Als Candan Six-Sasmaz an einem Bahnhof im Ruhrpott aus dem Zug steigt, schallt ihr Applaus entgegen. Auf dem Bahnsteig steht ein großes Willkommenskomitee mit »Refugees Welcome«-Transparenten. Irritiert stellt die Journalistin fest, dass die Rufe und der Applaus ihr gelten. Nach der ersten Verwunderung bemerkt sie die Verwechselung. Dass sie nicht auf der Flucht ist, sondern auf dem Weg zu einer Verabredung, fällt den auf sie einstürmenden Menschen indes nicht auf. Völlig gefangen in dem Irrglauben einem traumatisierten Kriegsopfer gegenüber zu stehen, hört niemand der Frau zu, die mehrfach auf Deutsch, Englisch und Türkisch erklärt, nicht geflohen zu sein: »Meine Worte gingen im Geschrei und Gejubel unter. Die Menschen drängelten sich um mich. Drückten mir Sandwiches, Getränke und Kuscheltiere in die Hände. Anscheinend ist das erste, was ein Flüchtling bei seiner Ankunft in Deutschland braucht, ein Kuscheltier. Während sie mir großzügig Geschenke übergaben, schauten sie mich hoffnungsvoll an. Sie warteten auf das berühmte Leuchten der Dankbarkeit in meinen Augen. Ich konnte ihnen nur ein enttäuschtes Funkeln bieten.« Schon wird die Journalistin beim Arm gepackt. Man erklärt ihr im überlauten und betont langsamen Deutsch, sie werde nun für ein Durchgangslager registriert. »Sie sprachen über mich als wäre ich nicht da: ›Die Ärmste sieht ja völlig fertig aus.‹«. Ihre Beteuerung, kein Asyl zu suchen, stößt auf Misstrauen: »Sind sie sicher, kein Flüchtling zu sein?« Der Spuk endet erst als Six-Sasmaz laut anfängt zu schreien: »Ihr Vollidioten!«.1
Nationale Entrümpelungsaktion
Die Geschichte der Journalistin, die als Tochter türkischer Eltern in Deutschland geboren ist, die ihre Mitbürger ins Flüchtlingsheim bringen wollten, der unerschütterbaren Überzeugung ihr damit zu helfen, steht pars pro toto für die deutsche Willkommenskultur der vergangenen Wochen. In dem festen Glauben, es handele sich um Großherzigkeit, haben die Bundesbürger den Flüchtlingen ihre Wohltaten aufgenötigt. Das Deutsche Spätsommermärchen ist eine einzige Verwechselungsgeschichte gewesen, die auch jetzt (November 2015, Anm. der Redaktion) noch für unzählige Missverständnisse sorgt. So ist das Ende nur für diejenigen überraschend, die schon den Anfang falsch verstanden haben. Denn sowohl die härtere Gangart, die in der Flüchtlingspolitik mittlerweile eingeschlagen wurde, als auch die Verschärfung des Asylrechts, stehen nicht im Widerspruch zu der Barmherzigkeits- und Mitleidswelle der vergangenen Wochen. Sie setzen vielmehr auf politischer Ebene fort, womit die Bundesbürger Ende August begannen, als sie im großen Stil anfingen ihre Keller und Dachböden auszumisten.
