 1938 zum Austritt auffordern müssen. Ihre Satzungsänderung, nach der keine Juden DPG-Mitglieder werden konnten, trat 1941 in Kraft (Wolff 200Z S. 120-125).
Aly, G., et al. (Hg.) (2008): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 1: Deutsches Reich 1933-1937 München (Oldenbourg).
Beland, H., Loch, W., Mitscherlich-Nielsen, M., Vogt, R., Appy, G. & Kennel, K. (1986): Podiumsdiskussion. Psychoanalyse unter Hitler — Psychoanalyse heute. Psyche — Z Psychoanal 40, 423-442.
Boehm, F. (1985 [1934]): Ereignisse 1933-1934. In: Brecht et al. (Hg.), 99-109.
Brainin, E. & Teicher, S. (2010): Kommentar zu »Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936« von Michael Schröter in Psyche 63, 2009, Heft 11. Psyche — Z Psychoanal 64, 353-357
Brecht, K., Friedrich, V., Hermanns, L.M., Kaminer, I. J. & Juelich, D. H. (Hg.) (1985): »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter …« Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Hamburg (Kellner).
Dahmer, H. (1997): Psychoanalytiker in Deutschland 1933-1951. Ein unglückseliger Verein und eine Geschichte, die sich nicht selber schreibt. In: Lohmann, H.-M. (Hg.): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zu einer Bearbeitung eines unbewältigten Traumas. Frankfurt/M. (Fischer), 167-189.
Dräger, K. (1984 [1971]): Bemerkungen zu den Zeitumständen und zum Schicksal der Psychoanalyse und der Psychotherapie in Deutschland zwischen 1933 und 1949. In: Lohmann, H.-M. (Hg.), 41-53.
Freud, S. & Eitingon, M. (2004 [1906-39]): Briefwechsel. Hg. v. M. Schröter. Tübingen (edition diskord).
Grubrich-Simitis, I. (2005): »Wie sieht es mit der Beheizungs- und Beleuchtungsanlage bei Ihnen aus, Herr Professor?« Zum Erscheinen des Freud-Eitingon-Briefwechsels. Psyche – Z Psychoanal 59,266-290.
Grüttner, M. & Kinas, S. (2007): Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933-1945. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55,123-186.
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Summary
On the procrustean bed of official historiography. – The essay is a critical engagement with M. Schröter’s article »The German Psychoanalytic Society 1933-1936« in the 11/2009 issue of Psyche. It takes its bearings largely from Schröter’s objectifying conclusions and attempts to sharpen our awareness of the necessity of fighting to obviate tendencies in ourselves that impede the kind of intellectual and emotional effort required to find an approach to the Nazi era. It also urges the necessity for a moral evaluation of that era in this day and age. Such an evaluation is outlined with reference to Reemtsma (2000) and is designed to put a stop to a species of what the author calls »arbitrariness.«
Keywords: adaptation policy of the German Psychoanalytic Society (DPG); moral evaluation
Résumé
Dans le lit de Procuste de l’historiographie officielle. – Cet essai est une mise en débat critique du texte de M. Schröter »L’association psychanalytique allemande de 1933 à 1936« (»Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933–1936«) paru dans Psyche 11/2009. En s’appuyant surtout sur les conclusions objectivantes de ce texte, l’auteur désire mettre en évidence la nécessité de combattre incessament les propres tendances entravant l’effort intellectuel et affectif qu’exige une approche du nationalsocialisme.
L’essai est aussi un plaidoyer pour la nécessité valant tout particulièrement aujourd’hui d’une estimation morale de cette période. Celle-ci est esquissée en référence à Reemtsma (2000), son objectif étant de faire obstacle à un certain »laxisme«.
Mots clés: la politique d’allégeance de la DPG; estimation morale
[i] * Für ihre kritische Sicht danke ich Elisabeth van Quekelberghe und Johannes Picht. Bei der Redaktion eingegangen am 27 5. 2010.
YIGAL BLUMENBERG, BERLIN
»Die Crux mit dem Antisemitismus«. Zur Gegenbesetzung von Erinnerung, Herkommen und Tradition*[i]
Übersicht: Anknüpfend an die von Alexander und Margarete Mitscherlich analysierte »Unfähigkeit zu trauern«, zentriert der Autor seine Überlegungen um das (Nicht-)Erinnern und (Nicht-)Durcharbeiten des Antisemitismus, in welchem sich in wenngleich verzerrter Gestalt, in einer Gegenbesetzung, eine Beziehung zum Judentum ausdrückt. Die Schwierigkeiten, diese Gegenbesetzung zu dechiffrieren und sich erinnernd mit dem »Juden« in Beziehung zu setzen, entstammen Blumenberg zufolge der Tradition einer dreifachen kulturgeschichtlichen Verdrängung des Judentums: durch die Institutionalisierung des Christentums, die Aufklärung und den Nationalsozialismus. Diese die jüdischen Wurzeln der abendländischen Kultur entwertende Tradition flüchtet sich in purifizierende, Ambivalenzen aufhebende Tendenzen und trägt den Keim zur Selbstzerstörung in sich. Die Auslöschung der Erinnerung an den vorausgesetzten eigenen Ursprung, die eine zentrale Dimension jüdischen Denkens darstellt, erweist sich als der Herkunftsort des Antisemitismus. Erst im Durcharbeiten des Antisemitismus, d. h. in der Wiederherstellung der Erinnerung wird es möglich, (Kultur-)Geschichte zu schreiben.
Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit… Wiederzukehren vermag Tradition einzig in dem, was unerbittlich ihr sich versagt.
Th. W Adorno, Über Tradition
Was heißt das: »trauern« ?
Die von A. und M. Mitscherlich vor 30 Jahren analysierte Unfähigkeit, um die nationalsozialistischen Ideale zu trauern, war eine wichtige Antwort auf die kollektive Abwehr der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus (Mitscherlich, 1967). Obwohl diese Analyse nach wie vor an Aktualität kaum eingebüßt hat, drängt sich heute die Frage auf, ob sie nicht ergänzt werden müßte. Nach wie vor scheint es keineswegs akzeptiert zu sein — wenn wir z. B. an die Debatte um das Buch von D. Goldhagen oder an die Diskussion um das geplante Holocaust-Denkmal in Berlin denken -, daß jene Unfähigkeit, um die nationalsozialistischen Ideale zu trauern, untrennbar mit der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit verbunden ist, sich der Beziehung zum Völkermord an den Juden bewußt zu werden; daß die kollektive Identifizierung der deutschen Bevölkerung mit den Idealen des Nationalsozialismus die Identifizierung mit dem Antisemitismus als den zentralen Kern enthielt und damit eine ganz bestimmte innere Beziehung zum Judentum und dessen Träger: eine wesentlich feindliche und verfolgende Besetzung der Juden. Was bedeutet dies im Zusammenhang der Frage nach der Unfähigkeit zu trauern?
»Trauer«, so Freud, »ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« (1917e, S. 429). »Die Trauer entsteht unter dem Einfluß der Realitätsprüfung, die kategorisch verlangt, daß man sich von dem Objekt trennen müsse, weil es nicht mehr besteht. Sie hat nun die Arbeit zu leisten, diesen Rückzug vom Objekt in all den Situationen durchzuführen, in denen das Objekt Gegenstand hoher Besetzung war« (Freud, 1926d, S. 205; Hervorh. Y.B.).
Das Trauern stellt uns vor die schmerzliche Notwendigkeit, den Verlust
anzuerkennen, um nicht das Schicksal der verlorenen Person oder des Ideals zu teilen, dergestalt dem Leben zu entsagen und dem Tod zu folgen. Daher geht es in der Trauerarbeit um die Erinnerung an die Beziehung zu den verlorenen Menschen und Idealen, die noch einmal einer Prüfung, einer Analyse und Bewertung unterzogen werden muß, damit Vergangenheit werden kann; die Realität gebietet den Verlust und den Tod dadurch anzuerkennen, indem die Beziehung zu jenen verlorenen Menschen oder Idealen vergegenwärtigt wird. Wenn ich mich nicht erinnern und mir die Beziehung zum Verlorengegangenen nicht vergegenwärtigen kann, bleibe ich an das Objekt gebunden; so als ob es noch leben und existieren würde, eine lebendige Beziehung noch bestünde und der Verlust nicht eingetreten wäre. Dann aber wird der Kontakt zur Wirklichkeit gestört. Das Trauern als eine Beziehungsaufnahme zum Verlorenen bedeutet daher eine Hinwendung zur Vergangenheit, um Gegenwart und Zukunft hernach freier gestalten zu können.
Diese Gegenbesetzung besitzt vielerlei Facetten (in unterschiedlichem Grad an Bewußtheit) und läßt das Kollektiv der Juden in den bekannten Vorurteilen, die sich um keine Widersprüche sorgen, erscheinen: U. a. als »Landfremde«; als die Minderheit par excellence; als die Anderen schlechthin; als Gottesmörder, die »trotzig« und »hartnäckig« an »ihrem« Alten und Tradierten festhalten und zugleich macht- und geldgierig die Moderne repräsentieren, die das »Alte« und »Bewährte« zu zerstören trachtet; als Intellektuelle etc. (vgl. z. B. Freud, 1939a, S. 197f.; Grunberger, 1988). Die zu konstatierenden Schwierigkeiten der Trauer- bzw. Erinnerungsarbeit entstammen — über die schier unerträgliche Ansehung des Zivilisationsbruchs durch die Shoa hinaus — einer hermentischen Tradition des Antisemitismus, der — qua »kultureller Selbstverständlichkeit« — nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es macht ganz den Eindruck, als existiere der Antisemitismus als kulturelle Konstante und über Jahrhunderte tradierte Gegenbesetzung gewissermaßen als »zweite Haut«. »Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie. Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben. … Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus« (Horkheimer und Adorno, 1947, S. 185; Hervorh.Y.B.).
Als Psychoanalytiker sind wir (auch) in der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition der Aufklärung sozialisiert worden. Aber so sehr der Antisemitismus heute (nicht nur) unter Psychoanalytikern offenkundig bewußt problematisiert wird (und sowohl latent als auch virulent ist Anm.JSB), so sehr scheint die heimliche Fortexistenz judenfeindlicher Tendenzen in der Tradition der Aufklärung bis heute schlicht nicht wahrgenommen zu werden. Auch Freud wurde nicht müde, dem Ideal der Aufklärung berechtigterweise Anerkennung zu zollen — aber über ihr inhärentes judenfeindliches Erbe scheint sich ein großes Schweigen zu legen und beständig zu reproduzieren. Andererseits sprechen z. B. seine Schriften Totem und Tabu (1912/ 13), »Der Moses des Michelangelo« (1914 b) — als die Trennung von Jung vollzogen war — und ganz als Fokus im Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a) — als Freud sich mit dem Nationalsozialismus und den ihn verfolgenden mörderischen Haß konfrontiert sah — auch die Sprache seiner Trauerarbeit. In diesen Schriften versucht er über das Gewinnen eines Verständnisses des Judentums und der Wurzeln des Antisemitismus sich der brennenden und ihn quälenden kulturgeschichtlichen Frage zu nähern, was immer wieder den Judenhaß hervorrufe.1[ii] Im Juni 1938, als er sich bereits im sicheren englischen Exil befindet, erinnert er einerseits an sein Verständnis der religiösen Phänomene, die »nur nach dem Muster der uns vertrauten neurotischen Symptome des Individuums zu verstehen sind« (Freud, 1939 a, S. 160). Andererseits scheinen sich angesichts der sich anbahnenden kollektiven Zerstörung abendländischer Ethik und der Verfolgung des jüdischen Volkes Zweifel an dieser über 25 Jahre alten Vorstellung über die Natur der Religionen zu regen : »Meine Unsicherheit setzt erst ein, wenn ich mich frage, ob es mir gelungen ist, diese Sätze für das hier gewählte Beispiel des jüdischen Monotheismus zu erweisen« (ebd.).
Was Freud »wie ein unerlöster Geist (quälte)« (ebd., S. 210), könnte jene innere Not gewesen sein, die viele andere jüdische Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler plagte: Mit der Emanzipation und Assimilation im 19. Jahrhundert scheint das jüdische Denken unerkannt und in der Maskierung der die Universalität des Menschen propagierenden Aufklärung wieder Eingang in die Kulturgeschichte gefunden zu haben (z. B. A. Einstein, E Kafka).2[iii] Aber bei Strafe der antisemitischen Diffamierung und Denunziation durften sich jüdische Wurzeln und Tradition nicht zu erkennen geben und mußten sich dem Ideal der Aufklärung beugen, wonach es keine Juden mehr geben darf, sondern nur noch universelle Bürger.3[iv]
Dies scheint mir das Problem im Selbstverständnis Freuds und in dem Hineinwirken der jüdischen Tradition in das Gebäude der Psychoanalyse zu sein, was sich eben nicht zuletzt in Freuds Verständnis der Religion niederschlägt.4[v] Der Psychoanalyse sollte wohl die Rolle zufallen, eine universelle Ethik mit traditionellen und partikularen Wurzeln zu versöhnen und dergestalt das Individuum aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) zu emanzipieren. Diesem Ideal der Aufklärung verpflichtet, scheint sich aber die Psychoanalyse ständig in einem Konflikt mit den aus der Übertragung gewonnenen Einsichten zu befinden. Denn wenn etwas in der Psychoanalyse sich dem absoluten Prinzip der Vernunft entzieht und es Lügen straft, dann ist es das unbewußte Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen, das — auch in den Schriften Freuds zu entdecken — von einer eigenen Geschichte und Tradition erzählt und eine ganz einzigartige subjektive Wahrheit offenbart.5[vi] Daher könnte erst die Anerkennung der untrennbaren Verbindung und (nicht aufzulösenden) Differenz zwischen unbewußten und gänzlich subjektiven Phantasien, die sich der kollektiven Historie und persönlichen Tradition verdanken, einerseits und jener Vernunft bzw. behaupteten »Wirklichkeit« und Rationalität andererseits die Aufklärung zu dem führen, was sie in ihrem eigenen Namen ausspricht. Im Über-Ich und Ich-Ideal vergegenwärtigen sich bekanntlich gleichsam die besondere Geschichte und die Tradition der Eltern, deshalb leben wir nie ganz in der Gegenwart, sondern zu einem guten Teil in der kollektiven Vergangenheit. Im Rahmen unserer Überlegungen haben wir es mit einer Vergangenheit zu tun, in der sich 15 Jahrhunderte judenfeindliche Ressentiments und nationalsozialistische Identifizierungen quasi bruchlos und ganz primärprozeßhaft ineinander verschieben und verdichten, wie selbstverständlich aufscheinen und sich einer langen und machtvollen, weil auch heimlichen, Tradition verdanken.
Die kulturgeschichtliche Verdrängung des Judentums6[vii]
Im Folgenden soll diese Tradition skizziert und deutlich werden, daß sie hierbei immer wieder mit einer Verweigerung einhergeht, die eigenen Identifizierungen anzuerkennen und sich der eigenen Geschichte und des Herkommens — in Trauerarbeit — zu erinnern. Dieser recht widersprüchliche Prozeß einer unbewußten bzw. abgewehrten (Selbst-)Entwertung des eigenen Ursprungs und Tradition, der sich schließlich mit einer Rede von einer vermeintlichen und von jeglicher Subjektivität gereinigten Wahrheit paart, macht sich in der abendländischen Kulturgeschichte nicht zufällig an der Repräsentanz des Judentums und dessen gegenbesetzter Gestalt im judenfeindlichen Ressentiment geltend. Wenn wir sagen können, daß die abendländische Kulturgeschichte ohne das institutionalisierte Christentum nicht gedacht werden kann, dann müssen wir auch sagen: Ohne die jüdische Bibel ist die (Selbst-)Aufgabe des Pharisäers Saulus und dessen mystische Verwandlung in Paulus, damit auch das christliche Dogma vom »fleischgewordenen Wort Gottes« nicht zu denken. Diese Einnahme einer dogmatischen oder präziser: totalisierenden Position tendiert immer wieder zu einer Entwertung und Zerstörung des (väterlichen) Gesetzes und des (reifen) Über-Ich. Im Folgenden werde ich von einer dreifachen kulturgeschichtlichen Verdrängung desJudentums sprechen,7[viii] einer hermetischen Verweigerung des europäischen Abendlandes, das Judentum kulturgeschichtlich sich selbständig artikulieren zu lassen, vielmehr es allein im antisemitischen Ressentinment (als Gegenbesetzung) zu bannen.
2.1 Paulus und die Institutionalisierung des Christentums
Schalom Ben-Chorin (1980) hat in seiner »Paulus«-Studie die äußerst konflikthafte Entwicklung der Theologie Paulus‘ »aus jüdischer Sicht« beschrieben und nachgezeichnet, wie Paulus dem jüdischen Gesetz zunehmend ein abstraktes, typologisches und allegorisches Verständnis unterlegt (vgl. Klausner, 1980; Schoeps, 1959; Taubes, 1995). Das Wort der Thora bzw. der jüdischen Bibel, das nach der jüdischen Tradition auch in seiner wörtlichen Bedeutung festgehalten, diskutiert und daher auch in seinen vielfältigen Bedeutungen anerkannt werden muß (vgl. Blumenberg, 1995), verflüchtigt sich schrittweise im Verständnis Paulus‘ und wird unverbindlich. Schließlich lautet der den am Ritualgesetz festhaltenden Juden gemachte Vorwurf: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2. Korintherbrief 3,6). Drückt diese Position einerseits die inhärente universalistische und die Banden der Naturidolatrie sprengende Tendenz des Christentums aus, so erscheint andererseits diese Kritik an den vorgegebenen und vorausgesetzten geistigen und sozialen Strukturen und Bedeutungen durch die Entwertung und Verachtung ihres Ursprungs erkauft, auf Kosten der lebendigen Erinnerung an das eigene Herkommen und der Tradition (der Pharisäer). Mit diesem Polarisieren zwischen partikularem »Buchstaben« und universalistischem »Geist« konstituiert sich ein Schema der Spaltung, auf der die spätere Verunglimpfung des rabbinischen Judentums basiert ;8[ix] danach erscheinen die jüdischen Gelehrten im antisemitischen Zerrbild als »Wort- und Rechtsverdreher«, die alles »zerreden«, die »seelenlos« am Buchstaben kleben und insgeheim materialistisch »Sophistik« betreiben.9[x]Diese Polarisierung schneidet die lebendige und kollektive Auseinandersetzung mit dem überlieferten Wort ab; sie markiert eine regressive Bewegung, in der sich sozusagen das »gute Objekt« — die Freiheit (vom Gesetz) — vom »bösen Objekt« — das verpflichtende Gesetz — ausschließen muß. In dieser Spaltung bleibt kein Spielraum erhalten, die Spannung zwischen Freiheit und Gesetz im Verhältnis zueinander festzuhalten und zu differenzieren.10[xi] Die (individuelle wie kulturelle) Konflikthaftigkeit und die Ambivalenz scheinen dergestalt nicht mehr ertragen werden zu können, und folgerichtig heißt es dann: »Wenn nämlich jene Erben sind, die das Gesetz haben, dann ist der Glaube entleert und die Verheißung außer Kraft gesetzt. Das Gesetz bewirkt Zorn; wo es aber das Gesetz nicht gibt, da gibt es auch keine Übertretung.« Deshalb gilt: »aus Glaube«, damit auch gilt: »aus Gnade« (Brief an die Römer 4,13 ff.; vgl. ebd., 2,17 ff. und 13,8 ff.; Galaterbrief 3,19ff. und 5,4 ff.). Wir sehen: Für Paulus beginnt die innere Not und »Sündhaftigkeit« nicht mit der Anerkennung und Auseinandersetzung um die eigene Unzulänglichkeit und Begrenztheit, sondern durch die Existenz des (väterlichen) Gesetzes, das projektiv als unzulänglich und veraltet verworfen wird; ohne Gesetz keine »Sünde«. Die Frage hat sich nun verwandelt: Es geht nicht mehr darum, wie der »Sünde« — d. h. den eigenen Identifizierungen — begegnet werden kann, sondern wie man sich vom Gesetz — das doch die eigene Unzulänglichkeit und Konflikthaftigkeit voraussetzt und hervortreten läßt — befreit.11[xii]
Von nun an geht es in der Paulinischen Theologie nicht mehr um die Erfüllung der Gebote, sondern allein um das Prinzip »Sola fide«, »nur aus Glauben«. Mit diesen Vorstellungen des Römer-Briefes ist der Bruch mit dem rabbinischen Judentum — in dem die Wahrheit allein auf dem Weg der prinzipiell nicht abgeschlossenen Diskussion des Gesetzes gesucht wird12[xiii] — vollzogen; ein Bruch, der den lebendigen Ursprung und eine Quelle des (späteren) Christentums entwertet, verurteilt und verdrängt. Aber mit der feindlichen Besetzung des eigenen Ursprungs wird auch eine Gegenbesetzung aufgerichtet und der Verinnerlichung des Verbotes der Boden bereitet, sich an den (kollektiv-)historischen Prozeß — über die Anerkennung der eigenen Identifizierungen — zu erinnern; z. B. daß dem Paulus der Pharisäer Saulus vorausging, der in die Schule des Rabban Gamliel ging; eines Lehrers, der mit (väterlicher) Autorität dem rabbinischen Judentum seine organisatorischen und institutionellen Bedingungen zu sichern suchte. Wenn aber die eigene Geschichte nicht erinnert werden darf bzw. die Identifizierungen verleugnet und verworfen werden, kann nicht getrauert werden. Diese »seelische Auflehnung gegen die Trauer (über die Vergänglichkeit)« (Freud, 1916a, S. 359) führt zu einer Ich-Verarmung, die sich vom affektiven Geschehen als persönlicher Grundlage jeglicher Werte gereinigt meint — so als ob »man … die Vergangenheit selbst aufzuheben, … zu verdrängen sucht« (Freud, 1926 d, S,150).
Schließlich wird mit der Institutionalisierung des Christentums im vierten Jahrhundert jene Gegenbesetzung und deren inhärente regressive und paranoide Spaltung als Dogma kulturell verankert. Das Christentum erhält nun sozusagen seine irdische legale und machtpolitische Erscheinung; die behauptete Wahrheit von dem »fleischgewordenen Wort Gottes« scheint nun in dem Zusammenfallen von politischer und religiöser Macht eine materielle Verwirklichung zu finden. »Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Christentum den Bann der Naturreligion fortnimmt, bringt es die Idolatrie, als vergeistigte, nochmals hervor. Um soviel wie das Absolute dem Endlichen genähert wird, wird das Endliche verabsolutiert. Christus, der fleischgewordene Geist, ist der vergottete Magier. Die menschliche Selbstreflexion im Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das proton pseudos [= erste Lüge; Y.B.]« (Horkheimer und Adorno, 1947, 5.186). Die zur Staatsreligion gewordene »Sohnesreligion« (Freud) tritt nun einen kulturgeschichtlichen Siegeszug an, und die jüdische Vaterreligion erscheint zunehmend als überflüssig und veraltet. Mehr noch: Das Christentum kann oder darf sich nicht mehr aus seinen geschichtlichen Wurzeln legitimieren und beansprucht doch zugleich, legitimer Erbe des »alten« Israel zu sein und damit allein die überlieferten Schriften richtig zu verstehen und zu interpretieren — ein Erbe, das sich eben durch das nach wie vor lebendige und erneuernde Judentum ständig an seine Wurzeln erinnert und dergestalt in seinem Anspruch in Frage gestellt sieht. Damit aber entwickelt sich der Unterschied zum Judentum in einen Gegensatz und Widerspruch, bringt eine Gegenidentität und Tendenz hervor, sich permanent selbst legitimieren zu müssen und gipfelt schließlich in dem Dogma, wonach die Juden die Heilige Schrift verfälschen würden.13[xiv] Dieser Prozeß konstituiert die erste kulturgeschichtliche Verdrängung des Judentums.
2.2 Die heimliche Tradition des Christentums in der Aufklärung
Mit der rationalistischen Bibelkritik Spinozas (1632-1677), der englischen Deisten im frühen 18. Jahrhundert, der deutschen und französischen Aufklärung z. B. durch Voltaire (1694-1778) wird bekanntlich das Christentum heftigst angegriffen — und damit natürlich auch sein jüdischer Ursprung. Anders ausgedrückt: Da nun die Philosophie der Aufklärung und die sich entwickelnden Wissenschaften das legitime Erbe der christlichen Theologie anzutreten beanspruchen, treten sie auch das Erbe der judenfeindlichen Tendenz an. Aber was oft übersehen wird: Weil das Christentum (im ausgehenden Mittelalter) in weltlicher Gestalt und Macht auftritt, durchläuft es auch einen allmählichen und ganz weltlichen Prozeß der sozialen und kulturellen Umwälzung (vgl. z. B. von Braun, 1995), was in der Folge gerade nicht zur Überwindung des Christentums als Religion führt, aber schließlich die Illusion hervorruft und nährt, daß mit der Kritik an der christlichen Kirche das christliche Denken selbst und seine innere Konflikthaftigkeit mit dem Judentum überwunden sei. Funkenstein (1995) weist darauf hin, daß die Aufklärung gar nicht so sehr mit der christlichen Tradition gebrochen habe, wie es immer wieder behauptet wird: Die Ideale der Aufklärung seien sozusagen »>wieder auf ihre Füße gestellte< christliche Ideale« (ebd., S. 174); nun sei es das Nichtwissen und die Ignoranz, die zur Ursünde erklärt werden; allein das Wissen, die Vernunft und der Verstand verheißen nun Erlösung, und der missionarische Eifer gestaltet sich nun zwar weniger kirchlich, dafür aber mehr pädagogisch-säkular. Aufklärung durch Wissen wird zum Erziehungsideal, dem die Vorstellung einer stetig sich höherentwickelnden Moral unterliegt und damit die Vervollkommnung des Menschen und seine Erlösung im Diesseits und auf Erden verspricht. Das neu aufgekommene und scheinbar humanistische Ideal, daß die Juden nicht von Natur schlecht seien und daß es eigentlich der Haß und die Gesetze des Christentums seien, die die Juden schlecht machten (vgl. z .B . Schopenhauer, 1851 (II.), S .239), spricht noch das Ressentiment aus, wonach die Juden zum Guten (oder eben auch zum Schlechten) erzogen werden können und müssen; also nicht selbst sich artikulieren und keine autonome Individuen sein können. Auch die Forschungen von Katz (1989) und die grundlegende Geschichte des Antisemitismus von Poliakov (1978) zeigen in aller Deutlichkeit, wie sehr die Aufklärung christliche Ideale und damit auch deren innere judenfeindliche Tendenz tradiert.14[xv]
So übernimmt Kant (1724-1804), der sich sozusagen aus der lutherischen Theologie heraus verweltlicht hat (vgl. Poliakov, Bd.V, S. 199f.; Bein, 1980, Bd. I, S. 175 f., Bd. II, S. 116ff.)15[xvi] die Religionskritik der englischen Deisten und Rationalisten, und zwar insbesondere die Kritik am Ritual und den Zeremonien. In seinem Spätwerk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft argumentiert er: Gerade die Tatsache, daß es den Juden weniger auf den Glauben ankomme als auf das Praktin zieren der überlieferten Gebote, zeige, daß sie sich nicht den Geboten der Vernunft unterwerfen, sondern blind am »Joch des Gesetzes« festhalten würden. Schon dies allein mache deutlich, daß sie sich nicht zu ein ner Moral und Ethik erheben könnten, die allein aus Verstandes- und Vernunftsgründen zu legitimieren sei (1791, S. 184ff.). Für Kant sind die Gesetze des Judentums Ausdruck eines »Afterdienstes Gottes in einer statutarischen Religion« (ebd., S. 187); es sei ein Verhalten eines Knechtes, sich an die offenbarten Gesetze zu halten, eine unreife, weil unvernünftige Weise, sich die Religion anzueignen.16[xvii] Dagegen sei das Christentum als »natürliche Religion« (ebd., S. 174f.) anzusehen, weil —welch bemerkenswerte Begründung für einen Rationalisten der Aufklärung —aus den Evangelien zu entnehmen sei, daß diese »vollständige Religion« »allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann« (ebd., S. 181). Selbst noch die Verweise der Evangelien, die sich auf die jüdische Bibel berufen würden, sprechen nicht »für die Wahrheit der gedachten Lehren selbst«, sondern dienten nur zur »Introduktion unter Leuten, die gänzlich und blind am Alten hingen« (ebd.). Folgerichtig spricht Kant in seiner Schrift Der Streit der Fakultäten von einer notwendigen »Euthanasie des Judentums«, damit die Religion »rein moralisch« werden könne (1798, S. 52).
Wenn hier auch nicht vorschnell ein Zusammenhang zum Euthanasie-Programm des nationalsozialistischen Deutschlands hergestellt werden darf, so muß doch gefragt werden, ob wir es hierbei nicht mit einer untergründigen Tradition zu tun haben, die projektiv einen konfliktlosen Zustand »reiner Moralität« hypostasiert und schließlich in der Tötung »unwerten Lebens« mündet. Immerhin plädiert hier der große Kant für eine »Sterbehilfe« einer 2500 Jahre alten Kultur —und was ist eine Kultur ohne ihre Träger? -, die das Christentum und seine eigene Philosophie mit hervorgebracht hat. Es handelt sich hierbei um die Hybris menschlichen Geistes, der das kulturell Allgemeine — nämlich das Christentum – als etwas »Natürliches« idealisiert und das Besondere und Fremde — hier also das Judentum — als »unnatürlich« und veraltet denunziert.17[xviii] Konsequent wird das soziale und geistige Leben der Juden von der Identifizierung mit dieser »rein moralischen Religion« abhängig gemacht und gewissermaßen eine bürgerliche Taufe gefordert: Allein im Lossagen vom jüdischen Gesetz und seiner Gebote, so Kant, sei eine Möglichkeit gegeben, den Juden die bürgerlichen Rechte zu geben.
Man kann nur verwundert festhalten, wie die Institutionalisierung des Christentums, dessen Verwachsensein mit den politischen Machtstrukturen und dessen kultureller Allgegenwärtigkeit — und damit auch dessen judenfeindliche Tradition — so naturwüchsig, quasi als zweite Haut so selbstverständlich den Geistern erscheint wie die sie umgebende Luft. Hier begegnet uns wieder eine totalisierende Dogmatik, die sich nicht (historisch) zu hinterfragen vermag, mit dem Anspruch einer voraussetzungslosen Rationalität gegen das jüdische Gesetz polemisiert und das Allgemeine und »Natürliche« zu wissen vorgibt.18[xix]
Fichte (1762-1814), ein Schüler Kants, spitzt dessen These von der »Euthanasie des Judentums« in Ansehung der Französischen Revolution, der er begeistert zustimmt, radikal zu:
»Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judentum. Ich glaube nicht, … daß dasselbe dadurch, daß es einen abgesonderten, und so fest verketteten Staat bildet, sondern dadurch, daß dieser Staat auf den Haß des ganzen menschlichen Geschlechts aufgebauet ist, so fürchterlich werde…. (Von einem Volke) das sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt hat, und verdammt wird; … von so einem Volke sollte sich etwas anders erwarten lassen, als was wir sehen, daß in einem Staate, wo der unumschränkte König mir meine väterliche Hütte nicht nehmen darf, und wo ich gegen den allmächtigen Minister mein Recht erhalte, der erste Jude, dem es gefällt, mich ungestraft ausplündert. Dies alles seht ihr mit an, und könnt es nicht leugnen, und redet zuckersüße Worte von Toleranz, und Menschenrechten, und Bürgerrechten, indes ihr in uns die ersten Menschrechte kränkt …Erinnert ihr euch denn hier nicht des Staats im Staate? Fällt euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein, daß die Juden, welche ohne euch Bürger eines Staats sind, der fester und gewaltiger ist, als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füße treten werden. [In einer FN fortfahrend:] Fern sei von diesen Blättern der Gifthauch der Intoleranz, wie er es von meinem Herzen ist! Derjenige Jude, der über die festen, man möchte sagen, unübersteiglichen Verschanzungen, die vor ihm lieg gen, zur allgemeinen Gerechtigkeits-, Menschen- und Wahrheitsliebe hindurchdringt, ist ein Held und ein Heiliger. Ich weiß nicht, ob es deren gab oder gibt. Ich will es glauben, so bald ich sie sehe .. Möchten doch immer die Juden nicht an Jesum Christum, möchten sie doch sogar an keinen Gott glauben, wenn sie nur nicht an zwei verschiedne Sittengesetze, und an einen menschenfeindlichen Gott glaubten. — Menschenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht, daß es geschehe, wo du der nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du gestern gegessen hast, und hungerst wieder, und hast nur auf heute Brot, so gibs dem Juden, der neben dir hungert, wenn er gestern nicht gegessen hat, und du tust wohl daran. — Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken« (1793, S. 114f.; Hervorh. Y.B.).19[xx]
Offenkundig kann sich das neue humanistisch-universalistische Denken, selbst noch (auch) der heidenchristlichen Kirche und der weltlichen Gestalt des Christentums entsprungen, von der feindlichen Besetzung des Kollektivs der Juden nicht emanzipieren.Daß die allgemeinen Menschenrechte, wie Simon (1980) zeigt, ihren Ursprung den noachidischen Geboten (1. Buch Moses 9,4 ff.) verdanken, ist Fichte offenkundig eben so verwehrt zu erkennen wie manchem heute, daß jene Gebote zur Grundlage des späteren stoisch-christlichen Naturrechts und schließlich des internationalen Völkerrechts geworden sind (vgl. Simon, 1980, S. 33 ff.). Insbesondere polemisiert dieses sich humanistisch gerierende Denken Fichtes gegen das jüdische Gesetz (jenem »Staat im Staate«) —und damit gegen den eigenen Ursprung — und macht das kulturgeschichtliche Fortwirken der judenfeindlichen Tradition der institutionalisierten paulinischen Theologie deutlich. Die den Horror Fichtes auslösende Vorstellung eines »Staates im Staate« läßt wiederum an jene purifizierende Tendenz (»nur aus Gnade«, »rein moralisch«) denken, die das Fremde ausschließlich projektiv externalisiert zu ertragen vermag und daher in der Forderung nach einem sozialen und geistigen Tod münden muß. Übrigens wird später auch Hitler in Mein Kampf diese Rede von Antisemitismus als
den Juden als »Staat im Staate« aufnehmen. Und es ist auch Fichte, der in seinen Grundzüge(n) des gegenwärtigen Zeitalters aus dem Jahre 1804 den späteren »Ariern« den geistigen Boden bereitet, indem er nicht nur die »natürliche« Religion mit dem wahren Christentum des Johannes-Evangeliums identifiziert, sondern zugleich meint, im deutschen Volk das »Urvolk« erkannt zu haben (Poliakov, Bd. V, S. 204f.). Hier scheint also die Verbindung und die Kontinuität zwischen der Entwertung des jüdischen Gesetzes durch Paulus, dem Dogma der Kirche vom »fleischn gewordenen Wort Gottes« und der nationalsozialistischen Ideologie —vermittelt über die Aufklärung — durch die kulturgeschichtliche Verdrängung der Tradition des Judentums und der Aufrechterhaltung der Gegenbesetzung im judenfeindlichen Ressentiment offenkundig.20[xxi] Für Hegel (1770-1831) ist die Vorstellung eines geoffenbarten Gesetzes eine geistige und seelische Zumutung. So bemerkt Bloch in seinen Erläuterungen zu Hegels Religionsphilosophie: »Hier wirkt eine vom jungen Hegel her anhaltende, auch mystisch genährte Abneigung gegen die rabbinische Gesetzesreligion« (1971, S. 319). In Hegels Religionsphilosophie ist das christliche Dogma von der Gottwerdung eines Menschen in der Philosophie des absoluten Geistes weltlich gekleidet, gewissermaßen die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur säkular entwikkelt (vgl. Hegel, 1832, S. 276ff.; 1837, S .241 ff., 388ff.). Von daher muß er sich in einem Gegensatz zur rabbinischen Tradition sehen, die von einner unaufkündbaren Beziehung und prinzipiellen Differenz zwischen Gott und Mensch, dem die Gesetze offenbart wurden, spricht und daran festhält, daß der radikale Monotheismus in einem Denksystem des menschlichen Geistes nicht vernünftig abgeleitet werden kann (vgl. Bloch, 1971, S. 319ff.). Hegel meint, es sei etwas Zufälliges, Unwesentliches an dieser jüdischen Religion, denn letztlich müsse alles »Gesetzte«, d. h. Vorausgesetzte und Angenommene durch den menschlichen Geist als Vernünftiges ausgewiesen werden. Daher folgert auch Hegel, wie schon Kant, daß das Verhältnis der Juden zu Gott ein sklavisches sei, da sie sich dem Gesetzten unterordnen.21[xxii]
Das Judentum scheint offenkundig jegliche Logik der rationalistischen Aufklärung und der deutschen idealistischen Philosophie in Frage zu stellen, sich dem Hegelschen System als Höhepunkt der deutschen Philosophie zu sperren und diesem eine Grenze zu setzen. Kant und Hegel sind sich also in der Kritik und im Verwerfen des Judentums einig, weil es einem Zusammenfallen von Gott bzw. Gesetz und Mensch widerspricht und sich jeglicher Systematisierung — und dies heißt auch : Totalisierung — der Beziehung zwischen Gesetz und Mensch verweigert22, vielmehr die Anerkennung einer vorausgesetzten Begrenztheit und Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens fordert und an der Notwendigkeit festhält, sich dieser Bedingung menschlicher Existenz in einer Praxis der Erinnerung und unverzichtbaren beständigen Interpretation der kollektiven Überlieferung anzunähern.
Schopenhauer (1788-1860) vermag nur noch Verachtung gegenüber den Juden zu formulieren und folgert schließlich, daß die Juden durch Mischehen sich ihres Herkommens entledigen müßten. Er knüpft sowohl an Kant wie auch an Hegel an: Mit Kant hält er am absoluten Prinzip der Vernunft und insoweit an der Kritik eines geoffenbarten und dem menschlichen Verstand vorausgesetzten Gesetzes fest; mit Hegel verlangt er, die (persönliche) Beziehung zwischen Mensch und Gott auf deren Einheit zurückzuführen. Schopenhauer distanziert sich auf bemerkenswerte (moderne) Weise vom Christentum, das in seinen rationalen und »wahren« Inhalten dem Buddhismus und Brahmanismus entspreche (vgl. 1847/11., S. 136f.; 1859/11., S. 675, 702; 1860, S. 598) und dem Judentum, dem allein der Begriff des (Mono-)Theismus zukomme (vgl. 1847, S. 136; 1851/1., S. 129; 1851/11., S. 332 f.; 1859/1., S. 618), nur aufgepropft sei (vgl. 1851/11., S. 324 f., 333 f.). »Alles, was im Christenthum Wahres ist, findet sich auch im Brahmanismus und Buddhaismus. Aber die jüdische Ansicht von einem belebten Nichts, einem zeitlichen Machowerk, welches sich für eine ephemere Existenz, voll Jammer, Angst und Noth nicht demütig genug bedanken und den Jehova dafür preisen kann, — wird man im Hinduismus und Buddhaismus vergeblich suchen« (1851/11., S. 334f.). Schopenhauer favorisiert den Buddhismus bzw. dessen atheistische Vorstellungen — und für ihn sind Atheismus und Nichtjudentum geradezu identische Begriffe (vgl. 1847, S. 136) —weil sie weder eine Schöpfung aus dem Nichts noch den Tod als absolute Grenze menschlicher Existenz, die als traumartig begriffen wird (vgl. 1851/11., S. 332), noch die Schuldhaftigkeit des Menschen anerkennen. Daher sieht er sich gezwungen, gegen das Judentum zu polemisieren. Es sind also die Vorstellungen von der Nichtigkeit (der Bedeutung) der materiell-sozialen Welt, die Verleugnung des Todes und die Idee eines sich selbst hervorbringenden und reproduzierenden Individuums, die Schopenhauer — im Eingebundensein in die christlich dominierte Kulturgeschichte — zur Entwertung des jüdischen Gesetzes führen. Schopenhauers radikale Kritik am Christentum mündet daher darin, daß alle dessen dem Judentum entsprungenen Inhalte als absurd und empörend erscheinen (vgl. 1851/11., S. 327) — »wie Judenpech und foetor Judaicus« (1851/ II., S. 329; vgl. ebd., S. 353; 1860, S. 598, 605).23[xxiii]
Was Schopenhauer also begrifflich (und wohl auch affektiv) nicht zu integrieren bzw. in seiner Ambivalenz zu ertragen vermag — und hierin stellt er sich in die Tradition der paulinischen Theologie und der Aufklärung -, ist gerade die differentia specifica des Judentums: Anerkennung der menschlichen Konflikthaftigkeit in der irreduziblen und nicht aufkündbaren persönlichen Beziehung zum (absoluten) Anderen. Anders bzw. psychoanalytisch ausgedrückt: Schopenhauers Vorstellungen manifestieren eine diffamierende bzw. spaltende und feindselig besetzte projektive Abwehr des der eigenen Existenz vorausgehenden Fremden; eine Abwehr, die dahin tendiert, den fremdartigen Anderen zu totalisieren und jegliche Unterschiede, Besonderheiten und Gegensätze — also Charakteristika jeglichen Lebens — einzuebnen. Es ist der Vater als Fremder, der die natürlich anmutende narzißtische Grandiosität — in der das Gesetz verleugnet wird, daß jeder Mensch gezeugt und geboren wurde und keineswegs sich einer Schöpfung ex nihilo verdankt, daher auch prinzipiell mit Unzulänglichkeiten, Konflikten und Begrenztheiten ausgestattet ist —stört, triangulierende Verhältnisse abverlangt und den Anforderungen des Realitätsprinzips, der Vernunft und des Wortes Geltung zu verschaffen sucht. Es ist also wiederum der Stachel des (väterlichen) Gesetzes; der Jude bleibt der »ewige Fremde«. Die Religion des »parasitisch« lebenden »ewigen Juden« (1851/11., S. 238) sei »von Hause aus mit ihrem Staate verschmolzen und Eins« (ebd., S. 239);24[xxiv] diesem »Nationalcharakter« hänge der »bekannte Fehler« an, »worunter eine wundersame Abwesenheit alles Dessen, was das Wort verecundia [= Scheu, Schamgefühl, Ehrfurcht; Y. B.] ausdrückt, der hervorstechendste« (ebd.) sei.25[xxv] M. a.W. : Den Juden fehle genau das, was den Menschen wesentlich kennzeichnet; sie sind sozusagen durch die Negation des Menschlichen definiert. Daher:
»Um … dem ganzen tragikomischen Unwesen ein Ende zu machen, ist gewiß das beste Mittel, daß man die Ehe zwischen Juden und Christen gestatte, ja, begünstige; wogegen die Kirche nichts einwenden kann, da es die Auktorität des Apostels selbst für sich hat (1. Cor. 7, 12-16). Dann wird es über 100 Jahre nur noch sehr wenige Juden geben, und bald darauf das Gespenst ganz gebannt, der Ahasverus begraben seyn. Jedoch wird dieses wünschenswerthe Resultat vereitelt werden, wenn man die Emancipation der Juden soweit treibt, daß sie Staatsrechte, also Theilnahme an der Verwaltung und Regierung christlicher Länder erhalten. Denn alsdann werden sie erst recht con amore Juden seyn und bleiben. Daß sie mit andern gleiche bürgerliche Rechte genießen, heischt die Gerechtigkeit: aber ihnen Antheil am Staat einzuräumen, ist absurd: sie sind und bleiben ein fremdes, orientalisches Volk, müssen daher stets nur als ansässige Fremde gelten« (ebd., S. 240).26[xxvi]
Schließen wir diese Skizze ab. So sehr also die Philosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus als eine fundamentale Kritik der christlichen Theologie angesehen werden kann und einen Bruch und Fortschritt im Denken der europäischen Kulturgeschichte anzeigt — angesichts der Kritik und Entwertung des jüdischen Gesetzes ist eine erstaunliche Kontinuität zwischen dem christlich dominierten Mittelalter und der Neuzeit zu registrieren. Mit der Aufklärung wird eine nochmalige, zweite kulturgeschichtliche Verdrängung des Judentums in Gang gesetzt, die eine weitere Schicht judenfeindlichen Denkens hervorbringt und ein weiteres Mal die Möglichkeiten eingrenzt, die Bedeutung des Judentums — und d. h. auch: die Abwehr und Gegenbesetzung in der Beziehung zu dessen Träger — für Zivilisation und Ethik des Abendlandes zu erkennen: Das rabbinische Judentum muß mit der Aufrichtung und Anerkennung des Gesetzes und der religionsgesetzlich gebotenen Tradition der Gesetzesauslegung (was die Notwendigkeit des Erinnerns eilig schließt) — anders: mit dem Festhalten an dem notwendigen Zusammenhang zwischen Partikularität und Universalität — sich zu jedem menschlichen oder institutionalisierten Anspruch, die Wahrheit zu besitzen, im Widerspruch befinden; es ist der lebendige Widerspruch zu jeglicher Heilslehre, die die Konflikthaftigkeit im Diesseits zu leugnen sucht. Demgegenüber bedarf ein Denken, das die messianische Erlösung als bereits eingetreten voraussetzt, sich selbst gewissermaßen als krönender Abschluß der menschlichen Geschichte (als »rein moralisch« oder in Identität mit dem absoluten Geist) reflektiert oder sich einem fraglosen Zugriff auf die Wahrheit sicher weiß — ein solches Denken bedarf weder der Erinnerung noch eines Gesetzes. Vielmehr leistet es einer Zerstörung jeglicher Kultur und Ethik Vorschub. Das Verwerfen des unauflöslichen Verhältnisses von Gesetz und Tradition und der darin eingeschlossenen Notwendigkeit, jenes Verhältnis interpretierend sich anzueignen, verdrängt diesen einen Ursprung abendländischer Zivilisation und ihrer universellen Ethik. Denn wie sehr auch das Christentum sich zu seinen jüdischen Quellen bekennen mag, das rabbinische Judentum erscheint in der europäischen Geschichte und im abendländischen Denken im wesentlichen in seiner antijudaistischen und antisemitischen Gestalt. Daher kann die jüdische Tradition auch nicht als eine Antwort auf die nach wie vor brennende Frage erkannt werden, wie sich eine universelle Ethik mit besonderen Traditionen verträgt und beständig erneuern kann (vgl. in diesem Zusammenhang z .B . Freud, 1939a, S .219ff., 233 ff.).
Es ist also wichtig zu verstehen, daß die Tradition der Aufklärung, auf
die wir uns bis heute immer wieder berufen, notwendigerweise mit der Hypothek eines judenfeindlichen Ressentiments behaftet ist, auch wenn sich dieses Ressentiment nicht immer manifestieren muß. Dies meinten Horkheimer und Adorno, als sie in ihrer Dialektik der Aufklärung vermerkten: »Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben« (S. 185; Hervorh. Y.B.). So evident es ist, daß Christentum und Aufklärung nicht auf die ihnen inhärente judenfeindliche Tendenz zu reduzieren sind, so haben sie zugleich ein Denken hervorgebracht, das sich dem Judentum gegenüber prinzipiell in einen Gegensatz stellen muß und sich dergestalt erweist, wenn es eben blind dieser Tradition folgt, die Erinnerrung an die eigene kollektive Geschichte zu verdrängen und sich aus sich selbst heraus zu legitimieren sucht. Darin, so scheint mir, liegt eine tiefe Selbstentwertung verborgen, die zur Entwertung des Anderen tendieren muß. Diese Entwertung und Verleugnung des eigenen Herkommens widerspricht zentral dem jüdischen Denken, das sich immer wieder über das Erinnern zentriert und erneuert.Daher sollte diese Tradition im Zivilisationsbruch durch die Shoa — die dritte kulturgeschichtliche Verdrängung — vernichtet und aus dem kollektiven kulturellen Gedächtnis gelöscht werden. Hierzu dient oder pointierter: das ist Antisemitismus, der — in der Wiederkehr des Verdrängten — immer wieder jene verdrängende Tradition anzeigt, die sich gegen jede Erinnerung richtet und Geschichte auszulöschen sucht. Erinnern ist das Zentrum einer Kultur. So gesehen heißt Schreiben unserer (Kultur-)Geschichte, die ohne Christentum und Aufklärung nicht zu denken ist, (auch) Durcharbeiten und Erinnern des Antisemitismus. In dieser Perspektive muß sich der nationalsozialistische Bruch der Zivilisation in einem tiefen Mangel der kulturellen Erinnerung empfindlich bemerkbar machen.
Was heißt das: »erinnern« ?————
Nach den bisherigen Überlegungen kann also gesagt werden: Es ist die Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung des Problems des Antisemitismus und dessen Tradition, an der die Schwierigkeit oder Unfähigkeit sich reflektiert, 1. sich zu erinnern, 2. die Abwehr des In-Beziehung-Tretens zu den ausgeschlossenen und verfolgten Juden bzw. jüdischen Psychoanalytiker durchzuarbeiten und 3. die eigene Geschichte des psychoanalytischen Kollektivs zu schreiben.
Verfolgt man die Veröffentlichungen im deutschen Sprachraum zur Auseinandersetzung um die Geschichte der Psychoanalyse in den Jahren des Nationalsozialismus und deren Folgen, so werden die Bücher von Regine Lockot immer wieder zitiert, und es scheint, als ob sie mittlerweile Basis und Ausgangspunkt weiterer Diskussionen markierten. Lockots 1985 veröffentlichtes Buch Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus27[xxvii] ist meines Wissens eine der ersten umfassenden dokumentarischen Darstellungen einer Psychoanalytikerin in Deutschland, die sich mit der Geschichte der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus beschäftigt. Zusammen mit ihrem 1994 erschienenen Buch Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933-1951) eröffnet sie ein schier unerschöpfliches und für die zukünftige Diskussion unverzichtbares Reservoir von Quellen und Dokumenten. Gerade wegen der Anerkennung dieser fundamentalen Forschungsleistung Lockots, ihres Sichtens, Ordnens und der Zusammenstellung dieser »ungeheuren« Materialsammlung macht sich die im Folgenden diskutierte grundsätzliche Problematik empfindlich bemerkbar. Bei einer ersten Lektüre ihres ersten Buches sind es gerade die Dokumente, die sich zunächst als unumstößliche Gewißheiten, sozusagen als unbestechliche Zeugen jener Jahre 1933-1945 anbieten. Mit einer erneuten und vertiefenden Lektüre entsteht allerdings die Frage, ob die Darstellung tatsächlich in ihrem dokumentarischen Charakter Zeugnis abzulegen vermag.28[xxviii] Können Dokumente für sich tatsächlich Zeugen sein? Dichtet nicht vielmehr der Leser den Dokumenten ihren Charakter als Zeugen an? Beabsichtigt Lockot überhaupt, Zeugnis abzulegen? In ihrem 1994 veröffentlichten Buch will sie, konsequenter noch als in dem 1985 erschienenen, die Dokumente sprechen lassen (1994, S. 11 f., 20). Gleichsam zu »Menschen« geworden, läßt Lockot die Dokumente »schreiben«, »das Material für sich selbst sprechen«, wie sie es ausdrückt (1985, S. 36). Selbst noch ihren Namen hat Lockot nicht geschrieben: »Auf dem Umschlag des Buches steht mein Name, aber ich habe es nicht geschrieben. >Geschrieben< wurden die Texte … von Zeitzeugen für Zeitgenossen. Ich habe diese Form gewählt, weil ich sie für besonders authentisch halte« (1994, S. 11; Hervorh. Y. B.). Und genau an dieser Frage der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Darstellung — immerhin geht es ihr nicht um eine Archivierung, sondern um ein »Erinnern und Durcharbeiten« — eröffnet sich das grundsätzliche Problem. Lockots Darstellung tritt in einer — wie James E. Young (1992, S. 110 ff.) es sehr treffend dechiffriert hat — »Rhetorik des Faktischen« auf, die im Leser den Eindruck entstehen läßt, die Darstellung sei keine Konstruktion. Es gehört schon tatsächlich eine immense Anstrengung dazu, bei der Lektüre nicht zu vergessen, daß auch die (immer einen sinngebenden historischen Zusammenhang unterstellende) Geschichtsbetrachtung vermittels Dokumenten eine Erzählung der Dokumentalistin darstellt, die etwas mit Erinnerung, Tradition und Interpretation der Autorin zu tun hat.
