Von der postnazistischen Demokratie zum postnationalen Europa
Filip van Leeuwen
Die Gruppe der Beschneidungsgegner, die es zunächst schaffte, Zugriff auf die Rechtsprechung zu bekommen, rekrutierte sich aus Professoren, einer Richterin, einer Staatsanwältin und Mitgliedern der Giordano-Bruno-Stiftung. Der sie alle verbindende radikale Atheismus war verantwortlich für die Unfähigkeit, zwischen der jüdischen und der muslimischen Jungenbeschneidung unterscheiden zu wollen. Dies brachte sie in Opposition zur Mehrheit der Juden in Deutschland und entfachte eine von ihr selbst lancierte Kampagne, in der Juden am Ende als religiös motivierte Kinderschänder dargestellt wurden. Die ganze Schmierenkomödie, bei der dem Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer Holm Putzke eine Schlüsselrolle zukam, ist in einem ausgezeichneten Resümee im Berliner Tagesspiegel nachzulesen.28 Was Putzke zu Beginn seines programmatischen Aufsatzes zur Knabenbeschneidung affirmativ aufschrieb, kann als Zusammenfassung des hier diskutierten Verhältnisses von Recht, Staat, Racket und Individuum aufgefasst werden: „Für Konventionen, Moral und Religion gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Niemand, der vernünftig zu sein beansprucht, käme etwa auf die Idee, den gesamten Text der Bibel wörtlich zu nehmen und das Verhalten danach voll und ganz auszurichten. Alles hat seine Zeit, und Zeiten ändern sich.“29 Auch wenn Putzke diese Relativierung absoluter Grundsätze zum Anlass nahm, seine fragwürdige politische Agenda durchzusetzen, zeigt sie doch auch, dass es keinen festen Grund gibt, auf den sich das Individuum stellen kann. In der herrschenden Gesellschaft bleibt das Wohl und Wehe des Einzelnen von Macht, Willkür und Gewalt abhängig — die Gesellschaft zu der Einsicht zu bringen, dass ein vernünftiges Zusammenleben auch einen Bruch mit der Form impliziert, in der sie verfasst ist, bleibt die Aufgabe materialistischer Kritik. ■
Angela Merkel im Januar 2015 anlässlich des siebzigsten Jahrestages der Befreiung des Konzentrationsund Vernichtungslagers Auschwitz behauptete, für jeden Deutschen, dem etwas an der Zukunft seines Landes liege, sei das Erinnern an den Massenmord ganz selbstverständlich, wusste sie wohl selbst, dass sie soeben einen frommen Wunsch geäußert, eine staatsmännische Ermahnung der Bürger getätigt hatte. Deutsch sein, das heißt für Angela Merkel und die politische Klasse, für die sie steht, Verantwortung dafür zu tragen, dass Auschwitz oder ein vergleichbares Verbrechen sich nicht wiederholt: „Jeder, dem eine gute Zukunft Deutschlands am Herzen liegt, ist sich der immerwährenden Verantwortung nach dem Zivilisationsbruch der Shoa bewusst. Die Erinnerung an die grausamen Kapitel unserer Geschichte prägt unser Selbstverständnis als Nation» Kurz: Der von Adorno formulierte kategorische Imperativ nach Auschwitz ist Staatsräson.
Dies zeigt sich sogar auf der Ebene des Verfassungsrechts. 2009 verabschiedete das Bundesverfassungsgericht aufschlussreiche Leitsätze, in denen es u.a. heißt: „Das menschenverachtende Regime dieser Zeit [des Nationalsozialismus], das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte […] und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung […] . Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden und ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.“2 Was Merkel also vor einigen Wochen formulierte, steht bereits in einer etwas länger zurückreichenden politischen Tradition, obgleich unter ihrer Kanzlerschaft die Bezugnahme auf den Nationalsozialismus, und besonders auf den Holocaust, eine noch deutlichere Ausprägung erfahren hat.
Der emphatische Schlusssatz in Merkels Gedenkrede — „Auschwitz geht uns alle an“ — verweist zurück auf eine bedeutende Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Wolfgang Thierse aus dem Jahr 1999, der sich explizit auf Adorno bezogen hatte: „Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die erste Aufgabe an jeder Erziehung sei, dafür Sorge zu tragen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne, richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen von uns.“‚ Thierse verwendet den Neologismus „Bürgergesellschaft“ sehr gerne, denn im Unterschied zum formalistischen Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“, der sich vor allem auf die Rechtsförmigkeit von Tauschbeziehungen richtet, fordert die „Bürgergesellschaft“ das Engagement des je einzelnen gerade dort, wo das Eigeninteresse des bourgeois hinter der Identifikation mit dem Staat zurückstehen muss. „Bürgergesellschaft“ bedeutet, dass Deutschsein sich nicht in der Legalität der Lebensführung erschöpft, sondern das ganze Wesen, ja sogar das Bewusstsein umfassen muss. Deutsch sein heißt für Thierse deshalb allem voran: deutsch denken und fühlen. Und weil sich dieses Gefühl nicht von selbst einstellt, sei es die Aufgabe des Staates, dem kollektiven Fühlen auf die Sprünge zu helfen: „Verpflichtende Erinnerung, Gedenken der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen Verantwortung — das war das moralische Fundament, das gehörte zur Raison d’etre der neubegründeten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland.“ Und Thierse fuhr fort: „Es gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht, daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. In ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein, nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher Form auch immer, zuzulassen. Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie der künftigen Generationen, durch die Übernahme der politischen Haltung Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wachzuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formeller Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänzlich ohne Riten auskommt.“
Es fällt auf, dass lhierse ständig von „müssen“, „dürfen“ und „können“ sprach, er also, ganz wie heute Angela Merkel, als Repräsentant der Staatsräson dekretierte, was zu tun ist. Das liegt daran, dass die Deutschen seinem Verständnis nach dieser Räson noch hinterherhinkten. Man müsse sie ermahnen, das zu tun, was ihre Pflicht als Deutsche ist. Die ideologische Formel von der „kollektiven Erinnerung“, oder noch besser: vom „kollektiven Gedächtnis“ überspielt, dass es selbstverständlich nur individuelles Erinnern gibt, während sich Kollektivität im Ritual erst herstellt. Gedenkfeierlichkeiten, also politische Rituale, sind dazu da, das individuelle Erinnern in ein kollektives Narrativ einzupassen. Und doch war es lhierse ernst mit seiner Mahnung, eine Gesellschaftsordnung zu verteidigen, die von antifaschistischem Geist beseelt ist. Das war und ist seine Lehre aus Auschwitz, und er weiß sich darin einig mit Theodor Adorno.