Die ungemeine Menge an Sachspenden, die auf die Aufrufe der Sozialverbände und Hilfsorganisationen folgte, ist in Anbetracht von Heidenau und Co. zu begrüßen. Empfingen die Deutschen die aus Jugoslawien ankommenden Kriegsflüchtlinge 1992 noch mit Kehrausbesen, so machten sie diesmal das allein Menschliche, in dem sie die Asylsuchenden willkommen hießen. Anscheinend umtrieben die Bundesbürger dabei allerdings weniger die Nöte und Bedürfnisse der Flüchtlinge, als ihre eigene Gutwerdung. So machte bereits frühzeitig der allgegenwärtige Helferandrang den professionellen Hilfsorganisationen zu schaffen. In Massen brachen die Deutschen auf, um alles zu den Annahmestellen zu schleppen, was der Haushalt hergab. Von Kinder- über Sommerbekleidung bis zur abgetragenen Unterwäsche, vom Wiso-Steuerratgeber 2010 über Taschenbücher bis zu vorgekochtem Essen, von einzelnen Schrauben über Karnevalskostüme bis zur gesamten Schrankwandgarnitur befand sich nach den Aussagen der Hilfsorganisationen so ziemlich alles unter den Sachenspenden. Neugekaufte Windeln und Hygieneartikel blieben die erwähnenswerte Ausnahme. Oftmals dauerte es nur wenige Stunden bis auf die Spendenaufrufe der Appell erfolgte, nur ausgewählte Sachen vorbeizubringen, da weder die Lagerkapazitäten bereitständen, noch die Kräfte zum Aussortieren vorhanden wären. Der Berliner Tagesspiegel fasste bündig zusammen: »Sie meinen es gut – und doch wird die Hilfsbereitschaft der Berliner so langsam zum Problem.« So wäre das gekochte Essen ebenso im Müll gelandet wie die aussortierte Sommerkleidung. Eine Sprecherin des Arbeiter-Samariter-Bundes erklärte der Zeitung, dass man Trägertops und kurze Röcke nicht gebrauchen könne: »Die warme Jahreszeit ist vorbei, und viele geflüchtete Frauen würden solche Sachen wegen ihrer Religion ohnehin nicht tragen. Stattdessen werden Wintermäntel benötigt, vor allem für Männer.« In der Welt wies eine Flüchtlingshelferin darauf hin, dass die Asylsuchenden meist jüngeren Alters sind, die Kleidung der verstorbenen Großeltern somit eine unpassende Spende.3 So glich die Sachspendenoffensive weniger dem beherzten Versuch, die Not der Flüchtlinge zu lindern, als einer nationalen Entrümpelungsaktion mit kollektiver Rührungskatharsis. Anscheinend verstanden die Deutschen die Spendenaufrufe als eine symbolische Aktion, bei der es weniger auf konkrete Hilfe, als auf die Geste des guten Willens ankäme.
Weltmeister der Selbstrührung
Die Bundesbürger beschäftige mit anderen Worten offensichtlich mehr ihre innere Gutwerdung, als die Bedarfslisten der Hilfsorganisationen. Dementsprechend haben die allerorten stattfindenden Spendensammelaktionen zwischenzeitlich an einen bundesweiten Städtewettkampf erinnert, bei der unter dem Oberkommando der jeweiligen Regionalpresse die lokalen Provinzfürsten um die mitfühlendste und hilfsbereiteste Einwohnerschaft gefochten wurde. Das Schicksal derjenigen, für die man dabei vorgab anzutreten, geriet hierbei ins journalistische Abseits. Die Neuankömmlinge wurden allerhöchsten eingeladen, den feinen Charakter der Hausherren zu bezeugen. Ob das Bahnkundenmagazin Mobil, die Süddeutsche Zeitung oder die Frauenzeitschrift Brigitte, in den vergangenen Wochen bat fast jede größere deutsche Postille ehemalige Flüchtlinge um ein Statement zu ihren Erfahrungen in Deutschland. Nur selten waren die Interviewten dabei mehr als die Statisten einer großen Selbstbespiegelung, die durch eine kommentierte Zusammenstellung ausländischer Presseberichte zum deutschen Flüchtlingsempfang komplimentiert wurde. Nachdem die Bundesrepublik im Sommer während der Zuspitzung der Griechenlandkrise noch als grausamer Zwangsvollstrecker galt, würde das Ausland nun das »Neue Deutschland« kennen lernen, so etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Auf jeden Fall waren wir Deutsche für einen Moment lang Weltmeister der Herzen. Mal nicht bewundert für die Effektivität unserer Maschinen, sondern für