3.1 Die Institutionalisierung des Antisemitismus und die Aufrichtung des Dogmas
Eine der wenigen überhaupt explizit geäußerten Thesen in der Veröffentlichung Lockots aus dem Jahre 1985 findet sich in der Einleitung: »Die Entwicklung der Psychoanalyse in Deutschland ist, durch die politischen Einflüsse forciert, in eine Entwicklung hineingedrängt worden, die sich, wahrscheinlich in einem größeren Zeitabschnitt, auch ohne den Nationalsozialismus in ähnlicher Weise vollzogen hätte« (S. 8).29[xxix] Merkwürdig: Die Liquidation der Psychoanalyse durch die Nationalsozialisten, die im Ausschluß der Juden aus der DPG und in deren Vertreibung und Ermordung kulminierte, soll keineswegs konstitutiv für die Entwicklung der Psychoanalyse bis heute gewesen sein. Hat die Entwicklung der Psychoanalyse bis heute wirklich nichts mit dem Schicksal der Psychoanalyse und dem der jüdischen Analytiker während des Nationalsozialismus zu tun? Stünden wir auch ohne deren Vertreibung heute vor dem gleichen Resultat ? Wie belegt Lockot diese These ?«Die Juden-Vertreibung und -Vernichtung war sicher ein Geschehen, das die Geschichte der Psychotherapie und der Psychoanalyse nicht unbeeinflußt gelassen hat — aber haben die Juden tatsächlich alles >mitgenommen< ?« (S. 8).30[xxx] Lockot vermutet, daß in der Zeit des Nationalsozialismus sich ein »komprimierter Prozeß der >sozialen Amnesie<« (ebd.) vollzogen habe, der erkennbar sei an »einer Kette von Konzessionen, die die Psychoanalytiker machten, weil jede Konzession einen kleinen Gewinn versprach; die Konzessionen wurden nicht ohne Nutzen gemacht« (ebd.). Schauen wir uns also diese von Lockot aufgezählten »gewinnversprechenden« Zugeständnisse an : 1. Die psychoanalytische Terminologie wird aufgegeben; 2. der jüdische Vorstand der DPG muß zurücktreten; 3. den jüdischen Psychoanalytikern wird nahegelegt, ihre Mitgliedschaft niederzulegen; 4. das von Eitingon materiell geförderte Berliner Psychoanalytische Institut wird vom Deutschen Institut »geschluckt«; 5. die Autonomie der psychoanalytischen Gruppe geht verloren; 6. die DPG muß aus der IPV austreten; 7. die psychoanalytische Theorie darf nicht mehr diskutiert werden.31[xxxi]Abgesehen davon, daß aus diesen Zugeständnissen auch gefolgert werden könnte, daß es gerade der Nationalsozialismus war, der das heutige Schicksal der Psychoanalyse in Deutschland entscheidend geprägt hat32[xxxii], wird an diesen »Konzessionen« etwas deutlich, was Lockot nicht erkennt, zumindest aber nicht weiter analysiert: Der psychoanalytische Diskurs unterliegt einem Verbot, einen jüdischen Vorsitz darf es mit dem Ausschluß der jüdischen Mitglieder auch nicht geben, das Berliner Institut wird von einem Deutschen Institut quasi »arisiert« und die internationalen Verbindungen gekappt. Anders ausgedrückt: Ausschluß der Juden, Herstellen einer sich als deutsch verstehenden homogenen Gemeinschaft, Abbruch internationaler, d. h. auch Abbruch kultureller Beziehungen, in denen Fremden begegnet wird, und Diskussionsverbot. Zugespitzt: Der Ausschluß der Juden aus der Psychoanalyse ist gleichbedeutend mit dem Ausschluß des Fremden und dem Einführen und Etablieren des Dogmas. Kurz: Der Antisemitismus wird (»gewinnversprechend« ?) institutionalisiert.33[xxxiii]
Ein bemerkenswertes Ergebnis : Lockots Geschichtsbetrachtung der Entwicklung der Psychoanalyse in der Jahren 1933-1945 kann im wesentlichen auch als die Institutionalisierung des Antisemitismus gelesen werden.So gesehen wird also schon in ihrer Einleitung deutlich, daß wir es auch mit der Erinnerung und dem Durcharbeiten des Antisemitismus zu tun haben, der sich in der feindlichen Besetzung und im Ausschluß der jüdischen Psychoanalytiker manifestierte — was aber mit keinem Wort erwähnt, analysiert oder interpretiert wird. Wie ist es zu verstehen, daß eine Analyse der Geschichte der — von einem Juden begründeten und im wesentlichen von jüdischen Mitstreitern getragenen — Psychoanalyse während der Zeit des Nationalsozialismus, zu dessen essentiellem Kern das judenfeindliche Ressentiment gehört, gerade diesen zentralen Kern übersieht? Welchen Sinn hätte es sonst, von »gewinnversprechenden Konzessionen« der deutschen Psychoanalytiker an die nationalsozialistische Bürokratie zu sprechen, da diese es doch gerade auf die Diskriminierung und Verfolgung »des Juden« abgesehen hatte?
Nun ist es gewiß keine Frage, daß Lockot um den Antisemitismus weiß. Aber es scheint ganz so, als sei es ihre Darstellung vermittels der Dokumente, ihre »Rhetorik des Faktischen«, die ihr den Blick auf den Antisemitismus als Gegenbesetzung versperrt, ihn ausgrenzt und die Einsicht —wider besseres Wissen — verdrängt, daß (ihre) Geschichtsbetrachtung, Erinnerung und Gedächtnis sich aus Traditionen speisen und diese Traditionen sich ihrerseits aus dem kollektiven Gedächtnis heraus konstituieren und daher als Interpretationen und Deutungsmuster den Diskurs bestreiten. Lockots »Abstinenz«, was Interpretation anbelangt, und ihre Trennung von vermeintlicher Faktizität und Konstruktion, von Dokument und Interpretation ist notwendig — aber unausgesprochen — selbst Konstruktion. Es muß der Eindruck entstehen, daß hier unbewußt eine Ideologie sich artikuliert, die den Leser glauben machen will, daß es keine andere Sicht der Dinge geben kann, weil sie als »authentische« und »unbezweifelbare Wirklichkeit« daherkommt. Wir müssen also die unausgesprochenen und verschwiegenen Bestandteile jener »Rhetorik des Faktischen« (interpretierend) analysieren, damit deutlich werden kann, daß das scheinbare Fehlen eines Kommentars selbst schon Kommentar ist; daß also die Form der Darstellung keineswegs unabhängig vom Inhalt ist. Lockots Rhetorik stellt selbst schon eine kaum noch wahrzunehmende Interpretation des Gangs der Ereignisse dar — und damit eine spezifische (Nicht-)Beziehung zum »Fehlenden« und »Ausgeschlossenen«, sprich: zum »Juden«. Dies auszusprechen könnte die Dechiffrierung und Aufdeckung jener »komprimierten >sozialen Amnesie<« (S.8) im Prozeß eines »Erinnerns und Durcharbeitens« einleiten. Die als »sprechende Dokumente« angekündigten sogenannten »authentische(n) Zeitzeugen« (Lockot, 1994, S. 11), die als zuverlässige und glaubwürdige Zeugen uns verbürgt werden, müssen aber gerade dadurch ihre Glaubwürdigkeit verlieren, weil sie nicht in persönlicher Zeugenschaft — und d. h. in erinnerter und interpretierter Weise — auftreten (sollen). Ich glaube, daß die Frage nach der Bedeutung dessen, was bezeugt werden soll, eines persönlichen Zeugen bedarf; eines persönlichen Berichts, dessen Herkommen, Tradition und Interesse beurteilt werden kann. Das grundsätzliche Problem steckt also in jener »Rhetorik des Faktischen«, in der behauptet wird, Dokumente könnten sprechen und die Tatsachen seien klar.
Nun ist an der grundsätzlichen Notwendigkeit, Fakten bzw. Dokumenn te zur Kenntnis zu nehmen, um über das vergangene Geschehen des N all tionalsozialismus sich ein Urteil zu bilden und Zeugnis abzulegen, in keiner Weise zu zweifeln. Tatsächlich aber erscheinen die Fakten, wenn überhaupt, nur dann als Zeugen, wenn sie erinnert und durchgearbeitet, d. h. interpretiert werden. Dann aber erscheint das, was auch als durchn zuarbeiten und zu erinnern sich (für mich) aufdrängt: das Problem des Antisemitismus; in einer weitergehenden Phantasie vielleicht sogar — im Ausschluß der jüdischen Analytiker — als eine regressive Wiederkehr der Menschenopferung, um einen Abgott zu besänftigen oder einer »Sache« wegen. Insofern könnten wir auch in einem weitaus tieferen Sinne, als Lockot es anspricht, von »Konzessionen« sprechen: Es geht hier keineswegs um einen Gegensatz zwischen der nationalsozialistischen Bürokratie und den ihnen gegenüberstehenden deutschen Psychoanalytikern. Nun erscheint der Begriff der »Konzession« als das, was er auch meint: als eine zugrundeliegende Interessenidentität oder doch als das Vorhandensein von zumindest nicht in Konflikt stehenden Interessen.34[xxxiv]Die »Selbstgleichschaltung« (S. 312) durch den den jüdischen Analytikern abgenötigten Austritt ist sozusagen Ausdruck der kollektiven Einstellung gegenüber dem »Juden«; im Akt der Diskriminierung und Verfolgung schalten sich die Verfolger gleich, regredieren zu einer Einheit, zu einem »Volkskörper«, der qua Institutionalisierung eine Reinheit und Zugehörigkeit dogmatisch und als unbezweifelbar festlegt. Die psychischen und sozialen Bedingungen für die Diskriminierung und Verfolgung waren auch von jeher vorhanden: Die judenfeindliche Tradition, die die innere Ambivalenz dem »Juden« als Fremden par excellence gegenüber als unerträglich erscheinen läßt, immer wieder zur inneren Spaltung führt und externalisiert wird.
Damit sind wir bei einer der für mich zentralen Fragen, die auch von Martin Wangh (1996) aufgeworfen wurde: »Was bewog Boehm und Müller-Braunschweig und die anderen arischen Mitglieder der DPG dazu, dem Druck des Naziregimes nachzugeben ?« (S. 109) Und er formuliert es sehr klar: »Soviel ich weiß, hat es niemals so etwas gegeben wie eine Selbstprüfung der führenden Personen der deutschen Psychoanalyse hinsichtlich ihres Nationalismus, ihrer Unterwerfungsbereitschaft, der raschen Aufgabe ihrer Bindung an ihre jüdischen Lehrer und Kollegen. Statt Selbstanalyse gab es nur die opportunistische Anpassung an den Zeitgeist jener Tage …Auch an ihre jüdischen Lehrer und Vorgänger, an Freud, Abraham und Eitingon, konnten sie sich nicht erinnern, sowenig wie sie es vermochten, sich die Stärke dieser Bindungen und ihre Abhängigkeit davon einzugestehen« (ebd., S. 109 f.). Was ließ also die deutschen Psychoanalytiker »nolens volens zu Nationalsozialisten werden« (ebd., 5.117) ? Wangh benennt auch das, was herausgefunden werden muß : »welche Erniedrigung ihre Abhängigkeit (d. h. der deutschen Psychoanalytiker; Y. B.) von Freud — von dem sie erwarteten, daß er ihren Verrat an den jüdischen Kollegen und an dem essentiellen Individualismus der Psychoanalyse billige — und ihre armselige Unterwerfung unter den Führer Adolf Hitler und seine Paladine bedeuteten« (ebd., S. 118).
Bedeutet dies nicht — und dies scheint mir die zentrale Frage zu sein —, daß jene oft beklagte chronische »Unfähigkeit zu trauern« eine Unfähigkeit markiert, sich zu erinnern ? Also nicht nur ein Erinnern und Durcharbeiten der nationalsozialistischen Identifizierungen und Ideale einschließen muß, sondern notwendigerweise zugleich auch ein Erinnern und Durcharbeiten der über die Jahrhunderte tradierten chronischen antisemitischen Ressentiments ? Könnte nicht erst dann jene Trauerarbeit begonnen werden, wenn gefragt werden würde: Welchen Verlust betrauern wir eigentlich mit der Vertreibung und Vernichtung jüdischer Psychoanalytiker? Was bedeutet mir dieser Verlust an jüdischen Menschen ? (Mehr Platz an der Sonne für nichtjüdische Menschen. Anm. JSB)
3.2 Der Vater-Mord
Die Schwierigkeiten zu trauern zeigen sich auch im folgenden Beispiel. Lockot zitiert aus einem an sie gerichteten Brief Anna Freuds, in dem es um die Begegnung Freuds mit Boehm im Januar 1938 geht: »Es stimmt auch, daß ich ein Gespräch mit Dr. Boehm bei seinem Aufenthalt in Wien gehabt habe, in dem er mir auseinandergesetzt hat, daß man die jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der Vereinigung auffordern muß, was ich schlecht aufgenommen habe. Ich habe ihn gefragt, ob er denn bereit wäre, auch meinen Vater zum Austritt zu veranlassen, was er bejahend beantwortet hat. Ich könnte noch hinzusetzen, daß mein Vater nichts tun wollte, um es den Berlinern schwerer zu machen, aber einverstanden waren wir mit deren Handlungsweise natürlich nicht« (S. 117). Dieses bemerkenswerte persönliche Dokument ist für Lockot kein Anlaß, in der Dokumentation innezuhalten, um sich die tiefere Bedeutung dieser von A. Freud bezeugten Antwort Boehms zu vergegenwärtigen. Ihre offenkundige »Abstinenz« an Interpretation oder Deutung markiert jene Schwierigkeit, mit den ausgeschlossenen Juden in eine (innere) Beziehung zu treten.35[xxxv]Boehm — und wir können seine Antwort als die Stimme des deutschen psychoanalytischen Kollektivs nach dem Ausschluß der jüdischen Kollegen, also sozusagen in Folge eines Geschwistermordes, verstehen — hat nicht mehr und nicht weniger als den Vater-Mord bewußt befürwortend ausgesprochen; die feindselige Besetzung und Zerstörung der väterlichen Repräsentanz als den Kern antisemitischen Denkens. Boehms Antwort meint, den Vater aus der Gemeinschaft auszuschließen, die er begründet hat; sie bedeutet, die Tradition des väterlichen Gesetzes abzuschneiden und die eigene persönliche Geschichte zu verleugnen.36[xxxvi] Damit aber ist die Zerstörung des Über-Ich und einer universellen Ethik eingeleitet, die von Schuldfähigkeit und Verantwortung spricht. Hier erscheint der Vatermord gewissermaßen als eine Antizipation jenes realen Bruchs der Zivilisation.37[xxxvii]
So wird an dieser Stelle nochmals deutlich, daß es im Schreiben der Geschichte der Psychoanalyse schließlich um das eigene psychoanalytische Denken, dessen Herkunft und Tradition wie um das Verfahren selbst geht. Dies wird zwar von Lockot auch gesehen, aber es hat keine Konsequenzen für ihre Darstellung; es bleibt offenkundig allein intellektuell konzediert. Die umfassende Abwehr der Beschäftigung mit dem antisemitischen Ressentiment in ihrer Geschichtsbetrachtung ist sozusagen die Kehrseite der Medaille; die programmatische — aber letztlich unmögliche — Trennung der Dokumente von deren Interpretation und Kommentar die Vorderseite.Es zeigt sich erneut, daß mit der »Institutionalisierung des Antisemitismus« zugleich das Dogma aufgerichtet wird. So ist es auch nur konsequent, daß die Nichtbeschäftigung mit dem Antisemitismus — dort, wo er im Zentrum steht — die Tendenz hervorbringt, »wahre Tatsachen« von Interpretation vermeintlich scheiden zu können. Hier begegnet uns erneut jene kulturgeschichtliche Tradition, die im »Ausschluß der Repräsentanz des Juden« die eigene Tradition verschweigt und sich selbst als »authentisch« ausgibt.
3.3 Der »Befehlsnotstand«
Dieser Zusammenhang von Abwehr des Antisemitismus und der Behauptung einer von allen Schlacken subjektiver Konflikthaftigkeit gereinigten »objektiven« Wahrheit wird an Lockots Behandlung jenes vieldiskutierten Memorandums von Boehm und Müller-Braunschweig aus dem Jahre 1933 noch einmal deutlich.38[xxxviii]
Schon vier Monate nach der Bücherverbrennung im Mai 1933 treten Boehm und Müller-Braunschweig im September 1933 mit einem Memorandum an die Fachöffentlichkeit, das — nach Lockot — »fast identisch (ist) mit dem im >Reichswart< (August 1933) publizierten Artikel Müller-Braunschweigs, >Psychoanalyse und Weltanschauung<« (S. 343 f.).39[xxxix] Betrachten wir eine Passage aus diesem von Lockot referierten Artikel etwas genauer und schauen dann, wie sie mit diesem doch bedeutsamen Dokument umgeht:
»Die Psychoanalyse will als Wissenschaft wie als Therapie die unbewußten Anteile der Persönlichkeit, die den neurotisch kranken Menschen in der Betätigung eines ungebrochenen, aufbauenden, schöpferischen Wollens und Schaffens einengen und behindern, seiner bewußten Verfügung und Verantwortung wieder zuführen. Dadurch wirkt sie nicht auflösend, sondern erlösend, befreiend und aufbauend« (S. 142; Hervorh. Y. B.). Wir haben es hier mit der Phantasie eines regressiv mystifizierten menschlichen Anfangszustandes zu tun, der noch »ungebrochen« scheint, konfliktfrei und ungestört von fremden Einflüssen und dessen Herstellung oder Herbeiführung zu einer »Erlösung« und »Befreiung« führt, das »wahre Heil« verspricht. Jenes »ungebrochene, aufbauende, schöpferische Wollen und Schaffen« scheint unberührt und abgekapselt von jeder menschlichen Entwicklung zu existieren, die ihrerseits, da konflikthaft, als neurotisch und krank diffamiert und dergestalt offenkundig als eine tiefe Kränkung und Entwertung abgewehrt wird. So gesehen wird gerade die konfliktreiche Entwicklung und deren Fortschritt durch adäquatere Konfliktlösungen denunziert und gegen den Mythos einer Befreiung oder Beseitigung von Konflikten ausgespielt. (Es sei hier an die Wendung des Paulus gegen das Gesetz erinnert).
Schauen wir weiter: »Es ist zugegeben, daß sie (d. h. die Psychoanalyse; Y. B.) ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes ist, und daß es darum entscheidend ist, wessen Hand dieses Instrument führt« (ebd.; Hervorh. Y.B.). Was heißt hier »zugegeben«? Wer erhebt hier einen Vorwurf? Wie lautet die Anschuldigung? Bemerkenswert: Boehm und Müller-Braunschweig »geben zu«, daß die Psychoanalyse »ein gefährliches Instrument in der Hand eines destruktiven Geistes« ist. Wer anders als die jüdischen Psychoanalytiker können hier gemeint sein, die mit dem »gefährlichen Instrument« der Psychoanalyse als einer »auflösenden«, sprich: »zersetzenden, destruktiven jüdischen Wissenschaft« den »arischen Geist zersetzen« und bedrohen? In der Sprache der Bücherverbrenner hieß es: »Gegen seelenzersetzende Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud«. »Für den Adel der menschlichen Seele« — die Fiktion eines Urzustandes, in dem die menschliche Seele einen reinen adeligen Zustand besitzt, wird gleichsam in eine erlösende und befreiende Zukunft projiziert und erscheint damit quasi zeitlos mythisch (vgl. Juelich, 1995). Aber erinnern wir uns: Der Bücherverbrennung im Mai 1933 gingen öffentliche Verbrennungen der Talmudtraktate im 7., 13., 16. und 18. Jahrhundert voraus (vgl. Hilberg, 1961, S. 13f.; Schoeps, 1992, S .446), in der das institutionalisierte Christentum ebenfalls den Versuch unternahm, jegliche Zweifel und Ambivalenz zu beseitigen, um das Dogma der Kirche, allein die Wahrheit verkünden zu können, rein zu erhalten.40[xl]Vergessen wir auch nicht Kants Rede von notwendiger »Euthanasie des Judentums«, damit die Religion »rein moralisch« werden könne.
Lockot macht auch hier keine Anstalten, diese im Memorandum deutscher Psychoanalytiker deutlich zum Ausdruck kommende regressive Phantasie einer judenfeindlichen politischen Religion zu analysieren; einer politischen Religion, die sich fluchtpunktartig in einem Mythos verliert und gerade nicht die eigenen (real-)historischen Wurzeln zum Bezugspunkt einer Identität macht. Sie bemerkt hierzu: »Dieses Memorandum bezeugt, wie sehr die Psychoanalytiker darum bemüht waren, um jeden Preis ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu sichern« (S. 143). Im Kern stellt dieser Kommentar jene oft gehörte Exkulpierung durch »Befehlsnotstand« dar. Anstatt die Sätze zu analysieren — was sie zu einer (psychoanalytischen) Zeugin werden ließe, die die Vergangenheit dadurch anerkennt, daß sie sie in der Gegenwart bewußt interpretiert und vergegenwärtigt — und sich dergestalt den nationalsozialistischen Identifizierungen und antisemitischen Ressentiments anzunähern und sie durchzuarbeiten, bleibt sie bei den bewußten Vorstellungen stehen und fragt nicht, was es den deutschen Psychoanalytikern so leicht gemacht hat, schon sieben Monate nach der »Machtverleihung« (an Hitler) im Januar 1933 sich fast bruchlos anzupassen.41[xli] Lockot fragt in ihrem Versuch, die Geschichte der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus zu erinnern und durchzuarbeiten, nicht nach der Psychodynamik, die eine Anpassung an die äußeren Verhältnisse ja erst ermöglicht. So als ob entschuldigend eingewendet würde: »Ich will hier nicht werten und meine persönliche Meinung wiedergeben, sondern nur die Tatsachen auf den Tisch legen.« In gewisser Weise und entgegen dem Titel ihres Buches »wiederholt« sie — »Ich habe nur meine Pflicht als Dokumentalistin zu erfüllen und mich jeder persönlichen Stellungnahme zu enthalten« —, anstatt sich zu »erinnern« und »durchzuarbeiten«.42[xlii] Wenn hier ganz gehorsam nach dem Prinzip verfahren wird: Jede persönliche Kommentierung muß die Wahrheit und Wirklichkeit verfehlen, die allein in den Dokumenten zu finden sind, dann bleibt nur noch die Frage — die allein Lockot für sich beantworten kann — nach den Quellen dieses despotischen Wissenschafts-Über-Ich und -ideals.43[xliii]
Aber nun wird deutlich, daß diese Trennung von persönlicher Bewertung und Wiedergabe der Dokumente und das Fehlen einer Interpretation selbst schon eine persönliche Bewertung ist. Die »Aufführung« der Dokumente verführt zur Reaktion : »Es ist so gewesen !« Aber ebensowenig wie die camera obscura die exakte und perspektivisch richtige Reproduktion von Wirklichkeit leistet und die Illusion einer Anwesenheit von Abwesenheit nährt — wobei mit der Digitalisierung des Bildes diesem Spuk nun endgültig eine Ende bereitet wird — ist das von Lockot zitierte Dokument von allen Projektionen und Zuschreibungen frei.44[xliv] So gesehen erscheint das »bloße Dokument« die Ideale einer positivistischen Wissenschaft zu perpetuieren, wonach wir es mit einem sichtbaren Beweis, einem »bloßen Abbild« der Wirklichkeit zu tun haben sollten, das sich per se und a priori begründet — offenkundig ein Rückfall in eine Idolatrie, Anbetung eines Götzen, der eine völlige Herrschaft über das »wirklich Vergangene« und eine umfassende Verfügbarkeit der Welt verspricht. Aber das offenkundige Vorhandensein von Lockots Interesse, die dokumentierte Vergangenheit so und nicht anders darzustellen, macht deutlich, daß die Begründung einer »wirklichen Vergangenheit« nicht in den Dokumenten allein liegen kann, sondern eben zugleich und notwendigerweise außerhalb der dokumentierten Wirklichkeit, indem die Bezüge zum Dokument — bewußt und unbewußt — neu geknüpft und gedeutet werden. Und nicht nur, daß die Aneinanderreihung der Dokumente den persönlichen Stil der Chronistin darstellt, was wir spätestens seit dem Positivismusstreit der sechziger Jahre wissen. Nein, auch die Vorstellung und das Wissenschaftsideal, daß wir dokumentierte Tatsachen von der subjektiven Sichtweise möglichst zu trennen haben; Meinung und Spekulation von vermeintlicher faktischer Wirklichkeit — all dies, indem es dem Antisemitismus aus dem Wege geht, ist selbst schon ein Denken, das seine Spuren verschleiert, seine Tradition mystifiziert und den Schein erzeugt: das ist die voraussetzungslose Geschichte und Wahrheit, die unbedingte historische Wahrheit. Aber Psychoanalyse als Wissenschaft »setzt erst ein, wenn man eingesehen hat, daß man die Welt nicht kennt« (Freud, 1912/13, S. 112). Wir haben es hier mit einem im wissenschaftlichen Denken auftauchenden Berührungstabu, mit jener Gegenbesetzung zu tun, die sich der Erinnerung entgegenstellt und darin eine lange und resistente Tradition besitzt.
3.4 Die Skotomisierung des »Politischen« im » Unpolitischen«
Lockots Bewertung von C. G. Jungs Aufsatz »Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie« aus dem Jahre 1934 bestätigt (leider) die bisherigen Überlegungen. Ich halte diesen Aufsatz von Jung, der hier aus Platzgründen nicht analysiert werden kann, für das Modellstück antisemitischen Denkens; in verdichteter Form enthält er auf eine erschreckend schamlose und aggressive Weise alle bekannten Stereotypen des christlichen Antijudaismus, des sog. modernen Antisemitismus und dessen bruchlose Integration in eine nationalsozialistischen Identität. Angesichts dieser Einschätzung mußte ich über Lockots Kommentar zu diesem Aufsatz geradezu stolpern: »Jungs Beitrag ähnelt allerdings eher einer massiven Polemik als einer wissenschaftlichen Erörterung…« (S. 94). Und: »Die Ausführungen Jungs lassen sich nur auf dem Hintergrund der politischen Szenerie angemessen beurteilen« (S. 96). Nicht nur daß sie hier — ihrem unbewußten Berührungstabu folgend — (erneut) offenbar vermutet, eine wissenschaftliche Analyse könnte sozusagen zwanghaft von jeglicher politischen Meinung gereinigt sein. Das offensichtliche Skotom und ihre hermetische Abwehr, dem Antisemitismus zu begegnen, zeigt sich gerade darin, daß sie sich offenbar nicht die Mühe gemacht hat, ihre These zu belegen. Jung selbst meint, daß er die in dem Artikel aus dem Jahre 1934 geäußerten Ansichten »seit dem Jahre 1913 offiziell auf (seine) Fahne geschrieben« habe (Jung, 1934 b, S. 592), also: seit der Trennung von der Psychoanalyse. Und man muß ihm wohl zustimmen. Fast wörtlich können wir die Positionen aus dem Jahre 1934 in einem Aufsatz aus dem Jahre 1929 »Der Gegensatz Freud und Jung« und auch seiner 1918 erschienenen Schrift »Über das Unbewußte« entnehmen.45[xlv] Angesichts der doch erheblichen Forschungsarbeit, die sich Lockot gemacht hat, kann dieses Skotom offenbar als ein Ritual der Vermeidung interpretiert werden, das einer heimlichen Identifizierung Ausdruck verleiht: Diese Äußerungen Jungs als nicht ernstzunehmende wissenschaftliche Anschauungen, als opportunistische und politische Polemik zu interfpretieren, heißt letztlich Jung zuzustimmen, wenn er behauptet: »Ich bin kein Nazi, im Grunde bin ich ganz unpolitisch« (S. 103). Meine Inlterpretation wird noch durch die Bemerkung Lockots — erneut »nach dem Durcharbeiten« (S. 312, Hervorh. Y. B.) — gestützt, wonach sie angesichts der Dokumentation von Jungs Verhalten »in einer gewissen persönlichen Sympathie den Jungianern gegenüber, … immer wieder gegen ein inneres Zögern ankämpfen (mußte)« (S. 310). »Immer wieder neu« —und dies heißt ja: im Verlaufe des Durcharbeitens — »hoffte die Verfasserin, daß Jung sein eigener Fürsprecher sein könnte — eine eigene Übertragungshaltung? Oder Ausdruck von Jungs Ambivalenz den Nazis gegenüber?« (S. 311) — wieso ein die Ambivalenz abwehrendes und isolierendes »oder« ?
Ebenso bei Schultz-Hencke werden wir nichts »Politisches« finden, wenn wir den Antisemitismus nicht »spüren« und die Beziehung zur »jüdischen Psychoanalyse« nicht durcharbeiten. Das »Politische« ist soll zusagen in einer »Lücke« eingewoben und scheint eine unsichtbare und unerkannte, aber um so machtvollere Existenz zu fristen.Lockot dokumentiert in geradezu wünschenswerter Klarheit das »Politische« bei Schultz-Hencke, von dem ja immer wieder behauptet wird, daß er nicht mit dem Nationalsozialismus identifiziert gewesen sei.Er sei Gründungsmitglied (!) der Deutschen allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie gewesen, die nach dem Führerprinzip organisiert worden sei (vgl. 5. 63), und in deren Gründungserklärung es heißt: »Diese Gesellschaft hat den Willen und die Aufgabe, unter bedingungsloser Treue zu dem Führer des deutschen Volkes, Adolf Hitler, diejenigen deutschen Ärzte zusammenzufassen, die willig sind, im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung eine seelenärztliche Heilkunst auszubilden und auszuüben oder dieser Heilkunst wohlwollend gegenüberzustehen« (5. 62). Lockot bemerkt dann weiter: »Im folgenden Passus wird Hitlers Buch >Mein Kampf< als wissenschaftliches Lehrbuch zur ernsthaften Durcharbeitung empfohlen« (ebd.). »In der >Aussprache< der Gründungssitzung wurde betont, daß auch Juden Mitglieder der Gesellschaft sein dürften … Zu den Vorträgen würden Juden nicht zugelassen, sie dürften sich aber an der Diskussion beteiligen« (S. 63). Es soll nichts »Politisches« darin zum Ausdruck kommen, daß Schultz-Hencke als Gründungsmitglied das Statut unterschreibt, Hitler »bedingungslose Treue« zu versichern und Juden nicht zu Vorträgen zuzulassen ? Das sog. »Politische« ist im manifest (gleichgeschalteten) »unpolitischen« Verhalten verborgen; der Antisemitismus scheint quasi zur zweiten Natur zu gehören, wie eine innere geistige Voraussetzung, die kein weiteres Nachdenken erfordert und schon gar nicht provoziert.
Das Sich-Ausschließen aus der Beziehung
In den bisherigen Überlegungen sollte deutlich werden, daß wir in den immer wieder zu recht beschworenen »Schwierigkeiten zu trauern« es auch mit einer kulturgeschichtlichen Tradition zu tun haben, die sich den geschichtlichen und geistigen Wurzeln ihres eigenen Herkommens entfremdet hat und diese Entfremdung ständig reproduziert. Die verzweifelte Suche nach Fakten oder sog. objektiven Gegebenheiten — im Zusammenhang der Auseinandersetzung um die kulturgeschichtliche Verdrängung des Judentums und dessen Gedächtnis — erscheint als eine Suche nach einer endgültigen Wahrheit. Diese Tradition hat weder mit dem Nationalsozialismus ein Ende gefunden noch ist sie mit ihm identisch.Vielleicht könnte Lockots Geschichtsbetrachtung eher als ein Ersatz, als ein verzweifelter Versuch verstanden werden, die verdrängte kollektive Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, und ein Hinweis sein, daß das Vergessen bereits (oder erneut) eingesetzt hat und die innere Natur der Tradition kaum noch aufgedeckt werden kann.Die Psychoanalyse Freuds, in der das Erzählen der persönlichen Geschichte und Tradition im Zentrum steht, wurde in Deutschland 1933 gewaltsam unterbunden und schließlich zerstört. Für die deutschen Psychoanalytiker schien es während des Nationalsozialismus unerträglich, an der Repräsentanz des Juden Freud, an diesem »guten« identitätsbildenden Introjekt in der Ambivalenz festzuhalten und der Spaltung und Externalisierung des »bösen« und »zersetzenden« Fremden zu widerstehen.Indem Lockot die Dokumentation von ihrer persönlichen Auffassung bzw. Interpretation zu spalten versucht — und in diesem Versuch, etwas »Objektives« oder »Wahres« festzuhalten, steht sie ganz in der Tradition der Aufklärung —, schließt sie sich, ebenso wie die geistigen Väter der Aufklärung, selbst aus der Beziehung aus, verweigert sie sich jeglicher Beziehung — und d. h. auch Erinnerung — zu denen, die ausgeschlossen, vertrieben und vernichtet wurden. Die jüdischen Analytiker bleiben wie der »ewige Jude« äußerlich Fremde. Dies ist eine Form der Unfähigkeit zu trauern. Erinnern und Durcharbeiten müssen versagen, wenn nicht nach der Bedeutung der verlorenen, der vertriebenen und vernichteten jüdischen Menschen für mich gefragt wird. »Durcharbeiten erfordert Konfrontation, Bewertung, Verstehen, Erklären, Interpretieren und schließlich heilendes und vorbeugendes Handeln« (Ostow, 1986, S. 888). Der Verlust, der durch die Vernichtung des europäischen Judentums eingetreten ist, kann nicht betrauert werden, wenn die Beziehung zu den Juden isolierend vermieden, tabuisiert wird.
Es macht ganz den Eindruck, als ahne Lockot diese Problematik. So fragt sie sich in ihren einleitenden psychoanalytischen Überlegungen: »Bietet sich hier nicht eine Chance, über die Gegenübertragung des Berichterstatters einen überraschend lebendigen Zugang zu der damaligen Zeit zu gewinnen?« (S.21) »Über die Analyse der Gegenübertragung können wir also einerseits mehr über die innere Dynamik der dargestellten Verhältnisse erfahren, andererseits über das Selbstverständnis des Schreibenden« (S. 25). Aber schon einen Absatz weiter (und dann in der gesamten Veröffentlichung): »Demgegenüber ist die Beziehungsdynamik, die durch die Person des Interviewers lebendig wird, als relativ unwichtig zu beurteilen« (ebd.). Indem Lockot ihre dokumentarische Darstellung, jene vermeintlichen »authentischen Zeugnisse« von ihren »psychoanalytischen Überlegungen zur Bearbeitung der Geschichte der Psychoanalyse« (S. 17ff.) trennt und »reinigt«, erscheint ihre dargestellte Dokumentation selbst als ein ureigenstes Kind der das Christentum tradierenden Aufklärung bzw. deren verdrängenden Tendenz.46[xlvi]
Fraglos befördert sie in keiner Weise — ganz im Gegensatz zu den Veröffentlichungen von Wunderlich (1991) oder Dührssen (1994) — judenfeindliche Ressentiments ;47[xlvii] aber indem sie die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus systematisch vermeidet, erschwert sie — trotz gegenteiliger Absicht und Erklärung — die Erinnerung und das Durcharbeiten der Geschichte der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus. Erlauben uns denn die von ihr vorgelegten Dokumente über die Frage hinauszugehen, wie es zum Ausschluß der jüdischen Analytiker gekommen ist? Kann die Fülle ihrer Dokumentation dazu führen, daß die Geschichte als die eigene des Lesers heute angenommen wird ? Erlauben diese »ungeheuren« Materialsammlungen ein sich Hineinstellen in diese Tradition, so daß das Vergangene heute als Eigenes wiedererkannt werden kann und dergestalt zum Zeugnis wird ? Ich habe große Zweifel. Die Wahl ihres Vorgehens ist es, was Lockot den Blick versperrt. »Wer auch immer sich wie auch immer mit dem Holocaust abgibt, interpretiert. Man könnte einwenden : Aber doch nicht der, der schlicht vor den Dokumenten steht …Die vermeintliche Sachlichkeit der aufbewahrten Objekte und Texte trügt, denn gerade ein solcher Museumsbesucher wird drauflosinterpretieren, und zwar auch ohne Hilfe, nur von sich aus, aus dem Stegreif« (Klüger, 1995). Gerade weil das katastrophale Geschehen der Shoa auf die völlige Zerstörung von Identität und Menschlichkeit zielte und damit auf die Destruktion des kollektiven Gedächtnisses, verleugnet eine als objektivistisch sich ausgebende »Rhetorik des Faktischen« (ungewollt) — indem bewußt auf Interpretation verzichtet wird — jene Möglichkeiten einer menschlichen Sprache und Erzählung, in der noch überhaupt Zeit und Kontinuität, sprich: Sinn und Leben hergestellt werden könnten.Ruth Klüger (ebd.) hat jene »Sammelwut von oral-histories« als einen Prozeß charakterisiert, in dem man nicht zum Zeugen, sondern erneut zum Rohmaterial wird. Man sammele und häufe auf, in der bewußten und ehrbaren Absicht, Zeugnis abzulegen und Zeugen wieder auferstehen zu lassen — aber es bleibe Rohmaterial, Sachen, Gegenstände, Unlebendiges, das einmal lebendig war. Auf fatale Weise finde erneut eine Herabwürdigung des Menschen statt. Es sei eine unheimliche Wiederholung, ein Zwang, das Leben im Sammeln zu bannen, es festzuhalten — eben weil es erschreckend todbringend sein kann; also lösche man das Leben erneut aus. Wenn Leben wesentlich darin bestehe, sich zu erinnern, und Vergessen den Tod bringe, dann könne Zeugnisablegen nicht in Sammeln münden, das ein erneutes schreckliches Alleinsein hervorbringt; nur in einem teilnehmenden Gespräch könne neues Leben entstehen. Gerade weil die erschreckenden und lähmenden Traumatisierungen zu einer Auflösung und Auslöschung von Zeit und Kohärenz, von Sinn und Bedeutung geführt haben, bedarf es der persönlichen Zeugenschaft, die in lebendiger Erinnerung rekonstruiert wird, des Hervortretens und Sichtbarwerdens des Zeugen (vgl. Koch, 1993). Dokumente »sprechen zu lassen« erscheint dagegen als ein Festhalten der Zeit, so als ob keine Zeit vergangen sei — und genau dies ist der Tod. Erst die Wiedergewinnung der Bedeutung der verlorenen Menschen für mich und die Vergegenwärtigung meiner Beziehung zu ihnen kann die Trauer einleiten und die Zeit wieder herstellen. Lokkots Darstellung mutet ganz so an, als solle mit aller Macht die Mobilisierung von Schuld- und Schamgefühle verhindert werden, als regiere hinter jenem despotischen Über-Ich und dem Berührungstabu eine Angst, die Verbindung zu guten inneren Objekten könnte verlorengehen und die diskriminierenden und verfolgenden Objekte Oberhand gewinnen.
Die verzweifelte Suche nach Fakten und vermeintlich objektiven Gegebenheiten macht sich auch in manchen Versuchen geltend, sich der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des katastrophalen Geschehens der Shoa zu nähern. Der Historikerstreit der achtziger Jahre — der mittlerweile von der Kontroverse um Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker überlagert wird — markiert eine (verständliche) Lähmung und Ohnmacht, den Argumentationsstrategien (nicht nur) eines E. Nolte zu begegnen. Es macht ganz den Eindruck, daß die Debatte und die im Historikerstreit entwickelten Antworten der Gegner Noltes bzw. seiner Abwehrstrategien sich im Kreise drehen und die These von der Einzigartigkeit des Völkermordes im Ansatz als Behauptung stehenbleibt und nicht recht zu überzeugen vermag — als trübe ein Bann den Blick auf die Bedeutung des Völkermordes an den Juden. Immer wieder wird um Fakten gerungen und dabei aus dem Auge verloren, daß es um die Bewertung der Fakten geht und um deren Bedeutung für unsere Bewußtseinslagen. Diese Schwierigkeiten scheinen sich auch in den Überlegungen R. Vogts im 2. Teil seiner Analyse des Fassbinder-Stücks »Der Müll, die Stadt und der Tod« (1995) niederzuschlagen. Diese sehr subtile und erhellende »Psychoanalyse der deutschen Seele« hat in einer aufschlußreichen und prägnanten Weise die »Repräsentanz der NS-Zeit im Bewußtsein der Deutschen« (ebd., S. 361) aufgedeckt. Angesichts der Veröffentlichungen von Wunderlich und Dührssen tut es gut, eine solche Position in Deutschland unter Psychoanalytikern zu wissen. Gleichwohl scheint es mir im Zusammenhang der von Vogt aufgeworfenen Fragen zur Einzignartigkeit »des größten Völkermord(es) in der Menschheitsgeschichte« (ebd., S. 352) notwendig — und der Eklat und die Beunruhigung, die das Buch von Goldhagen hervorgerufen hat, scheinen dies zu bestätigen -, auf die kulturgeschichtliche Tradition und der Bedeutung des Antisemitismus ergänzend hinzuweisen. Die Frage nach der Einzigartigkeit der Shoa hat im übrigen nichts mit einer Relativierung oder gar Verharmlosung anderer kollektiv begangener Verbrechen, z. B. des Stalinismus, des Pol-Pot-Regimes oder an den Armeniern zu tun. Die Frage nach der Bedeutung dieser Verbrechen könnte vielmehr jeglichen Versuch eines Vergleichs als obsolet erscheinen lassen und ihre jeweilige Einzigartigkeit deutlich machen.
Was in dieser gespenstischen Debatte nicht so recht in den Blick geraten will, ist die Repräsentanz und die historisch-kulturelle Bedeutung des Judentums für die abendländische Kultur: nämlich als das Fremde par excellence und der Ursprung und Basis zivilisatorischer (abendländischer) Ethik. Es ist ja schon oft der Mangel einer psychoanalytischen Kulturtheorie nach 1945 beklagt worden. Könnte es sein, daß die Tradition des Antisemitismus und der Völkermord an den Juden es schier unmöglich gemacht haben, eine psychoanalytische Kulturgeschichte zu schreiben, die (auch) in der letzten Stufe der Selbstanalyse Freuds — in Der Mann Moses und die monotheistische Religion — einen Ausgangspunkt hätte? Wenn dieser Schrift sozusagen ein (unausgesprochenes) Koordinatensystem zugrundeliegt, deren zentrale Achsen 1. die Selbstanalyse des Juden Freud, 2. das Schicksal und die Macht der Tradition der von ihm begründeten Psychoanalyse und 3. ein Entwurf einer Kulturgeschichte vorzufinden ist, die sich um das Verhältnis von Judentum, Antisemitismus und Christentum rankt, dann bedeutete das Schreiben einer psychoanalytischen Kulturtheorie zugleich, auch die zivilisatorische Bedeutung des Judentums zu fokussieren. Freud ringt in dieser Schrift ein letztes Mal um die Bedeutung des Judentums — und der Psychoanalyse — für die abendländische Kultur und sucht nach den Grundbausteinen einer zivilisatorischen Ethik, die sich aus den Fragen nach dem (sich) Fremdsein, dem Herkommen und der (unbewußten) Tradition speist. In einer Zeit zunehmenden totalisierenden Unrechts ringt Freud mit jener Gestalt, die untrennbar mit der Befreiung aus der Sklaverei, der Emanzipation von der Idolatrie und der Konstitution und Aufrechterhaltung der 10 Gebote und des väterlichen Gesetzes in der menschlichen Geschichte verbunden ist. Darauf zielt das Wort D. Diners vom Zivilisationsbruch, das von dem Bruch zeugt, der dem universellen Recht auf Leben und damit auch sich selbst angetan wurde; es war die Destruktion des lebendigen Ursprungs menschlicher Ethik, die sich um Schuldfähigkeit und Verantwortung zentriert. Dies könnte eine Anwort auf die Frage vorbereiten, worin denn die Einzigartigkeit des Völkermordes an den Juden gesehen werden kann.
Die kulturgeschichtliche Zementierung der Verdrängung des Judentums und dessen verzerrte Gestalt im Antisemitismus skotomisiert den Blick auf die dem Christentum vorausgehende und zugrundeliegende Basis zivilisatorischer Ethik. Es war ja gerade die Kritik der Aufklärung am institutionalisierten Christentum, die den Begründungszusammenhang zwischen Ethik und Religion zu trennen beabsichtigte. Das bewußte Abschneiden dieses Zusammenhangs und die Versuche, eine universelle säkulare Ethik zu entwerfen, entstammen aber selbst noch der universalistischen Tendenz des Christentums, die sich dem radikalen Monotheismus und dem unauflöslichen Zusammenhang von (jüdischem) Gesetz und Tradition verdankt. Es ist also gerade auch der vermeintliche Bruch mit dem institutionalisierten Christentum — vermittelt und verfestigt durch Luther -, die diese kulturgeschichtliche Verdrängung in der gegenbesetzten Gestalt des Antisemitismus sichert. Erst das Erinnern und Durcharbeiten dieser verdrängenden Tradition könnte die Bedeutung und damit die Einzigartigkeit des an den Juden begangenen Völkermordes offenlegen. Dies hat auch G. Heinsohn (1995; vgl. auch 1992) erlkannt, der sehr plausibel die nationalsozialistische Barbarei als einen Akt der Vernichtung der Ethik des Judentums, wie es sich in der jüdischen Bibel reflektiert, analysierte. Allerdings übersieht er die Bedeutung des rabbinischen Judentums; was kein Zufall ist, wie es durch die Thesen der mehrfachen kulturgeschichtlichen Verdrängung deutlich geworden sein sollte: Es ist gute (christliche) Tradition zu verdrängen, daß die in der jüdischen Bibel aufgegebenen Gesetze ihren inneren Sinn nur durch die Tradition der mündlich überlieferten Lehre erhalten, die in der rabbinisch-jüdischen Literatur schriftlich fixiert sind (vgl. Blumenberg, 1996).
Es ist die Erinnerung, die das Leben erneuert
Kommen wir nun zum Ausgangspunkt zurück, zum Problem des »Erinnerns und Durcharbeitens« der Vergangenheit. Yerushalmi (1982) hat darauf hingewiesen, daß eigentlich die Juden als die Väter des Sinns und der Bedeutung in der Geschichte betrachtet werden können. Dabei sei der Sinn der Geschichte nicht zu verwechseln mit der Geschichtsbeschreibung selbst, mit einer Chronik. Die jüdische Überlieferung berichtet, daß Moses beim brennenden Dornbusch nicht dem Gott als Schöpfer von Himmel und Erde begegnete, sondern dem Gott der Väter, in dessen Namen er die Juden aus Ägypten führen soll (vgl. 2. Buch Moses 3,6; 3,15 f.). Als Gott seiner Väter aber ist es ein Gott der Geschichte; an ihn zu erinnern heißt also auch an die Geschichte zu erinnern. Daher bedeutet das Verstehen des (jüdischen) Gesetzes (Thora) nicht nur Interpretation der als heilig überlieferten Worte, sondern zugleich Interpretation der Geschichte und deren Sinn. Glauben heißt daher im Judentum zuallererst und im Kern: Erinnern. Darin liegt im Prinzip die Bedeutung aller Rituale; Beten, Studieren und Einhalten der Gebote und Verbote drehen sich im Kern immer wieder um die Erinnerung48[xlviii] Darin besteht der Sinn jener zentralen Aussage, wonach der Bund am Berg Sinai nicht nur mit den damals Anwesenden geschlossen wurde; »nein, mit dem, der hier anwesend ist, uns gesellt heute stehend vor SEINEM unseres Gottes Antlitz, und mit dem, der nicht hier mit uns heute ist« (5. Buch Moses 29,14; Hervorh. Y. B.). Wie ist das möglich ? Wie können wir das verstehen, daß der Bund auch für die Generationen geschlossen wurde, die nicht anwesend waren und auch erst in ferner Zukunft kommen würden ? Wenn wir von einer realhistorischen Zeit sprechen, dann kann diese Auffassung nur dann einen Sinn machen, wenn die Offenbarung über die Erinnerung an die gelangt, die nicht am Berg Sinai anwesend waren (Yerushalmi, 1982). Das Vergangene wird also über die Erinnerung gegenwärtig und lebendig, über das Studieren und die Rituale, die ihrerseits persönlich tradiert werden.
»Studieren«, so Elie Wiesel, »heißt sich dem Tod entgegenstellen …und dem, was viel schlimmer als der Tod: dem Vergessen« (1992, S. 359). Daher bringt das Gesetz den Juden ebenso hervor wie er und das kollektive Gedächtnis dieses Gesetz kommentierend erschließen. Genau dies war ja die quälende Frage Freuds im Mann Moses, die er auch nicht zu lösen vermochte, weil er eben die innere Natur des vom Christentum und der Aufklärung diffamierten Ritualgesetzes nicht dechiffrieren konnte.49[xlix]
Das Problem der Erinnerung zentriert sich also nicht um konkrete Daten der Geschichte, um eine Chronik oder Zeitdokumente, sondern um die Dynamik des Erinnerungsprozesses an sich, der sich erneuert und lebendig bleibt durch die Bedeutung und den Sinn, die wir den Erinnerungen heute verleihen. Es geht um die Frage, wann und wie Geschichte Gedächtnis werden kann. Anders ausgedrückt: Im Judentum gibt es keinen unmittelbaren Zugang zum Inhalt der Überlieferung; dieser eröffnet sich nur über eine Tradition von Auslegungen. »Die Interpretation ist die zentrale Frage des Judaismus, und der Talmud ist der Ort des Konfliktes der Interpretation« (Ouaknin, 1990, S. 12). Dokumente selbst bleiben, was sie sind, wenn sie nicht interpretiert werden — wiederholte und sich wiederholende Vergangenheit, die dem Vergessen anheimfallen. Wenn wir durch Erinnerung die Vergangenheit lebendig werden lassen, heißt dies im eigentlichen Sinne : Wir sind es, die durch das Erinnern Ort und Zeit erneut schaffen; vermittels der Tradition geben wir dem vergangenen Geschehen die Bedeutung, die es für uns hat, und erhalten es gerade dadurch lebendig. Das ist Erinnern und Durcharbeiten. Unsere Konstruktionen und Interpretationen sind es, die eine Faktizität und Authentizität schaffen. Den Dokumenten verhaftet zu bleiben ist eine Lähmung, eine Hemmung, sich zu vergewissern und eingedenk zu sein, was mir die vergangenen Generationen, die mich hervorbrachten, bedeuten. Ein Text, der die Erinnerung und das Gedächtnis von der kollektiven Tradition ausschließt, markiert bereits verdrängte Geschichte und versucht, das (jüdische) Gedächtnis auszulöschen. Wenn Erinnerung und Durcharbeiten immer auch bedeutet, die Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen und sie erneut lebendig werden zu lassen, dann bedeutet Erinnerung immer auch trauern; eine Trauerarbeit, die zugleich lebensnotwendig ist, um neues Leben hervorzubringen.
