Siehe auch:

Manfred Dahlmann
„Antideutsch“ ist zunächst ein Etikett, das man Leuten aufgeklebt hat, die immer noch nicht davon lassen können, ihren Mitmenschen mit der ständig wiederholten Frage auf die Nerven zu gehen, wie sie es mit dem kategorischen Imperativ halten, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein ausgebeutetes Wesen ist. Der damit Gemeinte goutiert dieses Etikett, insoweit in ihm treffend zum Ausdruck kommt, daß er sich der herrschenden Geschichtsvergessenheit verweigert, und auf der Erfahrung beharrt, daß die auf der Grundlage eines marktwirtschaftlich verfaßten Kapitals zwar nicht einzulösenden, aber hier doch wenigstens virulent gehaltenen Versprechungen hinsichtlich einer Gesellschaft ohne Zwang dann unwiederbringlich einkassiert werden, wenn es sich in seinen deutschen Formen organisiert. Antideutsch denken und handeln heißt demzufolge, die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen, dessen Subjekte von nichts anderem als von seinen Wohlfahrtsleistungen abhängig sind. Wer in diesem Sinne das Etikett „antideutsch“ nicht auch auf sich bezieht, mißachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland und deutsche Staatsbürger beschränkte, sondern immer schon weltweit grassierende – Deutschen Ideologie, deren historischer Kern darin besteht, daß auf ihr Konto nicht nur „normale“ kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und nicht nur der ihm in seinen Grund eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern fördert das Überleben einer Ideologie, der zudem noch die historisch und empirisch nicht zu leugnende Tatsache eingeschrieben ist, daß die deutsche Fassung der Beziehung von Staat und Gesellschaft die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im besonderen beinahe total verwirklicht hätte. In der Existenz des Staates Israel manifestiert sich der Einspruch gegen den historisch bewiesenen Vernichtungswahn Deutscher Ideologie praktisch und empirisch. Die Haltung diesem Staat gegenüber gibt demnach das entscheidende Kriterium dafür ab, wo genau die Grenzlinie zwischen deutsch und antideutsch zu ziehen ist.
So sehr sich also antideutsche Ideologiekritik historisch begründet – sie verweigert sich dennoch dem typisch linken Ansinnen, sich der Geschichte in der Absicht zuzuwenden, dort Anschluß an eine ihr gemäße politische Bewegung zu finden. Der Antideutsche maßt sich an, auch geschichtliche Prozesse dem Primat der Vernunft zu unterwerfen. Und in dieser Hinsicht weist er das Etikett „antideutsch“ umgehend zurück: Er weiß um die Unvernunft partei- und bewegungspolitischer, das freie Denken verhindernde Programmatik und Theorie. Er verurteilt deshalb entschieden jeden Versuch, die Bezeichnung „antideutsch“ zum Aufbau einer positiven Gruppenidentität zu mißbrauchen – komme er von außen oder von innen. Was aktuell unter dem Label „antideutsch“ firmiert, besteht denn auch aus nichts weiter als einer Gruppe von Einzelpersonen, die allerdings, und das kann und braucht gar nicht verschwiegen zu werden, eine Reihe von Essentials gemeinsam haben.
Dazu gehören neben den schon genannten auch die biografischen Gemeinsamkeiten einiger älterer unter ihnen: Diese verweigerten sich dem Aufgehen der Nach-68er Bewegungen in die Partei der Grünen, nachdem sie theoretisch die Arbeitswertlehre und politisch Stalinismus, Leninismus und Trotzkismus hinter sich gelassen hatten; beharrten auf der Notwendigkeit der Abschaffung von Staat und Geld und Politik und Nation; unterließen den Unfug etwa der RAF, das Parteiprogramm der Grünen mit den Weihen revolutionärer Gewalt zu versehen; fanden es ganz erfreulich, daß zumindest Teile der Linken sich dem Wiedervereinigungstaumel mit der Parole „Nie wieder Deutschland“ widersetzten, ahnten aber wohl damals schon, wohin das führen mußte: Wie seit je, hat auch diese Linke keine praktischen Konsequenzen aus ihren bekundeten guten Absichten gezogen, sondern sich als deutsch erwiesen, d.h. handelte und dachte im Namen eines anderen, angeblich besseren Volksstaates Deutschland. Die Antideutschen mußten auch und gerade dieser Linken schließlich nachweisen, daß der in ihr fortwesende Antizionismus und Antiamerikanismus, ihr Philo-Islamismus nichts anderes sind als moderne Varianten des urdeutschen Antisemitismus. Und den Antinationalen mußten sie recht bald schon begreiflich machen, daß es Unterschiede gibt im Begriff der Nation, aufgrund derer eine gleichrangige Behandlung aller Nationen in der Kritik theoretisch und praktisch völlig fehl am Platze ist.