Menschlichkeit«.4 Der Autor vergaß zu erwähnen, dass nicht nur die deutschen Maschinen bessere Werte auf dem Papier erzielen (Stichwort: VW-Abgasskandal) als auf der Straße, sondern auch die vielgepriesene deutsche Menschlichkeit. Ebenso unerwähnt blieb, dass die neue deutsche Menschlichkeit wenn überhaupt nur deshalb bewundert wird, weil man sich noch an die alte deutsche Grausamkeit erinnern kann. Wenn einmal das Leid von Flüchtlingen in den Fokus gerückt wurde, so war es nicht selten das der eigenen Großeltern. Nicht nur in der Süddeutschen Zeitung riefen Jungautoren bei ihrem Versuch sich durch einen journalistischen Reifenachweis das Image des »Neue Medien«-Praktikanten aus der Vita zu schreiben, der Leserschaft die erschütternden Erfahrungen ihrer Großmutter ins Gedächtnis, die bei ihrer Vertreibung niemand willkommen geheißen hätte: »Auf den Spuren meiner Oma« und »Meine Oma, der Flüchtling«. Während in den Zeitungen also vor allem Vertriebenengeschichten und Helferportraits zu lesen waren, erhellte kaum ein Artikel die gegenwärtige Situation im Nahen Osten. Ist doch einmal von den Fluchtursachen gesprochen worden, so nur um mit dem Selbstverständigungsmonolog fortzusetzen. In der Rubrik saublöd-aber-weitestgehend-harmlos wurde auf feuilletonistische Dauerbrenner wie Globalisierung und Klimawandel verwiesen, welche Migration zu einem Massenphänomen werden ließen; als hätte die Syrer das Schmelzen der Polkappen zur Flucht bewegt. In der Rubrik saublöd-aber-bösartig kaprizierten Prantl und Co. auf ihr ideologische Allzweckerklärung, gemäß der auch die Flüchtlingskrise den amerikanischen Interventionen im Nahen Osten anzurechnen sei; als wäre es nicht maßgeblich Deutschland gewesen, das durch seine Profilierung als Weltpazifist nachhaltig zum Scheitern der amerikanischen Missionen beigetragen und frühzeitig einen Militäreinsatz in Syrien ausgeschlossen hat.
Misstrauen und Fürsorge
Während den Bundesbürgern offensichtlich nichts zu schäbig war um es den Flüchtlingen zu spenden, zeigten sie sich in anderer Hinsicht weitaus weniger spendabel. Im September, als die deutsche Hilfsbereitschaft zum massiven Entsorgungsproblem geworden war, erklärte die übergroße Mehrzahl der Bundesbürger, dass sie mehr Sachleistungen für Flüchtlinge befürworte. Zeitgleich sprach sich eine ebenso große Mehrheit jedoch dagegen aus, die finanzielle Unterstützung für Asylsuchende zu erhöhen. Sie waren von der Sorge ergriffen, die eigene Barmherzigkeit könnte am Ende missbraucht werden. In der Zeit ließ sich lesen, worin der Vorteil von Sachhilfen bestände: »Wären die Kommunen nicht derart überfordert, würde das Prinzip des Vorrangs von Sachleistungen heute längst angewandt werden. Dort, wo es geschieht, ist es für die Flüchtlinge oft eine Hilfe, keine Zumutung. Denn hinter der Idee, Güter statt Euro auszuhändigen, steckt nicht nur Misstrauen, sondern auch Fürsorge.« Denn, so war weiter zu lesen: »Bargeld kann bei Schleppern landen, bei Verwandten in der Heimat, bei kriminellen Schutzorganisationen. Warme Mahlzeiten, Zahnpasta oder neue Schuhe hingegen nützen denen, die sie erhalten: den Asylbewerbern.«6 Um der Aneignung des Geldes durch kriminelle Schutzorganisationen zuvorzukommen, geben es die Deutschen gar nicht erst aus der Hand. Schutzleistungserpressungen und Hilfsnötigungen sollen dem Staat vorbehalten bleiben. Am Ende führt eine Erhöhung der finanziellen Unterstützung wohlmöglich noch dazu, dass die Asylsuchenden nicht mehr auf Sachspenden angewiesen sind. So war das Umfrageergebnis auch nicht wirklich überraschend, denn schließlich hatten die Sperrmüllsamariter bereits per Fußabstimmung deutlich gemacht, dass ihnen mehr daran lag, sich mit eigenen Wohltaten unentbehrlich zu machen, als tatsächlich zu helfen. In dem im September Tops und Sandalen vor den Heimen abgeladen wurden, ist jedenfalls sicher gestellt worden, dass die Flüchtlinge wenige Wochen später um Winterjacken und Pullover bitten würden.