(Anschrift des Verf.: Yigal Blumenberg, Kalckreuthstr. 13, 10777 Berlin)
Summary
The Crux of Anti-Semitism. On the counter-cathexis of memory, origins and tradition. — Taking up the »inability to mourn« as analyzed by Alexander and Margarete Mitscherlich, the author focusses his remarks an the (non-)remembering and the (non-)working through of anti-Semitism which, albeit in a distorted form — as a counter-cathexis — does express a species of relation to Judaism. In Blumenberg’s view, the difficulties of decoding this counter-cathexis and relating to the »Jews« via memory stern from three factors in the cultural history of Europe, each representing a repression of Judaism: the institutionalization of Christianity, the Englightenment, and National Socialism. This tradition, with its devaluation of the Jewish roots of Western civilization, takes refuge in purifying tendencies hostile to any kind of ambivalence; as such, it carries the germ of its own destruction within itself. Obliterating the memory of one’s own origins — a central dimension in Jewish thinking —proves to be the germinal locus of antiSemitism. Only in the working through of anti-Semitism, i.e. in the restoration of memory, will it be possible to write (cultural) history.
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[i] * Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags am Lou Andreas-Salome Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Göttingen am 12./13.6.1996. — Danken möchte ich Dorothee Stoupel für die Diskussion anläßlich der Überarbeitung und Dr. Carl Nedelmann für die Anregungen, manche Thesen in einem neuen Licht zu sehen.
Bei der Redaktion eingegangen am 7.1.1997.
[ii] 1 »Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat« (Freud und Zweig, 1968, 5.102). Der Briefwechsel mit K. Abraham und S. Ferenczi zeigt sehr eindrücklich, wie sehr die Auseinandersetzung mit Jung und der Religion unlösbar verschränkt ist mit Freuds Fragen zum Judentum und Antisemitismus. Dies gilt, wenn auch auf den ersten Blick nicht erkennbar, auch für Totem und Tabu; dies zu zeigen wäre allerdings eine eigene Arbeit.
[iii] 2 »Solange wir im Ghetto lebten, brachte unsere Zugehörigkeit zum jüdischen Volke materielle Schwierigkeiten und manchmal physische Gefahr mit sich, aber keine sozialen und seelischen Probleme. Mit der Emanzipation änderte sich diese Sachlage, und zwar besonders für diejenigen Juden, die sich geistigen Berufen zuwandten. Der junge Jude steht in Schule und Universität unter dem Einfluß einer von ihm hochgeachteten und bewunderten nationalgefärbten Gesellschaft, von der er seine geistige Nahrung empfängt, zu der er sich zugehörig fühlt und von der er sich gleichzeitig als Artfremder mit einer gewissen Geringschätzung und Abneigung behandelt sieht. Mehr unter dem suggestiven Einfluß dieser seelischen Übermacht als von utilitaristischen Rücksichten getrieben, kehrt er seinem Volk und dessen Traditionen den Rücken und betrachtet sich restlos als zu den anderen gehörig, indem er vor sich und den andern vergebens zu verbergen sucht, daß dies Verhältnis kein gegenseitiges ist. So entsteht der bedauernswerte getaufte jüdische Geheimrat von gestern und heute. Meist hat ihn nicht Charakterlosigkeit und Streberei zu dem gemacht, was er ist, sondern — wie gesagt — die suggestive Macht einer an Zahl und Einfluß überlegenen Umgebung. Wohl weiß er, daß viele und vortreffliche Söhne des jüdischen Volkes zu der Blüte von Europas Kultur erheblich beigetragen haben. Aber haben sie es nicht mit wenigen Ausnahmen alle ungefähr so gemacht wie er?« (Einstein, 1983, S. 94) — »Die traditionelle Religion hat in meinem Bewußtsein überhaupt keinen Platz gehabt. Ich war mir aber meiner jüdischen Abstammung voll bewußt, wenn auch diese Zugehörigkeit in ihrer vollen Bedeutung von mir erst später erkannt wurde« (Einstein, zit. n. Kather, 1995, S. 115). — »Es ist keine Freude, sich mit der Psychoanalyse abzugeben, und ich halte mich von ihr möglichst fern, aber sie ist zumindest so existent wie die Generation. Das Judentum bringt seit jeher seine Leiden und Freuden fast gleichzeitig mit dem zugehörigen Raschi-Kommentar hervor, so auch hier« (Kafka, 1922, S. 214). — Vergessen wir auch nicht, daß wir die Psychonanalyse Freuds uns gar nicht aneignen können, ohne in der Traumdeutung (1900a) — dem »Königsweg« zum Unbewußten — an der persönlichen Auseinandersetzung Freuds mit dem Antisemitismus teilzunehmen. »Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die Frage aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil gehabt hat. … Es ist vielleicht kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen« (1925 e, S. 110).
[iv] 3 »Man soll alles den Juden als Nation verweigern, und alles ihnen als Individuen gewähren; sie dürfen im Staate weder eine politische Körperschaft noch einen Orden bilden; sie sollen individuell Staatsbürger sein. Man behauptet, daß sie das nicht sein wollen. So mögen sie es (klar) sagen, und man verbanne sie dann; es darf keine Nation in der Nation geben« (zit. n. Bein, 1980, S. 197). So der engagierteste Verfechter der Judenemanzipation Graf Clermont-Tonnère, am 2 3 .1 2 .1789 in der französischen Nationalversammlung.
[v] 4 So könnte eine nähere Analyse der Religionskritik Freuds vermutlich zeigen, daß diese sich vielmehr auf das Christentum bezieht.
[vi] 5 N. Rand und M. Torok (1996) verweisen in ihren »Fragen an die Freudsche Psychoanaly0 se« genau auf diese die Psychoanalyse Freuds durchziehende Problematik. Vgl. hierzu BluEl menberg (1997).
[vii] 6 Wenn im Folgenden von einer dem Christentum und Aufklärung inhärenten antisemitig schen und verdrängenden Tradition die Rede ist, dann ist mir bewußt, daß ich damit der Komplexität 15 Jahrhunderte kulturgeschichtlicher Tradition nicht gerecht werden kann; im Verfolgen eines roten Fadens wird man dem Vorwurf des Reduktionismus oder der VH] einfachung wohl nicht ganz entgehen können.
[viii] 7 Hilberg hat — auf den realhistorischen Prozeß bezogen — von drei Schritten der »Bekehil rung«, »Vertreibung« und »Auslöschung« der Juden gesprochen (1961, S. 13f.). Allerdings liegt in meinen folgenden Überlegungen der Akzent auf der kulturgeschichtlichen Tradition und zwar insbesondere auf der oft »vergessenen« judenfeindlichen Tendenz der Aufklärung.
[ix] 8 Es kann davon ausgegangen werden, daß diese Kritik Paulus‘ am rabbinischen Judentum bereits innerhalb einiger Strömungen des jüdischen Volkes (in hellenistisch-römischer Zeit) ihre Vorläufer hatte; vgl. Klausner (1980) und Taubes (1995).
[x] 9 Hier schimmert schon ein Zerrbild durch, das uns bekanntlich wieder begegnet: In der Sprache der nationalsozialistischen Antisemiten, die von einer »jüdischen Zersetzung« sprachen, und der Jungs (1934 a), der die »jüdische Psychoanalyse« Freuds als »seelenlos«, »heillosen Intellektualismus«, »Betrug«, »verbrecherisch« und »unmenschlich« (S. 192 f.) denunzierte.
[xi] 10 Daher weist die jüdische Überlieferung darauf hin, daß die gesetzlich gebotene Tradition der Interpretation notwendig die Freiheit voraussetzt wie sie sie zugleich hervorbringt: »Ferner heißt es: es waren die Tafeln ein Werk Gottes und die Schrift eine Gottesschrift, eingegraben [= haruth] auf die Tafeln, und man lese nicht heruth, sondern heruth [= Freiheit], denn ein Freier ist nur der, der sich mit der Thora befaßt« (Talmudtraktat bAboth VI, II). Das im Stein eingegrabene und in den Tafeln fixierte Gesetz enthält in sich seinen notwendigen Gegensatz, der durch das Wort entdeckt wird : die Freiheit. »Das Sprechen hat aber nicht die Aufgabe, zu reduzieren, sondern den Zwischenraum zu tragen« (Ouaknin, 1990, S. 357); jenen notwendigen Zwischenraum, der allein Neues hervorbringen und das Andere sich entwickeln lassen kann. Daher ist die Vielfalt der Meinungen nicht zufällig, sondern notwendig; das Streitgespräch als beständiges Schaffen eines leeren Raumes zur Aufnahme der anderen und zum Schaffen einer eigenen neuen Welt.
[xii] 11 Die moderne Fassung könnte lauten: Macht kaputt, was euch kaputt macht!
[xiii] 12 Eben weil das Gesetz im Zeitablauf eines Mensches, z. B. durch Trauer oder regressive Prozesse vergessen, aufgegeben oder zerstört werden kann, besteht für alle die Notwendigkeit, das Gesetz zu interpretieren (vgl. Blumenberg, 1996, 1997). Das Gesetz bedarf der Erneuerung durch den Menschen, muß ständig neu geschrieben werden. In diesem Sinne kommentiert auch Raschi, der unverzichtbare Kommentator der Bibel und des Talmuds, das Zerbrechen der Gesetzestafeln: daß ihm [Moses; Y. B.] sein Herz den Mut gab, die Tafeln vor ihren Augen zu zerbrechen, wie es heißt, und ich zerbrach sie vor euren Augen; und der Heilige, gelobt sei Er, stimmte seiner Meinung zu, so heißt es (2. Buch Moses 34,1), die du zerbrochen, Dank sei dir, daß du sie zerbrochen hast (Talmudtraktat bSabbath 87a)« (5. 541). (»Resch Laqisch sagte: Zuweilen ist die Störung der Thora ihre Erhaltung … der Heilige, gepriesen sei er, sprach nämlich zu Mosche: Dank dir, daß du sie zerbrochen hast« [Talmudtraktat bMenahot 99b]). Die Tradition muß kritisiert, der überlieferte Text angegriffen werden — aber immer eingedenk der Tatsache, daß wir uns nicht selbst ex nihilo geschaffen haben. Der Vater muß angegriffen werden, aber es darf nicht vergessen werden, daß er den Angreifer selbst hervorgebracht hat und ihn in die Lage versetzt, sich zu entwickeln.
[xiv] 13 Was allerdings bereits im Johannes-Evangelium (8,44) angelegt scheint.
[xv] 14 »Doch wie hoch Voltaire auch das Ideal der Gleichheit aller Menschen geschätzt haben mag, er hatte wenig Liebe für die Juden als Individuen gezeigt. Er erklärte sie [in seinem Philosophischen Wörterbuch; Y.B.] zu einem >unwissenden und barbarischen Volk, das lange die schmutzigste Habgier mit dem abscheulichsten Aberglauben und dem unausrottO baren Haß gegen alle Menschen, von denen sie geduldet und bereichert worden waren, in sich vereinten< «(Meyer, 1992, S. 59). Aber immerhin empfiehlt Voltaire in seinem 30 Seiten langen Artikel, daß man die Juden jedoch nicht verbrennen solle (vgl. Poliakov, Bd.V, S. 101). Welche Toleranz!
[xvi] 15 Auf die Bedeutung Luthers und des Protestantismus kann in dieser Skizze der antisemitischen
Tradition nicht eingegangen werden, wiewohl es notwendig gewesen wäre.
[xvii] 16 Katz meint sogar, Kant verdamme das Judentum, da es die Antithese zum Christentum
sei, das, so Kant, nicht aus dem Judentum, sondern als sein Gegensatz entstanden sei (1989,
70).
[xviii] 17 Eine Denunziation, die Jung (1934 a) wiederholt.
[xix] 18 Horkheimer und Adorno haben treffend bemerkt, daß im Antisemitismus die Idiosynkrasie zum Begriff erhoben wird; das Ressentiment wird rationalisiert, und mit der Zeit erscheint das Allgemeine als das Natürliche und das Besondere, hier das »Jüdische«, als penetrant. »Und denen, die sozusagen das an ihrer Lebensweise ausdrücken, wonach alle sich sehnen, nämlich: Freiheit, Frieden und Heimat verwehrt man jegliches Heimatrecht; dergestalt wird dem Juden das angetan, was an ihm aufscheint: Das Fremde und Fremdsein« (1947, S. 188 ff.).
[xx] 19 Wir werden später sehen, wie sich diese antisemitische Position in der deutschen Psychoanalyse in den Jahren des Nationalsozialismus reproduziert: »Der Neurotiker sei gefangen in einem relativ mechanistisch abgesetzten System des Zusammenspiels seiner Impulse, Triebe und Affekte. Sein seelisches Leben gleiche einem >Staat im Staate<, und er könne sich nur partiell auf die geistig-sittliche Schicht erheben« (Müller-Braunschweig, zit. n. Bohleber, 1995, S. 164; Hervorh. Y. B.); d. h. also: nicht »rein moralisch« werden. Für Jung (1934 a) war es schließlich keine Frage mehr, daß die Juden bzw. die »jüdische Psychoanalyse« nicht nur als psychopathologisch, sondern gar als »unmenschlich« und »verbrecherisch« (S. 193) zu entlarven sei.
[xxi] 20 Keilson hat auf eine weitere spezifische Kontinuität und Parallele zwischen dem Nation nalsozialismus und dem Christentum hingewiesen: Warum hat die christliche Kirche jene oft beschriebene Dressur und Zurichtung der »deutschen Seele« nicht kritisiert, da dies doch auch ein Leiden darstelle, dessen anzunehmen sich die Kirche immer auf die Fahnen geschrieben hat? Weil sie nämlich vom gleichen Prinzip beseelt war: »Kadaver-Gehorsam« und grandiosem Ich (unveröff.).
[xxii] 21 Hegels liebe Not mit diesem Problem geht gar soweit — so kommentiert Bloch -, daß er das Christentum aus der römischen Vielgötterei ableite, was der Wahrheit doch ins Gesicht schlage (1971, S. 344). Aber Hegels Größe setzt sich noch darin durch, daß er etwas Entscheidendes für die Exil-Situation der Juden — wenn auch in veräußerlichernder Weise — erkennt und gewissermaßen eine Definition des Judentums anbietet: »Abraham war >ein Fremdling auf Erden, wie gegen den Boden, so auch gegen die Menschen … Die ganze schlechthin entgegengesetzte Welt … war von dem ihr fremden Gott getragen, an dem nichts in der Natur Anteil haben sollte<« (1798, S. 278f.). Es ist hier also das Abgenabelt-und Fremdsein, die exzentrische Position des Judentums, das zum Angelpunkt und Charakteristikum gemacht wird: Das Fremdsein und -werden sowohl der Natur wie dem Sozialen gegenüber; selbst Gott wird hier zum Fremden erklärt. Eine höchst bemerkenswerte und scharfsinnige Analyse, die allerdings angesichts des »Juden« den Fremden nicht in sich selbst zu suchen vermag. Fügen wir noch der Gerechtigkeit halber hinzu, daß Hegels Vermögen, sich seinen eigenen traditionellen Voraussetzungen gegenüber kritisch verhalten zu können, ihn immerhin dazu zwingt, in seinen staatsrechtlichen Vorstellungen den Juden schließlich doch ein allgemeines Bürgerrecht einzuräumen; aber nicht weil er seine Einstellung den Juden gegenüber verändert, sondern weil er sozusagen über die Logik seiner staatsrechtlichen Voraussetzungen und Konsequenzen sich dazu bekennen muß. 22 Vgl. Chasseguet-Smirgel und Grunberger, 1995, S. 147. An dieser Stelle könnte die weitergehende Hypothese angeschlossen werden, wonach mit der Kritik an der rabbinisch-jüdischen Tradition, die am den Menschen vorausgesetzten und überlieferten Gesetz festhält, die Zerstörung des Über-Ich eingeschlossen sein kann. Deswegen enthält das juden-feindliche Ressentiment immer zugleich auch einen Vater-Mord als seinen eigentlichen Kern, der dann projektiv als Vorwurf des Gottesmordes der Heiden-Christen an den Juden erscheint. Bein (Bd. I, S. 172 ff.), Poliakov (Bd. V) und Katz (S. 41 ff.) weisen im übrigen darauf hin, daß sich in diese Tradition auch sehr gut der durchgehende Antisemitismus im Denken Voltaires fügt. Poliakov, ein Kenner der antisemitischen Psychodynamik, bemerkt ganz lapidar, daß viele »Literaturkritiker… nicht versäumt (haben), die in den Tragödien Voltaires vorkommende Wiederholung des Themas Vatermord hervorzuheben« (Bd.V., S. 105).
[xxiii] 23 »foetor judaicus« ist ein mittelalterliches antijudaistisches Stereotyp; »ein angeblich typisch jüdischer Körpergeruch, oder der sogenannte >Fluch der zwölf Stämme<, demzufolge die jüdischen Nachfahren der Stämme Israel als ewige Strafe für die Kreuzigung mit angenborenen körperlichen Mängeln behaftet sind« (Yerushalmi, 1993, S. 55).
[xxiv] 24 Hier begegnen wir also wieder diesem Bild des »Staates im Staate«, einem beunruhigenden Fremdkörper, der ab- und ausgestoßen werden muß.
[xxv] 25 »Man sieht, daß alle Zeiten und alle Länder sehr wohl die Quelle der Moralität erkannt haben; nur Europa nicht; woran allein der foetorJudaicus Schuld ist, der hier Alles und Alles durchzieht« (1860, S. 605).
[xxvi] 26 Selbst noch das immer wieder hochgeschätzte Aufklärungsdrama Nathan der Weise —das Lessing ja Moses Mendelssohn gewidmet hat und diesem damit ein Denkmal setzten wollte — kann sich dieser im Kern judenfeindlichen Denkstruktur nicht entziehen: Nachdem die Ringparabel bereits eine regressive Lösung der drei Religionen vorschlägt (»Möglich, daß der Vater nun die Tyrannei des einen Ringes (sic!) nicht länger in seinem Hause dulden wollen«; 3. Aufz., 7. Auftr.), liegen sich am Ende dieses Dramas die Christen (der Tempelherr und Recha) und Moslems (Saladin und seine Schwester) als Verwandte und Familienangehörige in den Armen — Nathan als Jude bleibt der ausgeschlossene Fremde.
[xxvii] 27 Seitenangaben in Klammern ohne weitere Hinweise beziehen sich im Folgenden immer auf diese Veröffentlichung.
[xxviii] 28 An dieser Stelle möchte ich zunächst meinem Freund und Kollegen Dr. J. H. Ludin für die anregenden Gespräche danken, die sich in den folgenden Überlegungen auch niedergeschlagen haben und von denen er gar manche zuerst ausgesprochen hat.
[xxix] 29 So sehr sich Lockots Darstellung der Geschichte der Psychoanalyse in anerkennenswerter und wohltuender Weise von der Dührssens unterscheidet, an diesem Punkt scheinen beide zu ähnlichen Schlußfolgerungen zu kommen (vgl. Dührssen, 1994, S. 166, 172); es ist eben auch nicht zufällig, daß es hierbei um die der Darstellung zugrundeliegenden Phantasie geht: Was wäre, wenn die jüdischen Mitglieder nicht ausgeschlossen worden wären, der Völkermord nicht stattgefunden hätte? — Offenkundig eine Entlastungsphantasie.
[xxx] 30 »Mitgenommen«? Die Psychoanalyse ein bewegliches Hab und Gut, das man mitnehmen, dalassen oder auch verlieren kann? Ein Gegenstand, der mir äußerlich ist ?.Wir werden sehen, daß diese Fragen keineswegs spitzfindig sind, sondern zentral mit den Frage nach den Schwierigkeiten der Erinnerungs- und Trauerarbeit verbunden sind.
[xxxi] 31 Lockot führt insgesamt neun Punkte an, wovon der 8. Punkt das Lehrverbot von Boehm und Müller-Braunschweig aufzählt und der 9. Punkt — »Die Einschränkungen, die einzelnen auferlegt wurden (Müller-Braunschweig), kamen anderen zugute (Schultz-Hencke)« (S. 9) — im 8. impliziert ist; meine Auslassung dieser beiden Punkte tut meiner Interpretation keinen Abbruch.
[xxxii] 32 Z. B. Spaltung der deutschen Psychoanalyse; Nichtmitgliedschaft der DPG in der IPV; Vorherrschen der analytischen Psychotherapie bzw. Relativierung bis Infragestellen psychoanalytischer Essentials, was nicht ohne Weiteres und umstandslos auf einen Fortschritt an wissenschaftlicher Erkenntnis zurückzuführen ist.
[xxxiii] 33 Dahmer zielt letztlich auf die gleiche Problematik, wenn er schreibt: »Für Boehm und Müller-Braunschweig stand 1933 die Rettung der Psychoanalyse als Institution im Vordergrund« (1983, S. 131). Aber in unserem Kontext fällt auf, daß es ihm nicht um die darin zum Ausdruck kommende innere judenfeindliche Tradition geht.
[xxxiv] 34 In gewisser Weise stößt Lockot selbst auf das Problem und drückt es — »nach dem Durcharbeiten« — recht prägnant und authentisch aus: »Boehm, Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke … vollzogen… eine >Selbstgleichschaltung<. Ebenso wie die drei Psychoanalytiker war auch der Jungianer Heyer in diesen Selbstzerstörungsprozeß verstrickt« (S. 312). Aber es muß für den Leser offenbleiben, wodurch diese »Selbstgleichschaltung« überhaupt möglich wird: Im Ausschließen des aggressiv besetzten Fremden, des »Juden« — der sozusagen eine feindselige, aggressive Besetzung der Repräsentanz des Fremdwerdens, der Individualität, Separation und Intellektualität markiert — bleibt nur die selbstzerstörerische Regression. In der Konsequenz ist Lockot allerdings zuzustimmen: »Für psychotherapeutische Behandlungen war unter diesen Bedingungen kein Platz« (5. 314).
[xxxv] 35 Es spricht sehr viel dafür, daß dies sich recht unbewußt konstelliert und sich auf S. 179ff. wiederholt: Es ist geradezu schmerzlich zu lesen, wie sehr E. Stransky sich demütigen und entwerten muß. So wurde er — als Jude — einmal aufgefordert, vor der österreichischen Lann desgruppe der allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie über das Thema Rasse und Psychotherapie zu sprechen. Ohne weiteren Kommentar vermerkt Lockot hiern zu ganz lapidar ein »Dilemma als Jude« (S. 179). Kann sie noch recht einfühlsam klingende Worte für Görings Gedanken finden — »man spürt dahinter eine bescheidene Ernsthaftign keit und Achtung der Tiefenpsychologie gegenüber« (S. 82; vgl. auch ihre Interpretation S. 187: »Diese Art der Selbstüberschätzung könnte darauf hinweisen, wie enttäuscht Göring eigentlich darüber war, nicht die universitäre Anerkennung des Fachs zu erlangen…«) -, so bleibt ihre immer wieder propagierte »empathische Distanz« hier ausgesprochen un-empathisch. Ihr entgeht gerade die Perfidie der Nationalsozialisten, die Juden quasi zu ihn ren Mittätern zu machen; als ob in ihrer Darstellung sich die grundsätzliche Schwierigkeit ausdrücken würde, die Situation der Juden zu verstehen — eben weil sie in der Position des »ausgeschlossenen und externalisierten Fremden« fixiert werden. Und es war gerade in den Jahren 1933-1945 für die jüdischen Kollegen schmerzlich mitzuerleben, daß sie allein gen blieben sind und keine Solidarität gefunden haben. Wiederholt sich dieser Vorgang in Lokkots ausgebliebenem Kommentar?
[xxxvi] 36 Lockot zitiert aus einem an sie gerichteten Brief B. Kamms, der sich dazu entschloß zu emigrieren, weil er keine Möglichkeit mehr gesehen hatte, während des Nationalsozialismus psychoanalytisch zu arbeiten. Er begründete dies u. a. damit, daß »ein Analytiker … sich selbst und seinen Analysanden täuschen und gefährden (würde), wenn er so tun würde, als ob jetzt alles frei durchdacht und frei erörtert werden könnte. Beide, Analytiker und Analysand, müssen sich dessen bewußt bleiben, daß nichts geheim bleiben darf in einer solchen von Paranoia dominierten Umwelt, und daß jederzeit eine Anzeige erfolgen kann aufgrund des bloßen Verdachts … Wer kann in seiner solchen Umwelt beweisen, daß Gedanken nicht zu Taten führen? Der >stinkende< uneheliche Bruder Karamasow wirft dem allzufrei philosophierenden Ivan vor, ihm beigebracht zu haben, daß >alles ist gestattet< —und Mord, sogar Vatermord und Selbstmord sind die Folgen!« (S. 214; Hervorh. Y. B.) In dem Bericht Boehms vom 4. 12. 1935 über den den jüdischen Analytikern nahegelegten Austritt wird auch die Bemerkung Eva Rosenfelds zitiert, »daß die Kollegen infolge einer Zwangslage, welche sie innerlich ablehnen müßten, nicht freiwillig austreten könnten, weil so ein zu hoher Grad von Masochismus involviert würde, wie, wenn man sich selbst freiwillig hinrichten müßte« (zit. n. Brecht et al., 1985, S. 127).
[xxxvii] 37 Boehms Antwort, eines (auch) von der Tradition Freuds geprägten Psychoanalytikers, der »in einer Sitzung der psychoanalytischen Gruppe vom 7. 8. 1945 (äußerte), daß er unter dem Übergewicht der Juden am alten Institut immer gelitten habe« (S. 114), ist schließlich nur noch von Jung übertroffen worden: »Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewußt und differenziert, um noch mit den Spannungen einer ungeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit« (Jung, 1934 a, S. 191 ; Hervorh. Y. B.). — Welche Vorausahnung!
[xxxviii] 38 Manche Kollegen haben auf die Merkwürdigkeit hingewiesen, daß das Wort »Reini-gung« im Titel der Veröffentlichung aus dem Jahre 1994 Die Reinigung der Psychoanalyse ohne Anführungszeichen erscheint.
[xxxix] 39 Dahmer (1983) hat sowohl auf die Geschichte und Bedeutung des Reichswart hingewiesen, dessen Titelseite bereits 1932 mit einem Hakenkreuz geschmückt war, wie auch auf die geistige Tradition der Neukantianer, in die sich Müller-Braunschweig mit seinen Aufsatz stellte (vgl. auch Bohleber, 1995). Allerdings scheinen mir Dahmers treffende Überlegungen hinsichtlich dieser geschichtsphilosophischen Tradition, die wir auch in Lockots Darstellung wiederfinden — nämlich eine »radikale Scheidung der Normen von den Fakten« zu behaupten, wobei letztlich die Geltung der Normen als Faktum ideologisch verkehrt wird (ebd., S. 123) —, noch zu unbestimmt zu bleiben; dies wird im Folgenden noch deutlicher werden.
[xl] 40 In diesen Zusammenhang gehört auch Luther mit seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahre 1543 (vgl. Poliakov, Bd. II, S. 119ff.).
[xli] 41 Dieser Frage geht z. B. Bohleber (1995) nach, der im Deutschen Idealismus und in der romantischen Naturphilosophie »rein deutsche Geistesströmungen« (S. 155) sieht und sie als »untergründige kulturelle Konstante« (ebd.) in der Haltung der deutschen Psychoanalytiker nach 1933 beschreibt. Dabei »drängt (sich ihm) die Vermutung auf, daß die spürbare Einfühlungsverweigerung und Abneigung gegen die jüdischen Kollegen auch von antisemitischen Affekten gespeist wurde« (ebd., S. 156). Auch in jenen »Konzessionen« der deutschen Psychoanalytiker gegenüber der nationalsozialistischen Bürokratie und dem »Nachweis«, »daß die Psychoanalyse nicht >jüdisch zersetzend< sei« (ebd.). Warum allerdings Bohleber seine zutreffende »Hauptthese« (von der »romantisch-idealistischen Freudrevision deutscher Psychoanalytiker nach 1933«) von seinen Überlegungen hinsichtlich des antisemitischen Ressentiments im weiteren Verlauf seiner Darstellung trennt (vgl. S. 157), ist völlig unverständlich; zumal der unauflösliche Zusammenhang sich ihm auch aufdrängt (vgl. S. 160, FN 3). Es war ja in unserem Kontext schon deutlich geworden, in welchem Ausmaß jene »untergründige kulturelle Konstante«, die der »romantisch-idealistischen Freudrevision« unterliegt, zugleich ein integrales antisemitisches Ressentiment besitzt; so z. B. in dem durch die Aufklärung heimlich tradierten Christentum J. G. Fichtes. Die von Bohleber zu Recht charakterisierte Naturalisierung des Über-Ich bei Schottlaender und Müller-Braunschweig (vgl. S. 160 ff.) kann auch als die säkularisierte Fassung eines christlichen Universalismus dechiffriert werden, die »>Einseitigkeiten< Freudscher Psychoanalyse (einräume)« (ebd., S. 163) — sprich: das Fremde und Partikulare dieser »jüdischen Wissenschaft« denunziert. Daher, so Bohleber, »konnte man dann Freud (auf diesem Wege) >organisch< mit Jung ergänzen« (ebd.). »Der Idealismus dieses Denkens projizierte die Kultur in ein zeitloses und unbedingtes Reich des Geistes. Diese idealistische Deutung des Geistes >als Himmel auf Erden< … war ebenso wie die romantische Naturphilosophie ein deutsches Phänomen« (ebd., S. 165). Bemerkenswerterweise macht Bohleber auf eine (m. E. diffamierende) Charakterisierung des »Neurotikers« bei Müller-Braunschweig aufmerksam: »Der Neurotiker sei gefangen in einem relativ mechanistisch abgesetzten System des Zusammenspiels seiner Impulse, Triebe und Affekte. Sein seelisches Le-ben gleiche einem ‚Staat im Staate<, und er könne sich nur partiell auf die geistig-sittliche Schicht erheben« (ebd., S. 164; Hervorh. Y. B.). Es ist schon auffallend, wie diese Charakterisierung des »seelischen Lebens« des »Neurotikers« als Charakterisierung »des Juden« (sprich: Freud) nicht nur bei Jung (und Hitler) auftaucht, sondern bereits 150 Jahre zuvor in Fichtes judenfeindlichen Ausführungen.
[xlii] 42 Schon ein Rezensent des Buches, H. Platts, bemerkte dieses Problem: »Darstellungsweise und Gliederungsprinzip diese Buches muten wie ein Ausagieren des Abwehrmechanismus der Isolierung an« (1986, S. 462). Tatsächlich macht die Darstellung Lockots ganz den Eindruck einer Mischung aus Reaktionsbildung und Affektisolierung, in der wohl der Gefahr aus dem Weg gegangen werden soll, vor dem Über-Ich verwerfliche Identifizierungen, aggressiven Abkömmlingen und schmerzlichen Empfindungen durch Angst oder Schuldgefühl Ausdruck zu verleihen. Deswegen kommt der Rezensent zu der Einschätzung, daß »von >Durcharbeiten( … wirklich nicht die Rede sein (kann)« (ebd.), wobei auch in der Rezension nicht so recht deutlich wird, was eigentlich »durchzuarbeiten« wäre. Ob allerdings dieses Buch »zweifellos … ein Buch des >Erinnerns<« ist (ebd., S. 461), darf, wie die Überlegungen hier zeigen sollen, bezweifelt werden. B. Nitzschke weist in seiner Rezension (1996) des 1994 erschienenen Buches von Lockot auf das hier beschriebene Problem des (scheinbar) mangelnden Konzepts und der fehlenden Interpretation hin.
[xliii] 43 Daher das anfänglich auffallende (vgl. S. 1136, Fn. 30) äußerliche Verhältnis zur Psychoanalyse, die wie ein äußerliches mobiles Gut »mitgenommen«, dagelassen oder auch verloren werden kann.
[xliv] 44 Schon Jean-Luc Godard (ein Antisemit. Anm. JSB) charakterisierte den Kino-Film als »24 mal Wahrheit pro Se-kunde« und machte deutlich, daß die Rede von einer Beweiskraft der Dokumente das Vorhandensein von subjektiven Konstruktionen und Wunschphantasien verleugnet.
[xlv] 45 Einige Beispiele mögen hier genügen: »Wir haben als Kulturmenschen ein Alter von etwa fünfzehnhundert Jahren…. Noch vor fünfzig Generationen waren wir sozusagen Primitive…. Je mehr die unbedingte Autorität der christlichen Weltanschauung sich verliert, desto vernehmlicher wird sich die >blonde Bestie< in ihrem unterirdischen Gefängnis umdrehen und uns mit einem Ausbruch mit verheerenden Folgen bedrohen…. Meines Erachtens besteht nun dieses Problem für den Juden nicht…. Er ist domestiziert in höherem Maße, aber in arger Verlegenheit um jenes Etwas im Menschen, das die Erde berührt, das von unten neue Kraft empfängt, um jenes Erdhafte, das der germanische Mensch in gefährlicher Konzentration in sich birgt…. Der Jude aber hat davon zu wenig — wo berührt er seine Erde? … Es gibt Menschen — nicht zu wenige —, die leben jenseits und oberhalb ihres Körpers, sie schweben wie körperlose Schatten über ihrer Erde, ihrem Irdischen, eben ihrem Körper. Andere leben ganz darin. Der Jude lebt in der Regel in freundlicher Nachbarschaft des Irdischen, ohne jedoch die Macht des Erdhaften zu empfinden…. Für die germanische Mentalität sind aber diese spezifisch jüdischen Doktrinen (d. h. >alles auf seine materiellen Anfänge zu reduzieren< — Y. B.) durchaus unbefriedigend, denn wir [sic! — Y.B.] Germanen haben noch einen echten Barbaren in uns, der nicht mit sich spaßen läßt und dessen Erscheinen für uns keine Erleichterung und keinen angenehmen Zeitvertreib bedeutet« (Jung, 1918, S. 24ff.). —»Nichts erlöst daraus als der Geist, jener andere Pol des Weltgeschehens; nicht die Kinder des Fleisches, sondern die >Kinder Gottes< erleben die Freiheit. In ERNST BARLACHS >Totem Tag< sagt der Mutterdämon zum tragischen Abschluß des Familienromans: >Sonderbar ist nur, daß der Mensch nicht lernen will, daß sein Vater Gott ist.< Das ist es, was FREUD nie lernen wollte und wogegen sich alle ähnlich Gesinnten wehren oder wozu sie wenigstens den Schlüssel nicht finden…. Dieser Vaterkomplex mit seiner fanatischen Starrheit und Überempfindlichkeit ist mißverstandene religiöse Funktion, ein Mystizismus, der sich des Biologischen und Familiären bemächtigt hat. Mit seinem Begriff des >Über-Ich< macht FREUD den verschämten Versuch, sein altes Jehovabild in die psychologische Theorie einzuschwärzen« (Jung, 1929, S. 391). — Es scheint ganz so, als ob Jung und Freud darin übereinstimmen, »daß alle die Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle >schlecht getauft<, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten« (Freud, 1939a, S. 198). Allerdings würde wohl Jung sich nicht zu der Folgerung Freuds durchdringen, daß jene barbarischen Judenhasser »ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber … ihn auf die Quelle verschoben (haben), von der das Christentum zu ihnen kam. … IhrJudenhaß ist im Grunde Christenhaß, und man braucht sich nicht zu wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet« (ebd.).
[xlvi] 46 Diese Spaltung von Interpretation und Dokumentierung kann als eine Variante der allgemeinen und im wissenschaftlichen Denken ubiquitär als wahr unterstellten Subjekt-Objekt-Trennung angesehen werden. Es ist, glaube ich, von Interesse zu bemerken, daß diese Spaltung sprachlich im Hebräischen prinzipiell in Frage gestellt wird: Die sprachliche Wurzel von »Wissen« [= ladaat] und »Wissenschaft« [= mada] ist identisch mit der von »Meinung« [=deah] und »Glauben« [=dat] bzw. »Religion« [=dat]. Es wäre sicherlich spannend, der Frage nachzugehen, ob sich hinter diesem grundsätzlichen Unterschied zwischen der hebräischen Sprache und dem Denken der Aufklärung auch ein grundlegender Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum aufgewiesen werden könnte; ein Unterschied, der sich vermutlich der christlichen Aufkündigung des Gesetzes und des vermittelnden Dritten, d. h. des Wortes und der notwendigen Interpretation verdankt. In diesen Zusammenhang scheint mir die Frage hineinzugehören, ob Wissenschaft und Tradition sich polar, was nicht: kritisch bedeutet, verhalten müssen und dieses traditionelle Verdikt sich jener verleugnenden Tradition der Aufklärung verdankt.
[xlvii] 47 Beide Veröffentlichungen sind bereits mehrfach kritisch rezensiert worden: Zu Wunderlich (1991) vgl. Gleiss (1994), Blumenberg (1996); zu Dührssen (1994) vgl. z.B. Gay (1994), Hampel (1995), Blumenberg (1995), Schultz-Venrath (1995).
[xlviii] 48 »Gedenke der Tage der Urwelt, faßt die Jahre, Geschlecht zu Geschlecht, deinen Vater frag, der dirs melde, deine Alten, sie sprechens dir zu« (5. Buch Moses 32,7; zit. n. Buber und Rosenzweig). Vgl. auch Jesaja: »Bedenke dies, Jaakob und Israel; denn du bist mein Knecht, gebildet hab‘ ich dich mir zum Knechte, du bist es Israel, du wirst von mir nicht vergessen« (44,21).
[xlix] 49 Ja, man könnte sogar sagen, daß er das Judentum quasi christianisiert: » … diese Männer, die Propheten, waren es, die unermüdlich die alte mosaische Lehre verkündeten, die Gottheit verschmähe Opfer und Zeremoniell, sie fordere nur Glauben und ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit … Die Bemühungen hatten dauerhaften Erfolg; die Lehren … wurden zum bleibenden Inhalt der jüdischen Religion« (Freud, 1939a, S. 153; vgl. auch S. 167; Hervorh. Y. B.).
Aber obwohl Freud hier die rabbinische Tradition aus dem »bleibenden Inhalt der jüdischen Religion« auszuschließen sucht, kann er nicht dem Problem ausweichen, daß es nicht allein das »sola fide« sein kann, das die Erinnerung und die radikale Abstraktion aufrechterhält und zu einer fundamentalen Ethik führt: »Die Religion, die mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von Gott zu machen, entwickelt sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der Triebverzichte…. Ethik ist aber Triebeinschränkung…. Und selbst die Forderung, an ihn (d. h. Gott; Y. B.) zu glauben, scheint gegen den Ernst dieser ethischen Forderungen zurückzutreten« (ebd., S. 226). Was aber ist Triebeinschränkung anderes als die Anerkennung und das Einhalten des väterlichen Gesetzes ? Der geheime Sinn des (Ritual-)Gesetzes scheint genau in der Abnabelung von den natürlichen (und familialen) Banden zu bestehen; es ist die Trennung und das Fremdwerden, was das väterliche Gesetz fordert und was schließlich die Zeit und Geschichte hervorbringt.
Deutscher Geist – en gros und en detail
Über den Judenhaß im deutschen Idealismus — anläßlich des neuen Buchs von Micha Brumlik von Gerhard Scheit
(konkret 3/2001)
Der „Weg des Irrationalismus“ führe „von Schelling zu Hitler“ (über Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger) — der der Vernunft aber von Hegel zu Lenin: So hat einst Georg Lukäcs in seiner Zerstörung der Vernunft die Routen des deutschen Geistes wie auf einer Panoramakarte eingezeichnet. Unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus stellt sich die Entwicklung von vornherein etwas anders dar: In Léon Poliakovs epochemachender Studie zur Geschichte des Antisemitismus (1955-1977) führt eine beinahe alle Geister umfassende Heerstraße von der Philosophie der Aufklärung zu Hitler.Schon bei Kant sieht Poliakov „die metaphysische Form des Schreis ‚Tod den Juden!“.
„Euthanasie des Judentums“: Kant
Micha Brumliks neues Buch ist die erste differenziertere Darstellung des Problems, soweit es den deutschen Idealismus einschließlich Marx betrifft. Insbesondere das Kapitel über Kant bringt entscheidende Einsichten. Brumlik betont die erstaunliche Nähe dieses kritischen Philosophierens zum Judentum. Und so deutet er Kants Satz, die „Euthanasie des Judentums“ sei „die reine moralische Religion“, den Poliakov gerade als metaphysische Form des Schreis ‚Tod den Juden‘ verstanden hat, ganz anders – trotz des „Schreckens“, der angesichts der Erfahrung nationalsozialistischer Massenvernichtung von solchen Formulierungen ausgeht und auch „nicht beruhigt werden kann“: Kant habe damit dem Judentum nicht den Untergang gewünscht, sondern gerade von ihm den Übergang zu jener „rein moralischen Religion“ erhofft, die er als Perspektive für die Menschheit sehen wollte — den Juden also diesen Übergang eher zugetraut als den Christen.
„Daß er ausgerechnet im Judentum die Möglichkeit der von ihm erstrebten moralischen Religion erkannte, mag“, so Brumlik, „einer realistischen Einschätzung der Nichtreformierbarkeit des Christentums, aber auch einer besondere Hochachtung seiner jüdischen Freunde und ihres Kampfes um Erneuerung entsprungen sein.“
Es war dies aber auch eine Nähe, die Kant – im Unterschied etwa zu Lessing – unangenehm gewesen sein dürfte, und manche denunziatorische Bemerkung (über Salomon Maimon und andere Juden wie über das Judentum insgesamt) erscheint in diesem Zusammenhang wie ein punktueller Versuch, sich gegenüber nichtjüdischen Freunden und Kollegen, aber auch in der Öffentlichkeit vom Judentum zu distanzieren. In den späten Schriften ist darüber hinaus eine Tendenz zur Substantialisierung des in den vorangegangenen „Kritiken“ Formalisierten zu beobachten: „Sämtliche Konkretisierungen der Moral tragen bei Kant repressive Züge“ (Adorno).Und sie betrafen vor allem das Judentum.
Im Unterschied aber zu Fichte, der dann wie besessen alles auf einen Punkt bringen möchte und eine Verschwörungstheorie entwirft, denkt Kant die verschiedenen ‚konkretisierenden‘ Bestimmungen des Jüdischen nicht zusammen, schließt von der einen nicht auf die andere. Der den Juden unterstellte Wuchergeist etwa sei Folge des Exils, die Anfeindung der anderen Völker gehöre jedoch der Zeit davor an, alles bleibt gewissermaßen getrennt wie das „Ding an sich“ und das Erkenntnisvermögen des Subjekts – und darum resultiert daraus auch keine Handlungsanweisung gegen Juden.
„Antisemitismus der Vernunft“: Fichte und Hegel
Dieser Unterschied ist bei Brumlik aber kaum herausgearbeitet. Fichtes Bedeutung für die Entwicklung des Antisemitismus erscheint insgesamt etwas verharmlosend dargestellt. Hier dienen biographische Hinweise auf den ‚korrekten‘ Umgang des Philosophen mit einzelnen Juden und seine punktuelle Kritik an anderen Antisemiten nicht nur zur Begründung einer spezifisch ausgeprägten antisemitischen Ideologie, die Brumlik treffend als „Antisemitismus der Vernunft“ bezeichnet, sie legen auch eine falsche Entlastung nahe. So werden Fichte kritische Äußerungen zu den deutschen Burschenschaften gutgeschrieben, die doch denselben Ursprung haben wie sein Antisemitismus der Vernunft, nämlich das frühe Konzept des „Volksstaats“ (Ulrich Enderwitz): die ‚gleichberechtigte‘ Identifikation aller Schichten und Klassen mit dem Souverän.
In seinem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution nennt Fichte nach dem für ihn „gefährlichsten“ „Staat im Staate“, den Juden, zwei weitere Gruppen, die in ähnlicher Weise, wenn auch weniger gefährlich, der Homogenität des Volksstaats entgegenstünden: das Militär, das traditionell vom Adel dominiert wird, und den Adel selbst. „Alles dieses sind ja Staaten im Staate, die nicht nur ein abgesondertes, sondern ein allen übrigen Bürgern entgegengesetztes Interesse haben“. Darum ist es nur logisch, daß dieser deutsche Jakobiner auch die Burschenschaften mißbilligt, soweit sie zu elitär sind, zu sehr nach ‚unten‘ hin sich abgrenzen. Fichte aber fordert, daß die Bürger nur ein Interesse, nur eine „Identität“ haben: den Staat selbst.
Von einer solchen Konzeption wandte sich Hegel entschieden ab. Er distanzierte sich von den „falschen Brüdern und Freunden des sogenannten Volkes“, denn für ihn ist dieses sogenannte Volk nicht ein ‚unmittelbar‘ Gegebenes — könne und dürfe darum auch nicht unmittelbar den Staat bestimmen. Überzeugender als im Falle Fichtes führt Brumlik hier vor, wie sich an der Einstellung zu den Juden die Entwicklung einer philosophischen Position ablesen läßt:
In der Frankfurter Zeit scheint Hegel (nach den frühen von Kant geprägten Berner Jahren) zunächst zur Tradition des christlichen Antisemitismus zurückzukehren, wobei sich die judenfeindliche Haltung gefährlich mit rousseauistischem Protest gegen die Zivilisation auflädt. Die spätere, in der Phänomenologie des Geistes erstmals entfaltete teleologische Geschichtsphilosophie, die den Widerspruch in sich aufgenommen hat, erlaubt es Hegel jedoch, das Judentum als eine Stufe des Weltgeistes der Totalität zu integrieren. Es wird auf diese historisierende Weise anerkannt – und zugleich instrumentalisiert, eben so wie der Staat den Juden Bürgerrechte nur dann gibt, wenn er seinen Nutzen davon hat. Für diese Emanzipation der Juden zu Staatsbürgern trat Hegel schließlich mit Engagement ein.
Wenn Schlomo Avineri Hegel zu Recht vorwirft, er habe die ganze völkische Bewegung als etwas bereits Überwundenes hingestellt und darin keine drohende Gefahr für die Zukunft erkannt, dann berührt er allerdings das Grundproblem des ausgereiften Hegelschen Systems, das Brumlik nicht wahrhaben möchte: die falsche teleologische Versöhnung der Gegensätze im und durch den Staat. Es kann also nicht verwundern, daß Brumlik weder die Hegel- noch die Staatskritik des jungen Marx besonders zu schätzen weiß. Schließlich hängt auch seine Unschärfe in der Darstellung von Fichtes Antisemitismus damit zusammen, daß er die Frage der Konstituierung der deutschen Nation aus jenem theologischen Zusammenhang ausklammert, in den er den deutschen Geist gebannt sieht.
„Schmutzig jüdische Erscheinungsweise“: Marx
Kritisiert Marx im langen ersten Teil seines berüchtigten Artikels Zur Judenfrage den Staat als falsche Allgemeinheit, worin das Gattungsleben der Menschen von ihrer besonderen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft geschieden ist, so kritisiert er im kurzen zweiten Teil die bürgerliche Gesellschaft selbst als Gegensatz zum Gattungsleben – hat aber dafür keine anderen Begriffe als religiöse, als christliche, als antisemitische; verwendet also die Begriffe von Feuerbach und Bruno Bauer einfach weiter: „Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“
Die Frage lautet, was unter dem „empirischen Wesen“ des Judentums – unter dem Schacher und seinen Voraussetzungen – zu verstehen ist, von dem Marx hier spricht. Daß darunter keine Eigenschaft einer Rasse zu begreifen wäre, daß also der Schacher keine jüdische Idee sei, die — wie Fichte sagt – den Juden nur mit ihren Köpfen abgeschlagen werden könnte, darüber lassen Marx‘ weitere Studien keinen Zweifel. Abgesehen davon waren bekanntlich die Vorfahren seines Vaters und seiner Mutter seit vielen Generationen Rabbiner, und Marx nahm also offenbar für sich selbst diese Emanzipation vom Judentum in Anspruch, ohne je auf die Idee zu kommen, daß Judentum und Assimilation etwas mit seiner Physis zu tun hätten. Insofern ist die üblich gewordene Gleichsetzung seiner Schrift mit der von rassistischen Antisemiten, der Brumlik kaum widerspricht, ziemlich infam.
Das beginnt bereits bei der Gleichsetzung des jungen Marx mit Bruno Bauer, der später vollständig zum militanten Antisemiten (übrigens auch zum Vorbild von Carl Schmitt) geworden ist: Während Bauer die Emanzipation der Juden als wesentlich problematischer einschätzt als die der Christen und auf diese Weise die Apologie des christlichen Staats heimlich fortsetzt, macht Marx in Bezug auf den Staat und die politische Emanzipation keinerlei Unterschied zwischen Jude und Christ, tritt neben seiner grundsätzlichen Staatskritik zugleich für absolute staatliche Religionsfreiheit ein und rühmt die Fortschrittlichkeit der westlichen Verfassungen gegenüber der christlichen deutschen. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die sich auch im Brief an Arnold Ruge niederschlägt: „Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag und ich will’s tun. So widerlich mir der israelitische Glauben ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt so viele Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, so viel an uns, einzuschmuggeln.“
In den Feuerbach-Thesen verwendet Marx, wie Brumlik hervorhebt, erneut den
antisemitischen Begriff vom Judentum: Feuerbach betrachte „im ‚Wesen des Christentums‘
nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird.“ Daß es auch eine andere, nicht „schmutzige“ Erscheinungsform von Praxis gebe, spricht Marx im folgenden Satz aus: Feuerbach begreife „daher nicht die Bedeutung der ‚revolutionären‘, der ‚praktisch-kritischen‘ Tätigkeit.“ Inwiefern gerade sie einen „jüdischen“ Ursprung haben könnte – darüber verliert Marx allerdings kein Wort. Womöglich mehr als Kant war er bemüht, sich von jedem Zusammenhang mit dem Judentum zu „reinigen“. Brumlik aber übergeht, daß die Juden bereits in Feuerbachs Denken den schändlichen „Egoismus“ jener falschen Praxis personifizieren. Und indem er solchermaßen das Wort von der „schmutzig jüdischen Erscheinungsweise“ aus dem Zusammenhang der Thesen reißt, entgeht ihm gleichermaßen, daß die Kritik an Feuerbach auch dessen Festlegung des „Egoismus“ auf das Jüdische, die Marx nur übernommen hatte, ins Wanken geraten läßt.
Verwechslungskomödie in der Theorie
Allerdings macht Brumlik auch darauf aufmerksam, daß die Fetischismus-Kritik, die Marx im Kapital entfaltete und an die Stelle des falschen Begriffs von „Schacher“ und „Egoismus“ setzte, nicht zuletzt in jenem Bilderverbot der hebräischen Bibel ihr Motiv hat, das offenbar schon Kant zur Kritik der Vernunft anstiften konnte. Tatsächlich ist Marx nur deshalb imstande, die religiösen Personifikationen, die Religion des Alltagslebens und die reale Metaphysik des Kapitals zu durchdringen, weil er diesem Gebot gemäß dachte — wie wenig bewußt oder wie unangenehm ihm dessen Herkunft auch gewesen sein mag. Du sollst dir kein Bild machen vom Kapitalverhältnis, so lautet das Gebot der Kritik politischer Ökonomie und der Grundgedanke negativer Dialektik, wie sie Marx in dieser Kritik entwickelt -Voraussetzung dafür, die Verdinglichungen der politischen Ökonomie und die Fetischisierungen des Alltagsdenkens zu kritisieren und aufzulösen.
