Der Bahnhof gleicht dem einer Geisterstadt; die hohe, mit Eichenholz getäfelte Schalterhalle ist ebenso menschenleer wie die Stuhlreihen im Wartesaal. Eine einzige Kasse ist besetzt. Fünfmal täglich verkehren Züge in Richtung Sewastopol, dann gibt es noch Verbindungen nach Jewpatoria, in den Osten bis nach Kertsch und in den Norden kurz vor die ukrainische Grenze.
Am Bahnhof in Simferopol kommt kein Fremder mehr an. Die Gleise, die zum Festland führen, sind ungenutzt, seit eine neue Grenze die Halbinsel von der Ukraine trennt. Die Handvoll Ausländer, die sich noch auf die Krim trauen, landen mit einem der rund dreissig Flieger, die täglich in Moskau in Richtung Süden starten – ein weiteres gutes Dutzend trifft aus den russischen Regionen ein. Zwei neue Terminals wurden im letzten Jahr aus dem Boden gestampft. Rund sechs Millionen russische Passagiere, fast fünfmal so viel wie 2013, wickelt der Flughafen Simferopol heuer ab.
Die Elektrische mit der Nummer 6941 verlässt die Stadt um 17.45 Uhr. Eine Elektrische ist eine Vorortbahn. Sie hat Holzbänke, keine Toiletten und hält an jeder Viehweide. Bachtschissarai ist die siebte Station. Als der Zug bremst, ist es stockfinster auf dem Perron, kein Licht, keine Stadt, kein Bahnhof. Die Mitreisenden bestehen dennoch darauf, dass ich aussteige. «Bachtschissarai», sagen sie, ja ja.
Stalins Rache
Tagsüber ist der Bahnhof türkisfarben und anmutig mit einem von zwei Säulen getragenen Portikus. Ewige russische Provinz. Niemand würde erwarten, dass von hier aus jahrhundertelang ein kleines Reich regiert wurde. Bachtschissarai war die Hauptstadt des Khanats der Krimtataren – ein Überbleibsel der Mongolenherrschaft – von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Annexion durch Russland 1783. Die zuvor von der Krim ausgehenden Raubzüge unter der slawischen Bevölkerung lieferten jahrhundertelang den Nachschub für die Sklavenmärkte in Istanbul, Damaskus und Bagdad.
Die Annexion 1783, der Krimkrieg 1853–56, der Russisch-Türkische Krieg 1877/78, die russische Nationalitätenpolitik und nach der Oktoberrevolution 1917 Verfolgung, Hunger und Kollektivierung sorgten dafür, dass später Hunderttausende Krimtataren ihr Leben liessen oder emigrierten, vor allem in die Türkei. Kein Wunder, dass viele der Zurückgebliebenen die Truppen der Achsenmächte 1941 als Befreier empfingen und den neuen Herren etwa im Tataren-Gebirgsjäger-Regiment der Waffen-SS dienten.
Stalins Rache war grausam. An nur drei Tagen im Mai 1944 liess er alle 240 000 Krimtataren mit Viehwaggons nach Zentralasien schaffen. Binnen weniger Monate lebte nur noch die Hälfte von ihnen. Zurückkehren durften sie erst Ende der 1980er.
Den politischen Willen der bis zuletzt antikommunistischen Tataren bündelte ein sowjetischer Dissident: Mustafa Dschemiliew. Immer noch prägt er das Bild seiner Volksgruppe in der Öffentlichkeit. Der 1943 geborene Politiker, der sich wie der verstorbene Albaner- führer Ibrahim Rugova gern mit einem Schal über der Krawatte zeigt, ist ein PR-Profi. «Qirimoglu» lässt er sich nennen – Sohn der Krim. Der deutsche Wikipedia-Eintrag präsentiert ihn als leuchtenden Märtyrer und Helden; der Titel «Qirimoglu» wird dort sogar zum Namensbestandteil. 2013 strahlte der türkische Kanal TRT eine neunteilige Serie über ihn aus: «Sohn der Krim – Kampf einer Nation».
Von 1991 bis 2013 stand Dschemiliew dem Medschlis vor, einer krimtatarischen Exekutivvertretung, die weder in der Ukraine noch in Russland rechtlich anerkannt ist. Seit 1998 ist er Abgeordneter im ukrainischen Parlament und dort für seine prowestlichen Ansichten bekannt. Dass er sich nach dem Kiewer Umsturz im Februar 2014 auf die Seite der neuen Regierung schlagen würde, war absehbar. Seitdem sitzt er in der ukrainischen Hauptstadt; dort fressen ihm die internationalen Medien aus der Hand. In Russland, und damit auch auf der Krim, gilt für ihn ein Einreiseverbot.