Nun mögen die Linksradikalen, die Adorno gegen diese Vereinnahmung schützen möchten, zu recht einwenden, dass Merkel und lhierse systematisch die von Adorno vorangestellte Wendung „im Stande der Unfreiheit“ unterschlagen, aber das ändert nichts daran, dass der solcherart halbierte Adorno mittlerweile zum Sinnstifter der staatsoffiziösen antifaschistischen Ideologie geworden ist.
Auch der moralisierende Einwand, die Bundesregierung schaue in Wahrheit bei etlichen Massakern und genozidalen Verbrechen zu und weigere sich beharrlich, die Verfolgten zu unterstützen, ist wenig geeignet, Merkel der Heuchelei zu überführen. Schließlich hängt alles davon ab, für welches Ereignis die Chiffre „Auschwitz“ steht und was das tückische Wort „Ähnliches“ bedeutet. Schon die 68er haben Max Horkheimer vorgeworfen, zu einem Vernichtungskrieg der Amerikaner in Vietnam zu schweigen und damit seinen eigenen Maßstäben der Verhinderung eines neuen Auschwitz nicht zu genügen. Während die Art der Kriegsführung der US-Armee in Vietnam ohne jeden Zweifel zu den Grausamkeiten des Westens gehört, hatte der US-Bürger Horkheimer allerdings auch einen guten Grund, angesichts des in Deutschland verbreiteten antiamerikanischen Ressentiments, das immer mehr und anderes meinte als die Ablehnung eines barbarisch geführten Krieges, nicht in die öffentliche Amerikaschelte einzustimmen.
So einfach, wie der von Adorno formulierte und heute in unzähligen Bundestags- und Bundespräsidentenreden zitierte „kategorische Imperativ nach Auschwitz“ klingt, ist er offensichtlich nicht. Kategorisch ist der Imperativ in der Fassung des politischen Diskurses der Bundesrepublik nämlich nur, insoweit er auf eine exakte Wiederholung des Holocaust gemünzt ist — und die ist schlechterdings unmöglich. Frank-Walter Steinmeier hat erst kürzlich deutlich gemacht, dass er etwa den Massenmord an den Armeniern, den die Jungtürken ins Werk gesetzt haben, an dem das Deutsche Reich aber erwiesenermaßen eine Mitschuld trägt, nicht als „Völkermord“ klassifiziert wissen möchte. Dies dürfte mehrere Gründe haben: Zum einen gibt es innerhalb der Regierung Befürchtungen, wenn Deutschland offiziell den Völkermord anerkenne, würden eventuell Entschädigungsforderungen aufkommen; zum zweiten möchte man den türkischen Partner sowie in Deutschland lebende Türken oder, politisch korrekt formuliert: sich mit der Türkei identifizierende Deutsche nicht verärgern. Drittens aber, und das scheint das entscheidende zu sein, soll der Holocaust um jeden Preis singulär bleiben
Und dies im doppelten Wortsinne: Einerseits soll ein neuer Holocaust — verstanden, wie gesagt, als exakte Kopie — verhindert werden, andererseits darf alles, was unter die Rubrik „Ähnliches“ fallen würde, nicht als solches bezeichnet werden. Schließlich haftet dem Holocaust — trotz der Kollaboration von Millionen Europäern — noch immer das Gütesiegel „Made in Germany“ an, das noch bei jeder Gedenkfeier ehrfürchtig und stolz zugleich deklamiert wird.