Der heute so genannte Antideutsche wußte seit je, daß es zwischen Wert-, Staats- und Ideologiekritik nicht die geringsten Unterschiede geben kann; sie sind ein- und dasselbe. Er weiß, daß linke Theoriebildung, spiegelbildlich zur linken Praxis, mit Ausnahme der der Kritischen Theorie, seit den Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin sich auf dem absteigenden Ast befindet. Somit sollte es nicht verwundern, daß in den Essentials antideutscher Kritik, über die Kritische Theorie Adornos, Horkheimers u.a. hinaus, Einflüsse eingegangen sind, die auf Theorien zurückgehen, deren Verfasser, wie etwa Siegmund Freud und Hannah Arendt, kaum dieser Linken je zuzurechnen waren. Selbst erzreaktionäre Apologeten des deutschen Weges, man denke an Carl Schmitt, tragen, wo es um die Reflexion der wirklichen Prozesse kapitalistischer Reproduktion geht, weit mehr zu deren Erkenntnis bei, als jede explizit linke Theorie seit Marx. Einig ist man sich unter Antideutschen weiterhin, daß der Heideggerianismus jeder Spielart, mit Ausnahme vielleicht gewisser Momente bei Sartre, schonungslos der Kritik unterliegt – auch wenn dieses Denken, etwa im Poststrukturalismus, als scheinbar ungefährliche Modeerscheinung nur unter Akademikern Verbreitung gefunden hat. Er ist in all seinen Schattierungen die philosophische Grundlage Deutscher Ideologie.
Der Antideutsche ist per definitionem im kulturellen und akademischen Betrieb ebensowenig anschlußfähig wie im politischen – worauf er sich keinesfalls etwas einbildet, sondern was er zutiefst bedauert. Aber er besteht darauf, daß Kritik nur dann etwas gilt, wenn sie nichts weiterem verpflichtet ist als der Vernunft. Er nimmt in den zur Debatte stehenden Angelegenheiten deshalb unter Einsatz seiner ganzen Person Partei, verzichtet also auf den Habitus des angeblich über den Dingen stehenden, Vor- und Nachteile säuberlich sortierenden Experten von vornherein, in der Hoffnung, daß die Wirklichkeit ihm und seinen Befürchtungen doch noch Unrecht gibt. Er läßt es den Theoretikern nicht durchgehen, wenn ihre Denkgebäude darauf hinauslaufen, die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern zu verdrehen oder auch nur zu verwischen, und sie die Verantwortlichkeit des Subjekts für die herrschenden Zustände in eine angeblich historische, ökonomische systemtheoretische-strukturale oder auch nur anthropologische Gesetzmäßigkeit verschwinden lassen. Er ist von Natur aus negativ – was in einer Gesellschaft, die auf positives Denken geeicht ist, kaum auf Gegenliebe stoßen kann. Die Vorwürfe, einen absoluten Wahrheitsanspruch zu vertreten, arrogant im Auftreten zu sein, also sich um das „Vermittlungsproblem“ nicht zu kümmern, sind ihm so gewiß, wie ansonsten nur noch gewiß ist, daß das Geschwafel akademisch geführter Diskurse für die Emanzipation des Menschen aus unwürdigen Verhältnissen folgenlos ist.
Der Antideutsche ist sich nicht zu schade, waschechten Konservativen auch einmal recht zu geben, wenn diese sich, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen sehen, das Richtige zu tun, das heißt, wenn sie die Deutsche Ideologie bekämpfen und die Existenz Israels sichern. Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, daß es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im allgemeinen aus sehr triftigen, weil antideutschen Gründen begrüßt und würdigt (und kritisiert, wenn dieser nicht entschieden genug geführt wird). Er tut dies schließlich auch aus ureigenstem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke auch – nur gibt der das nie offen zu –, daß sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, daß die Deutsche Ideologie und deren Praxis nicht doch noch über die liberale den Sieg davon trägt.