Mitte Oktober ist mit der verabschiedeten Verschärfung des Asylgesetzes endgültig zum juristischen Prinzip erhoben worden, was die Bundesbürger bei ihrer Willkommenskultur de facto bereits vorexerziert haben. Nach dem neuen Gesetz sind die Ämter dazu angehalten, den Gegenwert der bisher ausgezahlten 143 Euro als Gutscheine und Eintauschmarken an die Asylbewerber auszugeben. Zwar bestand die Möglichkeit bereits zuvor, in dem neuen Gesetz ist das Verfahren jedoch explizit als Leitrichtlinie formuliert. Zudem ist vorgesehen, dass sogenannte ausreisepflichtige Personen, die innerhalb der festgehaltenen Frist nicht ausreisen, die Leistungen gekürzt werden. Von der neuen Regelung verspricht sich die Bundesregierung eine abschreckende Wirkung auf die sogenannten Balkanflüchtlinge, welche nach geläufiger Vorstellung quasi halbjährlich nach Deutschland fluchtpendeln würden, um hier Sozialhilfe abzugreifen. In jedem Fall abschreckend ist die Vorstellung, dass demnächst Ämter darüber entscheiden, was die Flüchtlinge tatsächlich zum Leben brauchen. Insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, dass in den Amtstuben dieselben herzbewegten Wohltäter sitzen, die in den vergangen Wochen ihr sensibles Gespür für die Nöte und Bedürfnisse fremder Menschen unter Beweis gestellt haben, in dem sie die Neuankömmlinge Mitte September mit Sommerkleidung und traumatisierte Flüchtlinge im Klatschspalier empfingen. Angesichts der jüngsten Erregung muss davon ausgegangen werden, dass Smartphones den Flüchtlingen nur zugestanden werden, weil sie ihnen auf der Flucht genutzt haben. Nach den Soll-Bestimmungen der Bundesregierung sollen tatsächlich nur noch Telefonkarten ausgehändigt werden – wohlmöglich auch, damit den zurückgebliebenen Familien von der Flucht abgeraten werden kann. Für Zigaretten und Alkohol indes, die in den Epizentren der Willkommenskultur für gesundheitsschädliche Laster gehalten werden, wird es wohl keine Marken geben bis das Bundesverfassungsgericht die Praxis für illegitim erklärt.
Der staatliche Paternalismus wirft gleichermaßen ein Licht sowohl auf die Motive hinter der Willkommenskultur als auch auf ihre politischen Implikationen. So trägt auch die privat organisierte Freiwilligenhilfe paternalistische Züge, in dem sie weniger darauf ausgerichtet ist die Bevormundung abzuschaffen, als sie zu verewigen. Zwar dürfte den Flüchtlingen auch weiterhin überwiegend Geld ausgezahlt werden, weil die Gutscheinausgabe mit einem erheblichen Mehraufwand einhergeht. Aber unabhängig davon wird damit eine Praxis gebilligt, die den Flüchtlingen ihre letzten Entscheidungsfreiheit raubt. Durch die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen werden sie endgültig zu einem Fürsorgeobjekt degradiert. Die Mindestunterstützung gewinnt immer stärker den Charakter einer Gratifikation, die jederzeit entzogen werden kann. So werden die Asylsuchenden noch weitaus stärker als vorher der Gunst ihrer vermeintlichen Retter ausgeliefert sein. Nicht zuletzt deshalb, weil die Fürsorge zunehmend Bürgerinitiativen anvertraut wird, die sich den Flüchtlingen abnehmen.
