Es war einmal eine Zeit, sie ist nicht lange her, da gab es keine Fake News. In dieser goldenen Epoche war alles wahrhaftig. Dann aber kamen die bösen „Populisten“, dann kam Donald Trump. Ein dunkles Zeitalter begann: die Ära der alternativen Fakten, das postfaktische Zeitalter.
Diese Mär erzählt man sich in Europa seit Monaten. Sie ist schaurig – und falsch. Im Grunde ist die Erzählung vom postfaktischen Zeitalter selbst ein Fake. Es stimmt zwar: Mächtige wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan oder Donald Trump greifen sehr bewusst zu sehr krassen Lügen, nur weil es ihnen nützt. Sie sind dreister, lauter, manipulativer, als wir es zuletzt gewohnt waren.
Aber wollen wir die klassischen, liberalen Politiker in den Heiligenstand erheben? Es ist doch so: Fake News gab es immer – und im Grunde ist die Weltgeschichte bisher ein sensationelles Tableau aus Beschönigungen, Verzerrungen, Listen und Lügen.
Es reicht ein Blick auf die vergangenen 30 Jahre unter der Ägide gemäßigter, demokratischer Politiker. Es beginnt harmlos im Jahr 1986: Norbert Blüm klebt Fake News an Litfaßsäulen: „Denn eins ist sicher: Die Rente.“ Keine Lüge, nur eine Fehleinschätzung? Kann sein, aber in der Politik sind Täuschung und Naivität nah beisammen.
Colin Powells UN-Auftritt
Auch bei Helmut Kohl im Jahr 1990: „Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir in den nächsten drei bis vier Jahren in den neuen Bundesländern blühende Landschaften gestalten werden.“
Auch im April 1998, als der Bundestag über die Einführung des Euro abstimmt. Bundesfinanzminister Theo Waigel: „Jedes Land haftet allein für seine Schulden. Es wird in der Währungsunion keine zusätzlichen Finanztransfers geben.“
Fünf Jahre später folgt der damalige US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat. „Die Fakten und das Verhalten des Irak belegen, dass Saddam Hussein und sein Regime ihre Bestrebungen zur Herstellung von weiteren Massenvernichtungswaffen verschleiern.“ Bekanntlich waren diese Fakten fake. Sie dienten als Vorwand für den Irak-Krieg.
Fakes lösten Finanzkrise aus
Als Powell in New York sprach, zirkulierten bereits Fake-Wertpapiere um den Globus, sogenannte Hypotheken-Verbriefungen. In einer faszinierenden Verkettung von Täuschung, Selbstbetrug und Naivität log sich die Welt vor, dass Wohlstand für alle möglich ist – auch für völlig Mittellose.
Wer den Fake durchschaute, wusste: Die Menschheit sitzt der größten Hochstapelei ihrer Geschichte auf. Aber fast niemand durchschaute es. Als das ökonomische Irrsinnskonstrukt in der Finanzkrise implodierte, stürzte die Weltwirtschaft in die Tiefe.
Die Bundesregierung konterte mit einer glatten Notlüge. „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein“, erklärte Angela Merkel im Oktober 2008. Ein Fake. Wäre das Finanzsystem im Anschluss kollabiert, hätte die Bundesregierung niemals genug Geld gehabt, alle auszuzahlen. Es war eine psychologisch kluge Lüge, die Deutschlands Sparer am Ende vor sich selbst schützte.
Merkels Kehrtwende
Parallel mussten Deutschland und andere Staaten ihre Banken mit Milliarden stützen. Viele Länder hatten sich aber zuvor so sehr in die eigene Tasche gelogen, dass sie sehr hohe Schulden angehäuft hatten. Die Bankenrettung riss sie nun in die Pleite – andere Euro-Länder sprangen ab 2010 mit Hilfen ein. Die Versprechen Theo Waigels im Bundestag: gebrochen.
Im Jahr 2015 dann bot die Bundeskanzlerin alternative Fakten. Am 16. Juli: „Wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen … Das können wir auch nicht schaffen.“ Am 31. August: „Wir schaffen das. … Abschottung im 21. Jahrhundert ist keine vernünftige Option.“
Diesmal war es keine Notlüge in einem Dilemma wie 2008, sondern eine kalkulierte Kehrtwende. Der Fakt vom 16. Juli, vorgetragen im Angesicht eines weinenden Flüchtlingsmädchens, war nicht gut angekommen beim Volk.
Von da an waren falsche Argumente sehr willkommen, wenn sie die sogenannte Willkommenskultur stützten. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt: „Unserem Land ging es immer besser, wenn Grenzen offen waren.“ Fake News. Deutschlands Grenzen – seit Schengen identisch mit den EU-Außengrenzen – waren vorher de jure nie offen.
Bundesjustizminister Heiko Maas zu den Terroristen in Paris und Brüssel: „Sie sind keine Flüchtlinge.“ Halbe Fake News wenigstens. Richtig, die Attentäter waren in Europa geboren. Aber um aus Syrien zurückzukehren, mischten sich die meisten unter die Migranten der Balkanroute, nutzten die offenen Grenzen.
Fast ein Jahr später noch einmal der Justizminister, der selbst gern für eine Art Wahrheitspolizei wirbt: „Die Milliarden für die Integration wurden in diesem Land erwirtschaftet und wurden niemandem weggenommen.“
Wie bitte? Das Geld gehört den Bürgern, die es erwirtschaften. Der Staat nimmt es den Bürgern über Steuern weg und muss rechtfertigen, wofür. Egal, ob der Staat an anderer Stelle spart – oder, wie in diesem Fall, einfach einen Überschuss für die Kosten der Flüchtlingskrise verwendet.
Für alternative ökonomische Fakten war in der Migrationskrise ohnehin die Wirtschaft zuständig: der Chefvolkswirt der Deutschen Bank etwa, David Folkerts-Landau. Eine Million Migranten, das sei ökonomisch „das Beste, was Deutschland seit der Wiedervereinigung passiert ist“.
Fakten prüfen, egal, wer sie vorbringt
So sprach der Mann viele Monate lang. Ein Chefvolkswirt soll sich mit Daten der Wahrheit nähern. Welche Zahlen er hatte, bleibt rätselhaft. Daten des Instituts für Wirtschaftsforschung für 2014 zeigten schon damals: Von allen anerkannten Flüchtlingen in Deutschland hatten zwei Drittel keine Ausbildung, ein Viertel nur die Grundschule besucht.
Bleibt die uralte Erkenntnis: Mächtige nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau. Aber die Mächtigen der liberalen Demokratien dürfen keinen Bonus bekommen, nur weil sie leiser, zivilisierter, weniger demagogisch die Fakten verdrehen.
Jedenfalls ist es keine Option, an der Seite angeblich „guter“, gemäßigter Politiker die angeblich „bösen“ Populisten mundtot zu machen. Was wir im Ringen um Wahrheit und Objektivität brauchen, sind die machtvollen Waffen der Gewaltenteilung, Parlament, Justiz, freie Presse.
In diesem Ringen macht es Sinn, alle verfassungsgemäßen Meinungen anzuhören, alle Fakten erst einmal zu prüfen, egal, wer sie vorbringt. Auch wenn man dann womöglich ertragen muss, dass die beste Lösung für ein Problem hier und da auch einmal von einem sogenannten Populisten stammt.