Der Holocaust ist damit tatsächlich im sogenannten kollektiven Gedächtnis zum Gründungsakt der Berliner Republik avanciert, wobei hier zu präzisieren ist, dass es selbstverständlich vor allem um das rituelle Beschwören einer mythisierten Vergangenheit geht und weniger um den Versuch, das reale Morden ins Bewusstsein zu rufen. Wenn Angela Merkel das Grauen benennt und sagt, die Erinnerung daran sei fest im Selbstbewusstsein der Deutschen verankert, dann ist zwar Wolfgang Pohrts bissige Bemerkung, die Deutschen hätten demnach das Selbstbewusstsein eines Massenmörders, amüsant, trifft aber kaum den Kern: Denn nicht mehr mit den Tätern, mit den Vätern oder Großvätern etwa, identifiziert man sich heute in Deutschland, sondern mit denen, die aus den Verbrechen „gelernt“ haben, wie es so häufig heißt. Auschwitz erscheint wie ein Urverbrechen, das halb bewusst ist und halb im Dunkeln liegt, dessen Überwindung, oder besser: Aufhebung aber notwendig ist, um den nächsten Schritt zu machen. Wie nach Freud der Mord am Urvater die eigentliche Quelle der Kultur ist, so scheint der Holocaust in der Berliner Ideologie die Voraussetzung für eine gelingende Demokratie zu sein.
Der ideale Deutsche ist demnach nicht mehr der hoch dekorierte Wehrmachtsopa mit seinem autoritär-konservativen Traditionalismus, der verklärende Erinnerungen an die einstige Größe des deutschen Kaiserreichs hervorruft, und es ist auch nicht der behäbig-kauzige Katholik Adenauer, der im Gegensatz zu Ludwig Erhard am Nationalsozialismus keine Schuld trägt, aber nach 1945 zahlreiche ehemalige Nazis rehabilitierte, und ebenso wenig ist es der konsum- und lohnarbeitsfixierte Familienpapi, der sich aus aller Politik heraushält und sich nur nach drei Wochen Sommerurlaub und Farbfernseher sehnt, sondern der ideale Deutsche ist — paradoxerweise — der Remigrant, speziell der jüdische Remigrant, der Deutschland Reconstruction und Reeducation bescherte.
Zuletzt hat Micha Brumlik unter der Überschrift „Jüdische Heimat Bundesrepublik“ in der taz auf die immense Bedeutung jüdischer Rückkehrer für den Aufbau eines demokratischen Staatswesens hingewiesen und damit auf den Punkt gebracht, dass die Bundesrepublik nicht nur eine westliche, sondern auch eine jüdische Konstruktion ist. Das Adjektiv „jüdisch“ bezeichnet hier selbstverständlich nicht eine religiöse Komponente und auch keine wundersamen Ausflüsse einer vermeintlichen „jüdischen Volksseele“, sondern vielmehr einen demokratischen Geist, der unter Juden aus Gründen des Lebens- und Überlebenswillens im 19. und 20. Jahrhundert viel breiter verankert war als unter Nichtjuden. Unter der Ägide alliierter Militärverwaltung prägten die Reconstruction Personen wie die „sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Jeannette Wolff, der Regierende Bürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, der nordrhein-westfälische Justizminister Josef Neuberger, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, […] der kompromisslose Mahner Heinz Galinski sowie nicht zuletzt Ignatz Bubis […]. Doch waren es nicht nur jüdische PolitikerInnen, die einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau demokratischer Kultur leisteten: Auch die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik Deutschland war wesentlich ein Werk jüdischer RemigrantInnen, aber auch hier gestrandeter Juden, eine Gründung, die sich nicht in offiziellen Gründungsakten und eindeutigen institutionellen Dokumenten niederschlug, sondern in teils verängstigten, teils sehnsüchtigen, teils verschämten, teils immer wieder bezweifelten Einzelentscheidungen von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen. […] Doch waren es keineswegs nur […] die Frankfurter Professoren Horkheimer und Adorno, denen die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik zu verdanken ist. Die Weimarer Moderne und die eigene Erfahrung von Verfolgung, Ausgesetztheit und Flucht hat das Werk all jener, die zurückkehrten und die frühe Bundesrepublik geistig formten, maßgeblich geprägt. So sind aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen Werk zu nennen: etwa die um 1920 geborene Lyrikerin und Romanautorin Hilde Domin oder der Kritiker Marcel ReichRanicki, der Drehbuchautor und Regisseur Peter Lilienthal, der Produzent Arthur Brauner, die Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath, die Theaterregisseure Peter Zadek und George Tabori, Philosophen und Kulturwissenschaftler wie Ernst Bloch, Michael Landmann, Werner Marx und Friedrich Georg Friedmann, der Soziologe Alphons Silbermann, der Publizist Ralf Giordano, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer — die Erfahrung von KZ, erzwungener Emigration sowie Vernichtung nächster Angehöriger ist aus der Gründung der Bundesrepublik nicht wegzudenken. […] Es waren schließlich remigrierte jüdische Politologen, die der jungen Republik ihr Selbstverständnis als verfasster, pluralistischer Demokratie gaben: Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Franz Neumann sowie Ossip Flechtheim, der
an einer demokratisch-sozialistischen Option festhielt. […] Zu nennen sind weiterhin bedeutende Pädagogen: Max Fürst, der uns ein anschauliches Bild der jüdischen Jugendbewegung in Weimar hinterlassen hat, der Erziehungswissenschaftler Ernst Jouhy, der nach einer Tätigkeit in der französischen Resistance Lehrer an der Odenwaldschule und dann Professor in Frankfurt wurde — vor allem aber auch Berthold Simonsohn, der nach leidvoller Haft in Theresienstadt, nach Jahren aktiver jüdischer Sozialarbeit als Professor in Frankfurt am Main Wiederbegründer der psychoanalytischen Pädagogik wurde. Ohne Remigranten auch kein erneuertes deutsches Theater: die Schauspieler und Regisseure Fritz Kortner, Ernst Deutsch und Ida Ehre, Therese Giehse und Kurt Horwitz.“4 Obwohl Brumlik diese lange Liste vorlegte, um zu begründen, warum deutsche Juden nicht nach Israel auswandern sollten — Stichwort: „Jüdische Heimat Bundesrepublik“ — ist ersichtlich, dass die These von der „jüdischen Bundesrepublik“ zwar überspitzt sein mag, aber doch einen geschichtlichen Kern hat. Wenn das Establishment heute die gewissermaßen „jüdische Identität“ der BRD entdeckt, ist das zwar absurd, aber auch nicht völlig falsch.
