Kategorie-Archiv: Erzählung

Evelyn Kremer: Drei Erzählungen

Eine nette Familie

Mal wieder saß ich im Speiswagen des ICE nach einem langen Arbeitstag. Der Zug war brechend voll und so fragte mich eine vierköpfige Familie, ob sie sich zu mir an den Tisch setzen könne. Der Vater setzte sich neben mich und die zwei etwa sechs- und zehnjährigen adretten Töchter sowie die Mutter quetschten sich auf die Bank gegenüber von mir. „Eine nette Familie“ dachte ich mir. Die vier lachten zusammen und erzählten sich belustigt, wie sie gerade noch den Zug erwischt hatten. Die Mutter hatte es nicht richtig in die Parklücke geschafft… Der Vater redete sehr nett mit seinen beiden Kindern über gemeinsame Erlebnisse und die Mutter war eine „Mutter“, wie man sie sich vorstellt: Liebevoll, etwas kräftig und ein sanftes, hübsches Gesicht. Der Vater hingegen wirkte etwas nervös und hippelig und redete für einen Mann ziemlich viel. Da er so nett und intensiv mit seinen Töchtern beschäftigt war, vermutete ich – weil das eher ungewöhnlich war – dass er nicht der richtige Vater sei. Doch dann nannten die Mädchen ihn „Papa“. „Eine wirklich nette und glückliche Familie“, dachte ich mir wieder. „So etwas sieht man heute nicht oft“. Kurze Zeit schaute ich dann aus dem Fenster. Die Landschaft raste an mir vorbei und da es schon dämmerte, sah ich durch die Spiegelung eher die Menschen im Abteil als die Landschaft. Der Vater neben mir tippte nun engagiert eine Nachricht in sein Handy. Mein Blick fiel auf seinen Display und ich konnte es kaum glauben: Da der Display groß und hell war, sah ich, dass er zahlreiche Herzchen tippte und auch sein virtuelles Gegenüber antwortete einige Sekunden später mit einem Herz. „Das kann doch nicht sein“, dachte ich mir und überlegte, ob man vielleicht auch seiner Mutter oder Schwester solche Nachrichten schreiben würde. Unmöglich könne es sein, dass dieser nette Vater während er fröhlich mit seiner Familie am Tisch im Zug saß, einer anderen Frau Liebesbotschaften sendete. Ich hatte mich gerade wieder etwas beruhigt, mein Essen gezahlt und war kurz vor dem Aussteigen, als die Tochter begann ihrem Vater enthusiastisch etwas von der Schule zu erzählen. Abgelenkt legte der Vater sein Handy auf den Tisch und hatte wohl vergessen, dass das Display noch eine Zeit lang leuchtete und die SMS anzeigte, die er gerade geschrieben hatte. Sofort bemerkte ich den gezielten Adlerblick der Mutter auf das Handy und als sie die Herzen auf dem Display sah, wurde sie schlagartig blass und ihre Mimik erstarrte. Der Vater bemerkte nichts und lachte weiter mit seinen Töchtern. Aus dem Gespräch erfuhr ich, dass die vier auf dem Weg in den Urlaub waren. Die Mutter sagte kein Ton mehr und als ich aussteigen musste, hatte ich den Eindruck, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Doch eine Familie wie viele andere“, dachte ich mir und verließ den Zug.

 