Aktivposten Flüchtlingshelfer
Dass die Übernahme staatlicher Aufgaben durch Bürger ein Erfolgsmodell ist, zeigt sich nicht zuletzt in Krisenzeiten. Selbst gesellschaftliche Eruptionen, die im historischen Vergleich harmlos wirken, führen inzwischen zur Massenmobilisierung privater Ressourcen. Als während des Jugoslawienkrieges 1992 etwa 430.000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellten, musste die gerade erweiterte Bundesrepublik die Eingemeindung von 17 Millionen Ostdeutschen verdauen, deren Arbeitsmarkteingliederung und Resozialisierung noch heute eine wirtschaftliche und politische Herausforderung ist. Im Jahr 2015 sind bis zum 1. Oktober nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge rund 300.000 Asylanträge gestellt worden, also in etwa so viele wie im Schnitt zur gleichen Zeit vor 23 Jahren.7 Indes erzielte Deutschland allein im ersten Halbjahr einen Haushaltsüberschuss von 21 Milliarden Euro. Angesichts der properen wirtschaftlichen Situation und derart ins Verhältnis gesetzt, wirkt die gegenwärtige Reaktion auf die Flüchtlingskrise nicht zuletzt aufgrund der gewaltigen gesellschaftlichen Mobilisierung an Manpower und der politischen Endzeitrhetorik noch hysterischer, als sie ohnehin schon ist. So tritt noch deutlicher zutage, dass nicht alleine unterschwellige Verlustängste die Bundesbürger in den Flüchtlingswahn gestürzt haben, sondern auch so etwas wie zur Untergangslust gesteigerter Selbstekel. Hinter der ständigen Beschwörung neuer Flüchtlingszahlen verbirgt sich mit anderen Worten auch die Spekulation darauf, dass eine finale Verschärfung der nationalen Krise auch der individuellen Krise ein Ende bereitet, also so etwas wie Heilssuche in Ausnahmezustand.
Die Hysterie dürfte nicht zuletzt der hohen Bürgerbeteiligung bei der Krisenabwehr anzurechnen sein. Im Vergleich zu den frühen Neunzigerjahren setzt die Bundesrepublik gegenwärtig weitaus stärker auf ehrenamtliche und privatwirtschaftliche Initiativen zur Abwehr der Flüchtlingskrise. Nicht nur die Bereitschaft der Bürger scheint dabei groß zu sein, den Staat unter die Arme zu greifen, sondern anscheinend ist auch der Staat geneigt auf die Unterstützung durch seine Bürger zu bauen. Die fortschreitende Veräußerung des Staates und die ihn begleitende Delegierung ehemals staatlicher Sicherungs- und Versorgungsaufgaben an Bürgervereine, Caritasverbände und Privatunternehmen haben dazu geführt, dass ihm auch keine andere Möglichkeit bleibt als während der Krise auf seine outgesourcten Organe zurückzugreifen. So beschloss die Bundesregierung als Reaktion auf die Flüchtlingskrise im Bundesfreiwilligendienst 10.000 neue Plätze zu schaffen. Mittlerweile bildet nicht nur der Rückhalt, sondern auch die bereitwillige Annahme der staatsbürgerlichen Rolle durch die Bevölkerung einen entscheidenden Faktor bei der Katastrophenbekämpfung. So führen selbst ausgewachsene Minikrisen inzwischen zu einer ungemeinen Bürgermobilisierung.