Vor allem bei russlandkritischen Journalisten sind die Krimtataren ein beliebtes Sujet. Die Quellen tragen immer die gleichen Namen: Mustafa Dschemiliew, sein Nachfolger als Medschlis-Oberhaupt Refat Tschubarow und der stellvertretende Medschlis-Chef Achtem Tschijgos, der seit Februar 2014 auf der Halbinsel in Untersuchungshaft sitzt.Westliche Medien und NGOs bedienen sich im Umfeld dieser Gruppe. Charakteristisch ist der Beitrag «Krim – die Halbinsel der Angst» auf der Website von Amnesty International im März. Dort wird ein Treffen mit der Ehefrau des inhaftierten Achtem Tschijgos geschildert. Die Wiener Presse schöpft aus einem Besuch bei Safinar Dschemilewa, der Gattin des «Qirimoglu» höchstselbst. Auch der ukrainische Ableger von Radio Free Europe stösst ins gleiche Horn. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien Anfang September ein Beitrag «Gleichschaltung auf der Krim». Der Korrespondent hatte sich nach Bachtschissarai begeben und dort das seit Monaten geschlossene Café «Musafir» besucht. Danach schrieb er, die Tataren würden dereinst vor Freude Schafe schlachten, wenn Putin stürze oder die Halbinsel wieder ukrainisch werde. Im Vorspann heisst es: «Seit der Annexion der Halbinsel durch Russland werden die Krimtataren mehr denn je diskriminiert. Ihre Sprache verschwindet aus den Schulen und ihre Gedenktage aus dem Kalender.»
Schafe schlachten
Das Café «Musafir» liegt auf der linken Seite der Leninstrasse an einem Hang. Sie führt durch das Tal des Flüsschens Tschuruk-Su in die Altstadt, am Palast des Khans vorbei und weiter flussaufwärts bis zu einem byzantinischen Höhlenkloster im steilen Fels. Im Fenster des Cafés hängt unübersehbar ein Schild «Geschlossen». Ich steige eine Treppe hinauf, da löst sich eine Gestalt aus dem Hintergrund, ein Mann in den Vierzigern. Warum das Café nicht geöffnet habe, frage ich. «Politik», sagt er. Als ich nachhake, meint er, das «Musafir» gehöre jemanden aus der Familie des Tatarenchefs. So sei das, wenn die Grossen in Ungnade fielen. «Tatarenchef», wiederhole ich und frage: «Dschemiljew?» Er nickt.
Ich brauche gar nicht gross zu fragen; er erzählt mir alles genau so, wie ich es in der FAZ gelesen habe. Davon, wie die Russen mit der Führung des Medschlis umspringen, von der Verhaftung des Achtem Tschijgos, von den Schulen, die geschlossen wurden und den verbotenen Feiertagen. Und auch, dass alle Tataren Schafe schlachten würden, wenn Putin dereinst stürzt oder die Halbinsel wieder ukrainisch werde.
Schon den Taxifahrer, der mich am Vorabend vom Bahnhof zum Hotel fuhr, hatte ich nach den Tataren und der neuen Zeit gefragt. Er sei Ukrainer, erklärte er mir als Erstes, und das zu hundert Prozent. Aber er lebe freiwillig hier, habe kein Problem mit den Russen. Nur die Tataren – das eine wisse ich doch: Früher hätten sie alle Slawen, deren sie habhaft wurden, nach Arabien verkauft. Ich frage ihn, ob es stimme, dass es den Tataren vor 2014 besser ergangen sei. «Wie man’s nimmt», sagt er. Jedenfalls hätten die Ukrainer ihnen nicht so auf die Finger geschaut. Die Ukrainer hätten niemandem auf die Finger geschaut. Im Vorbeifahren zeigt er auf ein geschlossenes Strassenrestaurant, dann auf ein zweites, dann auf das «Musafir». Keine Papiere, keine Lizenzen, keine Steuern, nichts, sagt er. Den Kiewern sei das egal gewesen; das hätte einigen in den Kram gepasst. Die Russen führen jetzt ein ganz anderes Regiment. Schluss mit lustig.
Der Khan-Palast ist ein angenehm bescheidener, von Mauern umgebener Komplex mit Museen und einem Marmorbrunnen, den Puschkin besungen hat. Katharina die Grosse war im Frühjahr 1787 hier. Jetzt im Oktober gibt es kaum Touristen, ohnehin war die Saison schlecht. Worauf soll man hoffen, wenn geschrieben steht: «Krim – die Halbinsel der Angst».
Krimtatarisch wird kaum gesprochen
Vor einem der leeren Cafés sitzt ein Alter ohne Vorderzähne auf einer Pritsche. Er spricht Fremde an und wirbt für sein Etablissement. Obwohl ich es besser weiss, frage ich, ob es das «Musafir» sei, das würde ich suchen. Es werde schliesslich überall empfohlen. Da schimpft er. Das «Musafir», das sei der Clan dieses Medschlis-Chefs, dieses Dschemiliew, der jetzt in Kiew sitze. Meinen Kaffee tränke ich besser bei ihm, ausserdem sei das «Musafir» sowieso geschlossen: «Die machen jetzt in der Ukraine ihr Geld.»