Allein im Park

Oft fragte ich mich in letzter Zeit, wozu viele Menschen ständig Lärm brauchten. Sie suchten den Kick, das Event, um nicht allein ihren düsteren Gedanken ausgesetzt zu sein. Auch ich hatte früher schwer allein sein können. Doch inzwischen genoss ich oft die Stille. Gerade saß ich auf einer Bank in einem schönen Museumspark. Es war eine weiße Holzbank an einem kleinen steinigen Weg. In diesen Park verirrten sich nur wenige Menschen. Die Sonne schien auf das weiße Blatt Papier, welches ich gerade beschrieb und auf dem Blatt waren die Schatten der Äste einiger Bäume und die Schatten der Fruchtfliegen, die wild umherkreisten, zu sehen. Über mir blühte ein rosaroter Kastanienbaum. Der Wind strich sanft über seine Blätter und auf der saftigen Wiese unter ihm blühten trausende Gänseblümchen. Von meiner Bank aus hatte man einen herrlichen Blick auf den ganzen Park, der zur Mitte hin etwas abfiel und auf dessen linker Seite einige Säulen den Weg säumten. Rechts hatten sich drei junge Frauen auf einer Decke niedergelassen. Dahinter saß eine Frau mit einem Blatt Papier. Sie versuchte die Landschaft auf ihrem Papier wiederzugeben. Es war so schwierig, diesen Moment in all seiner Schönheit und Intensität sowie mit seinen Geräuschen wiederzugeben. Weder ein Foto, noch Papier, die Schrift oder ein Film konnten diese Stimmung treffen. Mir fiel ein, dass ich noch gar nicht die Geräusche beschrieben hatte: Leise zwitscherten verschiedene Vögel. Da es gerade Mittagszeit und ziemlich warm war, schien es als hätten sie gerade eine kleine Ruhepause eingelegt. Neben dem Rauschen der Blätter in den Bäumen, flog ab und an ein Brummendes etwas vorüber. Außderdem war die Luft voller schwerem Kastanienbütenduft. Der Duft wurde ab und an noch intensiver, wenn der laue Wind ihn in meine Richtung trug. All das war unmöglich zu sehen, zu spüren, zu riechen und zu empfinden ohne Ruhe und von Menschen umringt. Wie schön war es ab und an ganz allein zu sein und alle Sinne der Umgebung zu widmen.

 

 

Die Mutter

Ich stieg am Hauptbahnhof in eine der vielen Straßenbahnen. Gerade war ich aus dem Büro gekommen. Nun freute ich mich auf den Feierabend auf der Couch daheim. Die Straßenbahn war voll und genauso voll war mein Kopf von der Arbeit. Tausend Gedanken schossen umher und es war als wären meine Gedanken schon längst nicht mehr linear sondern wie kleine Blitze, die hier und da aufleuchteten und das Bewusstsein zum Springen brachten. Als ich mich in der Bahn umschaute, wurde mir bewusst, in welch seltsamer Welt ich mich im Job bewegte. Das hier war das reale Leben: Arme Gestalten mit dunklen, traurigen und abgearbeiteten Gesichtern, sich auf die kleine, schäbbige Wohnung freuend, die sie erwartete – vielleicht mit mehreren Kindern und einer ebenfalls abgearbeiteten Frau, die ihre hart verdienten Euro für das Abendessen zusammengekratzt hatte und schon seit Jahren von einem Urlaub in der Sonne träumte. Gerade in dieser Straßenbahn, die direkt vom Hauptbahnhof abfuhr, sammelten sich solche Menschen. Ich schämte mich kurz für mein doch sehr angenehmes Leben. Meine Gedanken wurden durchbrochen von einer Frau, die etwa mein Alter hatte. Sie saß mir schräg gegenüber und verrollte seltsam die Augen. Sie schien etwas kraftlos und hing eher auf der Bank statt zu sitzen. Ihre Haare waren dünn und fettig und auch insgesamt war sie ungepflegt. Es sah aus, als hätte sie Drogen genommen, sich gerade einen Schuss gesetzt. Sie war auf keinen Fall bei klarem Verstand. Ich schaute kurz um mich, ob auch ein anderer Fahrgast den Zustand der Frau bemerkte, als ihr der kleine Junge neben mir ein Stück Brezel reichte, sie das Stück unbeteiligt in den Mund zum Kauen nahm. Wie konnte das sein, fragte ich mich aufgeregt? War der kleine ca. 6 jährige Junge mit dem wachen und neugierigen Blick etwa ihr Kind? Er schaute aufmerksam aus dem Fenster und aß sein Brezel und wieder – ohne ein Wort zu sagen – reichte er ihr ein Stück. Es zeriss mir das Herz. Am liebsten hätte ich den Kleinen gepackt und mit mir aus der Bahn gezogen. Das schlimmste war, dass er seine Mutter in diesem Zustand zu kennen schien. Ich überlegte, ob ich etwas tun könnte. Könnte ich die Frau ansprechen? Könnte ich den Jungen fragen, ob er Hilfe brauchte? Wen könnte ich informieren? Noch ehe ich zu einem Schluss kam, hielt die Bahn. Die Mutter stand auf, ohne das Kind zu beachten und wankte zum Ausgang der Bahn. Auch der Junge erhob sich und folgte ihr. Sie verließen den Waggon und so lange ich konnte, schaute ich den beiden auf der Straße nach: Sie ging voraus und der Junge schlenderte mit wachem Blick in diese und jene Richtung blickend, hinter ihr her. Sie verschwanden in einem dunklen Haus.