Soweit Marx das Kapitalverhältnis weiterhin reflexionslos mit den Bildern vom Judentum einfach illustriert („der Kapitalist weiß, daß alle Waren … innerlich beschnittne Juden sind“, heißt es noch im Kapital), verstößt er natürlich gegen das Gebot; soweit er aber religiöse, insbesondere christliche, aber auch ‚heidnisch magische‘ Formen anführt, um das Bewußtsein als falsches kenntlich zu machen, tut er nichts anderes, als das Gebot selbst einzuklagen. Das Kapital ist voll von Beispielen dafür. Dieses falsche Bewußtsein jedoch als notwendig falsches zu kritisieren, sprengt die Grenzen jeder Religion; es bedeutet, über das Gebot hinaus die Entwicklung des deutschen Idealismus neu aufzurollen: Seine Notwendigkeit kann sich nur ergeben, wenn Hegels alles integrierende und aufeinander beziehende Totalität – und nicht Fichtes alles ausgrenzende und ausmerzende Identität – geltend gemacht wird.
Um diesen Idealismus und jenes Gebot aber zur Kritik zu vereinen, mußte der Hegelschen Dialektik erst einmal die positive, teleologische Spitze abgebrochen werden. Und wirklich ist ja das Bildnis, das sich Hegel vom Geist der Totalität macht, der Staat. Der Durchbruch zur Kritik der politischen Ökonomie fand folgerichtig in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts statt.
Warum also Marx aus dem Zirkel der „innerlich abgelehnten Tradition“ religiöser Vorstellungen nicht ausgebrochen sei, wie Brumlik behauptet, ist nicht recht einsichtig oder würde zumindest voraussetzen, daß sein Begriff vom Kapital mit der Vorstellung von Gott einfach zusammenfiele. Das tut er jedoch keineswegs — und in diesem Unterschied liegt das ganze Erbe des deutschen Idealismus, das seine Kritik aufgenommen und zur Reflexion ihrer Voraussetzungen gewendet hat. Etwas anderes ist allerdings das Problem, daß der Kritiker der politischen Ökonomie aus dem Zirkel der kritisierten „realen Metaphysik“ des Kapitals nicht auszubrechen vermag, solange das Kapital selbst existiert, daß er also in der Kritik keine positiven Kategorien, keine anthropologische Substanz, keine Leitlinien einer zukünftigen Gesellschaft, eines säkularisierten Jenseits etc. entwickeln kann. Und soweit Marx das nicht akzeptieren konnte oder wollte, kehrte er zu religiösen Vorstellungen zurück und betete die Arbeiterklasse als Erlöser oder Messias an.
Marx‘ Ausbruch aus dem religiösen Zirkel wird aber gerade gegenüber einer philosophischen Richtung deutlich, die Micha Brumlik fast als Alternative beschwört: „Positiveres über die Juden (…) hatte die Philosophie des Deutschen Idealismus vorher und später nicht zu sagen“, heißt es über zwei Passagen des alten Schelling, worin die Juden als „kosmische Hülle des Zukünftigen“ und als „Vermittlungsvölker“ (direkt und indirekt) bezeichnet werden.
Schelling wiederholt jedoch bloß die Hegelsche Instrumentalisierung des Judentums, nur daß am Ende der Geschichte nicht der Staat, sondern das Reich Gottes steht: „Die Juden waren aber nur Etwas als die Träger der Zukunft, und das Mittel ward zwecklos, wie die Hülle vom Kern hinweggeweht wird. Das Volk ist sofern ausgeschlossen aus der Geschichte. … Sie sind vorbehalten dem Reiche Gottes, in das sie zuletzt eingehen sollen. Aber der Tag wird erscheinen, da sie in die göttliche Ökonomie werden aufgenommen werden.“ Da diese „Ökonomie“ aber im Unterschied zum Hegelschen Staat auf der Liquidierung von Vermittlung beruht, ist die Doppeldeutigkeit von gegenwärtigem Ausschluß und zukünftiger Aufnahme so wenig vertrauenerweckend wie der ganze preußisch-deutsche Philosemitismus. Marx hatte so unrecht nicht, als er 1843 schrieb: „Schellings Philosophie ist die preußische Politik sub specie philosophiae.“
Micha Brumlik meint zwar schlußendlich, daß weder die deutschen Idealisten als die „geistigen Vorläufer des Massenmordes an den europäischen Juden“ zu betrachten seien, noch Marx als „Urheber des sowjetischen Antisemitismus“ gelten könne. Aber er behauptet zugleich ernsthaft, daß Marx‘ Judenhaß die „Haltungen Fichtes und des frühen Hegels bei weitem“ übertroffen habe und bringt Beispiele aus der privaten Korrespondenz — etwa die groteske Darstellung Lassalles als „jüdischen Nigger“. In deren absichtsvoll stilisierter Übertreibung ist allerdings – wie fragwürdig auch immer – durchaus etwas vom komischen Charakter einer Selbstreflexion enthalten; schließlich schrieb hier einer, der sich selbst gerne mit „armer Mohr“ anreden ließ. Dennoch erwähnt Brumlik auch, daß Marx in konkreten politischen Auseinandersetzungen sich stets für die Interessen der Juden einsetzte — und das nicht nur, wenn es um taktische Vorteile ging; und bringt sogar das signifikante Detail, daß der alte Marx auf Kur in Karlsbad mit Heinrich Graetz, dem wichtigsten Historiker des Judentums, Freundschaft schloß.
Die komplizierte Situation, daß Marx einerseits der „israelitische“ Glaube „widerlich“ war, daß er andererseits aber als Denker aus einem zentralen Gebot dieses Glaubens schöpfte, allerdings vermittelt über den deutschen Idealismus, ist in der Tat schwer aufzuschlüsseln und jedenfalls im Vergleich zu Otto Weininger weniger das Thema für eine Tragödie der Verblendung als für eine Verwechslungskomödie in der Theorie. Während jener Wiener Philosoph jüdischer Herkunft Selbstmord beging, nachdem er behauptet hatte, daß „der Jude“ kein Ich (im Sinne Fichtes) besitze, kam Marx zu dem Ergebnis, daß es ohnehin nur ein einziges Fichtesches Ich gibt: das „automatische Subjekt“ des Kapitals.
Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand 2000. 351 Seiten
Wenn die Arbeitsgemeinschaft »Psychoanalyse und Kultur« in der 1910 gegründeten und noch immer — wie der Name bezeugt — im Lande ansässigen »Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft e. V. (DPG)« unter dem Titel »Psychoanalyse im Exil« am 24. und 25. Oktober 1998 zu einer Tagung nach Frankfurt am Main einlädt, darf eine interessierte Öffentlichkeit auch jenseits der therapeutischen Spezialistengruppe gespannt sein, was sich hinter dem Paradox dieser Ankündigung verbirgt. Der Vorsitzende des Dachverbandes, Herr Prof. Dr. disc. pol. Jürgen Körner, und der Leiter der Arbeitsgruppe, Herr Dr. med. Günther Schmidt, zeichnen verantwortlich für eine kurze, dem Programm vorangestellte Einführung in die Thematik, die hier, ganz in der Tradition meines werten Namensvetters Karl, in ihren drei Hauptpassagen zitiert zu werden verdient:
»Am 5.5.1938, also vor etwa 60 Jahren, wurde Sigmund Freud aus Wien vertrieben. Um dem Terror der Nationalsozialisten zu entfliehen, mußte er wider Willen jenes Schicksal auf sich nehmen, zu dem auch viele andere jüdische Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in Berlin und in ganz Deutschland gezwungen worden waren und das zum Ausbluten der Psychoanalyse in Deutschland geführt hatte: Exil.
Das Datum des 5.5.1938, das in besonders markanter Weise für die Vertreibung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen — viele Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft — steht, ist für die DPG Anlaß zu einer Tagung, auf der die vielfältigen Aspekte der »Psychoanalyse im Exil« referiert und diskutiert werden sollen. Wir werden den verzweigten Fluchtwegen ins erzwungene Exil nachgehen, uns die unendlichen administrativen und persönlichen Schwierigkeiten vor Augen führen, welche die Exilsuchenden zu überwinden hatten, die Belastungen für die aufnehmenden Kollegen und Fachgesellschaften nachempfinden und auch die Frage nach dem Wissenstransfer und seinen Folgen aufwerfen.
Die Referenten haben sich mit den angesprochenen Fragestellungen speziell befaßt. Wir können eine Reihe von informativen und anregenden Vorträgen erwarten.«
Wertvoller als ein Gedanke ist — nicht nur in der Psychoanalyse — be-kanntlich oft das, was, wie dieser Text, zu denken gibt, auch wenn er auf diese Weise womöglich ernster genommen wird, als es den Verfassern lieb sein mag. Merkwürdig schon der Anfang als Versuch, die Vertreibung Freuds durch die Nationalsozialisten auf den Punkt des Datums zu bringen, an dem schließlich seine persönliche Ausreise erfolgte. Aber offenbar bedurfte dieses Verfahren sogar der besonderen Akzentuierung durch Wiederholung, denn auch der zweite Abschnitt beginnt mit der nämlichen Feststellung jener Tagesangabe, um sie dann zum Symbol für die Vertreibung zahlreicher, nun als Kolleginnen und Kollegen (Plural hat kein Geschlecht. Anm. JSB) angesprochenen jüdischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker zu stilisieren. Es wäre unzureichend und könnte als kleinlich gelten, wollte man allein auf den sachlichen Fehler hinweisen, der im Zusammenhang einer solchen Betonung zwar peinlich sein mag, aber wahrscheinlich einem etwas schludrigen Nachschlagen in der Standardbiographie bei Jones (1960) geschuldet sein dürfte. Dort findet sich im III. Band auf S. 267 die Angabe 5. Mai für die Abreise von Minna Bernays und Dorothy Burlingham aus Wien, während die folgende Seite für Freud den 4. Juni nennt.1[ii] Da es sich bei dem Verlesen um ein Exemplar aus der Psychopathologie des Alltagslebens handelt, dürfen wir fragen, ob hier der unbewußte Wunsch den Gründungsvater und seine jüdisch-wissenschaftlichen Nachkommen nachträglich früher in Sicherheit wissen oder schneller verbannt sehen will. Wie auch immer, das seiner Beliebtheit zum Trotz fragwürdige, weil remythologisierend an zirkulärer Zeit orientierte Ritual, Erinnerung über runde Jahrestage zu beschwören, verfehlt Freud — sieht man von dessen lebenslangem Kampf gegen den eigenen Hang zum Zahlenokkultismus einmal ab — in jeder Hinsicht.
Der Lapsus im Detail der Fakten findet seine weit bedenklichere Fortsetzung in der Sprache der sich an exponierter Stelle als Psychoanalytiker ausweisenden Autoren, sind doch genaues Hinhören, das Lesen zwischen den Zeilen, nicht zuletzt die eigene Wortwahl das primäre Medium eines Handwerks, das Kunst genannt zu werden in diesem Falle leider nicht verdient.Zunächst einmal befremdet, »viele andere« und »zahlreicher« zu lesen, wo es doch ausnahmslos alle jüdischen Analytiker waren, die früher oder später in die Emigration gehen mußten und selbst dort noch zum Teil ermordet wurden. Wenn dann die massenhafte Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten ins Exil als »Schicksal« bezeichnet wird, so kann es dafür natürlich im menschlichen Bereich keine Verantwortlichen und somit Schuldigen oder zumindest durch passive Duldung Mitschuldigen geben, denn Schicksal ist ja ein »von einer höheren Macht über jmdn. Verhängtes, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignendes« (Duden), »das insgesamt alles Seienden, was das Dasein eines Menschen, eines Volkes usw. beeinflußt und bestimmt, aber nicht von Menschen geändert werden kann« (Schmidt, 1978, S. 591). Solche Verwendung des Schicksalsbegriffs ist nicht zufällig eine bis heute im Nachkriegsdeutschland ebenso gedankenlos wie gewohnheitsmäßig verbreitete Rechtfertigungsphrase. Sie entspringt eben jener sich bis in die germanische Stammesmentalität zurückschreibenden Tradition der politischen Romantik, die sich just da dubiosen Ursprungs- und Übermächten anvertrauen möchte, wo ihr der Gang der Geschichte im komplex rationalisierten gesellschaftlichen Zusammenhang gänzlich undurchschaubar wird.2[iii] Dem positivistischen Fetischismus der Daten dort, deren von Menschen Gemachtes — lat. dare »geben« — weder gesehen noch benannt wird, korrespondiert exakt die Mystifizierung des Grundes hier. Daher gehört das Schicksalsgerede auch essentiell zur »Lingua Tertii Imperii«, zu der von Victor Klemperer so genannten »Sprache des Dritten Reiches«: »Jahrelang erscheint die Vorsehung, die ihn [Hitler, A. d. V.] auserwählt hat, in fast jeder Rede, fast jedem Aufruf. Nach dem Attentat am 20. Juli 1944 ist es das Schicksal, das ihn bewahrt hat, …« (Klemperer, 1957, 5.119) — nun, und andere eben getroffen. Wie sagte doch Shakespeare durch Edmund: »Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß wenn wir an Glück krank sind — oft durch die Übersättigung unsres Wesens —, wir die Schuld unsrer Unfälle auf Sonne, Mond und Sterne schieben, als wenn wir Schurken wären durch Notwendigkeit, Narren durch himmlische Einwirkung, Schelme, Diebe und Verräter durch die Übermacht der Sphären, Trunkenbolde, Lügner und Ehebrecher durch erzwungene Abhängigkeit von planetarischem Einfluß und alles, worin wir schlecht sind, durch göttlichen Anstoß. Eine herrliche Ausflucht für den Liederlichen, seine hitzige Natur den Sternen zur Last zu legen! « (Shakespeare, König Lear, 1. Aufzug, 2. Szene.)
Freud spricht von Schicksal als Deckbegriff für die Schädigung des Einzelnen durch »die unbezwungene Natur« (Freud, 1927c, S. 337) und stellt einen Zusammenhang mit den traumatischen Kriegsneurosen her, bei denen ein »äußerer Reizschutz durchbrochen wird und übergroße Erregungsmengen an den seelischen Apparat herantreten« (Freud, 1926d,S.160.), wobei »die Todesangst als Analogon der Kastrationsangst aufzufassen ist, und daß die Situation, auf welche das Ich reagiert, das Verlassensein vom schützenden Über-Ich — den Schicksalsmächten — ist, womit die Sicherung gegen alle Gefahren ein Ende hat« (ebd.). Hitler hatte sich ab 1933 auch den >arischen< Analytikern kurzfristig als der mächtigere Vater erwiesen und zugleich als rebellisches Bruderhordenmitglied empfohlen, also eine geschickte Double-bind-Lösung des Ödipuskomplexes angeboten. Insofern kann in dem vordergründig beklagten Verlust der >jüdischen Psychoanalyse< und ihres Patriarchen die unbewußte und magisch exekutierte Absicht verstanden werden, »etwas dem Schicksal zu opfern, um einen anderen gefürchteten Verlust abzuwehren. Solche Schicksalsbeschwörungen sind nach der Aussage der Analyse unter uns noch sehr häufig, unser Verlieren ist darum oft ein freiwilliges Opfern. Ebenso kann sich das Verlieren in den Dienst des Trotzes und der Selbstbestrafung stellen« (Freud, 1916-17a, S. 73). »Man verliert eine Sache, wenn […] sie aufgehört hat einem lieb zu sein, wenn sie von einer Person herrührt, zu der sich die Beziehungen verschlechtert haben, oder wenn sie unter Umständen erworben wurde, deren man nicht mehr gedenken will. Demselben Zweck kann auch das Fallenlassen, Beschädigen, Zerbrechen der Sache dienen« (ebd.). Freud, der uns —wie nur Kopernikus und Marx — harte Gesetze enthüllt und durch schmerzhafte Wahrheiten gekränkt hat, die viele selbst seiner professionellen Jünger nur allzu gerne wieder loswerden würden, soll zum repräsentativen Opfer des Schicksals gekürt werden, das sie ihm selbst bereitet. Er hat ein solches projektives Verhalten als unabgelöste Fixierung an die Eltern in der Verschiebung des Ödipuskomplexes beschrieben: »Die letzte Gestalt dieser mit den Eltern beginnenden Reihe ist die dunkle Macht des Schicksals, welches erst die wenigsten von uns unpersönlich zu erfassen vermögen« (Freud, 1924c, S. 381).
Wie ein >fatales< Wort das andere mit determinierter Sicherheit aus dem unbewußten Zusammenhang zieht, zeigt sich an der nächsten Stilblüte der Einladungsschreiber, denn nach diesen zeichnen die Nornen (römische Parzen und griechischen Moiren. Anm. JSB) nun auch noch verantwortlich für »das […] Ausbluten der Psychoanalyse in Deutschland«. Ein der Freudschen Wissenschaft verlorener, dem Schicksal geopferter »ganz besondrer Saft«, durch den der Teufelspakt mit den Nationalsozialisten besiegelt wird, macht den mumifizierten Rest zur »Deutschen Psychotherapie« im »Reichsinstitut für psychologische Forschung« der bis auf eine Ausnahme3[iv] verbliebenen >arischen<Kollegen.Dem anschließenden kruden Massenmord an allen, die nicht mehr fliehen konnten, wird so, wie schon im Begriff des Holocaust (gr. holocaütoma = »Brandopfer«), nachträglich erneut das Mäntelchen religiöser Weihe und damit Opferrationalität umgehängt. Hier nun sind wir ganz in die Zweideutigkeit der Opferkulte eingetaucht, die der Faschismus so massenwirksam zu inszenieren vermochte. Daß ausgerechnet die mit dem jüdischen Schlachtritual des Schächtens verbundene Vorstellung einer koscheren Trennung von Blut und Fleisch aufgeboten wird, um die Psychoanalyse als Passahlamm zu charakterisieren, muß vor diesem geschichtlichen Hintergrund besonders zynisch wirken, zumal es der im Namen von Gerechtigkeit und Liebe erhobene Protest der alttestamentarischen Prophetie4[v] gegen obsolete Opfer ist, welcher als kritische Schubkraft die westliche Aufklärung bis heute speist.
Nachdem im Auftakt der Köder des Politisch-Geschichtlichen so ins Magisch-Ontologische verflüchtigt wurde, schreiten die Autoren selbstbewußt zur Ausführung der geplanten, aber schon als garantiert suggerierten Tagungsaktivitäten, nicht ohne sich nun gänzlich in der kollektiven Symptomatik, wie sie die Wiederkehr des Verdrängten mit sich bringt, zu verheddern und so zu verraten. Mit 60 Jahren Verspätung wollen sie nun endlich die seinerzeit gebrochene Solidarität mit den Emigranten wiederherstellen und ihren »Fluchtwegen […] nachgehen«, und zwar ins »erzwungene Exil«, ein Pleonasmus5[vi], der offensichtlich die Vorstellung nahelegen soll, es gäbe auch ein >gewünschtes Exil<. Und tatsächlich, noch im gleichen Satz gleitet der Signifikant elegant ins Ziel: nachdem zunächst »die unendlichen administrativen und persönlichen Schwierigkeiten vor Augen« geführt werden und wir uns fragen, ob das eine wohl etwas mit dem anderen zu tun haben könnte und beides gar bis heute andauert, sind unter der Hand aus den eben noch übertrieben tautologisch als >Zwangsverbannten< apostrophierten Flüchtlingen plötzlich »Exilsuchende« geworden — offenbar ein Beitrag der im wiedervereingten Deutschland aktuellen >Asyldebatte< zum Unbewußten des Einladungstextes. Die Parallele drängt sich auf: so wie die staatlichen Gewalten heute, im Verein mit dem >gesunden Volksempfinden< der schweigenden Mehrheit, den hierzulande Asyl suchenden Menschen den Fluchtgrund der politischen Verfolgung durch Terrorregime möglichst zu bestreiten suchen, um sie ruhigen Gewissens als unerwünschte Bewerber um knappe Arbeitsplätze abschieben zu können, so sind wohl auch damals die jüdischen Konkurrenten6[vii] nicht hinausgetrieben worden, sondern haben die Emigration eben gesucht, das Exil also sich selbst zuzuschreiben. Der von Ernest Jones und Felix Boehm nach der Sitzung der DPG am 1. Dezember 1935 in Berlin lancierte und seitdem von Kemper7[viii] bis Dührssen (1994) immer wieder gerne zur Entlastung kolportierte Mythos, dem zufolge »die wenigen« — das waren 18, ca. die Hälfte der damaligen Mitglieder — »in Deutschland verbliebenen jüdischen Analytiker den Beschluß faßten, aus der DPG auszutreten« (Boehm, 1951, S. 3 f.), also »freiwillig ihren Rücktritt nahmen« (Jones, 1960, S. 223), findet hier per Fehlleistungskette seine unsägliche, erweiterte Fortschreibung.
So wenig zufällig all diese Ausrutscher sind, die von dem verdrängten Schuldzusammenhang mit scheinbar unwiderstehlicher Macht evoziert werden, so sehr dürften sie dem bewußten Kalkül einer Vereinsführung widersprechen, die das bislang in allen Fachgesellschaften eher heikle Thema nun plötzlich zum Gegenstand einer offiziellen Tagung macht. Die Hoffnung der Funktionäre wird sein, das Prestige der Aufklärung und Tabubrüche zu einer Zeit vereinnahmen zu können, da es aufgrund eines Generationenwechsels in den von extremer persönlicher Abhängigkeit und hierarchischen Machtverhältnissen geprägten psychoanalytischen Institutionen nicht mehr wirklich gefährlich ist, an die alten Wunden zu rühren. Wenn es wie so oft gelänge, den in der Verdrängung frisch erhaltenen Konflikt zu historisieren, also »nachzuempfinden«, statt in der aktuellen Übertragung auf die Gegenwart durchzuarbeiten, könnte die »Psychoanalyse im Exil« gehalten werden, in dem sie in den Therapieverbänden, die kaum mehr als ihren Namen ausnutzen, seit nunmehr 60 Jahren darbt. Die vorherrschende theoretische und praktische Verbannung der kritischen Freudtradition könnte unangetastet bleiben und die medizinalisierte Heilung auf Krankenschein ließe sich bruchlos in die ›In-Formations-Gesellschaft‹ überführen. Während diealltägliche Praxis an den Ausbildungsinstituten die psychoanalytischen Essentials wie Triebtheorie und Sexualität eher leugnet als lehrt, neigt man bei den inflationär zunehmenden, festlichen Tagungen notgedrungen zu Daueranleihen an ihrer nach wie vor ungebrochenen Faszinationskraft.
Gegen solch hegemonistischen Konformismus einer organisierten Kongreßkultur steht glücklicherweise die Widerständigkeit eines Unbewußten, das sich im Mißlingen von Einladungstexten hartnäckig der Kolonisation entzieht. So beantwortet sich die aufgeworfene »Frage nach dem« — wie es in trefflicher Analogie zur Technologie in schönstem Neudeutsch heißt — »Wissenstransfer« schon durch die beiden vorangestellten Freud-Zitate, die aus Briefen genommen ganz privat wirken. Auf der Titelseite lesen wir: »… zwei Aussichten erhalten sich in diesen trüben Tagen: Euch alle beisammen zu sehen und — to die in freedom«. Vielleicht kann man im Rahmen praktischer Organisationsarbeit nicht mehr verlangen als ein weiteres flüchtiges Nachschlagen im Standard-Sekundärtext bei Jones, der das Zitat immerhin noch als vollständigen Satz mit Großschreibung am Anfang und Punkt am Ende wiedergibt sowie die englische Redensart nach dem Gedankenstrich kursiv setzt.8[ix] Da es sich in der deutschen Ausgabe der Freud-Biographie aber um eine Rückübersetzung des Briefes an Sohn Ernst vom 12. 5. 1938 aus dem Englischen handelt, wurde der originale Wortlaut entstellt, der da lautet: »Zwei Aussichten erhalten sich in diesen trüben Zeiten, Euch alle beisammen zu sehen und — >to die in freedom<.« (Freud, 1960a, S.459.) Freud dachte hier, wie der anschließende Selbstvergleich mit dem alten Jakob zeigt, bezüglich der betrüblichen Verhältnisse eher in biblischen Zeiträumen denn in tagespolitischer Aktualität. Trübe Zeiten — das ist eine Spanne, die — ebenso wie das Exil der von ihm begründeten Wissenschaft — gerade infolge des verdrängten nationalsozialistischen Terrors bis heute andauert. Daß die im deutschsprachigen Raum einst blühende Psychoanalyse nach dem Krieg in ihren eigenen Reihen weitgehend steril geblieben ist (weil entmannt. Anm. JSB) und alle zählenden, d. h. nicht im verflachenden Sinne wirkenden, also wahrhaft innovativen Impulse von der Kleinianischen Schule in England ausgingen, ist ja kein Zufall. Darf man mithin auch in der Wahl des verhunzten Zitats den Wunsch nach der Aussicht deuten, die Freudianer mögen draußen beisammen bleiben und Freud in Freiheit sterben? Zumindest das Lesen und somit Beleben seiner Originaltexte erfreut sich ja hierzulande unter Kassenanalytikern keiner großen Beliebtheit. Begrüßenswert daher die Wiedergabe einer zweiten kleinen Freud-Passage, diesmal aus einem Brief an Minna Bernays vom 26. 5. 1938. Unter erneuter Mitwirkung des in diesem Zusammenhang scheints unvermeidlichen Tippfehlerteufels lesen wir im Innern des Faltkartons als Motto des Einladungstextes: »Alles ist in gewissem Sinne [statt: Sinn] unwirklich. Wir [statt: unwirklich; wir] sind nicht mehr hier und noch nicht dort.« (Freud, 1992, S. 423.)
Nun, Freuds Diktum hat an Aktualität nichts eingebüßt, die Situation seiner Psychoanalyse in Deutschland ist durch die geschichtliche Katastrophe in gewissem Sinn unwirklich geblieben, nichts ist danach mehr wie zuvor, und zu einem »Anfangen mit Freud« (Heinrich, 1977) ist es, zumindest institutionell, noch ein weiter Weg. Den Vortragenden und Teilnehmern der Tagung wäre, dem Fauxpas der Einladung entgegen, zu wünschen, daß es ihnen gelingen möge, ein wenig dazu beizutragen, einen großen Entwurf der Aufklärung aus dem Exil in unser Land zurückzurufen.
(Anschrift der Verf.: Judith Kraus, c/o Dr. K. Honsel, Bismarckstr. 19,10625 Berlin)
B IBLIOGRAPHIE
Boehm, F. (1951): Bericht über die Ereignisse von 1933 bis zum Amsterdamer Kongreß. In: DPG gegr. 1910. Dokumente zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland 1933— 1951,1-16.
Bohleber, W. (1994): Zur romantisch-idealistischen Freudrevision deutscher Psychoanalytiker nach 1933. Vortrag am 23. Juli 1994, Berlin, Tagung der Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Psychoanalyse.
Dräger, K. (1971): Bemerkungen zu den Zeitumständen und zum Schicksal der Psychoanalyse und der Psychotherapie in Deutschland zwischen 1933 und 1949. Psyche, 25,255— 268.
Dührssen, A. (1994): Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung in Deutschland. Die Psychotherapie unter dem Einfluß Freuds. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Freud, S. (1916-17a): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Die Fehlleistungen. GW XI, 5-76.
(1924c): Das ökonomische Problem des Masochismus. GW XIII, 371-383.
(1926d): Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, 111-205.
(1927c): Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, 325-380.
(1960a): Briefe. Hg. v. E. Freud und L. Freud. Frankfurt/M. (Fischer) 1968.
Heinrich, K. (1977): Reden und kleine Schriften, 1. Anfangen mit Freud. Basel/Frankfurt/M. (Stroemfeld/Roter Stern).
Jones, E. (1957): Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 3. Bern (Huber) 1962.
Kemper, M. H. (1973): Selbstdarstellung. In: L. J. Pongratz (Hg.) (1973): Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Bern/Stuttgart/Wien (Huber), 259-345.
Klemperer, V. (1957): LTI. Leipzig (Reclam) 1996.
Lohmann, H.-M., und L. Rosenkötter (1983): Psychoanalyse in Hitlerdeutschland. Wie war es wirklich? Ein Nachtrag. Psyche, 37, 1107-1115.
Schmidt, H. (1978): Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart (Kröner).
Schur, M. (1972): Sigmund Freud, Leben und Sterben. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1977. Shakespeare: König Lear. Übersetzt von W. Graf Baudissin. Reclam (Stuttgart).
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 4. 6. 1998.
[ii] 1 Vgl. Freud (1992): 5. Mai 38 »Minna ausgereist «, 5.419, und 4. Juni 38 »Abreise 3h25. Orient.Express «, S. 424.
[iii] 2 Unter zahllosen Beispielen sei hier eines aus der Vermarktung der Filmkunst herausgegriffen: Louis Malles meisterliche Variation auf den Ödipusmythos von 1992, die im englischen Orginal Damage hieß, also »Beschädigung, Nachteil, Verlust, Havarie«, kam im deutschsprachigen Raum unter dem bezeichnenden, die Mentalität des Publikums realistisch hofierenden Verleihtitel Verhängnis in die Kinos.
[v] 4 Hosea 6.6: »Liebe will ich, nicht Schlachtopfer,/ Gotteserkenntnis statt Brandopfer.«
[vi] 5 »Exil, das: langfristiger Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, das auf Grund von Verbannung, Ausbürgerung, Verfolgung durch den Staat od. unerträglichen politischen Verhältnissen verlassen wurde« (Duden, Bd. 8).
6 »Boehm äußerte sich nach dem Krieg in einer Sitzung der psychoanalytischen Gruppe vom 7. 8. 1945, daß er immer unter dem Übergewicht der Juden gelitten habe (Lockot, 1985, 5.141).« In: W. Bohleber: Zur romantischidealistischen Freudrevision deutscher Psychoanalytiker nach 1933. Vortrag am 23. Juli 1994, Berlin, Tagung der Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Psychoanalyse, S. 5.
[viii] 7 Vgl. Kemper, 1973. Bei Carl MüllerBraunschweig begegnet die nämliche Argumentation in Hinblick auf das »angeschlossene« Österreich: »Nach dem Rücktritt (!) der jüdischen Mitglieder ist die Wiener Psychoanalytische Vereinigung in der Deutschen Psycho¬analytischen Gesellschaft aufgegangen.« Brief an Richard Sterba vom 4.5.38, zit. nach: Lohmann und Rosenkötter, 1983, S. 1113.
[ix] 8 Jones, 1957, Bd. 3, S. 267. Bei Max Schur übrigens korrekt zitiert, vgl. Schur, 1972, S. 587.
Übersicht: Mit Hilfe der Psychotechnik der »Derealisierung« zog sich die dem Hitlerregime gegenüber loyale Bevölkerungsmehrheit 1945 aus ihrer historischen Affäre. Derealisierung einer ganzen Etappe der Kollektivgeschichte und der damit verknüpften Phase der individuellen Lebensgeschichte ersparte ihr die Arbeit der Selbstveränderung und öffnete den Weg zu bewußtloser Wiederholung. Bei den nicht endenden Auseinandersetzungen mit Tätern und Mitläufern geht es vor allem darum, die »Normalität« der Derealisierung zu bestreiten.
»’Das habe ich gethan< sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächtniss nach.«
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), S. 86**[ii]
»Derealisierung« heißt die Psychotechnik, mit deren Hilfe sich die mit dem Nazi-Regime identifizierte deutsche Bevölkerungsmehrheit 1945 aus ihrer historischen Affäre zog. Wer einen Teil seiner Lebensgeschichte post festum für »unwirklich« erklärt, das heißt, so tut, als habe es sich dabei nur um einen fatalen Alptraum gehandelt, der zieht aus der von ihm behaupteten »Absenz« den Vorteil, daß er sich keiner Schuld oder Mitschuld mehr bewußt zu sein braucht. Wer kann schon für seine Träumerei?! Anschuldigungen anderer, Opfer oder Zeugen, wird er souverän als ihn nicht betreffend abweisen. Vor allem aber erspart er sich selbst Veränderungen. Die Virtuosen der Derealisierung bleiben stets die, die sie waren. Wandeln sich die politischen Regime samt der herrschenden Meinung, so reagieren sie, indem sie diejenigen Passagen im Text ihrer Biographie, die zu den neuen Zensurbestimmungen nicht passen, einschwärzen oder die entsprechenden Seiten aus dem Buch der Lebensgeschichte einfach herausreißen. Die radikalste Derealisierungs-Strategie haben Täter vom Typus Klaus Barbie oder John Demjanjuk gewählt, die, Jahrzehnte nach ihren Mörderjahren endlich ergriffen und vor Gericht gestellt, eisern daran festhielten, sie seien nicht die, für die man sie halte. Barbie erklärte seinen Lyoner Richtern, das Verfahren gegen ihn sei unsinnig, da er nicht Barbie, sondern Klaus Altmann heiße; der in Israel zum Tode verurteilte Demjanjuk ließ Berufung einlegen, da er nicht mit dem Lageraufseher, den die Häftlinge einst »Iwan den Schrecklichen« nannten, identisch sei… Sehr viel häufiger stößt man freilich auf die gemäßigte, die Mitläufer-Variante der Derealisierung: Die heikle, miterlebte Epoche wird desaktualisiert, die personale Präsenz in ihr aus der Erinnerung getilgt. Erweist sich die einfachste Ausflucht — »Ich war nicht anwesend« — als unhaltbar, so folgt die Schutzbehauptung: »Ich war nicht informiert, habe weder etwas gehört, noch etwas gesehen.« Wird auch das widerlegt, gibt es noch den Rückzug auf die Position: »Ich habe jedenfalls nichts Unrechtes gesagt, geschrieben, getan.« Dieser Mitläufer Typus wird »klassisch« von Kurt Waldheim, dem österreichischen Staatspräsidenten, verkörpert. Die sehr unterschiedlichen »Fälle« Barbie und Waldheim haben so viel öffentliches Interesse auf sich gezogen, weil sie typische Formen der Vergangenheits-»Bewältigung« repräsentieren. In Deutschland und Österreich gab und gibt es Tausende von Barbies und Hunderttausende von Waldheims. Viel zu viele von ihnen bezeugen mit ihrer Nachkriegskarriere, daß »Experten« (nicht nur Raketentechniker, sondern auch Folter-Spezialisten) immer gebraucht werden — wenn nicht hier, dann anderswo. Ihre Lebensläufe beweisen, daß Menschen mit solcher Vergangenheit auch über Regimewechsel wie den von 1945 hinweg Angehörige der Macht-»Elite« bleiben, ja, höchste Ämter bekleiden, und daß sich die Bürger der Nachkriegsrepubliken damit abgefunden haben, von »false personalities«, Somnambulen und Revenants regiert und vertreten zu werden. Bei den nicht endenden Auseinandersetzungen um all die Globkes, Filbingers, Höfers, Waldheims etc. geht es vor allem darum, die Normalität der Derealisierung zu bestreiten, darum, die kollektive Amnesie als die in den Nachkriegsjahrzehnten vorherrschende Psychopathologie des Alltagslebens kenntlich zu machen.1[iii]
Derealisierung war für die Mehrheit der einfachste Ausweg aus der Kalamität des »Zusammenbruchs«; er erwies sich auch als der verhängnisvollste. Deutschland wurde dadurch zum Land des großen Vergessens. Wer den Fluchtweg der Derealisierung einschlägt, »erspart« sich das politisch-psychologische Lernen – die Identitatsarbeit – durch Spaltung der Person und Petrifizierung (Versteinern Anm. JSB) des Abgespaltenen. Die nach den Diktatur- und Kriegsjahren fällige radikale Revision von Lebenspraxis und ≫Weltanschauung≪ wurde von der Mitläufer-Mehrheit verweigert. Dadurch wurde die Mentalität, die den Unterbau auch der NS-Ideologie abgegeben hatte, (als die rot-rot-grüne Mehrheit Anm. JSB) konserviert.
Die Derealisierung verleiht den Menschen, die ihre Vergangenheit verleugnen und darum von ihr nicht freikommen, eine erstaunliche Rigidität.
Auch wenn ihre Lage gänzlich unhaltbar wird, klammern sie sich an die selbstgeschaffene Legende, an Posten und Einfluß. Sie gehen nie freiwillig; man mus sie hinauswerfen. Weil die vielen Täter und Mitläufer sich die Selbstveränderung durch Derealisierung erspart haben, leben wir mit dem Risiko, das, wenn nicht alles, so doch zu vieles von dem, was sie einst über ihre Opfer brachten, sich wiederholt. Je deutlicher die Symptome solcher Wiederholung (etwa in den jüngsten Manifestationen von Antisemitismus und, allgemeiner, von Xenophobie in der Bundesrepublik und in Österreich) sich geltend machen, desto mehr Energien werden kompensatorisch für die Intensivierung der Derealisierung aufgeboten (zum Beispiel im sogenannten ≫Historiker-Streit≪). Und je energischer die NS-Vergangenheit derealisiert (≫historisiert≪) wird, desto häufiger tauchen in der Tagespolitik Zitate und Reprisen aus der alten bösen Zeit auf.
Die davongekommenen Opfer der Verfolgung sind in der Regel stigmatisiert, oft krank. Ihr Leiden, als ≫Survivor-Syndrom≪ umschrieben, geben sie noch an Kinder und Kindeskinder weiter. Die Täter hingegen, einst gläubige Anhänger der NS-≫Weltanschauung≪ (also einer Staatsreligion) und privilegierte Exekutoren der Macht, sind durch ihre Untaten nicht traumatisiert worden. Wie die vielen Mitläufer können auch sie nachts gut schlafen und erfreuen sich oft bester Gesundheit bis ins hohe Alter. Derealisierung bringt die Stimme des Gewissens dauerhaft zum Schweigen. Die Nazi-Täter halten ≫verstockt≪ an der einmal (kollektiv) vollzogenen Derealisierung und den damit verbundenen enormen Vorteilen fest; sie bekennen nichts und bereuen nichts. Warum sollte einer auch vor Verbrechen erschrecken, die, als er sie beging, gar nicht als solche, sondern eher als ≫Heldentaten≪ galten, und die nun seit langem für sein und seiner Generationsgenossen Bewustsein einer längst versunkenen Traumzeit angehören?
Die psychoanalytische Theorie führt die Derealisierung unter den Namen ≫Verleugnung≪ und ≫Ungeschehenmachen≪ im Arsenal der Abwehrmechanismen auf. Der psychische Prozes der Derealisierung kann als eine Umkehrung desjenigen verstanden werden, der zu einer Halluzination führt. Der Halluzinant bildet eine Wahnvorstellung der Wirklichkeit ein, spricht ihr die Qualität des »Realen« zu. Der Derealisierer hingegen behandelt eine Phase der Kollektivgeschichte und der darein verstrickten eigenen Lebensgeschichte wie ein Phantasma. Beide Vorgänge gehören in den Umkreis psychotischer Störungen; als »Massenwahn« (bzw. »Massen-Psychopathologie« im Sinne von Ernst Simmel) lassen sich sowohl der (staatlich stimulierte) Antisemitismus wie die ihm folgende Derealisierung kennzeichnen. Mit Hilfe der Halluzination und ihres Reversbildes, der Entwirklichung, wird eine mißliebige Realität getilgt und durch ein Wunschbild ersetzt. Im Fall der Derealisierung der Hitler-Ära durch die Pro-Nazi-Generation erscheinen die zwölf Diktatur- und Kriegsjahre als weißer Fleck oder — wie schon in der NS-Propaganda — als (heroisch verteidigte) Idylle. Im Hinblick auf das von den Regime Treuen als »Zusammenbruch« erlebte Ende der Volksgemeinschafts-Diktatur war von einigen Sozialpsychologen erwartet worden, die an Hitler gebundene Masse werde beim Tode des Diktators panikartig auseinanderstieben. Das ist nicht eingetreten. Sie hat sich vielmehr dem neuen Diktat der Siegermächte gefügt, sich geduckt, von heute auf morgen die Identität gewechselt und sich in die Derealisierung geflüchtet.In dem besetzten Land gab es außer einigen wenigen, die, wie Himmler, auf der Flucht ergriffen wurden, keine Täter, keine Nazis, keine Verantwortlichen. Wer das Kriegsende erlebt hat, hat auch die Derealisierer bei der Arbeit gesehen. In den Nächten vor der Besetzung durch die westlichen oder östlichen Armeen entfalteten die »Belasteten« und die »Mitläufer«, die offiziell und bei Tage noch an den »Endsieg« glaubten, eine fieberhafte Aktivität: Fahnen, Dokumente, Briefe und Akten, »Mein Kampf« und »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« gingen in Flammen auf; Parteiabzeichen und Orden wurden in Puppenköpfe eingenäht oder vergraben. Die »Entnazifizierung« war eigentlich schon vollbracht, noch ehe der erste Jeep oder Panzer mit fremden Soldaten durch die Straßen fuhr. Die Angst, die damals zur Selbst-Entnazifizierung und Derealisierung trieb, bezeugte das allgemeine Wissen von den Untaten des Regimes, das schlechte Gewissen der aktiven und passiven Mitglieder der NS-»Volksgemeinschaft«. Wie werden die Sieger die Besiegten behandeln? Wird sich die Derealisierung durchhalten lassen? Und was werden die in Freiheit gesetzten, verschleppten Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangenen tun, was erst die Überlebenden aus den Konzentrationslagern, diese unheimlichen Zeugen der verleugneten Untaten, diese gemiedenen, stigmatisierten Schreckgespenster?
Hitler und die ihm verschworene Massenbewegung hatten die »Volksgemeinschaft« vor allem als eine Mord- und Schuldgemeinschaft realisiert. Auch das unterliegt der Verleugnung, wie die überaus heftige Abwehr der sogenannten »Kollektivschuld-These« zeigt. Die NS-Schuldgemeinschaft aber mutierte — im Augenblick des »Zusammenbruchs« des Regimes — zu der Verleugnungs- und Lügengemeinschaft der Nachkriegszeit. Den Kindern wurden im Frühjahr 1945 ihre Kriegsspiele verboten; die braune Folklore, mit der sie aufgewachsen waren, war plötzlich verpönt. Kein Arm hob sich mehr zum Hitlergruß, als hätte eine plötzliche Lähmung die Menschen befallen. Die Uhren wurden angehalten — nicht zurückgedreht, nicht vorgestellt, sondern in eine fiktive Nullstellung gebracht, als gelte es einen Neuanfang. Der militärisch erzwungene Regime- und Ideologiewechsel verhüllte vielen Zeitgenossen das, was im Wandel der Verhältnisse identisch blieb: Personen, Mentalitäten, Interessen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Eine kleine Gruppe von »Kriegsverbrechern« wurde gehängt bzw. eingesperrt, die Doppel-Hymne des »Dritten Reichs« wurde halbiert (und die verbliebene Hälfte noch einmal gedrittelt), die alten Kader blieben in Amt und Reserve, gern wurden faschistische Böcke zu Gärtnern der frisch importierten parlamentarischen Demokratie gemacht.
Seit 1945 leben wir in Deutschland auf einem Schindanger.Politiker und Ideologen, die die Mehrheit der Derealisierer repräsentieren, planieren und überbauen die Ruinen, schütten die Folterkeller zu. Die an der Führung der politischen und sonstigen ideologischen Geschäfte lange nicht beteiligte linke Opposition, »Erbe« der Opfer von gestern, gräbt die verleugnete Vergangenheit aus und stört mit solcher Archäologie (»Nestbeschmutzung«) den Frieden der insgeheim fortbestehenden »Volksgemeinschaft«.Die vorläufig letzten Manifestationen dieser andauernden Auseinandersetzung um Aufdeckung oder Verdeckung der Vergangenheit — und das heißt um Kritik oder Apologie der Gegenwart — waren der Streit um das in Bonn geplante »Mahnmal« für alle Kriegstoten und »Opfer«, die »Wiederentdeckung« der Berliner Gestapo-Zentrale und die Kontroverse um den Frankfurter Börne-Platz (wo einst das Juden-Ghetto lag und wo die von Max Beckmann gemalte, von den Nazis verbrannte große Synagoge stand).
»Auschwitz« ist zum Symbol der von den Nazis eingerichteten Konzentrations-, Zwangsarbeits- und Vernichtungslager geworden, die der Separierung und Eliminierung jener nach Millionen zählenden Menschengruppen dienten, die der »Volksgemeinschaft« nicht integrierbar schienen und für die in dem projektierten Großreich vom Atlantik bis zum Ural kein Platz vorgesehen war: der politischen Gegner, der Juden, der russischen Kriegsgefangenen, der Polen, der Frauen und Männer aus Widerstand und Résistance, der als »lebensunwert« deklarierten Kranken, der Zigeuner, der Homosexuellen und anderer. Was mit den Novemberpogromen von 1938 begann, mit den Mordaktionen an Juden und Polen seit September 1939, mit der »Euthanasie«-Aktion von 1940 und — nach dem Einmarsch in die Sowjetunion — mit den inszenierten Pogromen im Baltikum und in der Ukraine fortgeführt wurde und dann im Wüten der »Einsatzgruppen« einen vorläufigen Höhepunkt fand, wurde im Januar 1942 auf der »Wannsee-Konferenz« als geheimes Programm der »Endlösung«, das heißt der Ausrottung der europäischen Juden in den von der »Wehrmacht« kontrollierten Territorien, festgeschrieben. Als Standort der großen Todesmühlen vom Typus Auschwitz war mit Bedacht Polen (von den Nazis »Generalgouvernement« getauft) gewählt worden. Nach der Schlacht von Stalingrad, der Wende des Krieges, begann die SS (das »Sonderkommando 1005«) schon im Frühjahr 1943 mit der Verwischung der Spuren des Genozids (Exhumierung und Verbrennung der Opfer; Demontage, Sprengung, Einebnung und Tarnung der Lager; Vernichtung der Akten und Magazine; Massenerschießungen und Deportation von Häftlingen nach Westen). Doch der militärische Zusammenbruch des Regimes kam zu schnell. Der Massenmord in den Vernichtungslagern während der Kriegsjahre 1941-1944 war nicht mehr zu leugnen.
Wie sind die Derealisierer, abgesehen von ihrer extremen Fraktion, die sich darauf versteift, es habe überhaupt keinen »Holocaust« gegeben, das »Endlösungs«-Projekt sei vielmehr nur eine phantastische Ausgeburt der antideutschen Propaganda (die »Auschwitz-Lüge«), mit dem Faktum der Menschenvernichtung umgegangen? Wie sah ihre Vergangenheits-»Bewältigung« aus?
Sie haben »Auschwitz« aus seinem politisch-sozialen Kontext herausgelöst und dadurch eine politisch angemessene Reaktion auf das Nazi-Regime verhindert. An deren Stelle wurde ein pseudoreligiöses Schuld-und Sühne-Ritual installiert, das die Unwissenheit und das Ohnmachtsgefühl der Beteiligten verstärkt und ihnen periodisch jene erbauliche Zerknirschung ermöglicht, aus der für die politische Praxis nichts folgt. Der Massenmord an Juden, Polen, Russen, Zigeunern und anderen ist nicht aus sich selbst verständlich. Isoliert gesehen bleibt er so rätselhaft wie ein riesiger Schatten ohne den, der ihn wirft. Zu fragen ist danach, welche Funktion(en) das große Morden für das NS-Regime erfüllte, und was die Millionen Menschen, die daran beteiligt waren und es ermöglichten, davon hatten. Solche Fragen aber stoßen auf Widerstand, auf ein Denkverbot, das sich als Pietätsgebot präsentiert. »Auschwitz«, heißt es noch immer, sei das schlechthin »Unbegreifliche«, sei ein Verhängnis, also funktionslos gewesen. Lieber noch wird der braune Schrecken zu einem Mysterium erhoben, als daß man sich der Frage stellte, wem er denn nützte und wen er befriedigte. Lieber noch bevölkert man die historische Bühne des »Dritten Reichs« mit Dämonen und Monstren (»Unmenschen«), als daß man die Menschenvernichtung auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse rückbezieht, die das Bewußtsein und das Unbewußte der Verfolger, Mörder und Zuschauer einerseits, der Opfer andererseits strukturierten. Sozialwissenschaft, die etwas taugt, hat die Aufgabe, das »Unbegreifliche« begreiflich zu machen, das heißt, seine objektiven und subjektiven Voraussetzungen und Funktionen zu rekonstruieren.
Wer sich vor den Vernichtungslagern der Nazis entsetzt, der soll sein Erschrecken umsetzen in den Willen, über die faschistische Massenbewegung und den faschistischen Staat – das bisher grausamste der politischen Regime, die die kapitalistische Gesellschaft überbauten – alles zu lernen, was man darüber heute wissen kann.
1933 haben Braunhemden und Totenkopf-Terroristen die Renditenwirtschaft vor dem »Bolschewismus« gerettet. »Rettung« sollte – wie schon 1914 – der kriegerische Ausbruch der retardierten Nation aus dem Käfig des Nationalstaats bringen: die Herstellung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsimperiums unter Kontrolle des mit dem SS-Staat armierten deutschen Kapitals. Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert verwickelte sich die deutsche Armee in einen ruinösen Zweifrontenkrieg. Dem aussichtslosen Kampf gegen die äußeren Feinde – den »Bolschewismus« und die »Plutokratien« – entsprach der Vernichtungsfeldzug gegen die »inneren Feinde« hinter den Fronten, der institutionalisierte Dauer-Pogrom gegen Fremde und Kranke, überlegen Geglaubte und Unterlegene.
Darin fanden die weder ökonomisch noch militärisch realisierbaren Wunschträume der faschistischen Zwischenklassen-Massenbewegung eine schaurige Ersatzbefriedigung. Millionen von europäischen Juden fielen der reaktionären Utopie einer mittelständisch dominierten »Volksgemeinschaft« des 20.Jahrhunderts zum Opfer, als »unverzichtbares Futter für die Haßlust« (G. Anders, 1964, S. 82). Die in enthusiastischem Terrorismus hergestellte Gemeinschaft der unfreien und ungleichen Herrenmenschen bestätigte, als das Projekt der Welteroberung scheiterte, ihren Allmachts- und Überlegenheitswahn durch Massaker an ungezählten, wehrlosen Opfern im eigenen Herrschaftsbereich.
Thomas Scheerer hat in seinem Nachwort zu dem vom Hamburger Institut für Sozialforschung herausgegebenen »Bericht über Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien (›Nie wieder!‹)« darauf hingewiesen, daß die dortige »Vergangenheitsbewältigung« sich innerhalb wohldefinierter Grenzen halte (die periodisch durch Putschversuche nachgezogen werden), weil es dieselben sozialen Gruppen sind, die 1976 bis 1983 Förderer und Nutznießer der terroristischen Militärdiktatur waren und heute die Demokratisierung unter Präsident Alfonsin befürworten.