Ich bin der einzige Gast. Ein schwarzhaariges Mädchen bedient, den Blick gesenkt. Türkischer Kaffee und süsse Leckerbissen zum zweiten Frühstück. Der Fernseher oben an der Stirnwand zeigt den krimtatarischen Sender ATR, dessen Lizenz sie auf der Krim nicht verlängert haben und der jetzt aus der Ukraine sendet. Das Programm: russische Filme. Am Nachmittag, als ich auf einen weiteren Kaffee vorbeikomme, läuft ein ukrainischer Sender. Da ich schon wieder der einzige Gast bin, bitte ich das Mädchen, auf ATR umzuschalten. Eine Historikerin aus dem Medschlis-Umfeld, Gulnara Bekirowa, spricht über tatarische Geschichte. Auf Russisch.
Kurz vor Mittag erscheint eine Hochzeitsgesellschaft im Hof des Palasts. Der Bräutigam in tatarisch-türkischer Tracht mit schwarzem Fez, die Braut in Weiss, eine schwarzhaarige Schönheit mit sanften Bewegungen. Am Strassenrand parkt eine schwarze S-Klasse mit zwei krimtatarischen Flaggen, einem gelben Dreizack, dem Symbol der Goldenen Horde, auf türkisfarbenem Grund. Ich fotografiere die Hochzeitsgesellschaft, gutgekleidete junge Menschen, die weder Russen noch Ukrainern ähneln. Ob ich wohl ein Wort Krimtatarisch höre? Fehlanzeige, bei dieser Hochzeit ebenso wie in ganz Bachtschissarai.
Auch das Mädchen mit dem gesenkten Blick spricht Russisch, nicht nur mit mir, sondern auch in der Küche. Ich frage, ob sie Krimtatarisch beherrscht. «Natürlich», sagt sie. In der Schule habe sie es gelernt und zu Hause. Nur im Alltag benutze es niemand. «Warum nicht», frage ich, «ist es verboten oder geniert man sich?» Ein verständnisloser Blick – wie ich auf die Idee komme? – Nun, ich hätte gelesen, tatarische Schulen würden geschlossen. «Nein», sagt das Mädchen und schüttelt den Kopf. Nur in der Schule Nummer fünf, dort sei früher nur auf Tatarisch unterrichtet worden und heute zweisprachig auf Tatarisch und Russisch. Aber sie sprächen ja sowieso alle Russisch.
Tiefe Zerwürfnisse
Die gleichen Antworten auf die gleichen Fragen höre ich überall, wo ich einkehre, auch in dem freundlichen Familienhotel in der Altstadt. In der Tat scheinen sich Unterdrückung und Verfolgung auf den Medschlis und seine Pro-Kiew-Aktivisten zu beschränken; den Alltag der übrigen Tataren betreffen sie nicht.
Das deckt sich mit den Aussagen aus der Umgebung des Republikchefs Sergei Aksjonow: Mindestens 70 Prozent der Krimtataren seien inzwischen für die neuen Verhältnisse. Aksjonow wirft Kiew und dem Medschlis vor, die Krimtataren bewusst gegen die Mehrheitsbevölkerung aufgewiegelt zu haben: «Das Teilen der Krimbewohner in Nationalitäten muss ein Ende haben», forderte er. «Was für die Krim getan wird, wird für alle getan.» Vier Wochen nach dem Anschluss der Halbinsel hat Präsident Putin die 1944 verbannten Armenier, Bulgaren, Griechen, Deutschen und Tataren nach russischem Recht rehabilitiert. Im vergangenen April wurde erstmals ein neuer Feiertag begangen: der Tag der Rückkehr der verbannten Völker auf die Krim.
Was hat es also auf sich mit diesem Medschlis und seinen Protagonisten? Wer etwas tiefer gräbt, trifft auf krimtatarische Gegenspieler, etwa eine Partei namens Milli Firka, die nach der Oktoberrevolution die krimtatarische Linke vereinte. 2006 wurde sie wieder ins Leben gerufen. Seither positioniert sie sich mit russischer Unterstützung gegen den prowestlichen Medschlis. Milli Firka hängt der eurasischen Weltanschauung an, wie sie auch in Moskau Konjunktur hat: Den orthodoxen Slawen und den islamischen Turkvölkern gebührt eine eigene Zukunft, abgegrenzt vom westlichen Gedankengut.
Wer noch weiter gräbt, stösst auf tiefe Zerwürfnisse, die lange vor der Ukrainekrise wurzeln. In dem Gewirr aus Intrigen und Halbwahrheiten spielen Mustafa Dschemiliew und seine Kamarilla eine Hauptrolle. Es geht um Macht und um Geld, um Banken und Immobilien. Angeblich wird der Medschlis mit Dollarmillionen aus der Türkei und den USA unterstützt. Wie immer im Osten gibt es weder Schwarz noch Weiss. Was sich als Überlebenskampf einer Minderheit verkauft, hat geopolitische Dimensionen. Russland hat die Zeit vor 1954 nicht vergessen und die Türkei nicht diejenige vor 1783. Beide Nationen tragen ihren Anspruch auf die Krim im Herzen. Die Illusion vom Ende der Geschichte hegt man nur in Westeuropa.
http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2015-50/aufgewiegelt-die-weltwoche-ausgabe-502015.html