Spendenracket
Diese Entwicklung ist zweifelslos selbst Ausdruck eines umfassenderen gesellschaftlichen Erdrutsches. In dem sich jedoch die Bürger nicht nur während akuter Krisen zum verlängerten Arm des Staates machen, sondern auch zu ruhigeren Zeiten als Freiwilligenbrigade auf Abruf staatliche Versorgungsaufgaben übernehmen, tragen sie zu einer Verschärfung des sozialen Elends bei. Auch wenn die privat organisierten Flüchtlingshelfer es anders sehen: Ihre Hilfe war in dieser Breite und Dimension keine absolute Notwendigkeit. Denn selbstverständlich verfügt der Staat über die finanziellen Mittel, sowie über das technische Know-How und das logistische Material, um die Versorgung der ankommenden Migranten sicherzustellen. Allein zum Oktoberfest kommen jedes Jahr sechs Millionen Besucher, ohne das die Verwaltung in München kollabiert. Bei Naturkatastrophen in der ganzen Welt dauert selten länger als sechsunddreißig Stunden, bis die ersten deutschen Helfer samt Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Dieselgeneratoren und Bergungsequipment vor Ort sind. Währenddessen gelang es in den vergangenen Wochen nicht einmal, auch nur die Trinkwasserversorgung der Flüchtlinge überall durchgehend sicherzustellen. Zwar ist das Oktoberfest eine geplante Veranstaltung, aber auch die Flüchtlingskrise hat sich bereits seit dem Frühjahr (2015, Anm. der Red.) abgezeichnet. Es war nicht alternativlos, dass beispielsweise Dolmetscheraufgaben, Sanitätsdienste und die Essenausgabe von Freiwilligen übernommen wurden. Ihr Engagement wurde erst durch die Verweigerungshaltung der Behörden notwendig, die es lange Zeit den Ehrenamtlern überließen, für die Neuankömmlinge zu sorgen. In dem die freiwilligen Helfer ihren Einsatz zu einer Ehrensache erklärten, anstatt dem Staat an seine Aufgaben zu erinnern, trugen sie ihrerseits zum beschleunigten gesellschaftlichen Zerfall bei. Denn während der Wohlfahrtstaat vergangener Tage noch den Anspruch und die Mittel besaß, um eine soziale Absicherung für jeden Staatsbürger zu gewährleisten, in dem er beispielsweise Arbeitslose in einer Reservearmee für das Kapital formiert hat, entfällt dies beim Ehrenamtsstaat. Zwar ist auch die staatliche Vor- und Fürsorge paternalistisch, aber im Unterschied zur privat organisierten Caritas ist sie an Gesetze gebunden. Anstatt auf persönlicher Abhängigkeit beruht sie auf anonymer Dienstleistung durch Beamte, die ihrerseits zur Vorbeugung von Willkür an Regelungen gebunden sind. So lassen sich festgeschriebene Sozialleistungen immerhin noch einklagen, während es keinen rechtlichen Anspruch auf Spenden gibt. Durch ihr Engagement sorgen die Flüchtlingshelfer unwillkürlich dafür, dass die staatlichen Mindestversorgung endgültig zur jederzeit widerrufbaren Barmherzigkeitsgeste wird. Sie beschleunigen die Transformation des Sozialsystems in ein Spendennetzwerk, das vor kurzem zwei Ökonomen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angeregt haben: »So enorm die freiwillige Hilfe auf individueller Ebene überall in Europa zu sein scheint, auf staatlicher Ebene versagt sie. […] Nötig und viel hilfreicher wären Lösungswege, welche die vorhandene individuelle Hilfsbereitschaft ausschöpfen und Unwillige nicht zu Hilfeleistungen zwingen. Zwang führt langfristig nur zu Aggression gegen die Hilfsempfänger. […] Wir schlagen europaweite eigene Sozialsysteme für Flüchtlinge (Social Security Net for Refugees, kurz SSNR) vor, die durch freiwillige Steuern, Abgaben und voll steuerabzugsfähige Spenden der Bürger sowie durch Einzahlungen der Geflüchteten gespeist werden. […] Ein SSNR würde für alle Kosten bei der Ankunft der Flüchtlinge aufkommen und später die Leistungen erbringen, die normalerweise die verschiedenen nationalen Sozialsysteme erbringen.«