»Man hat dies die ›Schizophrenie der argentinischen Mittelschichten‹ genannt…« (Scheerer, 1987, S. 269). Gleiches läßt sich von den faschistischen und demokratischen Anwandlungen der deutschen Bourgeoisie und der sie unterstützenden Zwischenschichten sagen. Aber die einfachen Wahrheiten über unsere gesellschaftlichen Verhältnisse werden uns ja oft erst im Spiegel fremder und ferner Länder faßlich…
Die deutsche Misere der Nachkriegszeit entstammt der Verleugnung der eigenen Geschichte. Auch diese Verschränkung von Aktualität und Historie ist vielen Deutschen einleuchtender, wenn sie sie im Spiegel eines anderen Landes sehen: der Sowjetunion, wo man sich, nach dem abgebrochenen Entstalinisierungsversuch Chruschtschows, nun zum zweiten Mal anschickt, die Wahrheit über Stalins Schreckensherrschaft zu enthüllen. Die Lehre, die Freud aus der Neurosentherapie zog, besagt, daß Menschen, die von traumatischen Erfahrungen überwältigt werden, sich selbst dauerhaft dadurch schädigen, daß sie das Nächstliegende tun:
die Szenen der Kränkung und Verletzung aus dem Horizont ihres Bewußtseins zu verdrängen suchen. Solche Versuche der Krisen- und Vergangenheitsbewältigung mißlingen, weil das Verleugnete sich gegen den Willen und außerhalb des Bewußtseins derer, die sich nicht mehr erinnern dürfen, geltend macht und ihr ferneres Leben in die Kreisbahn permanenter Wiederholung dessen zwingt, vor dem sie fliehen. Der Wiederholungszwang aber läßt sich nur brechen, wenn sich die Traumatisierten oder die von der traumatisierten Generation sozialisierten Folgegenerationen neuerlich dem stellen, vor dem sie im Bann der Tradition fliehen, – wenn sie die Vergangenheit so, wie sie war, und sich (bzw. ihre Vorfahren) so, wie sie waren, als wirklich anerkennen, Alternativen zu der einst gelebten Praxis erdenken und erproben und die aktuelle Lebenspraxis so einrichten, daß in ihr das einst Versäumte nachgeholt und darum die primitive Flucht aus Zeit und Wirklichkeit entbehrlich wird.
Dazu war die Generation der Täter und Mitläufer im Nachkriegsdeutschland nicht in der Lage. Dorfrichter Adam, nicht Ödipus machte Epoche. Erst in der studentischen Protestbewegung der sechziger Jahre hat die oppositionelle Minderheit, die seit 1945 der Derealisierung entgegenarbeitete, Unterstützung gefunden. Erst die Generation, die 1979 auf den »Holocaust«-Film ansprach, hat sich von der Derealisierung gelöst, auf der der falsche Optimismus der »Wirtschaftswunder-« und Adenauer-Zeit basierte.
Wir leben nie ganz in der Gegenwart, sondern stets auch in der Vergangenheit. Im Prozeß ihrer Sozialisation wird jede Generation mit der Tradition ihrer Vorgänger getränkt, jede ist darum ihrer Gegenwart ebenso angepaßt wie unangepaßt. Wir alle sind Bürger zweier Welten: Lebend in der gottlosen Welt, konfrontiert mit Mordgeschichtserfahrungen, die uns einen allmächtigen Gott verfluchen ließen, der das, was Menschen in unserem Jahrhundert einander angetan haben, »zugelassen« hätte, leben wir doch zugleich noch in einer längst untergegangenen, imaginären Welt des Gottvertrauens. Und solange wir unser Versagen vor der Geschichte, die wir ebenso »machen« wie erleiden (auch wenn wir hoffen, ihr zu entkommen, indem wir uns von Politik fernhalten), als »Schuld« interpretieren, verwechseln wir die blutige Geschichtsarena mit der kultischen Bühne der Heilsgeschichte und ersetzen das politische Denken und Handeln durch Schuld- und Sühnerituale, die ihren Sinn in der entgotteten Gegenwart verloren haben. Mir scheint, daß wir die Lähmung, die aus der Erfahrung resultiert, daß wir unserer eigenen Geschichte nicht gewachsen sind, nur dann überwinden können, wenn wir das Versagen der Eltern und Großeltern nicht mehr ratlos und ungleichzeitig als eine »Schuld« deuten, die rituell »bewältigt« und »vergeben« werden kann. Es ist Zeit, den aus der religiösen Tradition überkommenen Schuldbegriff zu säkularisieren. Das heißt: Wir müssen uns klarmachen, worin die historisch-politische »Schuld« in einer entgotteten Welt eigentlich besteht, wer da »Gläubiger« ist, und was es heißt, solche Schuld abzutragen und der Verstrickung in neue Schuld vorzubeugen. Ein Schuldgefühl kann überhaupt erst zustandekommen, wenn auf den Schutz der Derealisierung verzichtet wird, wenn wir also die Untaten des nationalen Kollektivs, dem wir selbst (auch wenn wir das nicht wollen) zugerechnet werden, als historische Realität anerkennen. In unserer Gegenwart empfinden wir weiterhin Schuld als unverdient Überlebende, als Nutznießer einer Atempause zwischen den großen gesellschaftlichen Katastrophen, Schuld gegenüber den Opfern von gestern und von heute. Wie sollen wir leben auf den Schlachtfeldern, den Schindangern und Massengräbern, wie leben mit dem Bewußtsein, daß das Leiden und Sterben all dieser Menschen keinen »Sinn« gehabt hat, daß das ihnen widerfahrene Unrecht nie gutgemacht werden kann, ja, daß ihnen die Erinnerung an ihr Elend und unsere Trauer darüber nichts nutzt?
Es ist wahr: den Toten kann nicht mehr geholfen werden. Aber wir können uns helfen. Ob wir überleben und ob die Geschichte ohne neue Katastrophen weitergeht, das hängt wesentlich von unserem Bewußtsein und von unserer Praxis ab. Der Menschenopfer eingedenk, müssen wir alles daransetzen, künftige Kriege und Genozide in unserer Lebenszeit zu verhindern. Es gibt in der Tat im Verhältnis zur Geschichte eine objektive Schuld, die aus dem Vergessen bzw. dem Sich-nicht-Informieren erwächst. Wer sich die Schlüsselerfahrungen unseres Jahrhunderts, die Namen wie »Auschwitz« (oder »Hiroshima«) symbolisieren, nicht vergegenwärtigt, trägt Schuld daran, daß unsere Geschichte, wenn nicht endet, so doch sich fortsetzt wie bisher — als Mordgeschichte. Unsere Fähigkeiten des Vorstellens sind, wie Günther Anders sagt, weit hinter denen des Herstellens zurückgeblieben. Wir bemitleiden oder betrauern uns vertraute oder doch bekannte Menschen, Individuen wie Anne Frank, die uns die anonymen Massen von Opfern repräsentieren. Vor den Millionen Kriegstoten, in den Konzentrationslagern Umgebrachten oder vor den zweihunderttausend in Hiroshima durch die erste Atombombe ausgelöschten Menschen versagt unsere Vorstellungskraft. Unser Vorstellen dem Herstellen wieder näher zu bringen, neben der Nächstenliebe die Fernstenliebe auszubilden, Intoleranz gegenüber Krieg, Folter und Elend zu kultivieren: das sind zentrale Aufgaben einer zeitgemäßen politischen Pädagogik, die die fruchtlosen offiziellen Schuld-und Sühne-Rituale ablösen könnte. Wer sich die realen Katastrophen, die hinter uns liegen, und die, die unserer Generation drohen, zur Erfahrung bringt, der wird die »Politik«, wie sie von der politischen Kaste und der sie tolerierenden oder ihr akklamierenden Mehrheit nach 1945 so fortgeführt worden ist, als wäre nichts geschehen, mit anderen Augen ansehen. Er wird die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Institutionen für anachronistisch halten und sich deren Abschaffung zum Ziel setzen.
Noch immer leistet sich nur eine Minderheit, die für unsere Generation einen Ausweg aus der Sackgasse der Mordgeschichte sucht, den »Luxus«, sich so genau wie möglich zu vergegenwärtigen, was mit den Generationen vor uns geschehen und warum es geschehen ist. Darin, daß diese Minderheit zu einer Mehrheit wird, liegt unsere einzige Chance.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Helmut Dahmer, Myliusstr. 20, 6000 Frankfurt 1)
Summary
Derealization and repetition. — The psycho-technique of »derealization« helped the majority of the German population that had been loyal to the Hitler regime to escape from their historical responsibility in 1945. The derealization of an historical era of collective history and of the corresponding phases of their individual histories saved these people the work of seif transformation and opened the way to an unwitting repetition. In the unending debates around Nazi war criminal and their accomplices, the paramount issue is to refuse the »normality« of this derealization.
BIBLIOGRAPHIE
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[i] * Nach Vorträgen in Hamburg (am 22. Oktober 1987) und in Graz (am 20. November 1987).
Bei der Redaktion eingegangen am 7. März 1989.
[ii] ** Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, Aph. 68
[iii] 1 »In Freuds Terminus >verdrängen< ist schon etwas Ähnliches gemeint. Aber noch nicht die ganze heutige Wahrheit. Denn daß das >Verdrängen< selbst genauso schändlich ist wie das >Verdrängte<; und daß das Verdrängen oft nicht erst nach der Tat, sondern im Tun selbst, während des Tuns, nein: vor dem Tun, geradezu als dessen Voraussetzung, wirksam ist, das hätte man zu Freuds Zeit noch kaum erkennen können und zu erkennen vielleicht auch noch nicht nötig gehabt. Heute freilich muß das im Mittelpunkt stehen« (Anders, 1964, S. 79 f.).
Kritische Glosse
HELMUT DAHMER, FRANKFURT A. M., UND LUTZ ROSENKOTTER, STEINBACH/TS.
„An kleinen Tischen sitzen Tuis, lesend und Brettspiele spielend. Täfelchen: ‚Zwei kleinere Formulierungen für 3 Yen’, ‚Hier werden Meinungen gewendet. Danach wie neu’, ‚Sie handeln – ich liefere die Argumente’, ‚Warum sind Sie unschuldig? Nu Shan sagt es Ihnen’.“ – Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher (Bertold Brecht)
Zum 50. Jahrestag der »Machtergreifung« der Hitlerbewegung fand im restaurierten Berliner Reichstagsgebäude ein international besetzter Kongreß statt, an dessen Ende der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe1[ii] einen mit lebhaftem Beifall aufgenommenen Vortrag hielt2[iii]. Ziel dieser Ansprache war es, die kapitalismuskritischen soziologischen und sozialpsychologischen Theorien über den Faschismus und über das kollektive Vergessen, dem die zwölf Jahre Diktatur im Zuge von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder anheimfielen, zu »delegitimieren« und die verschwiegene Nachkriegsgemeinschaft der unbußfertigen Mitläufer und notdürftig getarnten Belasteten rückblickend zu legitimieren. Lübbe spricht all denen aus dem Herzen, für die das Aufbegehren der studentischen Neinsager von 1968 eine unerträgliche Kränkung bedeutet hat und die in der aktuellen politischen Konstellation die Chance für eine Revanche sehen. Lübbe bedient sich einer Tabu-Sprache, in der selten etwas bei seinem richtigen Namen genannt wird, in der »man« einander verstohlene Winke mit dem Zaunpfahl gibt, dem Gegner ein Bein stellt oder ihn im Gedränge rempelt, statt ihn offen anzugreifen. In diesem Vortrag, dessen Autor sich gegen »die bekannte Verdrängungsthese« wendet, indem er sie zu einer (überflüssigen) »Pseudotheorie« stempelt, bestimmt Verdrängung die Diktion.
In »nichtsymmetrischer Diskretion« müssen etwa die Warschauer Ghettokämpfer, die Widerständler und die Resistance dazu herhalten, die in den beiden von deutschen Regierungen vom Zaun gebrochenen Weltkriegen ausgeblutete »Tugend« der Tapferkeit zu rehabilitieren. Und die Wirkung des »Holocaust«-Films wird darin gesehen, daß er die gemeine Normalität, in der »man« sich immer schon so wohl fühlte, bestätigt habe. All denen, die die individuelle wie kollektive Identität nur im Ja-Sagen zur (wie immer beschaffenen) Vergangenheit und Gegenwart, also im Einverständnis gesichert sehen, hat Lübbes Rede offenbar unbeschreiblich gutgetan.Die »bekannte Verdrängungsthese« besagt ja, daß nach 1945 eine irgend angemessene Reaktion der Mehrheit auf das Erleben und Handeln in den zwölf Diktaturjahren ausgeblieben ist und daß nicht-bewältigte Vergangenheiten die Tendenz haben, sich zu reproduzieren. Lübbe hingegen meint, die Greuel des »Dritten Reichs« seien allen Beteiligten bekanntgeworden, nach 1945 auch keineswegs vergessen, sondern diplomatisch beschwiegen worden — um der »politischen Konsolidierung des Gemeinwesens« willen: Die Nazis hatten die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gehabt, der neue deutsche Staat konnte schwerlich gegen diese Mehrheit eingerichtet werden. Also wurde die durch die Niederlage diskreditierte NS-Ideologie wie eine heiße Kartoffel fallengelassen; ihre Träger aber wurden »integriert«, so gut es eben ging. Freilich blieben »vergangenheitsabhängige Unsicherheiten«: »Erhebt man sich aber aus dem Zusammenbruch und gewinnt allmählich Stand und Anerkennung zurück, so beginnt man zugleich, in Differenz zu sich selbst zu existieren, und die Vergangenheit wird zum eigentlichen Moment der Schwäche im wiedergewonnenen Stande.« Diese »Schwäche« haben die studentische Protestbewegung von vor 15 Jahren und die ihr liierten »emanzipatorisch tätigen Verdrängungsanalytiker« in staatsabträglicher Weise ausgenützt. Sie haben ganz zu Unrecht den innenpolitischen Nachkriegsfrieden, die »Normalität« gestört. Denn »diese Unsicherheiten sind nicht ein Indiz der mißlungenen, sondern gerade umgekehrt der gelingenden Rekonstruktion deutscher Staatlichkeit, und Subjekte dieser Unsicherheiten sind gerade diejenigen, die sich mit dieser Staatlichkeit von Anfang an identifizierten.« Das ist der Kern von Lübbes Argumentation: Weder der Kapitalismus noch die »deutsche Staatlichkeit« sind durch die Hitlerdiktatur diskreditiert oder »delegitimiert« worden. Die Rettung »deutscher Staatlichkeit« war das Gebot der Stunde des »Zusammenbruchs«. Eben den deutschen Staatsfetischismus, der doch im Paroxysmus der Führerdiktatur kulminiert hatte, galt es zu perpetuieren. Unter dieser »politischen Rekonsolidierungsprämisse« wurde das »kommunikative Beschweigen« (!) der NS-Vergangenheit zum kategorischen Imperativ. Hätte »man« sich die restaurierte Staatlichkeit hingegen »im Kunstlicht der revitalisierten linken Faschismus-Theorien« (die ja wahrlich anderes besagen als die stalinistische »Dimitroff-Formel«, die übrigens auch nicht von 1933, sondern von 1935 stammt) betrachtet, das die behagliche Dunkelmänner-Szenerie schließlich doch noch einmal ausleuchtete, so hätte freilich das folgende Urteil nahegelegen, das Lübbe treulich referiert: »Aber ein postfaschistischer Staat mit konserviertem Kapitalismus war er eben doch und damit ein Staat, der unverändert dazu herausfordern sollte, ihn in antifaschistischer Absicht zu verändern. Damit wird die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu einer ihrerseits bewältigungsbedürftigen Geschichte …, näherhin zu einer Geschichte der >verpaßten Chancen<. Wenn sich die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland das hätte einreden lassen, so wäre sie damit auch desjenigen politischen Selbstgefühls noch verlustig gegangen, das sich, immerhin, aus ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu dieser Republik einschließlich ihrer Geschichte doch allmählich ergeben hatte.«
»An ein Vergessen war natürlich in den ersten Jahren nach dem Ende des Dritten Reiches noch weniger zu denken als nach den Jahrzehnten, die inzwischen vergangen sind.« »Wie ging man« (Nazis und Nicht-Nazis, Verfolger und Opfer) »nun miteinander um?«
Dafür gibt es einen verläßlichen Zeugen: den aus der amerikanischen Emigration 1950 nach Wien zurückgekehrten Günther Anders. In seinen Tagebüchern aus jener Zeit lesen wir: »Seit Monaten bin ich nun hier. Aber in keinem Gespräch habe ich den Namen >Hitler< gehört . . . Ominös scheint mir das . . . Daß sie ihren Gott und ihren, diesem Gott geweihten, Lebensabschnitt einfach vergessen haben könnten, ist ja nicht möglich. Noch nicht einmal hoffen kann ich das: denn solche Vergeßlichkeit wäre ja fast noch erbärmlicher als die Tatsache, daß sie sich einem solchen Manne geweiht hatten. Nein, daß er totgeschwiegen werde, glaube ich nicht. Wer weiß, ob sie ihn nicht umgekehrt >lebendig-schweigen<: ihn nämlich auf heimliche Art tabuieren und zum Mythos machen?« (Anders, 1967, S. 179). »Vermutlich ist Amnesie etwas viel Allgemeineres, als man gewöhnlich annimmt . . . Ursache dieser Amnesie: Beim Sprung aus einer Situation (oder >Welt<) A in eine andere, völlig andersartige B geht die Identität des Springenden tatsächlich verloren« (ebd., S. 200). Gerade so ging es den aus dem »Dritten Reich«, aus Braunhemd, schwarzer Montur, Feldgrau und Partei Entsprungenen. Ihre »A« und »B« übergreifende Identität fanden sie in derjenigen des Staats, der sich ja auch als Rechtsnachfolger des vormaligen gerierte. Was bei solchen Sprüngen und Identitätsrettungen mit der eigenen Vergangenheit, der individuellen wie der kollektiven, geschah, nennt Anders deren »Irrealisierung« (S. 147): »Aber wenn man bedenkt, daß die hiesige Bevölkerung aus den Schlägern von gestern und den Geschlagenen von gestern besteht, ohne daß man dem Einzelnen je ansehen könnte, welcher der zwei Gruppen er zugehört hatte; daß sie in der Stadtbahn nebeneinander sitzen oder gar einander Platz machen; daß der ehemalige SA-Mann, zur Zeit Kellner, zum gestrigen Konzentrationär, zur Zeit Gast, >danke ergebenst, Herr Doktor< sagt; daß der Verprügelte dem Prügler die Ladenkasse führt; und daß, wie in heimlicher Verabredung, im Alltagsverkehr kein Mensch dem anderen gegenüber die kritischen Jahre erwähnt, denn weiß der Himmel, was sich da herausstellen würde — also wenn man das alles bedenkt, dann wird einem hundeelend. Aber, wie gesagt, keinen Augenblick darf man es vergessen: der heutige Zustand verhöhnt den blutigen Ernst der vergangenen zwölf Jahre, er macht ihn ungültig und degradiert ihn zu einem Schauspiel; und das Schauspiel ist eben abgesetzt, weil ein anderes nun auf dem Spielplan steht« (ebd., S. 160 f.). Die Mehrzahl der deutschen Menschen, schreibt Anders, verhielt sich nach 1945 so, als sei ihr Alltag eben gerade nur durch eine Art ausgedehntes Fußballmatch unterbrochen worden (ebd., S. 161). Das heißt, daß das Vergangene, so wenig es vielleicht »vergessen« und so sehr es »beschwiegen« werden mochte, jedenfalls nie als das erfahren und begriffen worden ist, was es war: ein Geschichtsereignis, nach dem die Mordgeschichte angehalten, die »Staatlichkeit« abgeschafft werden muß. Nach Auschwitz und Hiroshima wären »Verweigerung«, »Weinen«, »Pessimismus« adäquate Reaktionen, Vorzeichen einer Umkehr. Davon aber sind wir so hoffnungslos weit entfernt, wie es zum Beispiel die im Juni dieses Jahres in der Frankfurter Paulskirche anläßlich des »Deutschen Turnfests« gehaltenen Reden signalisieren: unverfälschte Stimme der von Lübbe re-legitimierten Mehrheit, die irrealisiert, was sie gestern angerichtet hat und was mit ihrer Hilfe gegenwärtig sich vorbereitet, weil beides für sie »überschwellig« (G. Anders), nicht vorstellbar ist. Die deutsche Turn- und Sportbewegung bezeichnete der Kanzler Kohl da (wie nach ihm auch der Bundespräsident) als die »größte deutsche Bürgerinitiative« (»Friedensbewegung«); sie sei Indiz einer freien Gesellschaft, »weil sie sich so radikal gegen einen Zeitgeist der Weinerlichkeit wende . . .« (Kohl) »Angesichts des florierenden Vereinslebens gebe es keinen Grund zum Kulturpessimismus; die Haltung der Verweigerung sei eine Randerscheinung.« Kohl »erinnerte daran, daß für die deutsche Turnerbewegung der Patriotismus immer dazugehört habe: >Sie haben sich nicht angepaßt und erleben heute, daß das, was Sie schon immer getan haben, wieder als progressiv empfunden wird< (Kohl)«3[iv].
Doch zurück zu Lübbe: »Daß man der Toten, die im Glauben an eine Sache gestorben sind« — soll heißen: der Gefallenen, die an Hitler glaubten und sich von ihm und seinen Generälen auf die Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges hatte führen lassen —, »in eins mit den Menschen gedenkt, die, weil sie dieser Sache« — also dem Rassenwahn, der »Volksgemeinschaft«, dem großdeutschen Imperialismus — »im Wege standen, sterben mußten« (wobei diese »Sache« die der gläubigen Millionen war) — das ist, Lübbe zufolge, nicht ein Skandal, sondern »hat seinen unfraglichen Ort im religiösen Lebenszusammenhang«, besser: im neustaatlichen Verdrängungs- und Heuchel-Zusammenhang. Die Nachkriegsintegration im Zeichen perpetuierter deutscher Staatlichkeit war eine von der Mehrheit veranstaltete, die sich die Toleranz gegenüber der überlebenden Minderheit durch Beschweigen des Vergangenen bezahlen ließ. Lautlos schloß sich der Abgrund dieses Schweigens über den Millionen Gefallener, Ermordeter, Verfolgter und Gequälter. Ihre Niederlage wurde mit diesem Schweigen erst besiegelt. Die Kritik, die der protestierende Teil der Generation von 1968 — »eine kleine, radikale Minderheit« — gegenüber den so verbissen schweigenden und so unbekümmert agierenden Vätern vorbrachte, war eine im Namen der Opfer, die selbst keine Stimme mehr haben. Denn die Vergangenheit darf nicht irrealisiert werden, damit jede Zukunft es wird, die ihr gleicht.
Helmut Dahmer (Frankfurt a. M.)
II
In seinem Vortrag zur 50. Wiederkehr der Machtübernahme der Nazis versucht Hermann Lübbe, uns alle in ein gemeinsames Schicksal einzubinden. In anspruchsvoll-hochtrabender Diktion stellt er verwundert fest, daß trotz größerer »temporaler Distanz« die Erinnerung an das »Dritte Reich« nicht verblaßt ist, sondern im Gegenteil an »Aufdringlichkeit« zugenommen hat, was ihm — wie die Wortwahl zeigt — unangenehm ist. Die in dem Vortrag enthaltenen Seitenhiebe auf die Psychoanalyse fordern eine Antwort.
Lübbe behauptet, die Mehrheit unserer Bevölkerung habe keinerlei autobiographische Erinnerung mehr an die Hitler-Diktatur. Nun, ich bin weder Pensionär noch tot, und mir ist die Nazizeit außerordentlich plastisch in Erinnerung. Und warum sollen heute junge, nach dem Krieg geborene Erwachsene keine Erinnerung an den Nationalsozialismus haben, in den doch ihre Eltern stark, ein wenig oder auch gar nicht verstrickt waren? Ist die Beziehung zu den Eltern, die Frage nach ihrer moralischen Integrität nicht ein wesentlicher Teil der Autobiographie? Gerade hier aber möchte Lübbe die Kontinuität der Geschichte abschneiden, die er doch sonst immer wieder beschwört.
Das Verschweigen der Nazi-Verbrechen nach dem Krieg nennt Lübbe »eine gewisse Stille«, das Zudecken der Nazi-Vergangenheit Einzelner vor denen, die sich ihrer Vergangenheit nicht zu schämen brauchten, nennt Lübbe »eine asymmetrische Diskretion«. Was für schöne Worte man doch für das Einverständnis mit dem Verbrechen wählen kann! Lübbe stellt zu Recht fest, daß die Bundesrepublik durch »Integration« der Nazis und ihrer Mitläufer entstanden ist. Er bejaht aber diese Entwicklung und bezeichnet sie als die einzig mögliche. Eine Besinnung auf die Machtinteressen, unter deren Druck jene »Integration«, jene unlautere Rückkehr zur »Normalität« zustandekam, denunziert er als »Delegitimierung«. Er hält es für wünschenswert, daß die heutige Generation »die Vergangenheit ihrer Väter als eigene Vergangenheit« politisch übernimmt. Die Faschismus-Debatte der sechziger und siebziger Jahre bedeutete für Lübbe paradoxerweise nicht einen Versuch der Bewältigung, sondern ein Abschieben »der eigenen historisch-politischen Identität«. Alle überlebenden Deutschen, Nazis und Nichtnazis, sollen sich in einem großen »Wir-Gefühl« zusammenschließen. Der Blick auf die Vergangenheit kann da nur stören, denn er entlarvt die voreilige Aussöhnung, die auf dem Ritual des Beschweigens basierte, als gefährliche Illusion.
Lübbes Wertungen entstammen konservativ-autoritärer Gesinnung. Die unsäglichen englischen Siegesfeiern nach dem absurden Falkland-Krieg, die sogar von hohen englischen Geistlichen kritisiert wurden und bei denen bekanntlich Kriegsversehrte unerwünscht waren, nennt er, zustimmend, einen Ausdruck der »Genugtuung der Briten über den bestandenen Falklandkonflikt«.
Es liegt auf der Hand, daß solchem Denken eine kritische Sozialpsychologie anstößig ist. Er erklärt sie darum ohne weitere Begründung zur »Pseudotheorie«.
Lübbe interpretiert die unerwartet heftige Reaktion vieler Deutscher auf den amerikanischen »Holocaust«-Film viel »einfacher« und »plausibler«, als die »Verdrängungstheorie« das tut: »Durch diese Serie wurde zum Nationalsozialismus . . . ein pseudotheoriefreies Verhältnis des moralischen und politischen Gemeinsinns wiederhergestellt. Man konnte trauern, ohne sich darin als ein dieser Trauer angeblich bislang unfähig gewesenes Subjekt entlarven zu müssen.« Und so weiter. Über Plausibilität läßt sich streiten. Lübbe erklärt jedenfalls nicht, warum das Publikum nach 35 Jahren so reagierte, als sei der »Holocaust« soeben erst passiert. Die historischen Fakten waren ja längst jedermann zugänglich gewesen. Darum müssen wir darauf bestehen: Hier wollten zu viele etwas nicht wissen.
»Auf der normativen Ebene«, sagt Lübbe »waren nationalsozialistische Relikte (in der frühen Bundesrepublik) inexistent.« Es fragt sich, was hier unter »normativer Ebene« verstanden wird. War der Umstand, daß so belastete Personen wie Globke und Oberländer schnell wieder zu Macht und Ansehen gelangten, für jene »Ebene« ohne Bedeutung? Und wie verhält es sich mit der fortdauernden Verfolgung der Sinti und Roma, gemeinhin »Zigeuner« genannt? Mit dieser Glosse beschäftigt, fand ich in der Frankfurter Rundschau vom 1. 2. einen Bericht über das Konzentrationslager Esterwegen. Daraus geht hervor, daß die Bezirksregierung Weser-Ems in Oldenburg sich gegen eine Gedenktafel auf dem Lagerfriedhof Bockhorst-Esterwegen mit der Begründung ausgesprochen hat, das KZ Esterwegen sei ein »echtes Strafgefangenenlager« gewesen, dessen Häftlinge »durch ordentliche Gerichte nach den bestehenden Gesetzen verurteilt worden« seien. Im gleichen Oldenburg hat die niedersächsische Landesregierung der Universität untersagt, sich »Carl-vonOssietzky-Universität« zu nennen. Der Nobelpreisträger und ehemalige Insasse des benachbarten Konzentrationslagers sollte nicht auf diese Weise geehrt werden. Hat all das keinen Bezug zur »normativen Ebene«?
Talare werden zwar noch nicht wieder getragen, aber der Muff der tausend Jahre sitzt auch in den neuen Kleidern. Der Fall des Nazis, der nach »der vernichtenden Vollständigkeit des Zusammenbruchs« im Jahre 1945 die vernichtende Gewalt seines Aufbruchs in Volksgemeinschaft und Eroberungskrieg so beredt zu verschweigen wußte und mit der reformierten »Staatlichkeit von Anfang an« sich »identifizierte«, mag der für die Bundesrepublik konstitutive gewesen sein. Der unsere ist es nicht.
Lutz Rosenkötter (Steinbach/Ts.)
BIBLIOGRAPHIE
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Lübbe, H. (1963): Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Basel (Schwabe).
(1965): Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg (Alber).
(1972 a): Hochschulreform und Gegenaufklärung. Freiburg (Herder).
(1972 b): Bewußtsein in Geschichten. Freiburg (Rombach).
(1975): Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart. Freiburg (Rombach).
(1977): Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Basel (Schwabe).
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Mitscherlich, A. und M. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München (Piper).
Saage, R. (1976): Faschismustheorien. Eine Einführung. München (Beck).
75 Psyche 12/83
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 8. 7. 1983.
[ii] 1 Einen »>rechten< Sozialdemokraten, dessen klares Urteil über Parteigrenzen hinaus auch von Regierungen gern gehört wird«, nennt ihn Kurt Reumann (»Berlin soll Ausbildungszentrum für Akademiker bleiben«) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30. 6. 1983, Nr. 148, S. 4).
[iii] 2 Prof. Dr. Hermann Lübbe, »Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt. Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart.« FAZ, 24. 1. 1983, Nr. 19, S. 9.
[iv] 3 Alle Zitate nach: »Turnfest wider den Zeitgeist der Weinerlichkeit. Wallmann: >Sport überwindet Vereinsamung. Festakt in der Paulskirche mit Kohl und Börner«. FAZ, 27. 6. 1983, S. 21 f.
HELMUT DAHMER, FRANKFURT A. M.
»Psychoanalyse unter Hitler« —Rückblick auf eine Kontroverse*[i]
Negative therapeutische Reaktion
Denken ist eine Art Probehandeln, und schreiben und publizieren heißt immer auch sondieren. Versucht man zum Beispiel, sich und anderen die aktuelle Verfassung der Psychoanalyse verständlich zu machen, indem man sie als das vorläufige Resultat der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und der in ihr entwickelten Theorien deutet, so wird man — entsprechend dem historisch-empirischen Gehalt und der Plausibilität der Argumentation einerseits, den Interessenlagen der Leser anderseits — mit Zustimmung, Kritik und Ablehnung rechnen können. In bestimmten Fällen aber provozieren solche Versuche einer historisch gerichteten Aufklärung eine ganz andere, in therapeutischem Zusammenhang wohlbekannte, im Verkehr zwischen Autor und Publikum aber selten sich manifestierende Reaktion. Was als Einladung, sich zu erinnern, gedacht war, wirkt dann im Felde unbehaglicher Spannungen, gespaltener Loyalitäten und verhohlener Selbstvorwürfe wie ein Katalysator, der eine fast schon gesättigte Lösung jählings umschlagen läßt, so daß, was der Autor diagnostizierte, von betroffenen Lesern nicht verstanden, nicht akzeptiert oder bestritten, sondern reproduziert, dargestellt wird. Antwortet der Probebohrung auf einem als möglicherweise ergiebig ausgewiesenen Feld eine Eruption, gar eine Fackel, so ist das ebensowohl eine Bestätigung der geophysikalischen Prospektion wie eine Erschwerung des weiteren Vorgehens. Denn die Fackel muß erst gelöscht, ihr Auftreten verstanden, oder, in unserem Zusammenhang: die symptomatische Reaktion muß erst entschlüsselt werden. Im Kontext der beiden, dem Thema »Psychoanalyse unter Hitler« gewidmeten Hefte unserer Zeitschrift (11/1982 und 12/1983) haben die Texte »Kapitulation vor der >Weltanschauung<« (Psyche, 37. Jg., S. 1116-1135) und »Jasager und Weißwäscher« (a. a. 0., S. 1146-1150) eben diese Funktion eines provokativen Reizes erfüllt, der — nach einer Inkubationszeit von etwa acht Wochen — die unerwartete Manifestation eines »Offenen Briefes« des Hamburger Psychoanalytikers Ulrich Ehebald auslöste.1[ii]
Bei der einen der von Ehebald inkriminierten Publikationen handelte es sich um einen Kommentar zu zwei Aufsätzen von Carl Muller-Braunschweig aus den Jahren 1930 und 1933. In der anderen wurde ein (im Januar 1983 gehaltener) Vortrag von Hermann Lubbe — ≫Der Nationalsozialismus im politischen Bewustsein der Gegenwart≪2[iii] — kritisiert.
Der in Zürich lehrende Philosoph und Politiktheoretiker hatte die (psychoanalytische) These, die Mehrheit der Deutschen habe die Hitlerdiktatur und die in der terroristischen ≫Volksgemeinschaft≪ durchlebten Jahre verdrängt, statt sich damit auseinanderzusetzen (und darum sei die Bundesrepublik, sozialpsychologisch gesehen, auf Sand gebaut), fur ≫überflussig≪ erklärt. Nach 1945 sei, schrieb Lubbe, gar nichts verdrangt worden, vielmehr habe ≫man≪ Diskreditiert-Vergangenes (etwa ≫braune Biographieanteile≪) diskret beschwiegen — um der Restauration deutscher Nachkriegsstaatlichkeit (und der Identifikation mit dieser) willen.
Ulrich Ehebald genügte der Tatbestand, das der eine dieser Texte in unserem
Dezemberheft (1983) vor, der andere hinter dem dort nachgedruckten
Aufsatz Carl Muller-Braunschweigs (von 1933) und einer
Stellungnahme von dessen Sohn, Hans Muller-Braunschweig, plaziert
war, als Stimulans zur Produktion der Vision einer zweiarmigen, marxistisch-inquisitorischen Exekutionsmaschine, die ehrenwerte Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung bedroht. Das dieser Alptraum kein privater war, sondern dem tiefen Unbehagen einer ganzen Gruppe von westdeutschen Psychoanalytikern entsprach, wurde deutlich, als in verschiedenen Anschlußbriefen die Ehebaldsche Attacke (von deren Stil die Korrespondenten sich vorsichtig distanzierten) in wesentlichen Punkten unterstützt wurde.
Was in Wahrheit einen gemeinsamen Nenner der beiden so verschiedenartigen Texte bildet und fur die Opponenten (mit dem präsumtiven ≫local chairman≪ des für 1985 nach Hamburg einberufenen ersten Nachkriegskongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Westdeutschland an der Spitze) so unerträglich ist, läßt sich genau bestimmen:
Carl Müller-Braunschweig optierte im Herbst 1933 für einen Kompromiß der im »Reich« verbliebenen, nichtjüdischen Psychoanalytiker mit Instanzen des NS-Regimes, um den Fortbestand der Psychoanalyse in institutionalisierter Form zu ermöglichen. In seinem, im faschistischen »Reichswart« erschienenen Aufsatz über »Psychoanalyse und Weltanschauung« präsentierte er Freuds Psychoanalyse als ein »weltanschaulich« ebenso unbedenkliches (nämlich nicht-materialistisch und heroisch-konstruktiv orientiertes) wie nützliches (da z. B. von den Fesseln der Sexualität befreiendes) Heilverfahren. Diesem (gescheiterten) Versuch, die Psychologie des Unbewußten der völkischen Konterrevolution akzeptabel zu machen, um unter dem Dach des Behemoth (Name eines Ungeheuers Anm. JSB) einen Schlupfwinkel zu finden, standen damals Theorie wie Lebenspraxis der jüdischen und »linken« Emigranten Psychoanalytiker gegenüber. Im Hinblick auf diese Alternative (und das spätere Verhalten der österreichischen und ungarischen Psychoanalytiker) habe ich geschrieben, es wäre besser gewesen, auch die nicht-jüdischen Psychoanalytiker wären sich der Unvereinbarkeit von Freudscher Illusionskritik und NS-Weltanschauung und -Politik bewußt gewesen. Sie hätten dem rassistischen Führerstaat dann aus dem Wege gehen und die Psychoanalyse ohne ideologische Kompromisse privatim tradieren können.
Hermann Lübbe rechtfertigt das diplomatische Beschweigen der NS-Zeit und ihrer Schrecken, da nur auf diese Weise die Restauration der
»Staatlichkeit« möglich gewesen sei. Demgegenüber habe ich auf die
verpaßte Chance hingewiesen, im Deutschland von 1945 um der vielen Millionen Opfer willen etwas gegen den deutschen Staats-Fetischismus zu unternehmen. Die deutsche Vergangenheit dürfe nicht »beschwiegen«, nicht irrealisiert werden, damit jede Zukunft es werde, die ihr gleicht.
Beide Texte sind Plädoyers gegen ein Vergessen, das zum Wiederholen nötigt. Und im einen wie im anderen Fall optieren Ulrich Ehebald und die, die mit ihm eines Sinnes sind, gegen eine mögliche nonkonformistische und für die (ohnehin realisierte) konformistische »Lösung«. Der Parteinahme für eine bestimmte Auffassung von Psychoanalyse korrespondieren bestimmte politische Optionen: Man bejaht das Psychoanalyse-Verständnis und die »institutionalistische« Politik Carl Müller- Braunschweigs und opponiert implizit gegen das Psychoanalyse-Verständnis und das politische Verhalten der Siegfried Bernfeld, Otto Fenichel, Ernst Simmel oder Wilhelm Reich.Man nimmt Partei gegen die »Freudsche Linke«, — indem man so tut, als habe es sie nie gegeben. Man wendet sich in heller Empörung gegen die retrospektive Kritik an Carl Müller-Braunschweig und Felix Boehm, ebenso aber gegen Alexander Mitscherlichs kritische Anmerkungen zu Rainer Barzel (von 1966), gegen die (1983 formulierte) Kritik an dem »Neokonservativen« Hermann Lübbe und gegen die von H.-D. König verfaßte (und im Heft 2/1984 der Psyche publizierte) kritische Analyse der Selbstinszenierung Ronald Reagans als Cowboy.
Die heftige Reaktion gegen die Präsentation verschiedener Untersuchungen und Interpretationen der Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler in der Psyche war mehrfach determiniert. Die Psyche ist als eine institutionell nicht gebundene, unabhängige Zeitschrift für Psychoanalyse vielen ein Dorn im Auge. Als einzige existierende psychoanalytische Monatszeitschrift hat sie — älter als DPV und DGPPT — nicht nur die für Zeitschriftengründungen günstige unmittelbare Nachkriegszeit überdauert (sie erscheint im 38. Jahr), sondern auch den engen Rahmen eines Informationsblatts für Nervenärzte überschritten. Sie vermittelt zwischen psychoanalytischen Therapeuten und den für die Psychoanalyse aufgeschlossenen Gruppen der Intelligentsia. Mit gleichem Recht kommen auf ihren Seiten Autoren zu Wort, die klinisch-therapeutische Beiträge verfassen, und solche, die kulturkritisch-sozialpsychologischen Fragen nachgehen. In der Redaktion arbeiten seit vielen Jahren Psychoanalytiker, Soziologen und Geisteswissenschaftler produktiv zusammen. Die Psyche erinnert daran, daß mit »Psychoanalyse« mehr gemeint ist als eine menschenfreundliche Behandlungs-»Technik« im Vorfeld der Psychiatrie. Nun dieses Thema, in dieser Zeitschrift, behandelt von diesen Autoren — das hätte schon hingereicht, um Proteste auszulösen. Aber es kam hinzu, daß der kritisch kommentierte historische Text von Carl Müller-Braunschweig stammte, dem späteren »Gründervater« der 1949 von der restituierten DPG abgespaltenen (und von der IPA dann anerkannten) DPV . . .»Man kann nicht stolz sein auf die« (deutschen) »Väter, auch nicht auf die psychoanalytischen >Väter<. Sie haben für ihre psychoanalytischen Überzeugungen öffentlich nicht, oder nur bedingt eintreten wollen, z. B. für die Überzeugung, daß es keinen Grund für sie gibt, ihre jüdischen Kollegen aus den Vorständen der Institute oder aus ihren Lehrfunktionen zu entlassen.«3[iv]Text und Kommentar zeigen, daß es sich bei der Psychoanalyse, wie sie (unter anderen) Carl Müller-Braunschweig (und zwar nicht erst 1933, sondern schon 1930) vertrat, um eine Reduktionsform des Freudschen Originals handelte. Auf die Kulturkritik wurde als auf einen bedenklichen »weltanschaulichen« Ballast verzichtet, das kritische Potential der Psychoanalyse also eingeschränkt. Man enthielt sich wissenschaftlich-asketisch der »Wert«- und »Weltanschauungs«-Kritik und amalgamierte allsogleich die Neurosentherapie heteronomen Werten und Unwerten. Das Geschenk der Anna O., die »talking cure«, wurde mit einem »Stahlbad« verwechselt. Diese weltanschauliche Umrüstung der Psychoanalyse schien dann geeignet, ihr Überleben als Institution im Hitlerstaat zu ermöglichen. Konformistische Ideologie und konformistische Praxis gingen so Hand in Hand. Daß der (neukantianisch begründete) Versuch, die Psychoanalyse aus den sozialen und ideologischen Kämpfen der Zeit herauszuhalten, sie zu neutralisieren, mißlang und ihre Funktionalisierung für den Aberglauben jener Jahre nach sich zog, kann an Müller-Braunschweigs »Weltanschauungs«-Aufsätzen abgelesen werden. Nur wegen ihres Lehrstück-Charakters lohnt es sich, sie — die in der damaligen Psychoanalyse nicht auf Kritik stießen4[v] — heute noch einmal zur Diskussion zu stellen. Seltsamerweise aber wurde diese Problematik bisher von kaum einem der psychoanalytischen Korrespondenten aufgegriffen. Das mag einmal damit zusammenhängen, daß sich in der Emigration die neukantianische Reformulierung der Freudschen Theorie (in Gestalt der Ich-Psychologie Heinz Hartmanns) als herrschende Lehre durchgesetzt hat. Zum anderen aber wird die Tendenz, den im Kommentar »Kapitulation vor der >Weltanschauung<« aufgeworfenen Fragen auszuweichen, durch die von Ulrich Ehebald in seinem »Offenen Brief« vorgenommene Travestie begünstigt. Ehebald bediente sich dabei des außerhalb der Psychoanalyse wohlbekannten Abwehrmechanismus‘ der Personalisierung. So verkehrte sich ihm die Kritik an der in Müller-Braunschweigs »Weltanschauungs«- Artikeln sich manifestierenden, folgenreichen Selbsteinschränkung der Psychoanalyse in eine von einem fachfremden »marxistischen McCarthy« veranstaltete Hetzjagd auf den toten Autor, der diskreditiert werden solle, während sein Sohn »nach Nazimanier« in »Sippenhaft« genommen werde. Das alles geschehe, meinte Ehebald, »um dem Gott« der marxistischen Ideologie »Opfer heranschleppen zu können« . . .5Ist dies auch Wahnsinn, hat es doch Methode. Die Jagdszenen, die der Visionär erschaut, sind hausgemacht, und doch erfüllen sie den Briefschreiber mit »Scham« und »Empörung«. Das große Überich-Gespenst, das er halluziniert, ist eine Projektion der Ängste und Selbstvorwürfe derer, die das »Dritte Reich« noch miterlebt haben. Wer unter jenen Verhältnissen lebte, war ihr Opfer, auch wenn er ihnen nicht zum Opfer fiel. Vom Elend jener Generation legt der »Offene Brief« noch einmal Zeugnis ab. Aber der Abscheu vor einem imaginierten, gnadenlosen Häscher erleichterte es auch, dem so beunruhigenden Konformismus-Problem, das im Kommentar aufgeworfen wurde, aus dem Wege zu gehen. Der »Offene Brief« von Ulrich Ehebald war der Protest der psychoanalytischen »Mitläufer«: die Verteidigung der gestrigen durch die heutigen, der heutigen im Namen der gestrigen.
Erosion einer kritischen Theorie
Kritische Theorien, wie die Freudsche, artikulieren eine Erfahrung, die mit den jeweils herrschenden Denk- und Wahrnehmungsweisen unvereinbar ist.Gerade in dem, was der Konvention als unbrauchbar, als Abfall gilt und wovon in Wissenschaft und Lebenspraxis methodisch abgesehen wird, entdecken die Revolutionäre der Denkart das Neue, das eine bestehende Einrichtung des Lebens in Frage stellt. Indem sie an das Ausgegrenzte und erfolgreich Vergessene erinnern, markieren sie den Mangel der Ordnung, die über dem Grab der verworfenen Alternativen triumphierend sich erhebt. Und das dem Status quo verschworene Kollektiv stempelt solche Alchimisten, die aus Dreck Gold zu machen scheinen, stets zu Außenseitern6[vi]. Aus der Erfahrung dessen, was den vorherrschenden, institutionalisierten Zwecken widerstrebt, erschüttern die Neuerer deren fraglose Geltung.
Im gleichen Maße, wie das Leben und Arbeiten für einmal sanktionierte Zwecke zur Routine wird, geraten diese in Vergessenheit. Schließlich avancieren die Mittel selbst zu (Ersatz-)Zwecken. Zu Beginn der Neuzeit propagierten die Reformatoren eine Verallgemeinerung der zuvor von Mönchen erprobten Form eines Gott wohlgefälligen Lebens. Jedermann sollte künftig hienieden leben, um zu arbeiten, und das hieß: jeder sollte sein Leben so organisieren, daß er ein Maximum nützlicher Arbeitsleistung herauswirtschafte. »Bei den protestantischen asketischen Gemeinschaften hing die Zulassung zur Abendmahlsgemeinschaft an der ethischen Vollwertigkeit; diese aber wiederum wurde mit geschäftlicher Ehrbarkeit identifiziert, während nach dem Inhalt des Glaubens niemand fragte. Eine derart machtvolle, unbewußt raffinierte Veranstaltung zur Züchtung kapitalistischer Individuen hat es in keiner anderen Kirche oder Religion gegeben (. . .).«7[vii] Als die »innerweltliche Askese« Unternehmern wie Lohnarbeitern zur selbstverständlichen Lebensform geworden war, verfiel der transzendente Heilszweck, die einstige Legitimationsgrundlage der neuen Wirtschaftsethik, der Vergessenheit. »Die religiöse Wurzel des modernen ökonomischen Menschentums ist abgestorben. Heute steht der Berufsbegriff als caput mortuum in der Welt« (a. a. 0.). Die ethische Revolution, durch die zu Beginn der Neuzeit das »richtige« Leben als ein arbeitsames (statt als müßiges) definiert wurde, war eingebettet in den sozialhistorischen Übergang zu einer neuen Form der Vergesellschaftung durch Tausch auf sich erweiternden Märkten. In der bürgerlich-kapitalistischen Marktgesellschaft wurde das Geld, das im Warentausch, solange er die Produktion noch nicht beherrschte, nur vermittelnde Funktion besaß, in Gestalt des Profits zum Zweck des Wirtschaftens : Produziert wird für den Warentausch, getauscht wird zwecks Realisierung des Gewinns, der Gewinn aber wird profitabel reinvestiert. Hauptzweck der Produktion ist die Kapitalakkumulation, nicht die Bedarfsdeckung. Unter diesen Verhältnissen bleibt die »protestantische« Ethik für die Menschen, die in unserer Gesellschaft leben, funktional, auch wenn der religiöse Goldgrund der entfremdeten Arbeit längst verblaßt und abgeblättert ist. Die von Marx formulierte Kritik der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise ruft die im Übergang zur Moderne eingetretene Zweck-Mittel-Verkehrung in Erinnerung, analysiert die sowohl produktivitätssteigernde wie ruinöse Funktion dieser Fetischisierung der Mittel, streift der herrschenden Lebensform ihren Naturschein ab und demonstriert die Möglichkeit ihrer praktischen Veränderung (der Ablösung der Marktvergesellschaftung durch eine planmäßige Bedarfsdeckungswirtschaft frei assoziierter Produzenten).
Auch Freuds Interesse wurde von »Randphänomenen«, Anomalien, vom »Abhub der Erscheinungswelt«8[viii] in Bann geschlagen — von dem im Rahmen der zeitgenössischen Medizin nicht auflösbaren Rätsel der Hysterie, von Wunderdrogen wie dem Kokain, von obskuren Heilverfahren wie der Hypnose. Die Beschäftigung mit Neurosen und Träumen gab ihm Anlaß, das Bild, das seine Zeitgenossen sich vom Menschen machten, von Grund auf zu revidieren: Menschen glauben zwar im allgemeinen, zu wissen, was sie tun (bzw. denken und fühlen), aber ihre Praxis undihr Bewußtsein differieren erheblich, so daß sie in aller Regel noch anderes tun, als sie wollen (und wissen). Das bewußte Ich — Angelpunkt aller neuzeitlichen Vorstellungen von individueller Autonomie — ist keineswegs der Herr im Seelenhaus, bewohnt vielmehr nur eine seiner Kammern.9[ix]Bei den Neurosen handelt es sich weder um Symptome unbekannter organischer Defekte, noch um Simulationen, sondern um »gesellschaftliche Krankheiten« (S. Ferenczi), also um Triebwünsche, die unter dem Druck kultureller Tabus sich nur in ichfremd-maskierter Form als »Störung« geltend machen können. Der Wirklichkeitssinn, der erst im Sozialisationsprozeß sich bildet und dann den Anschluß der Individuen an das System kollektiver Selbsterhaltung gewährleistet, steht im Dienst des Möglichkeitssinnes, der im Interesse asozialer, luxurierender Triebe operiert und kein Primat der Selbsterhaltung kennt. Die geläufige Vorstellung vom Menschen als dem animal laborans (»toolmaking animal«) ergänzte Freud durch das Gegenbild des »unermüdlichen Lustsuchers«. Und im Hinblick darauf, daß die große Mehrheit der Menschen um ihr gesellschaftlich schon mögliches Glück betrogen, in Unmündigkeit (Massenbindung) gehalten und mit leeren Illusionen abgespeist wird, formulierte er seine Kritik der Gegenwartsgesellschaft: »Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.«10[x] Dieser kulturrevolutionäre Gehalt der Freudschen Lehre hat ihr »den Weg zum Weltinteresse« erschlossen und ihr die Verteidiger des gesellschaftlichen Status quo zu Feinden gemacht.
Freuds Psychologie ist im Kern eine Geschichte der Bildung der menschlichen Seele, entworfen aus der Perspektive der leidenden, in den Kulturprozeß verstrickten Individuen. Deren Seelenleben gilt Freud als der Ort, an dem die Gattungsgeschichte in jeder Generation wieder zum Austrag kommt, in Frage gestellt und fortgeschrieben wird. Trieb- und Kulturtheorie sind ein und dasselbe. Ihren Voraussetzungen nach ist die psychoanalytische Theorie (biologisch-)materialistisch und atheistisch.