Die junge Republik war tief gespalten: Auf der einen Seite die Remigranten und ihre zahlenmäßig wenigen Förderer und Mitstreiter, die allerdings zum Teil auf die Unterstützung der Alliierten rechnen konnten, auf der anderen Seite die Repräsentanten der Volksgemeinschaft, die bestens vernetzt waren, bisweilen auch weiterhin hohe Positionen im Staat bekleideten und ebenfalls von den Westmächten unterstützt wurden, weil man ihre Expertise im „Kalten Krieg“ benötigte. Die postnazistische Demokratie war somit ein fragiles Gebilde, was sich an der Nervosität zeigte, die zutage trat, wenn jemand auf die Idee kam, die Verbrechen der Vergangenheit zu thematisieren. Nicht nur für die Täter und ihre Erben war das eine unangenehme Situation, sondern auch für die Opfer: Das Betriebsgeheimnis der frühen Bundesrepublik lag darin, über die Vergangenheit zu schweigen. Die späten Sechziger Jahre waren diesbezüglich bekanntlich ein Einschnitt, was vor allem damit zu tun hat, dass die immer meinungsstarke Jugend Mitte der Sechziger Jahre nach dem Nationalsozialismus geboren und insofern nicht mehr direkt schuldbeladen war. Zusammen mit der adoleszenten Rebellion gegen die Väter und den ersten Früchten demokratischer Erziehung führte dies zu einem historischen Augenblick des Umbruchs. Zwar ist es ein Mythos, dass die linken Studenten die Vergangenheit in größerem Ausmaß „aufgearbeitet“ hätten — die ersten Studien zum Nationalsozialismus wurden in der Bundesrepublik von jüdischen Historikern wie Bruno Blau, Joseph Wulf und Hans Günther Adler veröffentlicht (Raul Hilbergs Meisterwerk von 1961 wurde erst 1982 auf Deutsch veröffentlicht), etwas später kam die tendenziell apologetische, teilweise von ehemaligen NS-Mitläufern wie Martin Broszat geprägte „Täterforschung“ hinzu, die vor allem am Münchner Institut für Zeitgeschichte betrieben wurde —, aber zumindest thematisierte die junge Generation die Schuld der Elterngeneration öffentlich. Ein gutes Beispiel ist die seinerzeit populäre Serie „Die Lümmel von der ersten Bank“, die in den Jahren 1967 bis 1972 gedreht und gezeigt wurde und auf dem Roman „Zur Hölle mit den Paukern“ aus dem Jahr 1963 basiert. Beliebt sind in dieser Serie nur die jungen Lehrer, die sich für die Streiche gegenüber den alten Nazi-Paukern, welche von Pepe Nietnagel schon mal gefragt werden, was sie denn im Krieg gemacht hätten, einspannen lassen. Nicht zufällig taucht aber hier schon eine junge französische Austauschstudentin auf, gespielt von Hannelore Elsner, die den deutschen Mief durch ihre betont weltläufig-elegante und reizend-verspielte Art aufbricht.
Was sich mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel im Jahr 1965 bereits angebahnt hatte, wurde mit der Abwahl Kiesingers und der Kanzlerschaft Willy Brandts in den Jahren 1969 bis 1974 politisch fixiert: die Abkehr von der unmittelbar postnazistischen, d.h. wesentlich durch personelle Kontinuität mit dem Nationalsozialismus geprägten Gesellschaft. Die endgültige Annullierung der Hallstein-Doktrin und die damit verbundene sogenannte „Aussöhnung“ mit Polen und der Sowjetunion sowie die Annäherung an die DDR konnte von niemandem so glaubwürdig durchgesetzt werden wie von dem ehemaligen antifaschistischen Exilanten Brandt und seiner SPD. Besonders sein in die Geschichtsbücher und TV-Dokus eingegangener Kniefall am Mahnmal für die Ermordeten des Warschauer Ghettos zeigte ein neues Gesicht der Bundesrepublik, die innenpolitisch liberaler wurde und sich zugleich außenpolitisch von der exklusiven Westbindung zu emanzipieren versuchte, die nach wie vor ein Ausdruck beschränkter Souveränität war.
Die deutsche Linke, genauer: die radikale Linke, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Weg von der antiautoritären Revolte, die sich gegen die alte, postnazistische BRD gerichtet hatte, zum autoritären Konformismus der K-Gruppen eingeschlagen und suchte die sozialliberale Regierung an antiwestlichem Furor zu überbieten — überaus erfolgreich, schließlich handelte es sich bei der Politik der Brandt-Regierung noch um ein vorsichtiges Ausgreifen und Austesten, das strikt darauf bedacht war, die westlichen Verbündeten, insbesondere die USA, nicht zu verärgern.