In dem das Willkommenskomitee seinen Einsatz nicht für eine aus der Not geborene Selbstverständlichkeit hält, sondern für Engagement, für das es Anerkennung und Dank erwartet, provoziert es somit nicht nur die zunehmende staatliche Drangsalierung von Sozialhilfeempfängern, sondern liefert obendrein auch die Flüchtlinge gesellschaftlicher Gnade aus. Die einzige Chance der Asylsuchenden wird mehr denn je sein, an das Mitgefühl der Bundesbürger zu appellieren und auf deren Hilfe zu bauen. Angesichts der bisherigen selbstgefälligen Mildtätigkeit der Deutschen, die bereits die Entsorgung ihres Hausrats für einen Akt der Großherzigkeit hielten, für den sie sich wochenlang selbst feierten, sind das trübe Aussichten. Nicht zuletzt wenn man sich vor Augen führt, mit welcher Enttäuschung die Heilsarmee auf die ersten Dissonanzen zwischen ihren Schutzbefohlenen reagierte. Vor allem junge männliche Flüchtlinge sollten es angesichts der Unmengen an Spielzeug und Kleider, die die Deutschen weggespendet haben, mit der Angst zu tun bekommen. Es ist unschwer zu erahnen, wer bei einer politischen Anerkennung der Spendenrackets das Nachsehen haben würde. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich aus dem Griff der Flüchtlingshelfer ebenso befreien wie Six-Sasmaz, die das Mitgefühl ihrer Mitbürger fast ins Durchgangslager gebracht hätte.
Anmerkungen
1 Candan Six-Sasmaz: Endlich willkommen!, in: Süddeutsche-Zeitung vom 12. September 2015.
2 Tabea Pauli und Gabriele Scherndl: Was Flüchtlinge am dringendsten brauchen, in: Der Tagesspiegel vom 9. September 2015.
3 Martin Pirkl: Die scheinheilige Hilfe der Deutschen für Flüchtlinge, in: Die Welt vom 1. Oktober 2015.
4 Jörg Thomann: Das Ende der kleinen, heilen Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2015.
5 Titel aus der Süddeutschen Zeitung.
6 Elisabeth Niejahr: Zahnpasta und ein Paar Schuhe, in: Die Zeit vom 20. August 2015.
7 Die Zahl der gestellten Asylanträge im Jahr 2015 lag bis zum 1. Dezember bei ca. 425.000.
8 Armin Steuernagel und Bruno S. Frey: Baut aus Spenden ein Sozialsystem für Flüchtlinge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. September 2015.
Antirassismus als Ideologie der feinen Gesellschaft
Antirassismus als Ideologie der feinen Gesellschaft
Vortrag & Diskussion in Hannover
Am Donnerstag, den 9. Februar 2017, um 19:00 Uhr
Schlosswender Str.1, Gebäude 1211, Raum 105, Universität Hannover
mit Clemens Nachtmann
Der Vortrag zeichnet die Grundlinien dieses Prozesses nach, unter besonderer Berücksichtigung des Sozialcharakters, der sich darin ausspricht und mit besonderem Augenmerk auf alle jene Kapitulanten des Intellekts, die sich bis in antideutsche Kreise hinein als Schönredner dieser kommunitären Regression und der darin einbegriffenen Islamisierung betätigen.
Veranstaltet von der Gruppe Belle Vie Hannover