Ihr Thema sind die lebenden Individuen, deren »exzentrische Positionalität« (H. Plessner) sie auf die Bahn geschichtlicher Welt- und Selbstveränderung treibt. Das von Freud entwickelte eigentümliche therapeutische Verfahren, bei dem das Interesse an neuen Einsichten (in Triebschicksale und in die Struktur der Seele) mit dem an der »Befreiung von unnötigem innerem Zwang« (S. Ferenczi) zusammenfällt, ist nur im Rahmen seiner Kulturkritik überhaupt verständlich. Kennt der Therapeut nur noch seine Behandlungs-»Technik«, weiß er auch nicht mehr, was er tut.Ist Psychoanalyse »ein Mittel zur Stärkung der intellektuellen, emotionalen und sozialen Unabhängigkeit«11[xi], so steht sie in Opposition zu einer Gesellschaft, in der die selbständigen Individuen rar werden und Autonomie kaum mehr gefragt ist. Das Mehr an innerer Freiheit, das eine gelungene Psychoanalyse privilegierten Patienten verschafft, ist stets noch ein Wechsel auf eine künftige Kultur, »die keinen mehr erdrückt«.
Die Einbürgerung der vormaligen »Untergrundbewegung« Psychoanalyse (Bernfeld, a. a. O., S. 444) vollzog sich auf dem Wege einer reduktiven Instrumentalisierung der Freudschen Ideologiekritik. Aus dem Traditionsbestand Freudscher Lehren wurden stillschweigend diejenigen ausgesondert, deren Kenntnis für den psychoanalytischen Arzt weder professionell nützlich, noch politisch opportun ist. Nur Zunftfremde oder Außenseiter in der Zunft interessieren sich noch für die Philosophie des Lebens und des Todes, für den Antagonismus von Glücks- und Aggressionstrieb und Kultur, und engagieren sich für das Projekt einer sozialpsychologischen Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Die Reduktion der psychoanalytischen Aufklärung auf eine menschenfreundliche Behandlungs-»Technik«, die ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Funktionen nicht mehr bewußt ist, hat eine Kritik der instrumentellen Vernunft dieser gleichgeschaltet.
Wenn die Mittel zum Selbstzweck werden, regiert die instrumentelle Vernunft12[xii]. Die Ziele, die sie realisieren hilft, sind ihr ebenso selbstverständlich wie gleichgültig. Sie reduziert und spezialisiert sich auf die stets rentablere Verwertung knapper Ressourcen und auf die Melioration von Techniken. Wird die jeweils herrschende gesellschaftliche Ordnung als »Realität« zum »Prinzip«, so versteht die Moral sich von selbst.
Nur weil, Freud zufolge, dem Realitätsprinzip das Lustprinzip opponiert, ist der »Abbau jeder Art von Über-Ich« (S. Ferenczi) eine Vorbedingung der Heilung von Neurosepatienten. Das aber ist für die meisten Psychoanalytiker längst kein Thema mehr. Sie schreiben lieber über die objektive Geltung von Wertordnungen als über die Genealogie der Moral, rehabilitieren überkommene Ideale und manchmal gar die Religion.
Kritische Theorien sind jederzeit von konformistischer Erosion bedroht.
Kommt es zu einer Rezeption, so wird gerade das Neue an ihnen übersehen oder für »veraltet« erklärt, das eben, wodurch ihre Autoren sich in Widerspruch zu den herrschenden Anschauungen, zum common sense setzten. Ist die spezifische Differenz der Theorie zu dem, was alle immer schon wußten, ist ihr Anstößiges erst getilgt, so kann sie für die Zwecke, auf die die Praxis routinierter Selbsterhaltung geeicht ist, eingespannt werden. Die einstige Kritik wird dann umfunktioniert zur Apologie der schlechten Praxis; man destilliert daraus Programme für die moralische Aufrüstung.
Psychoanalyse empfiehlt sich gegenwärtig als ein rentables Verfahren, mit psychischen Störungen fertig zu werden, nicht als Kritik einer Kultur, die Probleme und Risiken erzeugt, die auf der Basis ihrer Institutionen nicht bewältigt werden können. Autoplastik ist nicht mehr nur das A der Therapie, sondern auch ihr O. Was als Kritik der herrschenden Vernunft begann, unterliegt deren Gewalt. Im gleichen Maße, wie die reduzierte Psychoanalyse darauf verzichtet, die kulturelle Entwicklung der Gegenwart zu deuten, erlischt auch das »Weltinteresse«, das einmal ihr galt.Längst ist Freuds Mahnung verhallt, seine Lehre dürfe nicht den Ärzten und Priestern in die Hände fallen. Ärzte und Psychologen haben den Zugang zur psychoanalytischen Ausbildung für ihre Gruppe monopolisiert.
Als gut bezahlte Spezialisten von der Psychoanalyse lebend, haben sie sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) in eine Eremitage zurückgezogen. Ihr Humanismus soll sich nur noch im Kleinen bewähren, im Umgang mit ihren Patienten. Sie ordnen sich der herrschenden Arbeitsteilung unter, die Produktivität durch die Zerstörung von Zusammenhängen steigert. Die Einengung des Horizonts und die politische Abstinenz, die sie sich selbst verordnen, deuten die psychoanalytischen Anachoreten als unvermeidliche Folge beruflicher Spezialisierung, als déformation professionelle.13[xiii]
Den Welthändeln gegenüber möchten sie die Position eines unzuständigen, neutralen Beobachters wahren, der dem jeweiligen Ausgang der sozialen Kämpfe gelassen (mit »gleichschwebender Aufmerksamkeit«) entgegensieht. Das steigert das Gefühl der Ohnmacht und verführt doch auch dazu, die politische Welt mit dem psychoanalytischen »Setting« zu verwechseln. In der Perspektive der professionellen Anwender der Psychoanalyse erscheint, was deren Herzstück ist — das Verständnis der kulturellen Matrix der Lebensgeschichten —, nur mehr als mögliche (und problematische) »Anwendung« der Neurosenlehre.14[xiv] Erinnern Nicht-Therapeuten, »Fachfremde«, »Außenseiter« — die »armen Verwandten« der psychoanalytischen Therapeuten — an die professionell nicht direkt nutzbaren Freudschen Lehren, so werden diese Theoriestücke mitunter gar nicht mehr als »freudianisch» erkannt und anerkannt, sondern als etwas Fremdes, Unheimliches perhorresziert.15[xv]Diese fatale Selbstvergessenheit vieler heutiger Psychoanalytiker wird mit Hilfe von Ausgrenzungen verteidigt. Freuds Kulturkritik möchten sie gar zu gern Marx in die Schuhe schieben.
Selbstvergessenheit schützt die Angehörigen des psychoanalytischen Berufsstandes vor der permanenten Beunruhigung, die von Freuds negativer Philosophie ausgeht. Die Transformation seiner Ideologiekritik in eine Spielart der instrumentellen Vernunft liegt im Interesse all‘ der Seelenärzte, die sich danach sehnen, die Psychoanalyse endlich als eine Wissenschaft wie andere auch anerkannt zu sehen — die Ärzte mit der gleichen Reputation wie andere sein und darum endlich das Odium der subversiven Theorietradition loswerden möchten. (Mittlerweile hat es ja geklappt. Kein Mensch interessiert sich noch für (eine solche) „Psychoanalyse“. Anm. JSB) Die Chancen für eine Reform der »eingeschüchterten« Psychoanalyse16[xvi] von innen her sind daher gering zu veranschlagen. Denen, die von ihrer jetzigen Verfassung profitieren, kann diese schwerlich als defizient erscheinen. Die Kritik an der reduzierten Psychoanalyse kommt vor allem von Intellektuellen, die nicht von der Anwendung der psychoanalytischen »Technik« leben, die die Hoffnung auf eine Kultur, »die keinen mehr erdrückt«, nicht aufgegeben haben und die sich selbst wie die Gesellschaft, in der sie leben, ohne Freud nicht verstünden. Nur wenn ihre externe Kritik an der Schmalspur-Psychoanalyse für die Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigungen unüberhörbar ist, besteht auch eine Chance, daß sie von der unzufriedenen Minderheit der Zunft aufgegriffen wird. Das Geschenk der Anna O. ist noch immer nicht in den richtigen Händen. Die »weltlichen Seelsorger«, denen Freud es vermacht hat, brauchen die ganze, die uneingeschüchterte Psychoanalyse im Kampf um die Erinnerung, im Kampf für ein Ende der Mordgeschichte.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Helmut Dahmer, Friedrichstr. 50, 6000 Frankfurt a. M.)
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 6. 6. 1984.
[ii] 1 Dieser (drei maschinengeschriebene Seiten umfassende) Brief vom 9. 2. 1984 ist — zusammen mit 17 weiteren Briefen, die in diesem Zusammenhang zwischen verschiedenen Psychoanalytikern und mir (stellvertretend für die Psyche-Redaktion) gewechselt wurden — in einer primär für die deutschen Psychoanalytiker bestimmten Dokumentation publiziert worden: »Psychoanalyse unter Hitler, Dokumentation einer Kontroverse«, hg. Von der Redaktion der Zs. Psyche, April 1984, S. 4—6.
[iii] 2 Ein (leicht gekürzter) Vorabdruck dieses Vortrags erschien in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung vom 24. 1. 1983 (S. 9); die vollständige Fassung (samt anschließender Diskussion)
ist in dem von M. Broszat u. a. herausgegebenen Band Deutschlands Weg in die Diktatur,
Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude
zu Berlin, Referate und Diskussionen, Ein Protokoll, Berlin (Siedler) 1983,
327—349 (und S. 350—378) publiziert worden.
[iv] 3 Dieses Zitat entstammt — ebenso wie verschiedene andere, die hier als Belege für eine bestimmte Bewußtseinsverfassung und Affektlage dienen — Briefen von Psychoanalytike¬rinnen und Psychoanalytikern, die mir im Zusammenhang mit dem »Offenen Brief« von Ulrich Ehebald zugegangen sind.
[v] 4 Vgl. den Bericht über die »Psychoanalytische Tagung in Dresden (27.-29. September 1930)« in der von A. J. Storfer herausgegebenen Zs. Die Psychoanalytische Bewegung (Wien, Internat. Psa. Vlg., in Jg., H. 1, Jan.—Febr. 1931, S. 85-90): »Soziologischen Problemen« waren — in friedlicher Koexistenz unvereinbarer Positionen — die Vorträge von Erich Fromm (»Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie«), Hugo Staub (»Psychoanalyse und Strafrecht«) und Carl Müller-Braunschweig (der über »Psychoanaly¬se und Weltanschauung« sprach und dabei »mehr philosophische Gedankengänge verfolg¬te«) gewidmet (S. 87 f.). Als Referenten (und potentielle Diskutanten) waren anwesend: A. Aichhorn, M. Bälint, F. Boehm, M. Eitingon, 0. Fenichel, G. Groddeck, K. Horney, H. Meng, S. Radö, W. Reich und E. Simmel. — In einem (S. 89 f. zitierten) Bericht über die Dresdener Tagung, den Gustav Bally in der Zs. Medizinische Welt (vom 15. 11. 1930) veröffentlichte, hieß es, die Konferenz habe »den Stempel einer absoluten wissenschaftli¬chen Einheitlichkeit« getragen .. .
[vi] 5 »Wer dieses Heft« (12/1983) »liest (…), kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie geschickt den Boden vorbereiten ließen, um nunmehr zur posthumen Exekution Mül¬ler-Braunschweigs und Inhaftnahme seines Sohnes zu schreiten.« ».. . daß Sie, noch dazu als Außenseiter, es wagen, das Andenken eines von uns so hoch geschätzten Kollegen zu verunglimpfen, daß Sie nach Nazimanier dessen Sohn in ‚Sippenhaft< nehmen, das ist un¬verzeihlich, weil unmenschlich.« (U. Ehebald, a. a. 0., S. 4 und S. 6.)
6 Vgl. Hans Mayer, Wir Außenseiter, Aachen (Rimbaud Presse) 1983.
[vii] 7 Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, hg. von S. Hellmann und M. Palyi; München und Leipzig (Duncker & Humblot) 1924, S. 314 f.
[viii] 8 »Es ist wahr, die Psychoanalyse kann nicht von sich rühmen, daß sie sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben hat. Im Gegenteil, ihren Beobachtungsstoff bilden gewöhnlich jene
unscheinbaren Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig
bei Seite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt. (… ) Gibt es nicht
sehr bedeutungsvolle Dinge, die sich unter gewissen Bedingungen und zu gewissen Zeiten
nur durch ganz schwache Anzeichen verraten können? (…) Lassen Sie uns also die kleinen
Anzeichen nicht unterschätzen; vielleicht gelingt es, von ihnen aus Größerem auf die
Spur zu kommen.« S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17),
GW XI, S. 19 f.
[ix] 9 Vgl. Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917), GW XII, S. 11.
[x] 10 Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927); GW XIV, S. 333.
[xii] 12 Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), Frankfurt (Fischer) 1967, S. 10—174.
[xiii] 13 »Die Erfahrung lehrt, daß die realpolitische Urteils- und Handlungsfähigkeit von Psychoanalytikern durch ihre Tätigkeit häufig Einschränkungen erleidet.«
»Meiner Meinung nach werden die Analytiker durch ihre therapeutischen Handlungen irrealisiert, durch Vernehmen, Verstehen und Deuten. Diese Handlungen prägen ihr Selbstverständnis und sie charakterisieren ihre Profession (… ), ihr Erkenntnismittel ist die
gleichschwebende Aufmerksamkeit (… )· Die Interaktion ist keine Diskussion, sondern ein
Dialog zwischen dem Unbewußten des Patienten und dem des Analytikers. (. . .) Dieser
Dialog ist überaus störbar, er wird durch jede sinnliche Präsentation irritiert. (. . .) Die
Frage, wie der Analytiker trotz der die Arbeit disziplinierenden und entwirklichenden
Postulate wirklich bleiben oder werden kann, handlungsfähig auch mit anderen Erscheinungsformen der Wirklichkeit, diese Frage ist schwer zu beantworten.«
[xiv] 14 »Psychoanalyse ist in erster Linie eine empirisch-klinische Neurosentherapie, aus der
sich erst nachfolgend kulturkritische Theorien entwickeln lassen.«
[xv] 15 »Philosophischer Atheismus und philosophischer Materialismus sind wesentliche Bestandteile des Marxismus; sind sie aber auch die essentials der Psychoanalyse?«
»Gleichzeitig wird der Leser (. . .) mit Behauptungen konfrontiert, die, um einige herauszugreifen, der Psychoanalyse einen ›radikalen Aufklärungsanspruch‹ oder einen ›kulturrevolutionären Gehalt‹ (. . .) unterstellen.
[xvi] 16 Vgl. H. Dahmer, »Die eingeschüchterte Psychoanalyse, Aufgaben eines psychoanalytischen Forschungsinstituts heute«, in: H.-M. Lohmann (Hg.), Das Unbehagen Psychoanalyse. Eine Streitschrift, Frankfurt (Qumran) 1983, S. 24—39.
»Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes … Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag« (Hegel, 1807, S. 36).
Aber es muß geschieden werden. Wo die Dinge heillos durcheinander-geraten, wo alles mit allem vermengt wird, wo Tatsachen und Deutungen in einen Topf geworfen werden, wo historische Sachverhalte und privates Unbehagen sich mischen: Dort hat Aufklärung keine Chance mehr.
Einige deutsche Psychoanalytiker haben in der letzten Zeit bestürzende Zeugnisse dafür geliefert, wie die Sache der Psychoanalyse — Erinnern und Durcharbeiten — von ihren vermeintlichen Sachwaltern an die Gegenaufklärung ausgeliefert wird (vgl. die vorstehend abgedruckten Zitate aus Leserbriefen und die Dokumentation »Psychoanalyse unter Hitler«).Zwei Hefte der Psyche, die das Schicksal der Psychoanalyse im Dritten Reich zum Thema hatten (11/1982 und 12/1983), haben genügt, bei vielen Analytikern einen Affektsturm auszulösen, dessen aggressive Heftigkeit eine Ahnung davon vermittelt, wie man mit der Aufklärung umzugehen gedenkt — sie soll ausgegrenzt und damit mundtot gemacht werden. Angeprangert werden die, die schlechte Nachrichten überbringen, nicht die Akteure, von denen berichtet wird. Selten konnte man die psychischen Mechanismen der Verleugnung und Projektion so isoliert betrachten wie hier.
Von Hegel bis Marx, von Nietzsche bis Freud war es das Ziel der Aufklärung, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen« (Horkheimer und Adorno, 1947, S. 9). Kraft und Arbeit der aufklärerischen Vernunft galten der Unterscheidung von Tatsachen und Fiktionen, von Wissenschaft, Glaube und Mythologie, von Erkenntnis, Ressentiment und Vorurteil. Noch da, wo, wie bei Freud, auch die selbstdestruktiven Tendenzen der Aufklärung in den Blick kamen1[ii], kämpfte die Aufklärung im Geist der großen philosophischen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts gegen die mögliche Zukunft von Illusionen, schied sie private und kollektive Religionen streng von historisch angemessener Erkenntnis und Einsicht.
Dies Erbe sei, sollte man meinen, auch unter heutigen Analytikern konsensfähig; diese Grundlektion sei begriffen und internalisiert. Daß es sich aber durchaus anders verhält2[iii], daß nichts weniger konsensfähig ist als der Auftrag der Psychoanalyse, die scharfe Sonde der Erkenntnis anzusetzen, derart Gold und Kupfer, Wahrheit und Lüge, Selbsterhellung und Selbstverbergung trennend, offenbaren die Reaktionen zahlreicher Psychoanalytiker. Zumal wenn die problemhaltige Geschichte der eigenen Disziplin, die zu thematisieren und aufzuklären die deutschen Seelenforscher doch immerhin genügend Zeit und Gelegenheit hatten, zur Debatte steht, verstocken sich Teile der Zunft derart, daß die fragliche Sache — das Schicksal der Psychoanalyse unter Hitler — durch sachfremde Zutaten bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wird. Da geht es nicht mehr um die Stichhaltigkeit dieser oder jener Tatsachenbehauptung, dieser oder jener Interpretation von Tatsachen, sondern um die Stigmatisierung derjenigen, die mit dem Aufklärungsanspruch der Psychoanalyse ernst machen. Während es den Kritikern der in Frage stehenden Psyche-Publikationen in keinem einzigen Punkt gelingt, ein korrigierendes argumentum ad rem beizubringen, camouflieren sie ihre evidente Sprachlosigkeit mit bildungsbeflissener Geschwätzigkeit und Pseudoargumenten, die mit der verhandelten Sache nichts zu tun haben. Ob ein Mitherausgeber der Psyche »ein ganz offensichtliches Faible für marxistische Positionen und Autoren« hat; ob er »Soziologe«, »eloquent« und »belesen« ist; oder ob die Psyche »ein nahezu monopolistisch-kapitalistisches Privatunternehmen« ist: Was hat das alles (vorausgesetzt, derlei Klassifizierungen seien irgend triftig) mit den in der Psyche verhandelten historischen und aktuellen Problemen zu tun?
Die Melange, die da hergestellt wird, läßt Böses ahnen im Hinblick auf jene Analytiker, die gestern wie heute vor allem mit dem »Typus des Institutionsträgers« (Sonnemann, 1984, S. 5) unter ihren Vätern — Felix Boehm, Carl Müller-Braunschweig, Ernest Jones — unbewußt identifiziert sind. Denn das ist die schockierende Wahrheit, die man am Grunde der Melange, gewissermaßen im Kaffeesatz, findet — daß Analytiker Geschichte und Schicksal psychoanalytischer Institutionen mit der Sache der Psychoanalyse verwechseln. Deshalb müssen sie, weil sie nicht zu unterscheiden wissen zwischen institutionalisierter Psychoanalyse und Psychoanalyse als Organon von Erkenntnis, Aufklärung und Kritik, jeden Versuch, der auf die Problematisierung der Institutionengeschichte zielt, als Angriff auf die Psychoanalyse selbst abwehren. Deshalb müssen sie, weil für sie die nationalsozialistische Institutionalisierung der Psychoanalyse, welcher die bundesdeutsche bruchlos folgte, gleichbedeutend ist mit der gesellschaftlichen Durchsetzung und Anerkennung des Freudschen Originals, die Kritik an den Protagonisten der Institutionalisierung, an Boehm, Müller-Braunschweig und Jones, als Attacke auf die eigene Identität erleben.Deshalb müssen sie, weil sie die Kritiker der psychoanalytischen Institutionengeschichte als Feinde der Psychoanalyse identifizieren, auf diese das Verfahren der Ausgrenzung anwenden, das immer dann zu Ehren kommt, wenn es um die Statuierung von Sündenböcken geht — eine bekannte deutsche Art aggressiver Selbstentlastung.
Dabei wäre gerade nach den Erfahrungen unserer Geschichte gegenüber den Institutionen und ihren Trägern tiefstes Mißtrauen am Platz. Solches Mißtrauen wäre — beispielsweise — zu erlernen am Schicksal der Psychoanalyse unterm Hakenkreuz. Damit dieser Lernprozeß einsetzen und gelingen kann, ist freilich die »Tätigkeit des Scheidens« (Hegel), die zersetzende Arbeit des analysierenden Intellekts vonnöten. Die Konzessionen, die vor fünfzig Jahren deutsche Analytiker den damaligen Machthabern zu gewähren bereit waren, erscheinen dann allerdings in einem anderen Licht als in dem der institutionalistischen Rechtfertigung.
Denn so wenig die Psychoanalyse 1933 von Boehm und Müller-Braunschweig »gerettet« wurde, so wenig kann die wachsende institutionelle Absicherung der Psychoanalyse in Westdeutschland per se als Beweis dafür gelten, daß die Wahrheiten der Psychoanalyse sich in nennenswertem Umfang durchgesetzt hätten; vieles spricht dafür, daß die »Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis« (A. Lorenzer) in dem Maße auf der Strecke bleibt, wie der institutionenförmigen Einbürgerung der Psychoanalyse Erfolg beschieden ist.
Was die Psychoanalyse in ihrer Originalversion an schmerzenden, den individuellen wie den Gattungsnarzißmus kränkenden Wahrheiten bereithält, ist schwerlich kompatibel mit den Erwartungen, welche die herrschende Kultur — damals wie heute — ihr gegenüber hegt. Deshalb bleibt es auch den heutigen Analytikern nicht erspart, sich immer wieder die Frage vorzulegen, welches der Preis ist und wie hoch der Preis sein darf, der gefordert wird, wenn es um den Erhalt und die Absicherung psychoanalytischer Institutionen geht3[iv]. Vieles von dem, was Analytiker und ihre Verbände in jahrzehntelangem Kampf durchgesetzt haben, mag erhaltenswert sein — aber der Institutionalismus darf nicht zum Selbstzweck werden. Wer es für einen Fortschritt hält, daß es heute in der Bundesrepublik ein Dutzend Lehr- und Ausbildungsinstitute der DPV gibt, muß sich auch der Frage stellen, welche Gestehungskosten dieser Fortschritt hat. Vor einer ganz ähnlichen Frage haben deutsche Analytiker vor fünfzig Jahren kapituliert, als sie das zweifelhafte Privileg der Integration der Freudschen Psychoanalyse in ein staatliches Institut mit ihrer Rettung verwechselten. Und heute, da diese Frage, um aus ihrer Beantwortung für die Zukunft zu lernen, noch einmal aufgerollt wird, ist so mancher Analytiker wiederum bereit, der Institutionalisierung den Vorrang zu geben. Statt unbequeme, der Psychoanalyse freundlich gesonnene Fragesteller auszugrenzen, stünde es den Analytikern besser zu Gesicht, jener Traumatisierungen und Verluste zu gedenken, die der Psychoanalyse im Zuge ihrer durch Selbstrestriktion erkauften »Rettung« während des Dritten Reichs zugefügt worden sind4[v].
Als nach dem Ersten Weltkrieg das Komitee der sieben Ringträger gegründet wurde, geschah dies nicht so sehr um der Sicherung der neu entstandenen psychoanalytischen Institutionen als vielmehr um des Erhalts und der unverfälschten Tradierung dessen willen, was den Kern der Wissenschaft vom Unbewußten ausmacht. Freud selber stand der wachsenden internationalen Anerkennung der Psychoanalyse, die mit ihrer Institutionalisierung Hand in Hand ging, eher skeptisch, ja mißtrauisch gegenüber, wie eine briefliche Mitteilung an Pfister dokumentiert: »Es ist wahr, die Sache geht überall vorwärts, aber mein Vergnügen daran scheinen Sie zu überschätzen. Was man von persönlicher Befriedigung aus der Analyse schöpfen kann, habe ich schon zur Zeit, da ich allein war, genossen, und seit der Anschluß anderer gekommen ist, mich mehr geärgert als gefreut. Die Art, wie die Menschen es annehmen und verarbeiten, hat mir keine andere Meinung von ihnen beigebracht als ihr früheres Benehmen, da sie es verständnislos ablehnten. Es muß doch in jener Zeit ein unheilbarer Riß zwischen mir und den andern entstanden sein« (zit. nach Jones, 1957, S. 44). Gerade in »die Zeit des ungestörtesten Friedens und größten Fortschrittes in ihrer (der Psychoanalyse, HML) Geschichte«, wie Sachs (1944, S. 146) die frühen zwanziger Jahre charakterisiert, fällt Freuds Skepsis hinsichtlich des Fortschritts in der Psychoanalyse.
So wie Freud das von ihm entdeckte Original von dessen — häufig erfolgreichen — Kopien, Popularisierungen und Entschärfungen sorgfältig schied, so wäre auch heute noch einmal, da die Psychoanalyse es zu erstaunlicher öffentlicher Reputation und institutioneller Petrifikation (Versteinerung Anm. JSB) gebracht hat, im Interesse des psychoanalytischen Aufklärungs- und Selbstaufklärungsanspruchs die Notwendigkeit der Scheidung von Gold und Kupfer, von Wahrheit und Illusion, von Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung auf die Tagesordnung zu setzen. Scheiden tut freilich weh. Aber es muß geschieden werden, wenn die Psychoanalyse heute und in Zukunft eine Chance haben soll.
(Anschrift des Verf.: Hans-Martin Lohmann, Myliusstr. 20, 6000 Frankfurt 1)
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 4. 6. 1984.
[ii] 1 »Freuds Wissenschaft arbeitet wie kaum eine andere an der Dialektik der Aufklärung; eigentlich entfaltet sie geradezu das Modell dieser Dialektik« (Rutschky, 1983, S. 218).
[iii] 2 »Aufklärung ist bei uns neben den in Deutschland heimischen philosophischen Systemen nie so recht anerkannt worden. In der historischen Totalbilanz der letzten 200 Jahre hat uns rationale Trockenheit dann bitter gefehlt. Hochmut des kaiserlichen Deutschland und Afterglauben des Nationalsozialismus wären uns sonst vielleicht erspart geblieben. Und auch gegenwärtig steht es um ein Interesse für Aufklärung immer noch nicht gut« (Mitscherlich, 1977, S. 581).
[iv] 3 Becker und Becker (1984, S. 235) bezweifeln zurecht, daß jede Institutionalisierung der
Psychoanalyse automatisch zu deren Entpolitisierung und Selbstverharmlosung führe; das
(staatlich finanzierte) Frankfurter Sigmund-Freud-Institut unter der Leitung Mitscherlichs
sei ein Gegenbeispiel gewesen; im übrigen seien Substanzverluste auch da zu beobachten,
wo die Psychoanalyse privat praktiziert werde. Das ist sicher richtig. Freilich verkürzen die
Autoren das Problem auf einen Begriff des Politischen, der zu vordergründig ist. Es geht
im Blick auf das künftige Schicksal der Psychoanalyse nicht nur um deren Satisfaktionsfähigkeit in manifesten politischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen (atomare Bedrohung, Ausländerfeindlichkeit, sozialpolitische »Wende« u. ä.), sondern vor allem anderen um den Erhalt jenes Subversionspotentials, das in der Sache selbst, im wissenschaftlichen Entwurf der Psychoanalyse steckt. Wie alle Institutionen tendieren auch die psychoanalytischen dazu, die institutionelle Seite — die Selbsterhaltung der Macht — zu verabsolutieren — was sich z. B. am Problem der Ausbildung und an dem damit einhergehenden Hierarchie- und Unterwerfungsverhalten zeigt (vgl. Bernfeld, 1952; Rosenkötter, 1984) — und auf diesem Wege der Subversion psychoanalytischer Erkenntnis abzuschwören.
[v] 4 Es gibt zu denken, daß in den Protestbriefen an die Psyche-Redaktion, die sich auf die
genannten Publikationen beziehen, immer wieder Carl Müller-Braunschweig (den man
neuerlich verfolgt und verunglimpft wähnt) auftaucht, während der Name des von den
Nationalsozialisten ermordeten Analytikers John Rittmeister so gut wie nie vorkommt, so
als habe der Mann gar nicht existiert. Könnte es sein, daß solches Totschweigen post mortem damit zusammenhängt, daß Rittmeister, der für die Widerstandsorganisation »Rote Kapelle« arbeitete, heute noch einmal dafür bestraft wird, daß er durch sein Engagement die berufliche und institutionelle Sicherheit der am Göring-Institut tätigen Analytiker gefährdete und ihnen ein schlechtes Gewissen machte? Zeitzeugen wie W. Bräutigam berichten, daß im Winter 1942/43 die Verhaftung Rittmeisters wie »ein schwerer Schatten« über dem Institut lag und daß in der Folge immer mehr Institutsangehörige zum Militär eingezogen wurden. Rittmeister — ein Institutionenverräter?
WALTER BRÄUTIGAM, HEIDELBERG
Rückblick auf das Jahr 1942.
Betrachtungen eines psychoanalytischen
Ausbildungskandidaten des Berliner Instituts der Kriegsjahre*[i]
Übersicht: Bräutigam rekapituliert seine persönlichen Erfahrungen als psychoanalytischer Ausbildungskandidat am »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie« und ergänzt sie um Beobachtungen und Reflexionen (welche Reflexionen denn? Anm. JSB) aus heutiger Sicht. Die Frage, ob die Psychoanalyse als Theorie und Praxis zwischen 1933 und 1945 in Deutschland liquidiert (Ja! Anm.JSB) oder ob sie am Leben erhalten wurde (Nein! Anm. JSB), beschäftigt die Psychoanalytiker in den letzten Jahren mehr als in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Hat sie sich gegenüber dem Nationalsozialismus freiwillig eingeschränkt und angepaßt und dabei u. U. eine bis in die Gegenwart reichende Deformation erfahren, wie es französische Autoren, z. B. Maud Mannoni, behaupten (vgl. Maud Mannoni, 1979)? (Ja! Anm. JSB) Im Rückblick erscheinen die immer neuen Kompromisse des damaligen Vorstands der DPG und der in Berlin verbliebenen Analytiker von 1933 an bei der zunehmenden Diskriminierung ihrer jüdischen Kollegen sowie der Verzicht auf die Nennung des Namens von Sigmund Freud zumindest als menschliche Schwäche, wenn nicht als Opportunismus. Ihr Verhalten in diesen Jahren wird umso fragwürdiger, wenn man das der Psychoanalytiker in Wien 1938 und in den Niederlanden 1940 sieht, die die Institutionen auflösten und ihre offizielle Tätigkeit einstellten. Allerdings hatte sich das Gesicht des Regimes zu diesem Zeitpunkt schon enthüllt, hatten die Nazis gegenüber der Psychoanalyse eindeutig Stellung bezogen.
Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, ob die Mitarbeit der deutschen Psychoanalytiker am »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie« in Berlin eine Kapitulation und ein Verrat an der Psychoanalyse war oder ob ihr positive (für wen und für was positiv? Anm. JSB) Seiten abzugewinnen sind. Ich möchte diese Frage zum Anlaß nehmen, einige subjektive, allerdings zeitlich kurze Erfahrungen als Ausbildungskandidat dieses Instituts während der Kriegsjahre zu beschreiben. Es geschieht in der Hoffnung, allzu vereinfachende Urteile, die ja aus dem Abstand von 50 Jahren so leicht zu fällen sind, zu erschweren.
Ich wurde 1920 geboren und bin in einer Frankfurter Handwerkerfamilie aufgewachsen. Von der Psychoanalyse hatte ich nur Herabsetzendes gehört, wobei sie als Ausgeburt einer verwerflichen jüdischen und sexualistischen Lehre erschien. Obwohl neugierig und lesehungrig, hatte ich nie etwas von Freud in die Hand bekommen. Ein Deutschlehrer, der offenbar mein Interesse spürte und meine persönlichen Probleme während der Entwicklungsjahre beobachtete, hatte mir immerhin die Lektüre eines Buches von Carus, »Psyche«, empfohlen und den Hinweis auf seine Lehre vom Unbewußten gegeben. Es war eine schicksalhafte Fügung, daß ich mit 21 Jahren als Soldat während eines Heimaturlaubs auf einer Wanderung im Taubertal mit einem wenige Jahre älteren Mann ins Gespräch geriet und mit ihm zunächst die gemeinsame Herkunft aus der Bündischen Jugend entdeckte. Es war Wilfried Dogs, Arzt in einem Berliner Luftwaffenlazarett und — wie sich in den nächsten gemeinsamen Wandertagen herausstellte — Ausbildungskandidat des »Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie«. Er erzählte mir begeistert von der Psychoanalyse, den Werken Sigmund Freuds und eröffnete mir mit seinen Hinweisen auf seelische Zusammenhänge nicht nur eine faszinierende Denkweise, sondern auch eine erste Annäherung an eigene innere Konflikte. Vom Urlaub zu meiner damaligen militärischen Einheit nach Paris zurückgekehrt, wo ich als Dolmetscher für ein Jahr Dienst tat, suchte ich bei den Buchhändlern der rive gauche nach Literatur und konnte bald die »Traumdeutung« als mein erstes psychoanalytisches Buch erstehen. Als ich einige Monate später in Halle an der Saale bei einer Studentenkompanie mein 1939 begonnenes Medizinstudium fortsetzte, bestellte ich in der Universitätsbibliothek naiv weitere Werke von Freud. Ich werde nicht vergessen, wie ein alter, freundlicher Bibliothekar mir jungem Soldaten die Leihscheine kopfschüttelnd zurückreichte, die Ausleihe sei nicht möglich, mir aber die Empfehlung gab, ich solle doch von Gustave Le Bon »Die Psychologie der Massen« lesen, das könne er mir ausleihen. Das tat ich auch und entdeckte so aktuelle politische Hinweise, daß ich mich fragte, warum das Lesen dieses Buches nicht auch verboten war. Von Halle aus besuchte ich Wilfried Dogs in Berlin und lernte mit Heinz Wiegmann einen weiteren Arzt und Sanitätsoffizier der Luftwaffe kennen, der seine psychoanalytische Ausbildung gerade am Berliner Institut abschloß. Die Ermutigung dieser Freunde führte zu einem für die damaligen Zeiten, da jede Ortsveränderung aus persönlichen Bedürfnissen beinahe unmöglich war, ganz ungewöhnlichen Vorgang und zu einer entscheidenden Veränderung in meinem Leben: Im Sommer 1942 wurde mein dienstliches Gesuch um Versetzung zur Studentenkompanie nach Berlin, um dort eine Ausbildung am »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie« mit Lehranalyse beginnen zu können, genehmigt.
Vorausgegangen war dem, daß ich bei Mitgliedern dieses Instituts in der Keithstraße vorgesprochen hatte. Das alte Psychoanalytische Institut bestand aus einem stattlichen Haus mit großen Räumen im Tiergartenviertel, in einer ruhigen, mit großen Bäumen bestandenen Straße, die auf den Landwehrkanal mündete, gelegen. In den Räumen residierten meist Sanitätsoffiziere der Luftwaffe, z. B. J. H. Schultz, der als eleganter Oberstabsarzt und stellvertretender Leiter des Instituts die Fäden in der Hand hatte, wie ich später hörte, der auch den Zugang zu den verschlossenen psychoanalytischen Büchern eröffnen konnte. Er erschien mir als souveräne und wendige, für mich aber nicht durchsichtige und wenig hilfreiche Persönlichkeit. H. Schultz-Hencke traf ich in einem Berliner Lazarett, wohin er offenbar gerade als Sanitätsoffizier eingezogen worden war. Er stand vor einem Arzneischrank, um sich die damaligen gebräuchlichsten Medikamente neu einzuprägen, wirkte sehr zurückhaltend und mir gegenüber gehemmt, erklärte, er könne nichts für mich tun. C. Müller-Braunschweig begegnete ich als etwas verängstigtem Luftschutzhauswart bei einem Fliegeralarm im Keller seines Hauses, er war freundlich bemüht, aber offensichtlich nicht in der Lage, mir zu helfen.
Geholfen hat mir bei der Versetzung nach Berlin zweifellos die Intervention des Leiters des Instituts, M. H. Göring, bzw. sein Name auf Briefen, die er an meine Studentenkompanie schrieb, was damals genügte, um Türen zu öffnen. Göring, den ich zweimal im Institut in der Keithstraße aufsuchte, war alles andere als eine mächtige Erscheinung. Ich erinnere mich an ihn als schlanken, eher schüchternen Mann mit grauem Spitzbart, in einer für ihn zu großen Oberfeldarztuniform der Luftwaffe steckend. Er erschien auch mir in meiner verschlissenen Uniform eines Gefreiten der Wehrmacht wenig furchterregend. Dazu trug bei, daß er ein kurzes, freundliches und väterlich-informatives Gespräch mit mir führte, wobei er weder nach Zugehörigkeit zu einer nationalsozialistischen Organisation noch überhaupt nach politischer Einstellung fragte. Das Gespräch berührte auch kaum persönliche Probleme. Er erkundigte sich aber bei der zweiten Begegnung nach meiner Versetzung, bei wem ich nun die Lehranalyse machen wolle. Als ich ihm den Namen Fritz Riemann nannte, folgte — wie ich mich genau erinnere — eine Mahnung, die zunächst wenig verständlich erscheint: »Vergessen Sie nicht, Herr Riemann ist kein Arzt!« Das traf zu, Riemann hatte zwar viele Studien betrieben, aber kein akademisches Studium abgeschlossen. Aber auch diese Mahnung, die wohl etwas von der Distanz Görings zu den freudianischen Analytikern des Instituts, der sogenannten »Arbeitsgruppe A«, ausdrückte, blieb ohne Konsequenz und schränkte meine freie Wahl des Lehranalytikers nicht ein. Eine Auslese in Form eines Aufnahmeinterviews gab es im übrigen nicht.
Ich begann also mit 22 Jahren bei Fritz Riemann meine Lehranalyse in Berlin. Sie unterschied sich, soweit ich sehen kann, nicht von den heute durchgeführten Lehranalysen (sic“ Anm.JSB). Sie fand nach einem etwa halbstündigen Vorgespräch zur Biographie in der Wohnung Riemanns am Bayerischen Platz mit 3 Wochenstunden im Liegen statt, von mir selbst finanziert. Das Stundenhonorar hatte vor dem Krieg 5 RM betragen, lag jetzt bei 10 RM. Wie mir Dogs berichtete, kosteten die Supervisionen 20 RM und wurden damals noch von der Deutschen Arbeitsfront, die das Institut mittrug, übernommen. Es war mir empfohlen worden, mich der Erfahrung der Analyse ganz unvoreingenommen zu stellen und zunächst keine theoretischen Seminare zu besuchen. Es gab allerdings keine durch Literaturkolloquien abgetrennten Ausbildungsabschnitte, die Ausbildung endete gewöhnlich nach zwei bis drei Jahren mit einem Fallvortrag vor den Mitgliedern des Instituts. Die Lehrtätigkeit war im Winter 1942/43 erheblich reduziert, über dem Institut lag, wie ich bald zu spüren bekam, ein schwerer Schatten durch die im Herbst erfolgte Verhaftung von John Rittmeister, über die aber offiziell nicht gesprochen wurde. Bis dahin waren psychoanalytische Themen im theoretischen Unterricht selbstverständlich behandelt worden. Aus dem Bericht, den Franz Baumeyer zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland gegeben hat, geht ja hervor, daß z. B. Riemann, der 1936 für seine Examensarbeit noch den Preis der IPV bekommen hatte, 1938 das im Vorjahr erschienene Buch von Freud »Die endliche und die unendliche Analyse« referierte und zur Diskussion stellte. In den nächsten Jahren finden sich Themen wie »Der Männlichkeitskomplex der Frau« und »Der Weiblichkeitskomplex des Mannes«, »Prägenitale Wurzeln von Erregungszuständen«, »Probleme der Übertragung« und des »agierenden Ödipus«. Ab 1943 fanden die Seminare der »Arbeitsgruppe A« in den Wohnungen der Mitglieder statt. Wie mein Freund Dogs berichtete, wurden bei Debatten ganz selbstverständlich die Werke Freuds aus dem Buchregal gezogen und seine wissenschaftliche Autorität genutzt. In dem offiziellen Programm finden sich ab 1943 ganz überwiegend kasuistische Beiträge, z. B. zum Stottern, zur Hysterie und Zwangsneurose, zur Schizophrenie und zum Inzestproblem. Meine Ausbildung verlief also relativ isoliert, ich hatte nur durch meine Freunde gewisse Informationen über die sonstigen Aktivitäten des Instituts. Auch unter den vielen 100 Mitgliedern der Studentenkompanie kannte ich keinen weiteren Ausbildungskandidaten.
So war meine Analyse — als Student und Soldat in der im Zentrum des Krieges stehenden Stadt, die am Tag und vor allem nachts von schweren Bombenangriffen heimgesucht wurde — eine zu allem äußeren Geschehen kontrastierende Erfahrung. Sie bedeutete eine entschiedene Zuwendung zu meiner persönlichsten Geschichte, eine Rückblende auf meine Kindheit und meinen Familienroman. Während weite Strecken meines damaligen studentischen und soldatischen Lebens heute aus meinem Gedächtnis verschwunden sind, erinnere ich mich an viele Einzelheiten der Analysestunden, manche Einfälle, Äußerungen Riemanns und Sequenzen des psychoanalytischen Dialogs. Träume, gewonnene Einsichten und innere Durchbrüche, die ich damals erlebte, stehen mir deutlicher vor Augen als alles, was sich sonst um mich herum abspielte.
Es war wohl die Folge der Verhaftung von Rittmeister, daß immer mehr Psychoanalytiker des Instituts, die mit M. H. Göring auch unter dem Schutz der Luftwaffe standen, ab 1943 zum Militär einberufen wurden, darunter auch Riemann. Ich selbst wurde im Sommer 1943 mit einem Teil der Berliner Studentenkompanie an die Universität Hamburg versetzt, auch der Einfluß von Göring konnte diese Veränderung nicht mehr aufhalten. Ebenso erfolglos blieben meine Versuche, diese Versetzung mit seiner Hilfe rückgängig zu machen.
Diese nur neunmonatige Analyse mit 22 Jahren hat mir eine erste Hilfe gegeben, mich von manchen neurotischen Einengungen, von Verstrikkungen in meine Ursprungsfamilie zu befreien, sie gab meinem Leben jedenfalls eine neue Richtung. Ohne sie wäre mein Leben sicher ganz anders verlaufen. Die begonnene Analyse wies mir auch beruflich einen Weg, den ich vier Jahre später in München durch Fortsetzung der Lehranalyse bei Riemann wiederaufnehmen konnte.
Welchen politischen Stellenwert hatte es, Ausbildungskandidat oder Lehranalytiker am »Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie« zu sein? Die Mitarbeit an diesem von Göring geleiteten Institut war selbstverständlich an sich kein Zeichen nationalsozialistischer politischer Stellungnahme. Göring hat das Institut weder politisch noch in der psychotherapeutischen Theorie und Praxis geprägt, er war vor allem nach der Verhaftung Rittmeisters eine schutzgebende Galionsfigur, die mit den Vorgängen im Innern des Instituts wenig zu tun hatte. Die Zuwendung zur Psychoanalyse bzw. das Festhalten an ihr kann andererseits nicht als Ausdruck politischen Widerstands gewertet werden. Es gehört zu den zahlreichen Inkonsequenzen der NS-Machthaber, daß sie, um die innere Ruhe nicht zu gefährden, manche nicht genehmen religiösen und beruflichen Verbände, etwa die Bekennende Kirche, vor dem »Endsieg« noch duldeten.
Wenn ich als Kind und Jugendlicher eine innere Distanz zum Nationalsozialismus suchte, so geschah dies zunächst aus einer schlicht ödipal bestimmten Opposition meinem Vater gegenüber, der frühes Parteimitglied war, ein aufstrebender Handwerker, der in Hitler die Verheißung von Arbeit, Wohlstand und Sicherheit sah. Von einem Bund der Jugendbewegung 1934 in die Hitlerjugend »übernommen«, gelang es mir 1937, diese Organisation wieder zu verlassen, nachdem ich auf Trampfahrten nach Frankreich in Paris deutsche Emigranten kennengelernt hatte, die mich über die Vorgänge in deutschen Konzentrationslagern und die Bedeutung demokratischer Werte aufklärten. Trotzdem hatte ich keine feste und klare politische Position gewonnen; und ich konnte damals nicht, wie es heute im Rückblick möglich ist, abgrenzen, was zu bejahender wirtschaftlicher Aufschwung und nationales Interesse war und was die Anfänge und Wurzeln des Unrechtsstaates bis zu den heute bekannten Unmenschlichkeiten. Unter meinen Freunden und Mitstudenten ergab sich im vertrauten Gespräch eine weite Skala von politisch mehr oder weniger distanzierten und auch kritischen Stellungnahmen gegenüber dem System. Doch hatte dies, denkt man an das Unrecht, das gleichzeitig im deutschen Namen und mit deutscher Hilfe geschah, wovon alle zumindest eine entfernte Vorstellung hatten, keine politische Handlungskonsequenz, sie stellte nur eine subjektiv relevante Distanzierung dar. In beinahe allem, was man tat, unterstützte man unausweichlich das Regime in irgendeiner Weise und profitierte auch in mancherlei Form davon. Ich erinnere mich heute mit Beschämung daran, daß ich mich immer wieder im wunschhaften Denken im Hinblick auf das Gute im Nationalsozialismus überraschte und schnell bereit war, darüber hinwegzusehen und zu vergessen, daß ich Zeuge von Pogromen anläßlich der sog. Reichskristallnacht von 1938 gewesen war. Und erst heute vermag ich zu ermessen und einzuordnen, was es bedeutete, daß ich während des Krieges in Frankfurt wiederholt alte jüdische Frauen und Männer auf der Straße gesehen habe, die schwer beladen zum Bahnhof gingen, um, wie meine Mutter mir auf meine Frage sagte, nach dem Osten in Arbeitslager abtransportiert zu werden. Sie durften keine Straßenbahn benutzen, keiner half ihnen auf ihrem Weg — auch ich nicht. (Warum nicht? Anm.JSB) Ich meine, daß eine solch innerlich distanzierte, sich den nationalsozialistischen Organisationen verschließende, aber zu keiner politischen Konsequenz führenden Einstellung für die Mehrzahl der Ausbildungskandidaten und die Mitglieder des Berliner Instituts charakteristisch war, jedenfalls für die frühere Freud-Gruppe.Es war unter den damaligen Ausbildungskandidaten bekannt, daß G. R. Heyer und R. Bilz, die der Jung-Gruppe zugehörten, politisch gefährlich und zu meiden waren, da sie als überzeugte Anhänger des nationalsozialistischen Staates galten. Eine weitere Gruppe mit Kühnel und Seif, früheren Adlerianern, wurde als neutral oder unsicher geschildert. Aus politischen Gründen mußte man sich mehr noch als heute überlegen, zu wem man in Lehranalyse ging. Kemper, Schultz-Hencke (? Anm.JSB), Müller-Braunschweig (? Anm.JSB), und Riemann, alles Lehranalytiker der Arbeitsgruppe A, galten als absolut vertrauenswürdig, gerade auch für die, die Zweifel am »Endsieg« hatten.
Die Tätigkeit aller Mitarbeiter unter dem Namen »Göring-Institut« global zu subsumieren (unter was denn? Anm.JSB) , wird der unterschiedlichen Ausgangssituation und dem unterschiedlichen Verhalten der Mitarbeiter nicht gerecht. Die am Berliner Psychoanalytischen Institut zwischen 1933 und 1945 weiterarbeitenden Mitglieder haben, wie Brainin und Kaminer bemerken, sicher nicht nur die psychoanalytische Praxis erhalten, sondern auch eigene Interessen verfolgt. Meine subjektive Erfahrung und das, was ich an Informationen gewinnen konnte, widerspricht aber absolut (sogar „absolut“! Anm.JSB) der Auffassung dieser Autoren, daß die Psychoanalyse 1933 bis 1945 in den Nationalsozialismus »integriert« war, daß sie sich »in den Dienst der Herrschenden gestellt und selbst dieses Denken integriert hat« (1982, S. 995, 999). Die Menschen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland lebten, arbeiteten oder Militärdienst leisteten und nicht aktiv im Widerstand waren und wie John Rittmeister ihr Leben riskierten, müssen sich gewiß fragen, wie sie ihre Mitverantwortung für das sehen, was in ihrem Namen und mit ihrem mehr oder weniger deutlichen Mitwissen an Unrecht geschah. Daß gerade die Psychoanalyse zum Werkzeug der Herrschenden und gleichgeschaltet wurde, erscheint mir als eine nicht haltbare tendenziöse Behauptung. (wie erbärmlich! Anm. JSB) Wenn behauptet wird, daß »die Psychoanalyse« in dieser Zeit deformiert wurde und daß diese Deformation bis in die Gegenwart bewußt oder unbewußt tradiert wird, so ist erst zu klären, was die eigentliche Verkörperung psychoanalytischer Tradition damals und heute ist und wie sie damals und heute angesichts der Herausforderungen der Zeit und des sozialen Wandels sich behaupten und weiterentwickeln muß. (Sehr gerne, mache ich! Anm. JSB) Ich kann nur sagen, daß ich in dieser Zeit im psychoanalytischen Dialog erstmals etwas von der befreienden Dynamik des Behandlungsprozesses an mir erfahren habe. (Was konkret? Von was befreiend? Vom Gewissen? Das ist immer sehr erleichternd! Anm.JSB) Und die Möglichkeit einer solch positiven Praxis (was ist daran positiv? Anm.JSB) erscheint mir immer noch als wichtigster Pfeiler der wahren Tradition und der fruchtbaren Weiterentwicklung der Psychoanalyse.
Daß die Psychoanalyse am Berliner Institut zwischen 1933 und 1945 nicht ganz verschwunden war, sondern gepflegt wurde (! gepflegt! Es gibt kein Richtiges im Falschen! Anm.JSB) , kann man einem Schreiben von Prof. de Crinis, damals hoher SS-Offizier und in der Nachfolge Karl Bonhoeffers Professor für Psychiatrie an der Charité, an den Chirurgen Prof. Rostock, Bevollmächtigter für die Gesundheit bei der Regierung, entnehmen, geschrieben unter dem Datum vom 3. 4. 1944 (vgl. Cocks, 1975): »Die Tätigkeit des Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie hat mich weder politisch noch wissenschaftlich befriedigt. Vertraulich möchte ich noch hinzufügen, daß einer der eifrigsten Mitarbeiter, Dr. Rittmeister, wegen Spionage hingerichtet wurde. Selbstverständlich kann Prof. Göring dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Aber leider (?) hat auch das Reichsinstitut für Psychologische Forschung und Psychotherapie die jüdische Richtung (?) der Freudschen Psychoanalyse nicht aufgegeben und die deutsche Psychiatrie wird in der nächsten Zeit wohl auch genötigt sein, gegen diese Entartungserscheinungen (?!), die ein nationales Mäntelchen tragen, vorzugehen.« Diese elf Jahre nach der Machtübernahme und ein Jahr vor Kriegsende niedergelegte Beobachtung eines offenbar doch recht gut informierten Hochschullehrers und Gegners der Psychoanalyse sollte bei der Bewertung des Berliner Instituts zumindest zur Kenntnis genommen werden.