Aus diesem Grund konnten sich die K-Gruppen als radikal oppositionell verstehen, obgleich sie nüchtern betrachtet nur die allgemeine Tendenz der bundesdeutschen Politik ins Extrem steigerten. Wenig verwunderlich also, dass viele der kreuzbraven Opportunisten, die heute in der Politik das Sagen haben, jener K-Gruppen-Szene entstammen. Nicht nur bei den Grünen und in der SPD findet man diese Klientel, sondern auch bei den Konservativen, allen voran der Redaktion der Tageszeitung Die Welt. Und sogar zu direkten Charaktermasken des Kapitals haben es die K-Grüppler geschafft, beispielsweise Berthold Huber, der neue Aufsichtsratsvorsitzende von Porsche, oder Thomas Sattelberger, der bis 2012 im Vorstand der Deutschen Telekom saß, und die beide in ihrer Jugend im Kommunistischen Arbeiterbund aktiv waren. Hermann Gremliza spießt solche Geschichten immer wieder auf, was vollkommen berechtigt wäre, wenn es nicht den unschönen Beigeschmack des Verratsvorwurfes hätte, gleichsam als ob es besser wäre, wenn Huber und Konsorten noch heute Maoisten wären. Die linksradikale Szene der Siebziger Jahre, die Sponti-Anarchos um Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid selbstverständlich eingeschlossen, war also ein Durchlauferhitzer für die spätere politische Elite, weil hier bereits rhetorische und ideologische Fertigkeiten eingeübt werden konnten, die am Ende einer mit den Siebziger Jahren nur einsetzenden Entwicklung gebraucht werden sollten.
Als Zwischenschritt bedurfte es allerdings der Grünen und der linksalternativen Szene, die in diesem Kontext vor allem deshalb wichtig waren, weil die Kommunisten wieder in den Schoß der Demokratie zurückkehrten und sich vom martialischen Gebaren eines vermeintlichen Klassenkampfes lossagten. Man wurde erwachsen, jedoch wurde die wirkliche Volljährigkeit erst erreicht, als der Realsozialismus zusammenbrach — und mit ihm die bundesdeutsche Westbindung, die nun nicht mehr vonnöten zu sein schien. Der Antikommunismus hörte auf, Staatsdoktrin zu sein, sodass die ehemaligen Genossen kräftig mittun konnten am Aufbau eines erneuerten Gesamtdeutschlands. Die Öko- und Friedensbewegung der Achtziger Jahre, die laut Pohrt einer deutsch-nationalen Erweckungsbewegung gleichkam, speiste sich personell wie ideell noch aus der antiautoritären und autoritären Linken — wobei sie zu den im Niedergang begriffenen K-Gruppen betont auf Abstand ging —, bereitete aber, in der Rückschau betrachtet, bereits das wiedervereinigte Deutschland vor. Hatten die 68er sich noch mit ihren Nazivätern angelegt und fühlten sich die K-Gruppen größenwahnsinnig noch als Stellvertreter der sowjetischen Nachkriegsordnung, so hatte sich die alternative Szene von der direkten Bezugnahme auf die nationalsozialistische Konstellation gelöst. Zwar waren die Grünen mit ihrem Natur- und Bodenkitsch vermutlich in vielerlei Hinsicht brauner als die Kommunisten, gleichzeitig aber standen bei ihnen staatsbürgerliche Tugenden wie „Gewaltfreiheit“, „Verantwortungsbewusstsein“ und „Toleranz“ hoch im Kurs.
Das Pendant auf der rechten Seite war das allmähliche Dahinscheiden der sogenannten „Stahlhelmfraktion“ in der CDU sowie die von zahm gewordener antikommunistischer Rhetorik camouflierte Fortführung von Brandts Ostpolitik. Helmut Kohls 1986 inszenierte Versöhnung mit Ronald Reagan am Soldatenfriedhof in Bitburg sollte nicht so interpretiert werden, als sei es ihm um eine Aufwertung der SS oder gar ihre Rehabilitierung gegangen. Vielmehr sollte die Vergangenheit, um im Bild zu bleiben, „beerdigt“ werden.
Es handelte sich also um eine Schlussstrich-Politik, der die US-Administration letztlich zustimmen musste, weil sie ein ähnliches Interesse hatte. Im Grunde war die Zeit der alten, postnazistischen Rechten damit vorüber; dass Kohl noch bis 1998 regieren konnte, hatte er paradoxerweise ausgerechnet den Ostdeutschen zu verdanken, die ihn nach der sogenannten „Wiedervereinigung“ — ein übrigens, daran sei doch nochmal erinnert, völkische Ideologie reproduzierender Begriff— als Garanten für blühende Landschaften wahrnahmen. Blühende Landschaften haben sie dann ja auch tatsächlich bekommen, denn die Natur bricht sich ungehindert durch menschliche Zivilisation immer weiter Bahn in großen Teilen Brandenburgs, Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommerns. Aber selbstverständlich war es nicht das, was sie gewollt hatten, sondern eine Art Wohlstands-DDR, in der die Mark auch tatsächlich etwas wert war. Diese Illusion zerschellte sehr schnell, viele ehemalige DDR-Bürger waren schon nach ein paar Jahren der mühsam errungenen parlamentarischen Demokratie überdrüssig und gingen nicht mehr zur Wahl. Die große Stunde von Rot-Grün begann, den eigentlichen Erfindern der „Berliner Republik“.