 

2016 © by Evelyn Kremer

evelyn.kremer@gmx.de

 

Siehe auch:

Evelyn Kremer: Die Stubenfliege (noir fiction)

Die Stubenfliege

eine Erzählung von Evelyn Kremer

 

Wie war es möglich, eine Beziehung zu einer Stubenfliege zu entwickeln? Es fing alles ganz anders an, als es sich später entwickelte: Eines Morgens wurde ich von den Sonnenstrahlen und einem lauten Brummen geweckt. „Was für eine fiese Fliege“, dachte ich mir im Halbschlaf. Ich schlug immer wieder wild um mich, bis die Fliege langsam in ein anderes Zimmer brummte. Dann – beim Frühstück – war sie wieder da: Sie setzte sich dick und ungeniert auf meinen Frühstücksteller und brummte mir fröhlich um den Kopf herum. Da ich keine Fliegenklatsche besaß, verzichtete ich auf den erlösenden Schlag, denn außerdem hatte ich es eilig zur Arbeit zu kommen.

Zunächst verschwand die Fliege aus meinem Bewusstsein –  bis zum nächsten Morgen: Wieder weckte mich das unangenehme Brummen und wieder leistete mir die Fliege beim Frühstück Gesellschaft. Zwei Tage später hatte ich mich bereits an das Procedere gewöhnt und irgendwie brachte ich es nicht über das Herz, die Fliege aus dem Leben zu katapultieren. Auch abends schwirrte sie um mich herum – sie tauchte immer wieder plötzlich und an unerwarteten Orten auf.

Eines Morgens erwischte ich mich sogar dabei, die Fliege genauer aus der Nähe zu betrachten: Sie war ziemlich wuchtig und ihre dünnen Füßchen zitterten unter der Last ihres Körpers. Zwei ihrer Füßchen bewegte sie schnell vor dem Kopf und den Augen hin und her, als wenn sie gerade beten oder speisen würde. Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, dass sie auch mich beobachtete… Ich verließ die Wohnung und ließ den Frühstücksteller absichtlich stehen, um ihr eine Freude zu machen. Sicher würde sie sich über die köstlichen Marmeladenreste auf dem Teller hermachen und anschließend gesättigt auf meiner Couch sitzen, sich ausruhen und auf mich warten bis ich abends nach Hause kam.

Wieder verschwand die Fliege bis zum nächsten Tag aus meinen Gedanken: Es war Sonntag und ich saß am gedeckten Frühstückstisch. Ich überlegte, was ich an diesem noch leeren und ruhigen Tag unternehmen könnte. Plötzlich kam mir die Fliege in den Sinn: Wo war sie? Sie hatte mich weder brummend geweckt noch in gewohnter Weise dem Frühstück beigewohnt; Auch hörte ich sie nicht im Wohnzimmer surren. Auch nachdem ich einmal durch die komplette Wohnung gelaufen war, hatte ich sie nicht entdeckt. Meine eigenen Gedanken ermahnten mich streng: „Das ist nicht Dein Ernst, dass Du diesen dicken Brummer vermisst, oder?“.

„Doch“, dachte ich mir! Irgendwie hatte ich zu der Fliege eine Beziehung entwickelt… Sie alerdings war ohnel Abschied verschwunden – ich sah sie nie wieder.