Was ich in den meisten Darstellungen vermisse, sind Aussagen, die die kritisierten Äußerungen und Verhaltensweisen der damaligen Mitglieder in ihren Motiven zu verstehen versuchen. Es ist doch bemerkenswert und zu reflektieren, warum ein Psychoanalytiker wie Müller-Braunschweig 1933 als Ziel der Psychoanalyse deklarierte, »untüchtige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen zu machen«, daß Schultz- Hencke 1934 nicht nur die Werthaltung psychotherapeutischen Tuns verteidigte, was er schon vorher getan hatte, sondern auch die »Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel« und »den Anspruch des Volkes, daß die leichten Neurotiker zu tüchtigen Menschen gemacht werden«, postulierte, ein Anspruch, »dem sich die Wissenschaft unterzuordnen habe«. Einen Schüler Viktor von Weizsäckers schmerzt es, in dessen Beitrag zur »Sozialen Krankheit« (1933) zu lesen, daß der Staat es sei, der die Frage nach der Erhaltungswürdigkeit stelle und sich jetzt anschicke, sie nach dem Prinzip der Totalität in die Hand zu nehmen. Es klingt aus heutiger Sicht ungeheuerlich, wenn von Weizsäcker in diesem Aufsatz feststellt, wir seien als deutsche Ärzte »verantwortlich beteiligt an der Aufopferung des Individuums für die Gesamtheit . . . an der notgeborenen Vernichtungspolitik«. Dabei ist anzumerken, daß das Wort »Vernichtungspolitik« im Rückblick eine andere, furchtbare Bedeutung hat, die es damals nicht hatte. Vor allem ist es beachtenswert und mit schlichtem Opportunismus nicht vereinbar, daß sich in den folgenden Jahren bis 1945 bei diesen die Psychoanalyse bejahenden Ärzten keine gleichsinnigen Äußerungen wiederfinden. In einer Gedenkrede auf Ludolf Krehl hat von Weizsäcker 1935 betont, daß die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des Einzelnen der Wert sei, den der Arzt zu schützen habe. Viktor von Weizsäcker hat später auch eine mutige Haltung bewiesen, indem er Alexander Mitscherlich, als dieser 1937 aus dem Gefängnis kam und unter Gestapo-Aufsicht stand, eine Studien- und später eine Assistentenstelle verschaffte.
Einen Hinweis auf die Erwartungen, unter denen damals von Weizsäkker, Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke derartiges schrieben, gibt vielleicht eine Äußerung von Weizsäckers in seiner späteren Schrift »Natur und Geist«, in der er die für viele damals geltende Hoffnung andeutet, durch Mitmachen das Schlimmste zu verhüten. Er spricht von »fähigen Männern der älteren Generation, zu der ich gehöre«, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sahen, zu versagen, indem sie »den Sinn der Revolution verkannten«, weil sie »das für Politik hielten, was tatsächlich eine neue menschliche Wahrheit war« (1954, S. 200). Sicher hat von Weizsäcker eine zeitlang gehofft, im Nationalsozialismus einen Bundesgenossen gegen die einseitig naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin zu finden. Von Weizsäcker wie Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke haben ihren schweren Irrtum offenbar bald einsehen müssen. Im Wissen der heutigen Propheten »ex eventu« besteht aber eine notwendige, unaufhaltsame Konsequenz von den Bücherverbrennungen im Mai 1933 bis zu den Gaskammern in Auschwitz, eine Verbindung, die von Weizsäcker, Müller-Braunschweig, Schultz-Hencke und viele andere damals nicht zu sehen vermochten und der sie sich mit ihren schwachen Kräften entgegenzustellen versuchten.
Vestigia terrent, mahnt H. Dahmer (1983) und zieht eine Parallele zwischen der politischen Krise des Jahres 1933 und der jetzigen Kulturkrise; er ruft die Psychoanalytiker zu Freudscher Kritik, zu Protest und Widerstand auf. Auch wenn wir die Parallele zwischen 1933 und 1983 nicht so wie Dahmer ziehen können, ist ein größeres politisches Engagement von Psychoanalytikern in Gemeinde-, Landes- und Bundespolitik, in sozialen, pädagogischen und natürlich gesundheitspolitischen Fragen unbedingt zu bejahen, schon damit sie selbst erst einmal Kenntnisse über politisches Handeln und Wirkungsmöglichkeiten gewinnen. Die kulturkritische Potenz der Psychoanalyse ist heute nicht durch äußere Mächte eingeschränkt (wirklich? Blind, wer das behauptet! Anm. JSB), sie kann sich neben den ursprünglichen Feldern der Psychoanalyse, die in der psychotherapeutischen Praxis und Theorie liegen, voll entfalten (Stimmt nicht! Anm.JSB). Der kritischen jungen Generation unseres Landes ist es dabei bisher erspart geblieben, ihren Protest und Widerstand mit materiellen Nachteilen oder gar mit Gefahren für das eigene Leben bezahlen zu müssen. Ihr Einsatz für die Psychoanalyse und die Stellungnahmen in der Friedensbewegung oder gegen die Nachrüstung sind mit dem Beamtenstatus und anderen öffentlichen Stellungen durchaus vereinbar. Insofern scheint mir die Parallele zwischen 1933 und 1983 und die Ausgangssituation des Kampfes mit psychoanalytischen Mitteln und politischen Waffen, zu dem Dahmer aufruft, nicht zutreffend. Sein Vergleich wertet den eigenen intellektuellen und politischen Einsatz auf, indem er, was Männer wie Müller-Braunschweig und andere nach 1933 für die Psychoanalyse geleistet haben, abwertet.
(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. Walter Bräutigam, Thibautstr. 2, 6900 Heidelberg)
Summary:
The year 1942 in retrospective : Reflections of a psychoanalytic candidate concerning the Berlin Institute of the war years. — The author reviews his personal experiences as candidate in psychoanalytic training at the »German Institute for Psychological Research and Psychotherapy« and adds observations and reflections from his present perspective.
BIBLIOGRAPHIE
Brainin, E., und I. J. Kaminer (1982): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Psyche, 36, 989-1012.
Cocks, G. C. (1975): Psyche und Swastika. »Neue Deutsche Seelenheilkunde«
1933-1945. Masch.schr. Diss., Ann Arbor/London (Xerox Univ. Microfilms).
Dahmer, H. (1983): Kapitulation vor der »Weltanschauung«. Zu einem Beitrag von Carl
Müller-Braunschweig aus dem Herbst 1933. Psyche, 37, 1116-1135.
Lohmann, H.-M. (1980): Psychoanalyse in Deutschland — eine Karriere im Staatsapparat? Ansichten von jenseits des Rheins. Psyche, 34, 945-957.
Mannoni, M. (1979): La theorie comme fiction. Paris (Seuil).
Müller-Braunschweig, C. (1933): Psychoanalyse und Weltanschauung. Psyche, 37, 1136-1139.
Schultz-Hencke, H. (1934): Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel. Zentralbl. f. Psychother., 85-97.
Weizsäcker, V. von (1933): Vorlesungen über allgemeine Therapie VIII. Die soziale Krankheit. DME 41, 1605-1608.
— (1954): Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
[i] * Bei der Redaktion eingegangen am 23. 3. 1984.
Übersicht: Der 1943 von den Nationalsozialisten hingerichtete Psychoanalytiker John F. Rittmeister hat Mitte der dreißiger Jahre eine Arbeit verfaßt, die sich kritisch mit der Jungschen Archetypenlehre auseinandersetzt. Hermanns, der seit längerem über Person und Werk Rittmeisters forscht, stellt den biographischen, intellektuellen und politischen Kontext her, der den Rittmeisterschen Text verständlich werden läßt.
»Ich konnte 1929 nicht Jungianer werden, obwohl gr.
Angst Ps.A. zu verlassen. Da lernte ich auf Jungscher
Basis Marx kennen (Archet. Kom.).«
Rittmeister, 1942/43, S. 80.
Zur Entstehungsgeschichte der Arbeit Rittmeisters
Die im folgenden abgedruckte Studie aus dem Nachlaß des deutschen
Psychoanalytikers John F. Rittmeister (1898—1943) ist bisher unveröffentlicht.
Sie umfaßt im Original 8 Seiten in Maschinenschrift, die
durch viele handschriftlichen Korrekturen, Ausstreichungen sowie Zusätze nachträglich erheblich bearbeitet worden sind. Alles, was entzifferbar und dem laufenden Text ohne große, den ursprünglichen Sinnzusammenhang störende Umstellungen integrierbar erschien, wurde vom Herausgeber eingefügt. Die Literaturangaben erfolgten nach heute erhältlichen gängigen Ausgaben der Werke von Hegel, Jung und Lenin.
Die Schrift wurde vom Autor nicht datiert, und es ergeben sich aus dem
sonstigen Nachlaßmaterial und den überlieferten Zeugnissen von Zeitgenossen bisher leider keine Hinweise auf den konkreten Anlaß und Zeitpunkt ihrer Entstehung sowie auf den Adressatenkreis. Inhalt, Stil und Argumentationsweise sowie die Kenntnis der sonstigen menschlichen, beruflichen und politischen Entwicklung des Autors lassen aber folgende Datierung zu: Geschrieben wurde die Arbeit zwischen Frühjahr 1934 und Herbst 1937 in Zürich bzw. Münsingen bei Bern, wo Rittmeister zuletzt vor seiner Rückkehr nach Deutschland Ende 1937 als Volontärarzt in der kantonalen Heilanstalt beschäftigt war. Das war die Zeit seiner größten publizistischen Produktivität — auch was seine neurologischen Veröffentlichungen anging. Der Aufsatz, der in dieser vorläufigen Form nicht zur Publikation vorgesehen war, stellt ein korrigiertes Vortragsmanuskript dar, wobei die Zuhörerschaft sicher mehr an den Grundbegriffen des dialektischen und historischen Materialismus als an denen der Psychoanalyse geschult war. Vermutlich handelt es sich dabei um Mitglieder einer der sozialistischen Arbeiter-und Studentengruppen in Zürich, zu denen Rittmeister enge Kontakte unterhielt1[ii].
Der gesamte Text erscheint seltsam inkonsistent, speist sich aus Rittmeisters aktueller Empörung über C. G. Jungs Haltung gegenüber dem deutschen Faschismus, ist weiterhin genährt von den Früchten seiner in den Jahren zuvor in Zürich erfolgten Schulung in den marxistisch-leninistischen Klassikern und schöpft vor allem im Schlußteil ausgiebig aus dem Erfahrungsschatz seiner eigenen politischen Sozialisation. Im Gegensatz zu der insgesamt ausgewogeneren und von der Aussage her dichteren Humanismusarbeit von 1936 (Rittmeister, 1936) können wir hier die einzelnen Bildungselemente seines sozialistischen und humanistischen Engagements unverhüllter (und nicht durch den Zwang zu wissenschaftlicher Sublimierung und politischer Disziplinierung entschärft) daliegen sehen2[iii]. Dieser Blick in seine noch in der Entwicklung befindlichen Gedankengänge und in sein politisches Arbeitsfeld in Zürich kann die notgedrungen auftauchenden Schwächen, Ungenauigkeiten und Vereinfachungen — wie sie dem heutigen Leser erscheinen mögen — einigermaßen ausgleichen. Die Veröffentlichung in der Originalversion erschien mir demnach als historisches Dokument lohnend: So hat ein deutscher Psychoanalytiker Mitte der dreißiger Jahre gedacht, gesprochen und geschrieben3[iv].
II Zum Leben und Werk von Rittmeister
Nach dem Medizinstudium und seinen Münchener psychiatrischn euro-
logischen Assistentenjahren (1926-1929) lebte und arbeitete Rittmeister mit kurzen Unterbrechungen (Holland im Sommer 1936) von 1929 bis 1937 in der Schweiz. Nach anfänglicher Volontärarzttätigkeit am Burghölzli folgten drei Jahre als Assistent der Poliklinik für Nervenkranke der Universität Zürich, worauf den Abschluß bis Herbst 1937 erneut eine Volontärarztzeit in Münsingen bildete. In Zürich war er auch politisch tätig, hielt Schulungskurse ab und organisierte Hilfe für die ersten aus Deutschland kommenden Emigranten. Wegen seiner politischen Offenherzigkeit im Freundeskreis vor einer Rückkehr nach Deutschland
gewarnt, kehrte er dennoch im Herbst 1937 dorthin zurück, nachdem
die schweizerische Fremdenkontrolle ihm mehrfach Ausreisefristen wegen der gegen ihn verschiedentlich erhobenen »Klagen wegen kommunistischer Umtriebe« gesetzt hatte4[v].
Rittmeister ging nach Berlin, bekleidete zuerst die Position eines Oberarztes am Waldhaus Nikolassee, währenddessen er seine psychoanalytische Ausbildung im Rahmen der »Arbeitsgruppe A«5[vi] am »Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« mit der sofortigen Übernahme von kontrollierten Behandlungen, dem Besuch der Lehr- und wissenschaftlichen Veranstaltungen sowie einer Lehranalyse bei Werner Kemper begann. Nach seiner Hochzeit im Juli 1939 wurde er ab September an der Poliklinik des Instituts angestellt, deren Leitung ihm später vertretungsweise anvertraut wurde. Er beteiligte sich rege
am wissenschaftlichen Leben sowohl der »Arbeitsgruppe A« als auch des Instituts und hielt Vorträge und Kurse für Ausbildungskandidaten ab.
Ein Bericht über seine poliklinische Tätigkeit wurde im »Zentralblatt
für Psychotherapie« veröffentlicht (Rittmeister, 1941), während sein
vor der »Arbeitsgruppe A« gehaltener, viel diskutierter Vortrag »Die mystische Krise des jungen Descartes« erst posthum 1961 von seinem Münsinger Freund Alfred Storch in einer schweizerischen Fachzeitschrift publiziert wurde (Rittmeister, 1961).
Rittmeister wurde in Berlin bald zum Mittelpunkt einer informellen
Gruppe von wesentlich jüngeren Leuten, die zumeist aus dem Abendschulkreis seiner Ehefrau stammten. In diesem Kreis wurde vor allem freimütig über politische Themen diskutiert, gemeinsam Literatur gelesen sowie Hilfsaktionen für Juden und ausländische Arbeiter organisiert. über seine Weihnachten 1941 geschlossene Bekanntschaft mit Harro Schulze-Boysen fand er Zugang zum Kreis der um diesen und Arvid Harnack gescharten vielköpfigen Widerstandsorganisation6[vii]. Ein Großteil der Rittmeister-Gruppe fand von da an in diesem Rahmen ein neues Betätigungsfeld für die illegale politische Arbeit, wobei Rittmeister selbst neben Diskussion und Schulung vor allem an der Planung, Formulierung und Verbreitung von Flugblättern und Plakaten sowie der Propagandaarbeit unter Fremdarbeitern beteiligt war. Nach seiner Verhaftung am 26. 9. 1942 wurde er vom Reichskriegsgericht wie die meisten Mitglieder der Gruppe zum Tode verurteilt und zusammen mit einem Teil seiner Freunde am 13. 5. 1943 in Plötzensee von den Nazis hingerichtet. Auszüge aus seinem Gefängnistagebuch wurden im ersten Heft der von Carl Müller-Braunschweig nach dem Kriege neugegründeten »Zeitschrift für Psychoanalyse« zum Gedenken veröffentlicht (Rittmeister, 1949).
III Die Bedeutung C. G. Jungs für Rittmeisters beruflichen Werdegang
Nach einer psychotherapeutischen Behandlung während des Medizin-Studiums in München 1922 war Rittmeister vor allem 1925/26 während seiner Hamburger Medizinalpraktikantenzeit bereits »sehr für Freud und Psychother. interessiert, fand in Hbg. aber nur Unverständnis« (Rittmeister, 1942/43, S. 22). Während seiner Münchener Assistentenjahre (Psychiatrie und Neurologie) kam er schnell mit Psychotherapeuten-Kreisen in Kontakt. »Endlose Diskussionen u. abenteuerliche Gedankengänge, Astrologie, Metaphysik, Roulette-Experimente, Psychotherapie, meine ersten Privatpatienten. Ich gründete die >Akademische Vereinigung für mediz. Psychologie< und hielt in den Hörsälen von Müller und Sauberbruch Hypnose-Demonstrationen« (Rittmeister, 1942/43, S. 23). In der Zeit begann er sich »mehr und mehr für Jung zu interessieren, las mit Hingabe und Begeisterung Jungs >Wandlungen und Symbole der Libido<« (Rittmeister, 1942/43, S. 25). Von Lindau aus, wo er Dr. Ernst Speer gelegentlich in seiner psychotherapeutischen Privatklinik vertrat, fuhr er mehrfach nach Zürich, um Jung dort zu besuchen.
Mit der Zeit kam er der Jungschen Lehre sehr nahe. Nach dem
Zerbrechen einer Freundschaft vertiefte er sich »um so mehr in Derivate des Rußland- und Revolutionsbereichs (Bakunin) und in die
Jung’sche Lehre. Beides dann potenziert in London im Juli und August
fortsetzend (Kapital)« (Rittmeister, 1942/43, S. 26). Nach der Übersiedlung nach Zürich »zunächst Contakt u. Seminare bei Jung im Psych. Club, worauf ich mit ›collektiven‹ Bildern und gezeichneten Träumen reagierte … Aber in dem Kreis behagte mir die unklare, mystische und zugleich satte Atmosphäre nicht. Andererseits war ich nicht wohl gerade geschickt. Es zog mich weiter zum nicht differenz. Werdenden, aber in die Wirklichkeit, nicht in genießerischer Anschauung u. projiziert auf vergangene Kulte u. fernöstl. Kulturen. Hier brannte doch die Welt« (Rittmeister, 1942/43, S. 26—27).
Während Rittmeister in seinen ersten beiden Münchener Vorträgen, die
uns als Typoskripte erhalten sind (Rittmeister, 1927 a; 1927 b), nur gelegentlich auf Jung verweist, stellt seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung nach seiner Dissertation mit dem Titel »C. G. Jungs Energetik der Seele« ein ausführliches lobpreisendes Referat der betreffenden Jung-Studie dar (Rittmeister, 1930). Wenn Jungs Entdeckungen auch fast überschwenglich gefeiert werden, so wird Freud dabei weitgehend in seinem Recht gelassen. In seinem Lebensüberblick heißt es dann: »Ich wandte mich, obwohl ich 1930 u. 31 zwei lange Vorträge über ›Praelogisches Denken‹ in Burghölzli hielt (vielleicht waren diese die Form der Loslösung) von der romantischen Intuition u. Mythenverehrung ab u. der Ratio zu … Das war für m. berufl. Weg u. f. das Verständnis der Zeitereignisse unumgänglich nötig« (Rittmeister, 1942/43, S. 27; 1930/31).
Während sich Rittmeister intensiv seiner neurologischen Tätigkeit widmet, gleichzeitig politisch engagiert ist, entwickelt er auch als Reflex
auf Jungs anfängliche Sympathien für den Nationalsozialismus eine
deutlich kritische Meinung zu dessen Psychologie. Die vorliegende Kritik der Jungschen Archetypenlehre und die Humanismus-Studie von
1936 bilden in diesem Zusammenhang eine unauflösliche Einheit und
sind Ausdruck für die inzwischen erfolgte Ablösung von Jung und intensive Hinwendung zur Freudschen Psychoanalyse, was sich auch in der Wahl seines Analytikers Bally niederschlägt. In seinem Bericht vom Berner Psychotherapeuten-Kongreß vom Mai 1937 referiert er leicht ironisch, wie Jungs analytische Konstruktionen auf dem Hintergrund der indischen Mythologie durch den praktischen Einwand eines freudianischen Kollegen sehr bald fragwürdig wurden (Rittmeister, 1937, S. 204)7[viii]. Die innere Auseinandersetzung Rittmeisters mit Jung hat noch bis in die letzten Wochen in seiner Berliner Gefängniszelle angedauert, davon zeugen seine letzten Aufzeichnungen und Manuskripte (Rittmeister, 1968). Seine prinzipielle Entscheidung gegen Jung hatte er aber bereits getroffen. IV C. G. Jung und der Nationalsozialismus
Jung hat durch seine ab 1933 dezidiert erfolgte Unterscheidung zwischen dem »jüdischen und arischen Unbewußten«8[ix], durch die Übernahme des Vorsitzes der »Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie« (nachdem sein Vorgänger Kretschmer aus gutem Grunde demissioniert hatte), die Herausgabe des gleichgeschalteten »Zentralblatts für Psychotherapie«9[x], sowie durch seine Hitler, die Deutschen und nach Kriegsende auch deren Kollektivschuld betreffende »Visionen«’°[xi] eine seit jener Zeit nicht endenwollende Debatte in Wissenschaft und Journalismus darüber provoziert, ob er nun tatsächlich Nationalsozialist und/oder Antisemit oder keines von beiden gewesen sei. Rittmeisters affektvoll geführte Polemik ist im Rahmen dieser Debatte zu sehen. Auf ein Nachzeichnen der eigentümlich verschlungenen Wege, die diese Kontroverse bis heute genommen hat, muß hier verzichtet werden11[xii] (Schade! Anm.JSB) An dieser Stelle sollen nur drei Autoren kurz zu Wort
kommen, die etwa zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, nämlich in Zürich, wie Rittmeister ihre Jung-Kritik vorgebracht haben, um damit das hier veröffentlichte Dokument dem historischen und sozialen Ort seiner Entstehung ein wenig näher zu bringen12[xiii].
Gustav Bally, der am alten Berliner Psychoanalytischen Institut ausgebildete Züricher Analytiker, erhob als erster Fachkollege seine Stimme dagegen, daß sich mit Jung ein Schweizer zum Herausgeber des gleichgeschalteten Psychotherapeutischen Zentralblattes bekannte. Auf die laut Jung bekannten »Verschiedenheiten der germanischen und jüdischen Psychologie« bezogen, fragt Bally in seinem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. 2 . 1934 dann: »Was meint Jung damit? Wozu will er uns auffordern? Will er, daß wir bei einer wissenschaftlichen Arbeit fragen: ist sie germanisch oder jüdisch? Wie überhaupt will er germanische und jüdische Psychologie unterscheiden? Welchen Wert hätte es für die Arbeit auf dem Gebiet der Menschenkunde, wenn wir die Werke des Juden Husserl ›anders‹ betrachten würden als die von Meinong oder Dilthey, wenn wir das Rassenkriterium an die Arbeiten der Gestaltpsychologen anlegen würden, von denen von Ehrenfels, Wolfgang Köhler >Germanen< sind, Koffka und Wertheimer aber Juden? Was verspricht sich Jung von einer rassischen Bewertung der gescheiten Konzeptionen des Ethnologen Levy-Bruhl im Vergleich zum fleißigen Frazer? Warum erscheint ihm eine solche Unterscheidung so wichtig, daß ihre Unterlassung, wie er sagt, die Ergebnisse von Praxis und Theorie verfälscht?« Bally konfrontiert Jung dann mit den Konsequenzen dieser seiner »Unterscheidung«: »Wer sich mit der Rassenfrage als Herausgeber einer gleichgeschalteten Zeitschrift vorstellt, muß wissen, daß sich seine Forderung vor einem Hintergrund organisierter Leidenschaften erhebt, der ihr schon die Deutung geben wird, die in seinen Worten implizite enthalten ist. Nein, der sie bereits gegeben hat«13[xiv]. Rittmeister war in der Kritik an Jung mit Bally völlig einig, wie wir aus seinen tagebuchähnlichen Aufzeichnungen wissen14[xv].
Der philosophische Schriftsteller und Kunsthistoriker Joachim Schumacher war, wie auch Rittmeister, Mitglied in der »Schweizerischen Gesellschaft zur Förderung der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion«, genannt »Das Neue Rußland«15[xvi]. In seinem Buch handelt er Jung unter dem prägnanten Titel: »Zeitgemäße Mythologen, Rückwärtsgewandte Fortschrittsüberwinder, Geometer im irrationalen Raum« zusammen mit Klages und Freud ab, wobei er aber zwischen diesen zu differenzieren weiß. Während er Freud zugesteht, daß der »immerhin (auf geträumten und rückerinnerten Hintertreppen des Unbewußten) in den Keller gegangen« sei, »um dort aufzuräumen«, fährt er fort: » Jung dagegen baut nicht auf dem Grund ab, sondern stockt den Keller mit lauter Grundmaterial auf. Alle Fenster nach außen, besonders in die soziale Wirklichkeit, werden sorgfältig verhängt, künstliches Dämmerlicht wird eingeschaltet. Und nun erscheinen die Poltergeister und Vergangenheitsseelen, sprechen als >Urbilder wie mit tausend Stimmen. (Schumacher, 1937, S. 104). Die Dämonologie mit ihren ausgesuchten Monden und Dämmerungen, der Triumph gelehrter Talismane und das Zauberwerk der Medizinmänner sei wieder aufgelebt. »Aber der Medizinmann ist ein Professor der Psychiatrie. Seine Kraft und Lehre ist nicht, was seines Amtes wäre. Dämonen auszutreiben; nein, er selbst bringt noch sieben ärgere Teufel mit. Ihn interessiert überhaupt nicht so sehr die Heilung als die Krankheit. Jungs sonst wohlbestellte Patienten leiden nicht an einem spezifischen Mangel oder Teufel, sagen wir an unglücklicher Liebe oder an Arbeitslosigkeit, sondern an nicht genug Teufeln; denn sie sind, sagt Jung, nicht unbewußt, nicht archaisch, nicht primitiv und >tief< genug. Er vermittelt ihnen dann den durch fünftausend Jahre Zivilisation verlorengegangenen Anschluß an die alten Mächte und Mythen des >Kollektiv-Unbewußten«< (ebd., 5.103–104). Weiter heißt es bei Schumacher, der »Vernunftverächter« Jung und alle anderen verspäteten Mythologen des Bürgertums gingen am falschen Ort »nach unten« und schlössen die Fenster. Wegen dieser isolierenden und schlecht apokalyptischen Tendenz müßten sie auch als vernunftfeindlich und chaosfreundlich bekämpft werden (ebd., S. 105). Der Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Essay »Imago als Schein aus der >Tiefe<« schon vor 1933 »die Prinzhorn, Jung, Klages« als »die offenen oder Krypto-Fascisten der Psychologie« bezeichnet (Bloch, 1935, S. 344)16[xvii]. Bloch amüsiert sich darüber, wie die »sexuelle Libido« bei Jung bürgerlich geschönt wurde zur »Liebe« und manchmal auch zur »psychischen Energie« schlechthin, was nicht mehr anstößig klänge.Therapie sei da nur Rückkehr ins Unbewußte (ebd., S. 345). Er führt dazu weiter aus: »Jung heilt diese Kranken aber nicht, indem er sie allergrößtenteils als Patienten der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft begreift. Sondern nur, indem er ihrer abgeschnittenen Seele mythische Verbindungen schafft (und durch diese >Ergänzung< den Kapitalismus erst recht befestigt). Das Ergebnis ist eine >Umlagerung der Persönlichkeit im Sinn einer Neuzentrierung, bei welcher das Ich dann nicht mehr den Mittelpunkt der Persönlichkeit bildet<. Der Kapitalismus-Patient hat vielmehr einen Anschluß ans All gefunden, an jenes All zuletzt, das im Kollektiv-Unbewußten einer archaischen Menschheit ruht und unser Verlust, also unsere Krankheit ist« (ebd., S. 346). Es beschwere Jung auch wenig, daß nicht alle Neurotiker Philosophen seien, deren Grübelei der »Lebenssinn« sei. Mit kräftigen Worten weist Bloch darauf hin, daß aber ein Marxismus lebe, der die Krankheit des »Lebenssinns« nicht mit Seelsorge behebe, sondern mit Revolutionen zerstöre, und er schließt:
». . . dieser Krypto-Fascismus reicht Kunst als Religionsersatz, Religion als Lebensersatz und beides für eine müde Bourgoisie . . .« (S. 347)17[xviii].
Vor diesem Hintergrund leidenschaftlicher Auseinandersetzungen um Person und Werk C. G. Jungs will der nun folgende Vortrag Rittmei-sters aus dem Zürich Mitte der dreißiger Jahre gelesen und verstanden werden18[xix].
(Anschrift des Verf.: Ludger M. Hermanns, Rönnestr. 19, 1000 Berlin 19)
Summary
John F. Rittmeister and C. G. Jung. — John F. Rittmeister, a psychoanalyst who was executed by national socialists in 1943, had composed a work in the mid-1930’s which dealt critically with Jung’s theory of archetypes. Hermanns, who has been studying the life and work of Rittmeister for some time, presents the biographic, intellectual and political context which makes Rittmeister’s text comprehensible. [i] * Prof. Dr. Erich Simenauer zum 80. Geburtstag gewidmet.
** Die Bibliographie erscheint am Ende des Rittmeister-Aufsatzes. Bei der Redaktion
eingegangen am 28.11. 1981.
[ii] 1 Daß der Vortrag vor der Gesellschaft »Das Neue Rußland« stattfand, zu deren Züricher
Mitgliedern Rittmeister nachweislich gehörte, halte ich bei der begrenzten Zielsetzung
dieses Vereins für eher unwahrscheinlich.
[iii] 2 So sah sich Rittmeister gezwungen, in der Humanismus-Arbeit, die immerhin in einer
holländischen Fachzeitschrift erschien, den Begriff des »historischen Materialismus
« mit folgender Formulierung zu umschreiben: »Die historischen, über eine statische
Anthropologie hinausgehenden Methoden der modernen Gesellschaftskritik«
(Rittmeister, 1936, S. 952).
[iv] 3 Zu dem Zeitpunkt hatte Rittmeister bereits die Erfahrung einer Psychoanalyse am
eigenen Leibe gemacht, war aber noch nicht nach den Regeln der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgebildet und organisiert.
[v] 4 Für die Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland (und nicht die sonst übliche
Emigration z. B. in die USA) dürften private Gründe den Ausschlag gegeben haben.
Im Gefängnistagebuch schrieb er u . a. »… weshalb ich ja auch nach Deutschland
1937 zurückgekehrt war — um hier in der Heimat Frau und Beruf zu suchen« (S. 71).
Daß damit möglicherweise nur die eine (private) Hälfte seiner Motivation zur Rückkehr
nach Deutschland angesprochen wurde, erklärt sich aus den Entstehungsumständen
des Hafttagebuchs, das jederzeit von der Gestapo beschlagnahmt werden konnte.
[vi] 5 Unter welchem Namen die freudianische Gruppe zu firmieren gezwungen war.
[vii] 6 Sie gilt als die größte und effektivste Organisation des deutschen antifaschistischen
Widerstands und ist vor allem unter dem von der Gestapo geprägten Namen »Rote
Kapelle« bekannt geworden. In der Zeit des Kalten Krieges wurde ihr in der Bundesrepublik
der Charakter als Widerstandsgruppe abgesprochen und wegen der erheblichen
Spionagetätigkeit der Kerngruppe für die Sowjetunion der Makel von »Vaterlandsverrätern
« angehängt, womit sie ein zweites Mal »abgeurteilt« wurde.
[viii] 7 »So konnte er (Jung, L. M. H.) ausführlich den Fall einer in Indien geborenen Patientin
mitteilen, die mit 6 Jahren nach Europa kam und später einer schweren Neurose
verfiel: Sie hatte sozusagen mit der Ammenmilch Phantasien und Traumbilder übernommen,
die nur mit Hilfe des tantrischen Yoga und der indischen Chakrenlehre bewußt
zu machen und deutbar waren. Demgegenüber konnte Boss als Freudianer einen
Fall mit ganz ähnlichen Phantasien mitteilen; seine Patientin war aber keineswegs in
Indien geboren, sondern war eine ›waschechte Berlinerin‹. Es erhoben sich daher Zweifel,
ob in Jungs Fall wirklich die Unvereinbarkeit östlicher Einwirkungen im Kindesalter
mit der späteren europäischen Geisteshaltung die Ursache der Neurose war.«
[ix]8 »Die tatsächlich bestehenden und einsichtigen Leuten schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden, was der Wissenschaft nur förderlich sein kann« (Jung, 1933, S. 581 f.)
[x]9 Wo in unmittelbarer Nachbarschaft zum Jungschen »Geleitwort« zur Zusammenfassung
aller deutschen Ärzte aufgerufen wird, »die willig sind, im Sinne der nationalsozialistischen
Weltanschauung eine seelenärztliche Heilkunst auszubilden.« Weiter
heißt es: »Die Gesellschaft setzt von allen ihren schriftstellerisch und rednerisch tätigen
Mitgliedern voraus, daß sie Adolf Hitlers grundlegendes Buch ›Mein Kampf‹ mit
allem wissenschaftlichen Ernst durchgearbeitet haben und als Grundlage anerkennen.
Sie will mitarbeiten an dem Werke des Volkskanzlers, das deutsche Volk zu
einer heroischen, opferfreudigen Gesinnung zu erziehen« (Zentralblatt für Psychotherapie,
6, 1933).
[xi] 10 Die betreffenden Aufsätze sind 1974 teilweise in Band X der Gesammelten Werke
Jungs unter dem Obertitel »Zivilisation im Übergang« erschienen. Zusätzlich bringen
die 1972—1973 herausgegebenen Briefe, von denen die für diese Zeit wichtigen in
Band I (1906—1945) versammelt sind (Jung, 1972/73), einigen Aufschluß. Siehe deren
ausführliche Besprechung in Psyche, 29 (1975), S. 273—285, insbesondere S. 274—276
durch Ilse Grubrich-Simitis. Im Band X der Gesammelten Werke fehlen u. a. sein Interview
mit Adolf Weizsäcker im Großdeutschen Rundfunk in Berlin vom 26.6.1933, welches nach Jaffé, 1968, S. 181, auch in C. G. Jung Speaking, Princeton 1977, S. 50 f., abgedruckt ist. Außerdem fehlt das aufschlußreiche Interview, das Jung dem Hearst-Auslandskorrespondenten H. R. Knickerbocker gegeben hat und das im
Januar 1939 im New Yorker »International Cosmopolitan« unter dem Titel »Diagnosing
the Dictators« erstveröffentlicht und verdienstvollerweise von Balmer im Anhang
seines Buches in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht worden ist. Darin stehen
die berüchtigten Sätze von Hitler als dem »Lautsprecher, der das unhörbare Raunen
der deutschen Seele verstärkt, bis es vom unbewußten Ohr der Deutschen gehört werden
kann« (Balmer, 1972).
[xii] 11 Brome (1968) hat ihren Verlauf in großen Zügen nachgezeichnet, die 1960 durch
Ludwig Marcuses Autobiographie breiteren Kreisen erneut bekannt geworden ist und
im letzten Jahrzehnt durch Balmer (1972) aus kritischer und Jaffé (1968) und
Odajnyk (1975) aus einer Jung nahestehenden Sicht ihren vorläufigen Abschluß gefunden
hat.
[xiii] 12 Bally (1934); Bloch (1935); Schumacher (1937). Bloch konzipierte sein Werk noch
in Deutschland 1932, konnte es aber als Emigrant erst 1935 in Zürich erscheinen lassen,
während sein »Prinzip Hoffnung« mit ebenfalls Jung-kritischen Passagen im
Bd. I u. a. auf den Erfahrungen seiner kurzen Schweizer Emigration fußend 1938 bis
1947 in den USA geschrieben wurde. Schumacher vollendete sein Werk weitgehend
im Züricher Exil, von dort auf deutschen Druck hin ausgewiesen, konnte es erst später
in Frankreich druckfertig gemacht werden und erscheinen. In dieser Erstauflage
trug es den Titel: »Gegenangriff durch Geschichte. Zugleich Verteidigung der Demokratie
des Christentums, des Mutes des individuellen Mannes und anderer beachteter
Ideale«, Paris 1937.
[xiv] In einem Brief vom 2. 3. 1934 an W. Cimbal nahm Jung erstmals Stellung zum Artikel
von Bally: »Das Zentralblatt hat in Zürich bereits eine Hetze gegen mich ausgelöst
« (Jung, 1972/73, Bd. I, S. 190). Seine öffentliche Antwort an Bally erfolgte ausführlich
in der N.Z.Z. Nr. 437 u. 443 vom 13. u. 14. 3.1934, nachzulesen im Bd. X
der Gesammelten Werke.
[xv] Rittmeister war zu jener Zeit in Analyse bei Bally.
[xvi] 15 Schumacher war schon 1932 in die Schweiz ausgewandert, »nachdem es mir klargeworden war, daß ich weder Neigung hatte, in Deutschland ein wirkungsloser Märtyrer zu werden oder als Wallfahrer nach Moskau zu gehen« (Schuhlacher, 1937, S. 23).
[xvii] 16 Er fährt dann fort: »Sehr interessant hier, wie die Fascisierung der Wissenschaft
gerade noch Elemente Freuds ändern mußte, die noch der aufgeklärten, materialistischen
Periode des Bürgertums entstammten.«
[xviii] 17 Nachdem Jung die Psychotherapeuten bereits mehrere Jahre durch alle Stürme hindurchgesteuert hatte, wie das »Zentralblatt für Psychotherapie« 1940 dankend vermerkte, wurde Blochs Kritik an Jung noch schärfer; er bezeichnete diesen im »Prinzip
Hoffnung« Bd. I, S. 61 als »psychoanalytischen Faschisten« und auf S. 65 gar als »faschistisch
schäumenden Psychoanalytiker« und sprach vom offenbaren »Rapport dieser
panischen Libido mit dem deutschen Faschismus« (S. 70).
[xix] 18 Einer der großen Schriftsteller aus der unmittelbaren Züricher Nachbarschaft,
Thomas Mann, schreibt am 16. III. 1935 u.a. in seinen Tagebüchern: »… Die Verachtung
des ›seelenlosen Rationalismus‹ wirkt nur darum negativ, weil sie noch Volldampf
voraus gegen den Rationalismus bedeutet, während längst der Augenblick gekommen
ist, aus allen Kräften Gegendampf zu geben. Jung denkt und spricht zur
Verherrlichung des Nazitums und seiner ›Neurose‹. Er ist ein Beispiel für die notgedrungene
Anpassung der Gesinnung an die Zeit — auf hohem Niveau; er ist kein
›Einzelgänger‹, gehört nicht zu denen, die den ewigen Gesetzen der Vernunft und
Sittlichkeit treu geblieben sind und darum zu Rebellen gegen ihre Zeit werden. Er
schwimmt mit dem Strom. Er ist klug, aber nicht achtenswert. Wer sich heute noch in
›Seele‹ sielt, ist rückständig, geistig und moralisch. Der Zeitpunkt, wo man wahrhaft
recht hatte, wenn man gegen die Vernunft und den Geist recht hatte, ist vorüber.«
(Thomas Mann, 1978, S. 57)
Aus denn Archiv der Psychoanalyse
JOHN F. RITTMEISTER
Voraussetzungen und Konsequenzen der Jungschen Archetypen-lehre*[*]
Übersicht: Indem Rittmeister — vor dem damals aktuellen Hintergrund der offenen Parteinahme C. G. Jungs für den Nationalsozialismus — dessen Lehre von den Archetypen in ihren philosophiegeschichtlichen und politischen Zusammenhang rückt, demaskiert er Jungs ahistorischen Bilder-Kollektivismus als Reaktion eines bürgerlichen Klasseninstinkts auf die sozialen Erschütterungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Im heiligen Kreuzzug gegen die zersetzende Wissenschaft, gegen den Teufel der lebenstötenden Vernunft, hat sich unerwartet schnell und mit einem eleganten Sprunge auch C. G. Jung im dunklen Rampenlicht des politischen Theaters eingefunden. Es war keine Zeit zu verlieren gewesen: man hatte ihn längst in der Kampffront für die deutsche Weltseele erwartet.
Erhofft doch das Bürgertum von Jung sozusagen die letzten, die zusammenfassenden, die persönlichsten Aufschlüsse über die hehren Güter, zu denen nach langer enttäuschter Wanderung der bürgerliche Geist schließlich wieder zurückkehrt: nämlich wie wir wieder glauben sollen, was die Seele weltüberwindend vermag, wie wir intuitiv an die unverständlichen Außendinge herankommen, und auf welche Weise der Mythos die Welt manatrunken gestalten könnte.
Aber lästern wir nicht, sondern gehen wir einigen Gedankengängen nach, die weniger den Inhalten gewisser typischer Denksysteme gelten sollen, als vielmehr ihren praktischen Konsequenzen.
Es ist reizvoll, die krause Linie: Hegel, Marx, Freud, Jung zu verfolgen, von denen jeder eine Gesamtschau des Menschen zu geben prätendierte, Enthusiasten des Entwicklungsgedankens und jeder in seiner Weise ein kopfstehender, sieghafter, strauchelnder oder verunglückter Dialektiker. Jung ist in ähnlicher Weise eine Strecke lang mit dem älteren Freud gegangen, wie Marx mit Hegel, die Lösungserscheinungen waren ähnlich, erfolgten bei dem zweiten Paar allerdings dezenter und weniger geräuschvoll. Wenn vor 100 Jahren der Idealismus dem Realismus vorausging, so ist es nicht zufällig, daß jetzt umgekehrt der eine dem anderen nachhinkt, um sozusagen auf einigen Stockwerken tiefer alt und verbraucht dort wieder anzulangen, wo der klassische deutsche Idealismus nach all seinen Experimenten sich soeben in die Romantik zu erschöpfen begonnen hatte.
Mit Recht konnte Marx von sich behaupten, daß es gelte, Hegel vom Kopf, auf dem seine Lehre stehe, auf die Füße umzustülpen, d. h. in die Realität der diesseitigen Soziologie und Geschichte einzubeziehen. Hegel war objektiver (wenigstens objektiver!) Idealist, allerdings mit zahlreichen und sehr instruktiven realistischen Ansätzen (Hegel, 1837).
Hegel war auch die Trieb- und Instinktspsychologie noch nicht zugänglich. Erst Freud erforschte die Triebwelt des Individuums im Zusammenhang und vermied es wenigstens in den ersten 30 Forscherjahren (bis zur Arbeit: Jenseits des Lustprinzips) sich von der Beobachtung der Tatsachen und vom Experiment zu entfernen. Der eigentliche Anschluß dieser ersten Periode der Psychoanalyse, deren Ausgangspunkt ja die Selbstbeobachtung war, an die Kontrolle auch durch objektive naturwissenschaftliche Methoden konnte gefunden werden (z. B. Pavlovschüler Ischlondski, 1930), ferner Brun (1926) etc., auch die Assoziationsexperimente Jungs (1904-1910).
Aber schließlich sah Freud nichts als Triebe und hypostasierte einen unklaren Begriff von Sexualität. Auch sah er nichts anderes als das einzelne Individuum und eine unbewegliche K. u. K.-Realität des Vorkriegs-Wien, an die sich der Neurotiker anzupassen hätte. Auf soziologischem Gebiete phantasierte Freud und noch viel mehr seine Schüler. Jedoch war es ihm gelungen, den komplizierten Weg des sich entwickelnden Menschen, mit all seinen widerspruchsvollen Triebstrebungen, seinen grotesken Irrfahrten bis zur Selbsteinigung minutiös aufzuzeigen. Im Ödipuskomplex glaubte er das Bild für die immanente Dialektik der entscheidenden Kindheitsjahre, die zugleich die mythischen Kindheitsjahre der Menschheit sind, gefunden zu haben.
Jung strebte über Freud hinaus, und — unzufrieden mit dem Pansexualismus — suchte und fand er in mystischer Identifikation einen Einblick in die Seele des Primitiven und Schizophrenen und mußte feststellen, daß wesentliche Phantasieprodukte und Lebensformen nicht aus den Tragikomödien der Kinderstube und den Schicksalen des sexuellen Trieblebens zu erklären seien. Er gab der Libidoidee einen viel weiteren Rahmen und verwob, über den langweilig statischen Ambivalenzbegriff Freuds hinausgehend, in die Libido den dynamischen Gedanken der Enantiodromie, der Entwicklung in Gegensätzen hinein, ohne allerdings je das Wort »Dialektik« anzuwenden. Zugleich dehnte Jung durch unermüdlichen Hinweis auf die alten Literaturen und Religionen Chinas, Indiens und des Mittelalters diese beiden Schlüsselbegriffe auf alles Leben der Natur und des Lebens aus, fügte zum »Unbewußten« seiner Vorgänger das »kollektive Unbewußte« hinzu, um aber schließlich völlig in einer diffusen Seelen- und Typenlehre zu zerfließen. Jung hat weder den Anschluß an die klassische und moderne Philosophie jemals ausgebaut, so daß der Bogen seiner Zusammenschau zu der Bildermatrix mancher früheren Philosophen nicht geschlagen wurde, noch vermochte er seinen Kollektiv-Begriff über wahre Rassen- oder Kulturgruppierungen hinaus in gesicherten soziologischen Bezirken zu verankern.
Jung hat richtig gesehen, daß das dialektische Prinzip mit all seinen Konstellationsmöglichkeiten beim Menschen in zahlreichen Formen auftauchen kann, eingesenkt in merkwürdige Bilder, die die Phantasie, die Kunst, der Traum präsentiert, Symbolen, die nicht aus dem individuellen, infantilen Leben, sondern vielmehr aus dem phylogenetischen Dasein der Vorfahren, gleichsam ein spätes Erbgut zu stammen scheinen. (Es handelt sich z. B. um doppelgeschlechtliche Gottheiten, aus denen die Welt entsteht, Städtegründer, Helden, Drachenkampfmotiv, Wiedergeburt, Weltuntergang, Weltschöpfung etc.) Sie prägen sich dem Vorstellungsvermögen des Menschen außerordentlich leicht ein und reproduzieren sich besonders gern in unbewußter Projektionsform. Dialektik ist tatsächlich ein Urphänomen und entwickelt sich schrittweise und hier am deutlichsten aufzeigbar in der Kindheit des Menschen und der Menschheit, wo ja auch die Geschlechtsgegensätze als Vorbilder aller anderen Polaritäten das Hauptinteresse aufsaugen.
Woher kommen also nun die dialektischen Urbilder, die Imagines oder Archetypen? Bei Jung besteht die Tendenz, die Archetypen ähnlich wie Plato und die Realitäten des Universalienstreites als präexistent anzunehmen, zu isolieren, zum mindesten zu subjektivieren1[1], in dem Sinne, daß der Mensch etwa die Urbilder von seinen tiefersichtigen Vorfahren geerbt habe, den Urmenschen, bei denen sich die kosmischen Vorgänge mit ihren Polaritäten (Sonnenlauf!) etwa tiefer eingeprägt hätten, so daß dann eine Art Hirnvererbung entstand (»typische Formen des Auffassens und des Handelns«). Der heutige Mensch fände also sozusagen schon fertige Schemata vor, wenn er auf die Welt komme. Aber können diese Art von Instinkten und Urschemata des Denkens und Handelns wirklich so fertig im Subjekt bereitliegen, und sollte man nicht eher meinen, daß Gegensätze (z. B. mann-weibliche Anlagen, oder die Organe der Subjekt-Objektbeziehung) sich tief in der ganzen Organisation des Menschen versenkt finden und sich jedesmal wieder neu in gesetzmäßiger Wechselwirkung mit der Außenwelt und im Prozeß der Ausdifferenzierung neu bilden und sich jeweils besonders tönen. Ja, nicht nur der Mensch entwickelt sich (nicht: ist) dialektisch, sondern auch die ganze Natur. Der Mensch ist wie die ganze Natur dialektisch bewegt zwischen polaren Gegensätzen, aber diese Polarität ist immanent, nicht präexistent und ist eben der Modus des Ablaufs alles Lebens, Denkens und Seins selbst. Aber Jung kommt es ja gar nicht auf Natur und den Menschen als Naturwesen letzten Endes an, sondern auf das Erlebnis und wie die Ideenwelt sich seelisch manifestiert. Um Wahrheitsgehalt, um die konkreten Inhalte, ist es ihm nicht zu tun.
Lenin sagt: »Aber sowohl die astronomische als auch die mechanische (auf der Erde) Bewegung wie auch das Leben der Pflanzen und Tiere und des Menschen — alles das hat der Menschheit nicht nur die Idee der Bewegung in die Köpfe gehämmert, sondern gerade die der Bewegung mit Rückkehr zu den Ausgangspunkten, d. h. der dialektischen Bewegung« (Lenin, 1930, S. 327).
In diesem Satz ist angedeutet, daß von der dialektischen Bewegung nichts ausgenommen ist: Die Archetypen, die dialektischen Glieder, präexistieren nicht irgendwie und irgendwo wie die platonischen Ideen etwa im kollektiven Unbewußten, sondern die Vorgänge in Natur, Leben, menschlichem Erlebnis und daher auch im Denken, sind dialektischer Art. Aus Träumen, in denen unbekannte Symbole oder den Träumer überraschende Inhalte vorkommen, kann man nicht schließen, als seien diese spezifischen Symbole als solche vererbt, bisher dem Träumer latent geblieben und nun plötzlich aufgetaucht, vielmehr haben die Symbole eine Vorgeschichte wenigstens in der eigenen Kindheit, dort bilden sich typische Schemata, die natürlich Ähnlichkeit mit anderen frühmenschlichen Schemata haben können. Es besteht nicht nur die Gefahr, sondern es wird wirklich unternommen, daß man die Archetypen isoliert, abgeschnitten vom Geschehen nimmt und dem Menschen, weil er sich ja bewußt machen kann, eine Vorzugsstellung einräumt. Der nächste Schritt zur isolierten Betrachtung und Verehrung der symbolischen Urbilder ist dann nicht mehr weit. Demgegenüber muß die Immanenz der dialektischen Kettenglieder betont werden. Es bedarf der konkret-materialistischen Wendung und der Einsicht, daß die Urbilder Abstraktionen sind (jedenfalls eher universalia post, als ante rem und eher in re als in anima), sich allerdings in der Mythologie und den Religionen als Vorstellungen verselbständigt, verlebendigt (entifiziert: Vignoli) haben, de facto aber abgezogene und intensivierte Anschauungsbilder von Prozessen sind, die Selbstbewegung kraft ihnen innewohnender Gegensätze meinen.
In diesem Sinne und nur in diesem Sinne kann man Anschauungsbilder für schwierig ausdrückbare Prozesse bestehen lassen und z. B. den heraklit’schen Satz, den Lenin öfter zitiert, verstehen: »Die Welt, die eine aus allem, hat keiner der Götter noch Menschen gemacht, sondern sie war und ist und wird sein, ewiglebendes Feuer, maßvoll sich entzündend und maßvoll verlöschend« (Lenin, 1930, S. 331). Lenin bemerkt dazu (1930, S. 331—332), daß das »eine sehr gute Darlegung der Prinzipien des dialektischen Materialismus« sei, verwahrt sich aber gleichzeitig gegen die Verballhornung Heraklits ins »Hegelsche« durch Lassalle, indem nämlich Lassalle »besonders auf dem Idealismus Heraklits (besteht) — daß das Prinzip der Entwicklung, des Werdens bei Heraklit logisch-präexistent, daß seine Philosophie Idealphilosophie (sei)«. Lenin führt übrigens noch einen Satz Philos über die Lehre des Heraklit an: »… daß sie (die Lehre) wie die stoische alles aus der Welt und in die Welt ableite, von Gott aber nichts geworden glaubt« (Lenin, 1930, S. 328—329).