Die deutsche Linke wurde durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus kräftig durcheinander gewirbelt und verlor vorübergehend vollkommen ihre Orientierung, wie bei Jan Gerber en detail nachzulesen ist.5 Wie auch immer man vor 1991 zur Sowjetunion gestanden haben mag, ihre Auflösung wurde fast einhellig und sogar bis in die SPD hinein als Konterrevolution und Verlust wahrgenommen. Die Enttäuschung über den Zusammenbruch wurde gewissermaßen den „Ossis“ in die Schuhe geschoben, die von einem nicht kleinen Teil der radikalen Linken von Anfang an verhöhnt wurden. Ganz einfach: Man hielt sie für minderbemittelte Konterrevolutionäre, denn wer konnte schon so doof sein, das Leben im Sozialismus gegen eines in der Marktwirtschaft eintauschen zu wollen? Im Gegensatz zur radikalen Linken — mittlerweile gab es neben den Alternativen auch die Autonomen als Nachfahren der „Neuen Linken“ —verbündeten sich die Grünen rasch mit linken DDR-Dissidenten und formten sich zur deutsch-deutschen linken Ökopartei „Bündnis 90/Die Grünen“.
Von Anfang an allerdings war auch die Entstehung der antinationalen bzw. antideutschen Linken mit den Grünen verbunden. Thomas Ebermann, Rainer Trampert und Jutta Dittfurth sind sicher die prominentesten Beispiele, aber auch eine zweifelhafte Figur wie Angelika Beer, ehemaliges Mitglied des KB und heute in der Piratenpartei aktiv, ist hier beispielhaft. Sie warnte 1990 wie viele andere — nicht nur der Kommunistische Bund, sondern etwa auch Oskar Lafontaine und Günter Grass —vor einem „Vierten Reich“. Die Gründung der späteren „Berliner Republik“ ging also mit einer linken Fundamentalopposition einher, die ihre Ablehnung Deutschlands explizit — wenn auch keineswegs ausschließlich — mit der Geschichte des Nationalsozialismus begründete. Dass diese inhaltlich diffuse Opposition keineswegs minoritär war, zeigt die Tatsache, dass am 12. Mai 1990 ganze 20.000 Menschen zur Demonstration „Nie wieder Deutschland!“ nach Frankfurt am Main kamen. Joachim Bruhn hatte schon damals bemerkt, dass mindestens die Hälfte der Demonstranten eigentlich ein „besseres Deutschland“ wollte, und versuchte, den Haufen zu spalten. Er wurde daran von Andreas Fanizadeh gehindert, heute Leiter des Kulturressorts der Taz.
In der Rückschau betrachtet, spielten die Antinationalen und Antideutschen eine zivilisierende und modernisierende Rolle in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Sie dachten vor, was nur einige Jahre später Staatsräson wurde. Staat und „Bürgergesellschaft“ wurden durch die oft beißende Kritik gewissermaßen vor sich hergetrieben — im Resultat war das also keineswegs destruktiv, sondern das glatte Gegenteil. Der Einfluss der Antideutschen sollte selbstverständlich nicht überschätzt werden, mit mindestens gleicher Berechtigung könnte man sagen, dass sie nur ein in der Geschichte verschwindender Effekt, ein besonders zugespitzter, aber letztlich unbedeutender Ausdruck einer objektiven Entwicklung waren. Wie man es nun aber dreht und wendet, ob die Antideutschen durch den Gang der Verhältnisse hervor-gespült wurden oder sie umgekehrt diesen Gang beeinflusst haben — vielleicht stimmt auch beides —, zumindest gibt es einen historischen wie politischen Zusammenhang zwischen der Entstehung einer „adornitischen Linken“ und der, um es etwas ketzerisch auszudrücken, „Adornisierung der Bundesrepublik“. Veranschaulichen lässt sich dieser in der Rekapitulation der wesentlichen Aspekte, für die antideutsche Politik heute gemeinhin steht:
Die Kritik des Nationalismus, die immerhin am Anfang der antideutschen Bewegung stand, ist heute bekanntlich common sense in den Führungsetagen der EU, sowohl auf politischer und intellektueller als auch gerade auf ökonomischer Ebene. Nationalisten jeglicher Couleur werden heute als „Rechtspopulisten“ gescholten und mit einer vor- bzw. anti-europäischen Politik identifiziert. Bisweilen wird versucht, diese Rechtspopulisten zu regelrechten Staatsfeinden zu machen, weil sie die postnationale Ideologie, wie sie mustergültig von Jürgen Habermas und Ulrich Beck zu Papier gebracht wurde, aus einem zweifelsohne hässlichen und bornierten Wohlstandschauvinismus heraus infrage stellen. Wenn Antideutsche heute, gewissermaßen als Kontrapunkt gegen die postnationale Ideologie und im impliziten Anschluss an Hannah Arendt, bisweilen wieder den Nationalstaat gegen die islamische oder sonstwie transnationale Bande ausspielen, weil sie in ihm republikanische Werte sichten, dann ist das nicht nur eine Reprise der Elsässerschen Übung aus den Neunziger Jahren, das republikanische Frankreich gegen das völkische Deutschland in Stellung zu bringen, sondern auch Ausdruck einer Nostalgie, die politischen Illusionen über die Revidierbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen geschuldet ist. Der Postnationalismus fällt ja nicht vom Himmel, sondern entspricht einer polit-ökonomischen Konstellation des Spätkapitalismus; ebenso wie der von Putin und anderen finsteren Gesellen entdeckte „Souveränismus“, der die ohnmächtige, aber darum nicht weniger gefährliche Reaktion auf diese Konstellation darstellt. Als die Antideutschen in den Neunziger Jahren den Nationalismus ins Visier nahmen, befand sich ganz Deutschland im nationalistischen Taumel. Heute ist dieser verflogen, und die Überwindung von Grenzen und Partikularismen ist das große Thema der Sonntagsredner. Es ist wohl kein Zufall, dass die antideutsche Wiederentdeckung Hannah Arendts gerade jetzt einsetzt.