2016 © by Evelyn Kremer

evelyn.kremer@gmx.de

 

 

 

Evelyn Kremer: I Know What It Is To Be Young

 

I Know What It Is To Be Young

eine Erzählung von Evelyn Kremer

 

Wieder hörte ich Schritte in der Wohnung über mir. Es war sieben Uhr dreißig am Morgen und sicher waren die Schritte von der Dame des Pflegedienstes. Sie pflegte den alten Herrn über mir, den ich noch nie gesehen hatte seit ich hier wohnte. Angeblich war er schon seit vierzig Jahren im Haus. Er hatte – so die Erzählung der Nachbarin – zunächst allein mit seiner Frau hier gewohnt; War kurz nach seiner Hochzeit mit ihr eingezogen. Er hatte sehr lange bei den Stadtwerken gearbeitet – wohl sein Leben lang und mit seiner Frau zwei Töchter bekommen. Diese hatten nun eine eigene Familie und lebten schon seit langer Zeit in München. Seine Frau war vor einem Jahr gestorben und er – so hieß es – hatte seitdem stark abgebaut, war inzwischen bettlägerig. Das war alles, was ich von ihm wusste .

Schon öfter hatte ich überlegt, als neue Nachbarin einmal bei ihm zu klingeln und mich vorzustellen, denn schließlich hörte ich ab und an seine Stimme und er sicher auch meine, wenn ich Besuch hatte. Es war irgendwie seltsam, dass ich ihn nie gesehen hatte. Sicher dachte auch er, wie wohl die Nachbarin sei, die nun unter ihm wohnt. Vielleicht erinnerte er sich durch mich an seine jungen Jahre, denn ich hatte oft Besuch, lachte dann viel mit Freunden, hörte laut Musik und hatte auch mein Schlafzimmer direkt unter seinem. Was dachte er über mich? Hatte die alte Nachbarin von gegenüber, die mir von ihm erzählt hatte, ihm auch von mir erzählt? War er überhaupt noch aufnahmefähig? Vielleicht war er ja auch schon dement? Wie sah er wohl aus und was beschäftigte ihn? Welche Erinnerungen hatte er an sein Leben und wie sah unser Haus und die Straße aus, als er jung war?

Würde vielleicht auch ich in vierzig Jahren hier in meinem Bett liegen und eine junge Frau über mir hören? Was würde ich denken und würde auch ich mich durch sie an meine jungen Jahre erinnern? Vielleicht würde auch sie meine Pflegerin hören und umgekehrt durch mich an ihr späteres Leben denken. Auch sie würde mich vielleicht besuchen und fragen wollen, wie es hier im Haus vor vierzig Jahren war und wie die Straße zu dieser Zeit aussah.

Seltsam, dachte ich mir. Ich stand auf und ging zur Arbeit.

Eine Woche darauf erfuhr ich vom Tod des Mannes über mir. Er war ruhig eingeschlafen und die Pflegerin hatte ihn am Morgen entdeckt. Mir wurde mulmig. Er war über mir gestorben. ohne dass ich es gemerkt hatte.

2016 © by Evelyn Kremer

evelyn.kremer@gmx.de

I Know What It Is To Be Young

by

Orson Welles

When we are young age has no meaning
I never gave it a second thought
until one day along came this old man
and this is what he said to me
and this is what he said to me

I know what it is to be young
but you,you don’t know what it is to be old
someday, you’ll be saying the same thing
time takes away so the story is told

I’ve asked so many questions
to the wise men i’ve met
couldn’t find all the answers
no one has as yet.
There’ll be days to remember
full of laughter and tears
after summer, comes winter and so go the years
So my friend..
lets make music together
I’ll play the old while you sing me the new
In time when your young days are over
there’ll be some one sharing their time with you

I know what it is to be young
but you,you don’t know what it is to be old

So my friend..
lets make music together
I’ll play the old while you sing me the new
In time when your young days are over
there’ll be some one sharing their time with you

there’ll be some one sharing their time with you