Jung ist reich an interessanten und zweifellos richtigen psychologischen Betrachtungen, dem aber dann wieder arge Schnitzer und Unbegreiflichkeiten gegenüberstehen. Dafür sollen später Beispiele folgen. Sein Begriff vom kollektiven Unbewußten, seine Zusammenfassung des Subjektiven und Objektiven im lebendigen psychologischen Prozeß durch das esse in anima, die Erschaffung der Wirklichkeit durch die Phantasie, der Mutter aller Möglichkeiten, in der Innenwelt und Außenwelt lebendig verbunden sind (Jung, 1921, S. 53—54), — all das läßt erkennen, daß der psychologische Standpunkt Jungs erkenntnistheoretisch Idealismus
ist, d. h. die Welt aus dem Erlebnis, der subjektiven Erfahrung, dem
Ich erklärt. Nicht der Mensch steht in einem Wechselverhältnis zur Außenwelt, nährt sich an ihr, korrigiert sich an ihr, gestaltet sie wie sie ihn, sondern auf eigentümliche Art und speziell für die idealistische deutsche Philosophie charakteristische Art ist die Welt irgendwie in den Menschen eingesogen, verinnerlicht und dadurch irrealisiert. Die Dinge, die Natur und die Menschen in der Natur bewegen sich nur kraft der Ideen und der schöpferischen Phantasie des Menschen, durch den die jenseitige Welt sozusagen hindurchscheint.
Die Selbstbewegung der Dinge und des Menschen geschieht also nicht aus ihnen selbst heraus, aus den ihnen selbst innewohnenden Widersprüchen heraus, sondern diese Widersprüche, diese Dialektik sitzt irgendwie außerhalb im menschlichen, reflektierenden oder im transzendenten göttlichen Subjekt. (und der Mensch ist somit zu einem nicht reflektierenden und nicht kreativem, passiv bewegtem Objekt. Das ihn bewegende liegt außer ihm. Anm. JSB)
Man kann die Dialektik, die Einheit der Widersprüche als die Wurzel
aller Lebendigkeit und aller Bewegung auf verschiedene Weise diskutieren.
Bei Hegel (1812—1816) findet man folgende Möglichkeiten:
Der Widerspruch wird gewöhnlich fürs erste von den Dingen, von
dem Seienden und Wahren überhaupt entfernt; es wird behauptet, daß es nichts Widersprechendes gebe.
Der Widerspruch wird fürs andere dagegen in die subjektive Reflexion geschoben, die durch ihre Beziehung und Vergleichung ihn erst setze. Aber auch in dieser Reflexion sei er nicht eigentlich vorhanden, denn das Widersprechende könne nicht vorgestellt noch gedacht werden.
Wir können drittens hinzufügen, daß bei Hegel der Widerspruch anerkannt wird und zwar als objektiv, aber diese Objektivität ist bei Hegel der objektive Geist. Wenn bei Hegel dieser objektive Geist oft in den subjektiven hinüberschillert, so erst recht bei Jung das kollektive Unbewußte sich in die Subjektivität verengt. Bei Hegel wie bei Jung gehen objektiver und subjektiver Idealismus durcheinander. Das Bewußtsein ist bei Hegel einmal das absolute Bewußtsein, das andere Mal das subjektive, persönliche Bewußtsein.
Genauso bei Jung, nur in viel gröberen und unbehaueneren Formen: Das kollektive Unbewußte, die Archetypenwelt, die dem Gesetz des Auf- und Unterganges, der Enantiodromie[1] gehorcht, gehört einesteils nicht zu »mir«, sondern ist objektiv, andernteils ist es aber doch wieder »mein Erlebnis«, ein Teil meines Unbewußten, eben des Kollektiven, des Kellers unter dem Keller, und schließlich assimilierbar. Zweifellos verschwimmen Subjektives und Objektives zugunsten des Subjektiven bei Jung doch in viel höherem Grade als bei Hegel, der sich ja ausdrücklich an vielen Stellen bemüht hat, die Dialektik als eine objek tive , wenn auch als eine geistige, zu erhärten: »Die Dialektik überhaupt ist …nicht eine Bewegung nur unserer Einsicht, sondern aus dem Wesen der Sache selbst, d. h. dem reinen Begriffe des Inhalts bewiesen.« »… (Sie) ist aber die immanente Betrachtung des Gegenstandes« (Hegel, 1833—1836, S. 303). »… die Bewegung selbst (ist) die Dialektik alles Seienden … « (Hegel, 1833—1836, S. 305).
Im ganzen ist Jung auf der Stufe des vor 100 (heute vor fast 200 Jahren Anm. JSB) Jahren bereits totgelaufenen romantischen Idealismus-Standpunktes stehengeblieben. Für ihn ist
jetzt das Absolute sozusagen der »Makranthropos« (der Mensch als Mikrokosmos – der Kosmos als Makroanthropos Anm. JSB), der innerseelische Riesenmensch, das überzeitliche kollektive Subjekt, das in seinem überindividuellen Archetypen-Speicher Erfahrungen über … ja über was anhäuft? Ein Außen gibt es ja eigentlich gar nicht, da der Makranthropos alles ist — also sagen wir über das Ding an sich, das ja auch nur je nach Bedarf eingeschaltet und zum Teufel gejagt werden kann, aber überwiegend Letzteres, denn das kollektive Unbewußte ist ja zugleich das Ding an sich. Was vom naiven Menschen, sofern er primitiv denkt, noch jenseits der Wolken, als Götter und Heilige und Schicksal erlebt wird, was die katholische Kirchenlehre noch als außermenschliche Realität, wie Gott, Hölle, Seligkeit etc. durch Glaube und Gnade zu erfahren hinstellt, rückt seit Descartes und Berkeley immer mehr in die Subjektivität des Menschen vor.
Für Berkeley ist Esse = Percipi, und die Empfindungen, die wir haben, werden uns vom lieben Gott gemacht. Es gibt also eigentlich nur Ich und Gott, also nur Geist, aber keine Materie, keine Natur, keine realen Menschen, außer mir selber.
Für Jung ist nicht nur die Außenwelt, sondern auch Gott in die Subjektivität hinuntergerutscht. Die Archetypenwelt, die autonomen Komplexe, bekommen das Attribut »göttlich« und einer von diesen (das Selbst) ist der »Gott in uns«. Jung sagt wörtlich: »Unsere Verbeugung vor Gesetz und Staat ist ein empfehlenswertes Muster für unsere allgemeine Einstellung zum kollektiven Unbewußten. (Gebet dem Kaiser, was des Kaiser’s ist, und Gott, was Gottes ist!)« (Jung, 1928, S. 259)2[1].
Diese Verbeugung, auch vor Faktoren, zu denen unser Gewissen nicht unbedingt ja sagt, sei praktisch zuträglicher als das Gegenteil. »Wenn ich mir Macht über das Unbewußte anmaße, so ist das ein psychischer Diätfehler, eine unbekömmliche Einstellung, die man im Interesse der eigenen Wohlfahrt besser vermeidet« (Jung, 1928, S. 257).
Nirgends wird deutlicher, wessen Subjektivität eigentlich gemeint ist
und welcher Gott in diese hineingerutscht ist: Es ist der Gott der bürgerlichen Ordnung, ihres Staates, ihrer Gesetze, die dem Spießer und Unternehmer die eigene Wohlfahrt garantieren. Zugleich ist es ein kollektiver Gott, der sich als »allverbindende, dunkle Seele« manifestiert, der in »organischer, ganzheitlicher Einheit« — sich wohl eines Tages als Volksgemeinschaft zwischen Ausbeutern, Polizei und Arbeitern entpuppen wird oder schon entpuppt hat.
Dieses vampirhafte Wesen, diese »göttliche« Subjektivität, hat die ganze Welt in sich eingesaugt, zum Verschwinden gebracht, bläht sich demgemäß zu einer kollektiven Allumfassendheit auf, die je nach Bedarf in promethischem Weltschöpfererlebnis ICH selber bin oder vor der ich mich zu verbeugen, mein ephemeres persönliches Bewußtsein untertauchen zu lassen habe.
Meine Seele enthält also einerseits die tausendfach facettierte schöpferische Ich-Gottheit, die souverän, mana[1]-geladen und selbstbewußt Umwelt und Fremd-Iche gestaltet, beherrscht, vorwärts treibt und, Teufel und Götter im Leib, sich zu ungeahnter Luststeigerung in Himmel und Höllen erhebt. Mit meiner gesamten Aktivität identifiziere ich mich mit den kollektiven Schöpfungsmöglichkeiten aller Zeiten und Völker, ein Napoleon an Speicherung alles erdenklichen archäologischen Begriffsinventars.
Aber zugleich bin ich doch auch wieder klein, ein Tropfen auf dem Meere des kollektiven Unbewußten, dem ich mein eigenwilliges Bewußtsein, meinen hybriden Verstand zu opfern habe, dem ich mich durch Intuition und Gefühl unterzuordnen und anzuschmiegen hätte. Hatte ich mich doch einst aus irgendeiner Hybris von dieser kollektiven Unbewußtheit losgemacht und isoliert.
Wir sehen, das Ich wird auf jeden Fall egozentrisch-solipsistisch[1] (und narzisstisch Anm. JSB) aufgebläht: Das eine Mal ist es unendlich groß, weltschöpferisch, das andere Mal unendlich klein, ohnmächtig und ohne Erkenntnis.Die Gegensätze des dialektischen Weltprozesses verlaufen um jeden Preis irgendwie in mir selber, gleichen sich aus und projizieren von hier die Weltphantasmagorie nach außen. Der andere Mensch, Natur, Eigengesetzlichkeit von Vergangenem und Zukünftigem, all das ist und bleibt Phantasma nach dieser Nabelschaulehre.
Lenin hat vor 30 (heute vor ca. 90 Anm.JSB) Jahren mit unübertroffenem Spürsinn den »Klassengeruch« in der Theorienbildung der damaligen naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Theorien aufgedeckt, besonders am Paradigma des Empiriokritizismus von Mach und Avenarius. Reduzierte sich damals die Welt auf meine (d. h. des philosophierenden Individuums) Empfindung, war das Nicht-Ich vom Ich hervorgebracht, das Ding, die Umgebung, durch die »empiriokritische Partizipialkoordination« unauflöslich mit meinem Ich, meinem Bewußtsein verbunden, so wird heute nach der Priesterlehre der modernen Psychoanalyse das Leben, die Welt im wesentlichen als Traum innermenschlicher Komplexe und Bilder interpretiert.Selbst für den neueren Freud ist ja der Sinn alles Lebens der Tod, strebt alles nach dem Tode.Je mehr der bürgerlichen Wissenschaft aufgrund ihrer Klassenlage das Verständnis für die wirklichen Gründe und Zusammenhänge der Krise entschwindet, je mehr das andrängende soziologische Geschehen zur Stellungnahme herausfordert, desto mehr wird die früher mehr verhüllte idealistische Grundeinstellung militant und fordert jetzt geradezu Glauben, Intuition, Einfühlung als Mittel zur Erkenntnis einer schattenhaften Außenwelt, deren soziologisch-historische Probleme man nicht sehen darf und nicht sehen will. Es gibt keine Materie mehr, keine Kausalität, keine Objektivität. Alles verhüllt sich in einen irrationalen Nebel, übrig bleibt als das einzig Faßbare die Subjektivität, die sich nun in mystischer Kollektivität eine Ideenwelt von Innen her aufbaut. Mürbe geworden durch die zunehmende, ihrer Berechnung und ihrem Willen sich entwindende Zweideutigkeit der Welt greifen die Bürger mittels Analyse, Buddhismus, Christian Science, Theosophie und Psychologie zu einem Passepartout, zu einem im Inneren, wenn auch noch so schwankend, so doch jederzeit durch Sinnieren faßbaren Generalnenner, wie nach einem Rettungsanker.
Jung hat sicher sehr viel dazu beigetragen, um über Inspiration, schöpferische Vorgänge etc. Brauchbares zu eruieren, und besonders hat er es verstanden, manche Ergebnisse der Wissenschaft in gefälliger Form zu einem Gesamtbild zu vereinigen.
Er hat sich um die Seele insofern gekümmert, als er nicht nur kühl wissenschaftlich, sondern menschlich-beratend Hinweise gibt, wie einer sich selbst gegenüber zu verhalten habe, was er mit merkwürdigen Einfällen, aufregenden Träumen, unverständlichen seelischen Affekten etc. eigentlich anfangen soll. Er lehrt ihn, die Angst vor sich selber zu vergessen. Manches mag stimmen. Besonders ist die Beschreibung des Lebensprozesses als eines dialektischen Ablaufs zweifellos etwas Neues. Aber da er ganz in der Erlebensseite befangen bleibt, auf der Seite der Spiegelung der Welt in meinem Inneren, der Welt, insofern sie Hirnphänomen eines Individuums ist (was sie ja auch tatsächlich unter anderem ist), so übersieht er (ganz zu schweigen von der Welt der Physik und Chemie etc., die man ja leicht einmal fortdenken darf) völlig eine andere wichtige Seite des Menschlichen, und das ist der Mensch, insofern er Mensch unter Menschen ist, also die soziologische Gesetzmäßigkeit.
Aber Jung spricht doch dauernd vom Kollektiven? Ja, auch hier wieder nur insofern er natürlich nicht übersieht, daß man über den Individualismus Freuds hinausgehen muß. Aber bei Jung ist nun auch wieder nur die subjektive Seite des Kollektiven beachtet und gemeint — nämlich Phantasiestücke oder Erfahrungen, die andere Gruppen der Gegenwart oder meine Vorfahren an Erlebnissen gesammelt haben.
Der Mensch bleibt mit Jung in der, wenn auch noch so großartigen und farbenprächtigen Innerlichkeit befangen. Er wird überraschende und überwältigende Traum- und Phantasieerlebnisse haben, die ihn sicherlich mit allen Zeiten und Völkern in eine mystische und berauschende Partizipation bringen werden, so daß er, der der schon zuschnürenden modernen Welt der Großstadt, des Fabrikbetriebes, der »seelenlosen« Nur-Organisation, der amerikanischen rationalisierten Hast und Rastlosigkeit zu erliegen drohte, endlich aufatmen kann: Hier endlich findet er grüne (sic! Anm. Ideologie der Grünen! JSB) Wiesen, hier die ewig und unbeirrbar ihren stolzen Pfad schreitende Sonne, die Weltaufgang und -untergang, mein Leben und mein Sterben unmittelbar verbildlicht. Aber, warten wir einen Augenblick: Ist es denn die wirkliche Sonne, die wir sehen, sind es denn wirkliche grüne Wiesen, auf denen wir der Seelenlosigkeit und Einsamkeit des Büro- und Fabrikbetriebes entrückt sind?
Nein, es ist die innere Sonne, das innere Licht, der innere Frieden, der wenn auch noch so eindrucksvoll, noch so reich an inneren Bildern und überzeugungskräftigen, strömenden Reichtümern, keinerlei Beziehungen zu der wirklichen Umgestaltung der Welt vermittelt, nichts über die Gesetze dieser furchtbaren Jahre, in denen wir mitten drinnen leben, aussagt. Nichts über den Hunger von Millionen, nichts über die drohenden Kriege, nichts über die Rüstungen aller Kulturländer, nichts über die Vernichtung von massenhaften Produkten, nichts über den Kampf und das Blut — der wirklichen Seelen, der Brüder rings um uns herum. Darf ich meine kleine Einzelseele wirklich so wichtig nehmen, und mich aus dem Lärm und dem Kampf der Zeit, aus all den vielleicht materiellen Vorteilen meiner Klasse, die ich genieße, wenn auch aus den seelischen Kämpfen, die ich leide, heraus, auf die berühmte einsame Insel der Seligen retten und entrücken, kann ich die Seele fortwährend im Munde führen, auf Fabriken, Technik und die »unersättlichen« Massen schimpfen, während ich die Erzeugnisse der Technik, dieser Massen, doch dauernd in Anspruch nehme? Kann ich gemütlich lächelnd zur Tagesordnung übergehen: Kriege hat es immer gegeben und wird es immer geben, ich habe ja nichts damit zu schaffen, ich will ja keinen Krieg —und doch zugleich im Besitz von gewissen Aktien sein, deren Gewinne erst die materielle Unterlage für mein Alltagsleben sind?Kann ich eine Philosophie vertreten, die mir persönlich vielleicht interessante Gesichtspunkte und neue Aufschlüsse liefert, und doch zugleich die Tatsache übersehen, daß solche und ähnliche Philosophien wie keine anderen geeignet sind, den Kriegstreibern, den reaktionären Junkern und Pfaffen, den Ausbeutern und Menschenschindern Argumente zu liefern?
Und übersehen, daß gerade diese Philosophie oder Psychologie
passiv und unklar veranlagte Menschen noch passiver macht, ihnen
noch mehr das Rückgrat bricht, als es Religion und Theologie sowieso schon tun, sie noch mehr in sich selbst zurückziehen läßt, so daß sie alle Bewegungen und Kämpfe und Friedenssehnsüchte jetzt im eigenen Herzen suchen und finden, wie der durch Jahrhunderte durch Sklaverei verdorbene Inder, der die Reitpeitsche des englischen Junkers auf seinem Rücken gar nicht mehr empfindet, weil er sie einfach wegphilosophiert?
Wollen wir es dulden, daß unsere geistreichen Zeitgenossen ihre je nach Bedarf irrlichterierend glitzernden oder in Pomp und Ornat einherstolzierenden Psychologien gerade zum rechten Zeitpunkt zwischen die Nutznießer und Leidtragenden der aufziehenden Weltkatastrophe zu manipulieren suchen?Wollen wir zusehen, wie die Nebelwand zwischen den Menschen, Klassen, Rassen und Völkern durch diese modischen Psychologien nur immer mehr sich verdichtet, anstatt daß sie, wie man doch von Wissenschaft und Menschenkunde erwarten sollte, endlich zerrissen wird?Was nützt uns die raffinierteste Erkenntnis, die vollständigste Anschauung der Welt, wenn doch nur alle Traum-, Bilderund Archetypenschau mir meine Seele aufblähen, verhärten und von der Wirklichkeit abwenden hilft?
Es ist tragisch, aber wahr: Auch der sublimste erkenntnistheoretische
Idealismus führt unweigerlich zum Solipsismus, zur Vergottung des
Ichs, einer Elite, einer Rasse und endet schließlich im blutigsten Imperialismus.
Schließen wir uns Dostojewski’s Wort an, der den »lächerlichen Menschen« nach all den Abstürzen in weltlose Verichungsabenteuer den anderen, ganz einfach die Existenz des anderen Menschen außer ihm selbst entdecken und seine Traumreise damit schließen läßt: »Die Erkenntnis des Lebens — ist höher als das Leben, die Erkenntnis der Gesetze des Glücks — ist höher als das Glück … Das ist es, wogegen man kämpfen muß. Und ich werde es. Wenn nur alle wollten, würde sich sofort alles auf Erden verändern.«
Summary
Presuppositions and consequences of Jung’s theory of archetypes.
In view of Jung’s open partisanship with national socialism, Rittmeister places the latter’s theory of archetypes within the history of philosophy and the political context. He unmasks Jung’s ahistorical image-collectivism as the reaction of bourgeois class instinct to the social upheavals of the first half of twentieth century.
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[*] * Das Typoskript aus dem Rittmeister-Nachlaß wurde mir freundlicherweise von Frau Eva Hildebrand zur Veröffentlichung überlassen (L.M.H.).
[1] 1 Jung entscheidet sich im Universalienstreit für das esse in anima; da aber anima zugleich transzendentale wie subjektivistische Akzente trägt, so oszillieren die Archetypen zwischen den Räumen menschlicher Subjektivität und einer transzendenten Ideenwelt hin und her.
[1b] Dyck, J. (2009). Gottfried Benn. Berlin, Deutschland: De Gruyter. S.94.
[2] Enantiodromie (griechisch ἐναντιοδρομία „Gegenlauf“) ist die von Heraklit aus Ephesos (etwa 535–475 v. Chr.) entwickelte Vorstellung vom stetigen Gegeneinanderwirken der Kräfte, die allem Lebendigen als Grundgesetz des Seins und des kosmischen Rhythmus‘ innewohnt.
Heraklit formulierte: Panta rhei = „Alles fließt, wandelt und verwandelt sich in sein Gegenteil.“ Aus warm wird kalt, aus Tag Nacht, aus Sommer Winter, aus Leben Tod. Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht. Danach sei es auch unmöglich endgültig zu bestimmen, was gut und böse sei. Und jedes Urteil darüber sei lediglich ein Wähnen.
Der Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick griff diesen Gedanken wieder auf und wies darauf hin, dass ein Zuviel des Guten stets ins Böse umschlage. Zu viel Patriotismus erzeuge Chauvinismus, zu viel Sicherheit Zwang oder zu viel Buttercremetorte Übelkeit.
Nach Clifford A. Pickover ist Enantiodromie darüber hinaus der Prozess, in dem sich ein Glaube in sein Gegenteil verwandelt. Pickover nennt als Beispiel das Damaskuserlebnis des Apostels Paulus von Tarsus.
[3] 2 Jung bemerkt in seinem Artikel »Zeitgenössisches« (N.Z.Z., 13. 3. 34) noch einmal
ausdrücklich: »Ich rühme mich nicht, ein guter Christ zu sein, aber ich glaube an das
Wort: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist etc.«
[4] Der Begriff Mana stammt aus verschiedenen austronesischen Sprachen und bezeichnet eine transzendente Macht, die – u. a. durch Leistungen und Taten – auf Menschen, aber auch auf Naturphänomene, übertragbar ist. Mana spielt eine zentrale Rolle in den traditionellen kulturellen und religiösen Überzeugungen der Völker Ozeaniens und hier insbesondere Polynesiens. Nach Robert Marett ist diese Kraft die Grundlage der Idee des Animatismus.
Als wesentliches Element der aus den ethnisch religiösen Traditionen Hawaiʻis abgeleiteten Huna-Lehre hat es Eingang in westlich geprägte Vorstellungen aus Esoterik und Neoschamanismus gefunden.
[5] Der Ausdruck Solipsismus (lat. solus: „allein“ und ipse: „selbst“) wird in der Philosophie in unterschiedlichem Sinne gebraucht, unter anderem für Thesen folgender Art:[1]
metaphysischer Solipsismus: Nur das eigene Ich existiert. Nichts außerhalb des eigenen Bewusstseins existiert, auch kein anderes Bewusstsein.
methodologischer Solipsismus: Die Bedeutung konzipierter Begriffe hängt einzig von Bewusstseinszuständen des denkenden Subjekts ab. Der Begriff „methodologischer Solipsismus“ wird in der Philosophie des Geistes verwendet, geprägt wurde er durch Hilary Putnam in dessen Werk The Meaning of Meaning. In diesem Kontext spielt der Solipsismus eine wichtige Rolle in der Diskussion um Externalismus und Internalismus.[2]
Hiermit steht der epistemologische Solipsismus in Verbindung. Dieser Lehre nach sind unsere Erkenntnisse über die Außenwelt abhängig von unseren jeweiligen mentalen Zuständen.[3]
ethischer Solipsismus bzw. „Egoismus“: Es ist rational, das eigene Handeln nur danach zu beurteilen und auszurichten, dass die eigenen Präferenzen (etwa eigenes körperliches Wohlergehen usw.) weitestmöglich erfüllt werden (und Präferenzen anderer überhaupt nicht mit in Betracht zu ziehen).
Alle drei Arten von Solipsismus wurden und werden in unterschiedlichsten Ausprägungen entwickelt, verteidigt und von anderen Philosophen angegriffen.
Aufgewachsen als ältester Sohn in einer großbürgerlichen Hamburger Kaufmannsfamilie, der schon früh mit den sozialen Spannungen am Rande dieser wohlbehüteten Welt in Berührung gekommen war, wurde Rittmeister 1917 nach seinem Abitur noch zum Kriegsdienst eingezogen und in Frankreich sowie in Italien als Telefonist eingesetzt. Ab 1919 studierte er in Marburg, Göttingen, Kiel, Hamburg und MünchenMedizin, wo er von 1926 bis 1929 auch eine psychiatrisch–neurologische Ausbildung absolvierte.
Ende 1941 lernte Rittmeister Harro Schulze-Boysen kennen, mit dessen Ansichten er in allen wesentlichen Punkten übereinstimmte. Rittmeister und Schulze-Boysen entwarfen die programmatische Schrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“, in der die politische und militärische Lage analysiert wurde und die später einige hundert Mal vervielfältigt an hauptsächlich akademische Kreise verschickt wurde, laut Reichskriegsgericht „Das niedrigste und gefährlichste Machwerk des Schulze-Boysen“. An der von Schulze-Boysen und dem Freundeskreis seiner Frau durchgeführten Zettelklebeaktion gegen die Ausstellung Das Sowjetparadies war Rittmeister nicht beteiligt.
Am 27. September 1942 verhaftet, wurde Rittmeister als Mitglied der Gruppe Rote Kapelle am 12. Februar 1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“ zum Tod verurteilt und am 13. Mai 1943 durch das Fallbeil in Plötzensee hingerichtet.[1]
John Rittmeister bezeichnete sich selber vor Gericht als Linkspazifisten, sah sich mehr als Aufklärer und Wissenschaftler. Allerdings hatte er sich etwa in der Reichspogromnacht auch tatkräftig für in Bedrängnis geratene Juden eingesetzt. Seine zahlreichen wissenschaftlichen und politischen Kontakte, wie zu den englischen Linken um Victor Gollancz, sind weitgehend unerforscht.
Schriften
„Hier brennt doch die Welt“. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis und andere Schriften. Hrsg. von Christine Teller. Gütersloh 1991.
Literatur
Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermann, Isidor J. Kaminer und Dierk H. Juelich (Hrsg.): „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter…“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Katalog und Materialsammlung zur [gleichnamigen] Ausstellung anlässlich des 34. Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) in Hamburg vom 28.7.-2. August 1985. Kellner, Hamburg 1985 ISBN 3-922035-97-5, korrigierte ISBN 3-922035-98-1
Regina Griebel sowie Marlies Coburger und Heinrich Scheel: „Erfasst?“ – Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle. Eine Foto-Dokumentation. Hrsg. in Verbindung mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. audioscop, Halle 1992 ISBN 3-88384-044-0
Regine Lockot: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Fischer, Frankfurt 1985; Reprint (mit erweitertem Personenverzeichnis, ansonsten – inkl. Druckfehlern – text- und seitenidentisch) bei: Psychosozial Verlag, Gießen 2002 (PV Bibliothek der Psychoanalyse) ISBN 3-89806-171-X
Gert Rosiejka: Die Rote Kapelle. „Landesverrat“ als antifaschistischer Widerstand. – Mit einer Einführung von Heinrich Scheel. ergebnisse, Hamburg 1986, ISBN 3-925622-16-0
Zitate
„Wir wissen eigentlich nicht, worauf eine seelische Verfassung gegründet ist, die sich unter gar keinen Umständen verleiten lässt. Wir wissen viel mehr über das Unrecht, gegen das eine tapfere Minderheit gekämpft hat, als über das Recht und die Quellen eines wirklichen Rechtsempfindens.“
Zur Psychoanalyse, psychoanalytischer Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierter (psychoanalytisch orientierter) Psychotherapie gehören als zentrales Thema gesellschaftliche Probleme. Es geht nicht immer nur um die Mutterbrust,
sondern auch um Konflikte in der Gesellschaft, in der der Mensch lebt und von der er formiert und deformiert wird.
Die real existierende Psychoanalyse in Deutschland ist ein politisch korrekter institutionalisierter Kastrat, der jedes konflikthafte Thema meidet, verhindert, zensiert, kontroverse Psychoanalytiker mundtot macht. Was Carl Müller-Braunschweig, Felix Boehm, Schultz-Hencke, Ernest Jones eingebrockt und Annemarie Luise Christine Dührssen für die nächsten 1000 Jahre dingfest festgebacken hat, ist für die Katze. „Zwar war Freuds Psychologie des Unbewußten längst von deutschen Mandarinen »verwissenschaftlicht« und die Psychoanalytische Bewegung durch Hitlers Terror zum Stillstand gebracht worden. Doch auch in den aktuellen Theorie- und Praxis-Gestalten der reimportierten, medizinalisierten und konventionalisierten Psychoanalyse glomm noch der Funke der Freudschen Ideologiekritik.“ – (Helmut Dahmer, In: Konkret 02/92, S. 52.)
Die Medizinalisierung und Technokratisierung der Psychoanalyse machte sie zum toten Ding, zum Fetisch im saturierten Strukturalismus, der weder die Postmoderne noch den Dekonstruktivismus erfahren hat.
Ich haben nach vielen Auseinandersetzung mit der herrschenden Psychokratie verstanden: das Psychokraten-Racket präsentiert sich aktuell als selbstveredelte Omertà mit Enigma-Chiffriermaschine und Vertuschungshoheit, Verschweigeprivileg, Bemäntelungsbefugnis, Lizenz zum Retouchieren, Zensieren, Relativieren. Aufdeckende Methoden in der Psychotherapie sind damit verbannt und werden bald verboten. Nihil novi sub sole. Unwissenheit ist Stärke.
Die Linken und Grünen sind heute der Staat, sie feiern sich selbst und ihre Politik unter den knatternden Fahnen. Der Protest der Jugend kommt deswegen von Rechts.
Da die Herrschenden heute sich Links und Grün nennen, kann Opposition nur Rechts heißen.
Be patient, work hard, follow your passions, take chances and don’t be afraid to fail.
„C.G.Jung war ein psychoanalytischer Faschist, ein faschistisch schäumender Psychoanalytiker. “ – Ernst Bloch
„Die tatsächlich bestehenden und einsichtigen Leuten schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden, was der Wissenschaft nur förderlich sein kann“ (…) „Die Gesellschaft (die Internationale Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (IAÄGP). Anm.JSB) setzt von allen ihren schriftstellerisch und rednerisch tätigen Mitgliedern voraus, daß sie Adolf Hitlers grundlegendes Buch ›Mein Kampf‹ mit allem wissenschaftlichen Ernst durchgearbeitet haben und als Grundlage anerkennen. Sie will mitarbeiten an dem Werke des Volkskanzlers, das deutsche Volk zu einer heroischen, opferfreudigen Gesinnung zu erziehen.“ C.G.Jung
„Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert.“ „Ulrike Maria Stuart“ von Elfriede Jelinek
„Auch der sublimste erkenntnistheoretische Idealismus führt unweigerlich zum Solipsismus, zur Vergottung des Ichs, einer Elite, einer Rasse und endet schließlich im blutigsten Imperialismus.“ John F. Rottmeister
„Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist.“ – Angela Merkel
Psychoanalyse ist eine Erhebung über die Situation. Von oben hat man bessere Aussicht.
„Kritische Theorien, wie die Freudsche, artikulieren eine Erfahrung, die mit den jeweils herrschenden Denk- und Wahrnehmungsweisen unvereinbar ist. Gerade in dem, was der Konvention als unbrauchbar, als Abfall gilt und wovon in Wissenschaft und Lebenspraxis methodisch abgesehen wird, entdecken die Revolutionäre der Denkart das Neue, das ei¬ne bestehende Einrichtung des Lebens in Frage stellt. Indem sie an das Ausgegrenzte und erfolgreich Vergessene erinnern, markieren sie den Mangel der Ordnung, die über dem Grab der verworfenen Alternativen triumphierend sich erhebt. Und das dem Status quo verschworene Kollektiv stempelt solche Alchimisten, die aus Dreck Gold zu machen schei¬nen, stets zu Außenseitern6 . Aus der Erfahrung dessen, was den vorherrschenden, institutionalisierten Zwecken widerstrebt, erschüttern die Neuerer deren fraglose Geltung.“ – Helmut Dahmer
Die Umwälzung nach 1945 führte nicht zur Überwindung des Nationalsozialismus als Ideologie der deutschen Volksgemeinschaft, sondern rief lediglich die eitle Illusion hervor, daß mit der Kritik am Nationalsozialismus das nationalsozialistische Dünken selbst und seine innere Konflikthaftigkeit mit dem Judentum überwunden sei.
„Wie es Tatbestände gibt, die die Sinne in die Irre führen, wie im Fall der optischen Täuschung, so gibt es welche, die die unangenehme Eigenschaft haben, dem Intellekt Schlüsse zu suggerieren, die gleichwohl falsch sind.“ – Christoph Türcke
Das Geschlecht ist ein sozialer Konstrukt? Berg, Tal, See und das Meer auch!
Bereits Marx diagnostizierte den Deutschen das Umkippen von Ideologie in Wahn und Lüge. Wie gegenwärtig der Fall ist, neigen die Deutschen zu Ausbrüchen des kollektiven Wahns, der Massenpsychose mit zunehmendem Realitätsverlust. Der Wahn ist kurz, die Reue lang, pflegte meine Großmutter zu sagen.
Nach dem I. Psychosputnik-Gesetz verwandelt sich der frei florierende Zynismus ab gewissem Verdichtungsgrad seiner Intensität in hochprozentige Heuchelei, analog zu einer atomaren Kernschmelzereaktion. Diesen Prozess der zunehmenden Zynismuskonzentration mit anschliessender Explosion der Heuchelei kann man sehr deutlich gegenwärtig in Deutschland beobachten. Das Denken ist weggeblasen, pulverisiert, das (Hoch)Gefühl ist voll an seine Stelle getreten.
»Indem (der gesunde Menschenverstand) sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Einheit der Bewußtseine. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.« – G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes
„Die Verschleierung eigener Positionen durch Zitate und Zitatselektion dient dazu, eigene Positionen unkenntlich zu machen.“ – Ursula Kreuzer-Haustein
„Die Neurose ist das Wappen der Kultur.“ – Dr. Rudolf Urbantschitsch, Seelenarzt; „Sehr schön, aber es laufen derzeit schon weit mehr Heraldiker als Adelige herum.“ – Karl Kraus, Schriftsteller
„Zuerst verlieren die Menschen die Scham, dann den Verstand, hernach die Ruhe, hierauf die Haltung, an der vorletzten Station das Geld und zum Schluß die Freiheit.“ – Karl Kraus
„Ausbeutung heißt Beute machen, sich etwas durch Gewalt aneignen, was nicht durch eigene Arbeit geschaffen wurde, sich etwas nehmen, ohne Gleichwertiges zurückzugeben“ – Maria Mies
»Die Psychoanalyse ist eine Panne für die Hierarchie des Denksystems« – Pierre Legendre
Psychoanalyse entwickelt sich nicht weiter, weil sie nicht angewandt wird, es wird nur über sie gesprochen.
»Sie wissen, daß der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung nicht zu Ende gekommen ist, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab … Die erste Einwendung, die man hört, lautet, … die Wissenschaft ist zur Beurteilung der Religion nicht zuständig. Sie sei sonst ganz brauchbar und schätzenswert, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt, aber die Religion sei nicht ihr Gebiet, da habe sie nichts zu suchen … Die Religion darf nicht kritisch geprüft werden, weil sie das Höchste, Wertvollste, Erhabenste ist, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, weil sie den tiefsten Gefühlen Ausdruck gibt, allein die Welt erträglich und das Leben lebenswürdig macht … Darauf braucht man nicht zu antworten, indem man die Einschätzung der Religion bestreitet, sondern indem man die Aufmerksamkeit auf einen anderen Sachverhalt richtet. Man betont, daß es sich gar nicht um einen Übergriff des wissenschaftlichen Geistes auf das Gebiet der Religion handelt, sondern um einen Übergriff der Religion auf die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens. Was immer Wert und Bedeutung der Religion sein mögen, sie hat kein Recht, das Denken irgendwie zu beschränken, also auch nicht das Recht, sich selbst von der Anwendung des Denkens auszunehmen … Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (Freud, 1933, S. 182 ff. und S. 197).
„Freuds »Religions«-Kritik galt den »Neurosen« genannten Privatreligionen (Heiraten, romantische Liebe, Gier, Ethik und Moral, etc. Anm. JSB) ebenso wie den kollektiven (Nation, Gutmenschen, Sport, etc. Anm. JSB);“ – Helmut Dahmer
Freud prognostizierte, die bestehende Gesellschaft werde an einem Übermaß nicht absorbierbarer Destruktivität zugrundegehen. (sofern nicht »Eros« interveniere (Eros ist nicht Ficken, sondern Caritas. Anm. JSB)).
„Wer dem Kult der »Werte« frönt, kann unsanft erwachen, wenn im Kampf der Klassen und Parteien, von dem er sich fernhält, Gruppen obsiegen, auf deren Programm eine »Umwertung der Werte«, z. B. die Aufwertung von »Unwerten« steht.“ – Helmut Dahmer
»Hinsichtlich der allgemeinen nervlichen Belastung wirkte die Lage im Dritten Reich auf den psychischen Zustand des Volkes ziemlich ambivalent. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Machtergreifung zu einer weitverbreiteten Verbesserung der emotionalen Gesundheit führte.Das war nicht nur ein Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs, sondern auch der Tatsache, daß sich viele Deutsche in erhöhtem Maße mit den nationalen Zielen identifizierten. Diese Wirkung ähnelte der, die Kriege normalerweise auf das Auftreten von Selbstmorden und Depressionen haben. (Das Deutschland der Nazizeit verzeichnete diese Erscheinung zweimal: nämlich 1933 und 1939.) Aber gleichzeitig führte das intensivere Lebensgefühl, das von der ständigen Stimulierung der Massenemotionen herrührte, auch zu einer größeren Schwäche gegenüber dem Trinken, Rauchen und Vergnügungen« – Richard Grunberger
Von Anfang an hatte Hitlers Regime auch den Anstrich der Rechtmäßigkeit
„Die psychiatrischen Truppen der »kaiserlichen deutschen Psychiatrie« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 214) jedoch, die 1914 ins Feld zogen, bekriegten immer noch die Krankheit, den äußeren Eindringling in ein gesundes System, und nicht die Neurose, das innere Ungleichgewicht zwischen Psychodynamik, Umwelt und Geschichte.“ – Geoffrey C. Cocks (Diese Einstellung herrscht bis heute in der deutschen Psychotherapie und findet explosionsartige Vermehrung im KOnzept der sog. „Traumatisierung“. Anm- JSB)
Der Plural hat kein Geschlecht.
„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“ -Albert Einstein
„Der psychoanalytische Beitrag zur Sozialpsychologie der jüngsten Vergangenheit (und Gegenwart Anm.JSB) und ihrer Verarbeitung ist heute ebenso unerwünscht wie die Libidotheorie zu Anfang des Jahrhunderts.“ – I.Kaminer
»Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom >freien Ausleben< der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit.« – Sigmund Feud, Gesammelte Schriften«, Band XI, S. 201 ff.)
Liebe: nur bestenfalls eine Mutter akzeptiert ihr Kind, so wie es ist, ansonsten muß man Erwartungen anderer erfüllen, um akzeptiert zu werden.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein soziales Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein soziales Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
„Ich bin eine Feministin. Das bedeutet, daß ich extrem stark behaart bin und daß und ich alle Männer haße, sowohl einzelne als auch alle zusammen, ohne Ausnahmen.“– Bridget Christie
„Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv.“ – LeoTrotzki 1923
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.
„We needdamagedbuildings, so you can seethroughtheircrackedwallsto winat least one viewpoint to startto begin to think.“ –VictorTausk
„What good is health if you are an idiot then?“ – Theodor Adorno
„What one must be judged by, scholar or no, is not particularised knowledge but one’s total harvest of thinking, feeling, living and observing human beings.“ (…) „While the practice of poetry need not in itself confer wisdom or accumulate knowledge, it ought at least to train the mind in one habit of universal value: that of analysing the meanings of words: of those that one employs oneself, as well as the words of others. (…) what we have is not democracy, but financial oligarchy. (…) Mr. Christopher Dawson considers that “what the non-dictatorial States stand for today is not Liberalism but Democracy,” and goes on to foretell the advent in these States of a kind of totalitarian democracy. I agree with his prediction. (…) That Liberalism is something which tends to release energy rather than accumulate it, to relax, rather than to fortify. (…) A good prose cannot be written by a people without convictions. (..) The fundamental objection to fascist doctrine, the one which we conceal from ourselves because it might condemn ourselves as well, is that it is pagan. (..) The tendency of unlimited industrialism is to create bodies of men and women—of all classes—detached from tradition, alienated from religion and susceptible to mass suggestion: in other words, a mob. And a mob will be no less a mob if it is well fed, well clothed, well housed, and well disciplined. (…) The rulers and would-be rulers of modern states may be divided into three kinds, in a classification which cuts across the division of fascism, communism and democracy. (…) Our preoccupation with foreign politics during the last few years has induced a surface complacency rather than a consistent attempt at self-examination of conscience. (…) What is more depressing still is the thought that only fear or jealousy of foreign success can alarm us about the health of our own nation; that only through this anxiety can we see such things as depopulation, malnutrition, moral deterioration, the decay of agriculture, as evils at all. And what is worst of all is to advocate Christianity, not because it is true, but because it might be beneficial. (…) To justify Christianity because it provides a foundation of morality, instead of showing the necessity of Christian morality from the truth of Christianity, is a very dangerous inversion; and we may reflect, that a good deal of the attention of totalitarian states has been devoted, with a steadiness of purpose not always found in democracies, to providing their national life with a foundation of morality—the wrong kind perhaps, but a good deal more of it. It is not enthusiasm, but dogma, that differentiates a Christian from a pagan society.“ (…) It would perhaps be more natural, as well as in better conformity with the Will of God, if there were more celibates and if those who were married had larger families. (…) We are being made aware that the organisation of society on the principle of private profit, as well as public destruction, is leading both to the deformation of humanity by unregulated industrialism, and to the exhaustion of natural resources, and that a good deal of our material progress is a progress for which succeeding generations may have to pay dearly. I need only mention, as an instance now very much before the public eye, the results of “soil-erosion”—the exploitation of the earth, on a vast scale for two generations, for commercial profit: immediate benefits leading to dearth and desert. I would not have it thought that I condemn a society because of its material ruin, for that would be to make its material success a sufficient test of its excellence; I mean only that a wrong attitude towards nature implies, somewhere, a wrong attitude towards God, and that the consequence is an inevitable doom. For a long enough time we have believed in nothing but the values arising in a mechanised, commercialised, urbanised way of life: it would be as well for us to face the permanent conditions upon which God allows us to live upon this planet. And without sentimentalising the life of the savage, we might practise the humility to observe, in some of the societies upon which we look down as primitive or backward, the operation of a social-religious-artistic complex which we should emulate upon a higher plane. We have been accustomed to regard “progress” as always integral; and have yet to learn that it is only by an effort and a discipline, greater than society has yet seen the need of imposing upon itself, that material knowledge and power is gained without loss of spiritual knowledge and power. “ – T.S.Eliot
“I am a feminist. All this means is that I am extremely hairy and hate all men, both as individuals and collectively, with noexceptions.” – Bridget Christie
Alles Heil, das Motto ist von mir und heißt, das andere bessere Deutschland gibt es nicht. Es gibt die Deutschen und ein paar Menschen, die auch in dieser Gegend leben. Die Deutschen teilen sich rigoros in zwei Hälften. Die eine, die ihre Sentimenz und Ressentimenz im gar nicht weiten Feld zwischen Pegida und den Grünen ausleben und die andere, der die Muffe saust, weil die Abführung ihres inneren Drangs in reale Politik scheiß teuer werden könnte. Das und nicht viel mehr ist der Unterschied zwischen dem, was als rechts und dem, was als links firmiert und sich rauft. Nicht selten auf dieselbe Rechnung wie in dem Fall, wo der Ja-Fleischhauer und der Nein-Augstein miteinander gegen die sinkende Auflage des Spiegel fechten. In diesem Milieu geschieht es, dass ein Abgeordneter der Partei, die den Namen Die Linke usurpiert und damit unbrauchbar gemacht hat, ein heldenhaftes J’accuse ins Plenum ruft, Zitat: „Die Bundestagsmehrheit aus Unionsfraktion und SPD nimmt billigend in Kauf, dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in Europa Schaden zuzufügen, schweren Schaden“. Zola heißt So so lala, dieser wahre Feind der herrschenden Verhältnisse freute sich an jedem Schaden, den das Ansehen des real existierenden Deutschland im Ausland erleidet, um ihn zu mehren, auf das nicht noch mehr europäische Lotsen der Deutschen ohne Gefahr für ihr Ansehen das Ansehen Deutschlands mehren können, an dem eine Welt, der zwei Versuche nicht genügt haben, ein drittes Mal genesen soll. Nicht alle scharwenzeln so liebedienerisch um der Kanzlerin Rockschoss wie der Nippesnapoleon Hollande und Polens McDonald Tusk, von den baltischen Faschos nicht zu reden. Tschechiens Präsident Miloš Zeman etwa begründete seine Zusage an der Moskauer Parade zum Jahrestags des Siegs über die Deutschen teilzunehmen als „Ausdruck der Dankbarkeit dafür, dass wir in diesem Land nicht Deutsch sprechen müssen“. Dass Merkel und ihr resteuropäisches Gesindel dem frechen Tschechen das nicht durchgehen lassen würden, war abzusehen. Zeman musste seine Zusage zurücknehmen. Während die eine Hälfte der Landsleute das deutsche Interesse im Blick hat, das es nur gibt, wenn es ein anderes ist als das der Menschen anderer Länder, ja der Menschheit überhaupt, spricht die andere ihren geliebten Klartext, zeigt klare Kante. Die NPD gab den Ton an: „Wir sind nicht das Sozialamt für die Welt“, die Alternative für Deutschland stimmte ein: „Wir sind nicht das Weltsozialamt“. Horst Seehofer prostete in jedes Festzelt: „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt“ mit dem Zusatz „Das gilt besonders für den Balkan“. Seinen bayerischen Nazis muss man nicht sagen, welche Zigeuner im Besonderen er da meint. Auch die Kanzlerin ist auf Stimmungs- und Stimmenfang nicht zimperlich. „Die EU ist keine Sozialunion“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland rügt: „Eine Rechtsprechung, die Europa als Solidargemeinschaft sieht mit Deutschland als zentralem Sozialamt“. Gute Gelegenheit sich ruhig niederzulassen, wo man denkt: Deutschland, Sozialamt der Welt für den Abschaum, der die Hände aufhält. Ein Lied von Saccara aus Meppen, deren CD-Titel „Sturmfest und erdverwachsen“ jenes Niedersachsen-Lied zitiert, zu dessen Klängen Gerhard Schröder in seinem Wahlkampf 1997 unter dem Motto „Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: Raus und zwar schnell“ in die Festzelte einzog. Die 6,6 Millionen in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass haben 2012 in den Sozialkassen für einen Überschuss von 22 Milliarden Euro gesorgt. Jeder Ausländer zahlt jährlich 3.300 Euro mehr Steuern und an Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält. Man schämt sich dem aufgerufenen Lumpen die Ehre solcher Widerlegung durch Tatsachen zu geben. Vergebene Liebesmüh ist es außerdem, ein Antisemit braucht keine Juden, eine Rassist keine Ausländer. Wo Deutschland 2015 hält, markiert die Zeitung für Deutschland, die ihrem Ressortchef für Innenpolitik nach dem Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim in Tröglitz einen Text druckt, in dem es nach dem peinlichen Eingeständnis, dass auch die NPD Bürgermeister stellt, so weiter geht. Damit es auch in Zukunft davon nicht noch mehr gibt, sollte auch Widerstand von berufener Seite gegen Überforderung und zu viele Flüchtlinge, Migranten, Asylbewerber zulässig sein und nicht sofort verbal niederkartätscht werden, sollten also die Bilder vom verkohlten Tröglitzer Dachstuhl eine Bedeutung haben, dann auch die von der Gefahr allein gelassener ausgebrannter Gemeinden in Deutschland, sonst ist am Ende Tröglitz doch noch überall. Wer die Deutschen mit ihrem Hass allein lässt und ihnen den Widerstand „Jeder Nazi ein Stauffenberg“ gegen die zu vielen Flüchtlinge, Migranten, Asylbewerber, kurz die Undeutschen verargt, muss Verständnis dafür haben, dass sie bald im ganzen Land bekennende Nazis wählen und Häuser, in denen Ausländer leben, niederbrennen. Am Antisemitismus sind die Juden Schuld, am Rassismus die zu vielen Flüchtlinge, die Russen und die Schmarotzer aus dem Süden. „Wer ist gefährlicher? Der Russe oder der Grieche?“ fragt Bild, die FAZ für Hauptschüler. Wer die Antwort weiß, der trete vor, akklamiert die Redakteurin von der Welt, die es zitiert. Die Antwort ist einfach, dass Leute, die so fragen, völkische Beobachter sind und ihr ewiger Feind gleich neben dem Itzik, der Ivan. Nur noch Nazis also überall? Und was wäre das heute ein Nazi? Ist es das Mitglied der NPD, der Pegida, der AfD, der CSU, der CDU, der FDP, im Zweifel auch der SPD, der Grünen, der Linkspartei? Am 07. Mai 1945 hatte Deutschland 50 Millionen Nazis. Am 09. Mai gab es so gut wie keine mehr, der es sein oder gewesen sein wollte. Ihre herzensgute Oma, lieber Leser, Ihr treusorgender Opa, liebe Leserin, waren in neun von zehn Fällen erst irgendwas, dann zwölf Jahre lang Nazis, schließlich Demokraten, ohne je ihre Ansichten geändert zu haben. Nazis in Nicht-Nazi-Zeiten sind nämlich ganz normale deutsche Demokraten, Genossen und Genossinnen des Volks, die sich selber Ottonormalverbraucher, Normalbürger oder ich als Steuerzahler identifizieren und unfreiwillig diffamieren. Bei ganz normalen Deutschen, sagen Demoskopen, genießt die Polizei das größte Ansehen, 84 Prozent, vor dem eigenen Arbeitgeber 75 Prozent. Das geringste Ansehen Wirtschaftsmanager 13 Prozent. Die konkreten eigenen Ausbeuter lieben, die der anderen, die Abstrakten hassen. Gibt es eine knappere Formel für die Ökonomie einer Naziseele? Dass Deutschland ein Naziland sei, kann natürlich nicht sein. Sogar der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland muss das zugeben: „Ich sehe keinen Grund für die hiesigen Juden, Deutschland aus Angst vor Terror und Antisemitismus zu verlassen“. Zwei Seiten weiter ist im selben Blatt zu lesen: Polizisten unter Naziverdacht. Sie hatten einen Weihnachtsbaum mit Hakenkreuzen behängt, ins Internet gestellt, einer mit dem Kommentar „Habe gerade den Weihnachtsschmuck aus dem Keller geholt, alles Heil“. Der erfahrene Objektschützer, wie er genannt wird, hatte bis dahin vor dem amerikanischen Generalkonsulat und einer jüdischen Grundschule im Hamburger Millionärsbezirk Harvestehude Dienst getan, die, wie alle jüdischen Einrichtungen in diesem Land, rund um die Uhr bewacht werden muss. Der Heilbulle ist ein krasser Einzelfall. Wer einmal beobachten durfte, mit welch innerem Widerstand deutsche Polizisten ihren Freunden von der NPD die Straße freiprügeln, wird das gern bestätigen.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein sozialer Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein sozialer Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.