Die Kritik des linken Antisemitismus, einst Alleinstellungsmerkmal der Antideutschen, hat es in den Bundestag geschafft, wo sich einzig die Partei Die Linke noch ein wenig sträubt, weil sie um die beinharten Antisemiten in ihrer Mitte und in ihrer Wählerschaft weiß. Schon 2009 konnte man im Reichstagsgebäude die Ausstellung „Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?“ besichtigen, die gemeinsam mit Yad Vashem und dem Zentrum für Antisemitismusforschung konzipiert wurde. Und 2013 haben alle Fraktionen des Bundestages mit Ausnahme der Linkspartei — die allerdings mit Gregor Gysi, Katja Kipping und natürlich dem notorischen BAK Shalom ihre eigene antizionismuskritische Fraktion hat — eine Resolution zur Abstimmung vorgelegt, in der es u.a. heißt, „dass es auch unter Linken Positionen gibt, die ,einen antisemitischen Diskurs befördern können‘. Die Solidarität mit Israel ist ein integraler Teil der deutschen Staatsräson. Wer an Demonstrationen teilnimmt, bei denen Israelfahnen verbrannt und antisemitische Parolen gerufen werden, ist kein Partner im Kampf gegen den Antisemitismus. Die Solidarisierung mit terroristischen und antisemitischen Gruppen wie der Hamas und der Hisbollah sprengt den Rahmen zulässiger Kritik an der israelischen Politik.“6 Das also, was in jedem antideutschen Flugblatt steht — nämlich, dass Antiimperialisten Antisemiten sind —, wird mittlerweile von fast aller politischen Parteien in Deutschland vertreten.
Auch die Kritik des islamischen Faschismus, die von Antideutschen früh sehr klar formuliert wurde, ist mittlerweile, trotz der zweifellos noch immer existierenden Islamapologeten im linken Feuilleton, in aller Munde. Man kann da wieder auf den Bundestag verweisen, auf den Verfassungsschutz, auf Teile der intellektuellen Elite oder sogar auf die Tatsache, dass Bücher wie Hamed Abdel-Samads Der islamische Faschismus oder Henryk M. Broders Hurra, wir kapitulieren! Bestseller sind. Zwar trennt die linksliberale Elite noch immer fein säuberlich zwischen dem gelebten Alltagsislam und islamischem Extremismus — als habe beides nichts miteinander zu tun —, gleichwohl ist spätestens seit den Wahlerfolgen der AfD nicht mehr zu bestreiten, dass große Teile der deutschen Bevölkerung anti-islamische Einstellungen teilen. Wie sich diese Islamfeindlichkeit zur Ausländerfeindlichkeit einerseits, zum Is lamneid andererseits verhält, ist eine andere Frage. Aber fest steht, dass die Kritik nicht nur des Islamismus, sondern auch der islamischen Kultur, die lange fast ausschließlich von Antideutschen und vereinzelten Ex-Muslimen geübt wurde, heute in der deutschen Öffentlichkeit omnipräsent ist. Dass die Antideutschen unfreiwillig daran beteiligt waren, der AfD den Weg zu bahnen, ist schlicht und ergreifend wahr. Zu unterscheiden, wer die Kritik des Islam nur instrumentalisiert, um sich beispielsweise im Kampf um die Futtertröge des Staates eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen, und wem es tatsächlich um die vom Islam Unterdrückten und Bedrängten geht, ist daher um so dringlicher.
Der nächste Punkt betrifft die sogenannte „Verteidigung des Rechtsstaates“ gegenüber Formen der unmittelbaren Herrschaft. Die Position des Staates erklärt sich von selber, aber auch was die Bevölkerung in Deutschland betrifft, ist das Vertrauen und die Liebe zum Rechtsstaat — trotz aller Liebäugeleien mit direkter Demokratie — unverändert stark ausgeprägt, zumindest in Westdeutschland. Die Umfrage einer großen, vom Allensbacher-Institut 2014 durchgeführten Umfrage fasst die FAZ so zusammen: „Die große Mehrheit empfindet Deutschland als gefestigten und verlässlichen Rechtsstaat. […] Zwei Drittel der Bürger haben großes Vertrauen in die deutsche Justiz, so die Umfrage. Am besten hätten Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht abgeschnitten: 87 bzw. 79 Prozent der Befragten haben hier ,großes Vertraued.“7 Der Rechtsstaat ist also in Deutschland nicht im Mindesten in Gefahr, vielmehr besteht ein fast schon fanatischer Wille, alles zu verrechtlichen und unter staatliche Kontrolle zu stellen. Sonderrechte soll es nicht geben, obwohl die Berufsmuslime das selbstverständlich dauernd einfordern. Gab es zwischenzeitlich immer wieder Richter, die für „Zwangsheiraten“, „Ehrenmorde“ und ähnliches „kulturell mindernde Umstände“ berücksichtigt haben, so hat sich mittlerweile die Ablehnung eines solchen Kulturrelativismus auf der Ebene der Rechtsprechung vollständig durchgesetzt. Gelegentliche Skandale bestätigen die Regel.
Was die Juden betrifft, so war es ein absolutes Elitenprojekt, ein jüdisches Sonderrecht auf Beschneidung durchzusetzen, das einzig und allein auf der oben genannten Staatsräson basiert, aber rein gar nichts mit einer Erosion des Rechtsstaates zu tun hatte. Teile der Antideutschen waren sich mit der deutschen Mehrheit einig darin, die Beschneidung als „archaisches“ Ritual abzulehnen, das nicht mehr in unsere aufgeklärte Zeit passe und deshalb zu verbieten sei. Diese merkwürdig atheistisch daherkommende Verirrung, die freilich edelsten Motiven geschuldet war — man wollte die muslimische Beschneidungspraxis als Institution des islamischen Patriarchats ins Visier nehmen und traf, weil man vom Antisemitismus nicht sprechen wollte, die Juden — dürfte mittlerweile als Fehler erkannt worden sein. Jedenfalls aber ist es keineswegs ausgemacht, dass der Staat eines Tages nicht das zurzeit noch konstitutive Schutzverhältnis gegenüber den Juden aufgibt. Sollte das passieren, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein altes Denkmuster aus der Mottenkiste des Antisemitismus gekramt wird, mit dem der geopolitische Antizionismus gewissermaßen auf die Innenpolitik rückübertragen wird — aus der Kritik des jüdischen Staates wird wieder eine Kritik des „jüdischen Staates im Staate“. Die Beschneidungsdebatte hat vorgezeichnet, wie es gehen könnte, und die Antideutschen haben dem üblen Treiben dieses Mal bestenfalls stumm zugesehen.
Das führt nun zum letzten und wohl wichtigsten Punkt, dem Verhältnis zu Israel, bei dem ganz entscheidend ist, dass die vom Staat verkündete Solidarität mit Israel ein Elitenprojekt ist. Die Mehrheit der Deutschen ist antizionistisch, wie sie auch gegen die Beschneidung als jüdisches Sonderrecht ist, während gleichzeitig die israelische Zeitung Haaretz kürzlich sehr treffend festhielt, die Bundesrepublik sei Israels zuverlässigster europäischer Partner auf diplomatischem Parkett. Dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sei, wie Angela Merkel wiederholt bekundete, ist tatsächlich keine Phrase. Nicht nur die Wissenschafts- und Wirtschaftskooperation ist seit den 1960er Jahren ein festes Band, das die beiden Länder vereint, sondern essentiell sind auch die erheblichen Waffenlieferungen Deutschlands an Israel. Selbst ein Israelfeind wie Sigmar Gabriel kann da nicht schalten und walten, wie er will: Sehr zum Leidweisen von Jakob Aug-stein hat Bundeswirtschaftsminister Gabriel noch während der Gaza-Krise die Ausfuhr von Waffen-Zündern nach Israel erlaubt, ebenso wie die neuerliche Lieferung eines U-Bootes im Wert von 600 Millionen Euro.
Dies sind nur ein paar Schlaglichter, die zeigen, dass die wesentlichen antideutschen Positionen heute auch von der Bundesregierung, zum Teil auch von der Mehrheit der Bevölkerung vertreten werden. Heißt das, dass diese Positionen falsch sind? Nicht unbedingt, und es wäre genauso denkfeindlich wie fatal, seine Positionen spiegelbildlich am Staat oder an der Mehrheit auszurichten. Aber das Eindringen antideutscher Positionen in den Mainstream veranschaulicht die objektive Überflüssigkeit der Antideutschen als eigenständige politische Strömung, so wie zuvor die Ökobewegung oder auch die Antifa absorbiert wurde. Antideutsche Positionen sind heute Teil des demokratischen Meinungsspektrums. Was an ihnen schmuddelig wirkt und was sie nach wie vor für Außenstehende zur obskuren „Politsekte“ stempelt, ist zum einen ihre linke Vergangenheit, die überall —von der Sprache über den Habitus bis hin zum Lebensstil — hervorlugt, zum anderen das sture Festhalten am Wahrheitsanspruch. Und hier gibt es tatsächlich keine Konzessionen, denn das ist das beste, was man noch immer über die Antideutschen sagen kann: Die Treue zur Wahrheit, das ernsthafte Bemühen, sich die politische Urteilskraft zu bewahren, sowie die Intoleranz gegenüber dem Schlechten stehen quer zum Zeitgeist. Und darauf wird es auch weiterhin ankommen, wenn man sich von der Ohnmacht nicht dumm machen lassen will. ■
http://www.prodomo-online.org/ausgabe-20/archiv/artikel/n/adorno-im-reichstag.html