In all dem macht er den Staatsfetischismus selbstredend nicht mit, der die verschiedensten Volksfrontstrategien und Bündnispolitiken dieser Linken bisher umgetrieben hat: nämlich den Kampf für Kommunismus aufzuschieben, um sich „zunächst“ der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte zu verschreiben (als ob die nicht seit über zweihundert Jahren längst genau in der einzigen Form in den kapitalistischen Kernstaaten durchgesetzt sind, in der sie sich auf der Grundlage des Kapitals überhaupt verwirklichen lassen). Vom Recht, und damit vom Staat, zu verlangen, eine gerechte Gesellschaft herzustellen, ist und bleibt grober Unfug – weder Staat noch Recht lassen sich je als Instrumente zur Herstellung herrschaftsfreier Verhältnisse verwenden. Die aktuell z.B. in Frankreich zu beobachtenden Folgen der Antidiskriminierungsgesetze zeigen im übrigen zum historisch wer weiß wievielten Mal, wohin dieser Staatsfetischismus führt: nämlich dazu, daß die Subjekte sich nicht als freie und gleiche, in Konkurrenz zueinander stehende Staatsbürger verstehen, sondern als Mitglieder einer schützenswerten kulturellen Gemeinschaft, also sich begreifen als angeblich verfolgte „deutsche“ Minderheit. Unter den Bedingungen allgemein durchgesetzten bürgerlichen Rechts gehört die Bekämpfung der in der kapitalistischen Gesellschaft mit Notwendigkeit fortwesenden Diskriminierung nicht in das Gesetzbuch geschrieben, sondern sie hat dort zu erfolgen, wo diese unter den Bedingungen formal gleicher und freier Rechtsverhältnisse allein noch stattfindet: in den politischen und privaten gesellschaftlichen Beziehungen; und sie hat sich dort vor allem auch gegen die völkischen, religiösen und rassistischen Selbstzuschreibungen der Subjekte zu richten. Die Verteidigung der von der Aufklärung erzwungenen Trennung in einen die Bedingungen funktionierender Kapitalreproduktion rechtlich absichernden Staat, der die für jeden Staatsbürger gleich geltenden Rechte und Pflichten, jenseits ihrer tatsächlichen Unterschiede, organisiert, und einer Gesellschaft, in der diese Unterschiede ausgetragen werden können und sollen, ist deshalb das Essential antideutscher Kritik, weil diese institutionelle Trennung eine der wenigen Sicherungen gegen die deutsche Aufhebung des Kapitals auf dessen eigener Grundlage darstellt, die bis genau zu dem Zeitpunkt nicht durchbrennen darf, bis der Kommunismus die Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen haben wird – ganz abgesehen davon, daß der Kritik nur so der politische Raum für ihre Agitation zur Verfügung steht.
Der Antideutsche weiß somit gar nicht so recht, ob der Kommunismus heute noch „links“ daher kommen kann oder auch nur sollte. Dies ist eine der vielen offenen Fragen, über die weiterhin zu streiten sein wird. Keinen Streit aber kann es darum geben, daß es unabdingbar zur Vernunft gehört, der exstierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus, der sich historisch begründet und an den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen orientiert, zu begegnen; einer Pragmatik somit, die die Verarbeitung neuer Erfahrungen ermöglicht und die vollkommen anders geartet ist als die, über die sich linke Politik in ihrer Praxisversessenheit geradezu definiert: nämlich aus ideologischer Borniertheit immer wieder dasselbe vollkommen Verkehrte zu tun, und dies dann noch als Fortschritt auf dem Weg in den Sozialismus zu verkaufen.
Der antideutsche Kritiker lehnt es aus all diesen Gründen ab, konstruktiv zu sein; er will entschieden das Gegenteil, er zielt auf die Destruktion der tief in Kopf und Gefühl verankerten Fetische von Staat, Geld, Nation und Kultur – unter pragmatischer Berücksichtigung der historisch bedingten Unterschiede und Machtverschiebungen. Er führt dabei jedoch nie einen Dialog mit Leuten, die sich nicht von Grund auf von denjenigen distanzieren, die Juden oder, was dasselbe ist, den Zionismus für ihr und anderer Leute Unglück verantwortlich machen. Er denunziert desgleichen jede Verhandlungsbereitschaft denen gegenüber, die, bevor sie sich als Staatsbürger und Marktsubjekte definiert haben, als Angehörige einer Religions- oder Volksgemeinschaft anerkannt werden wollen. Da jede Fetischkritik aggressive Abwehr erzeugt, muß der Antideutsche, ob er will oder nicht, provozieren. Nicht also provoziert er um der Provokation willen, wie ihm dauernd unterstellt wird, sondern weil er dem Kritisierten den Spiegel vorhält, der dessen Denken und Handeln als fremdbestimmt und somit nicht als Resultat eigener Reflexion ausweist. Er macht dabei vor keiner Person halt: der Arbeiter wie der Arbeitslose unterliegen schließlich denselben Verblendungen wie der Kapitalist – und das erst recht. Der Antideutsche hat also dem altlinken Wahn abgeschworen, als sei es die vom Kapital mit Notwendigkeit herbeigeführte Pauperisierung der Massen, ihre Verüberflüssigung für das Kapital, die sie für vernunftgemäßes Handeln prädestiniere. Das genaue Gegenteil ist der Fall: diese Massen laufen zur Deutschen Ideologie über, wenn Politik und Staat ihnen diesen Weg nicht versperren. So wie die rechten Populisten ihnen auf diesem Weg vorweg laufen, so laufen die linken Apologeten dieser Massen, von den No Globals bis hin zu den alten und neuen Sozialdemokraten, ihnen hinterher. Der Kommunismus hingegen baut weiterhin auf nichts anderem auf als der bewußten Tat der Einzelnen, die es verabscheuen, ein gutes Leben nur führen zu können, wenn die meisten Menschen unter dem Zwang zur Arbeit ein menschenunwürdiges Dasein fristen müssen. Oder er wird gar nie sein.
http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/dahlmann-antideutsch.html

Initiative Sozialistisches Forum
Was man in Deutschland Aufarbeitung, oder unfreiwillig treffender, Bewältigung der Vergangenheit nennt, bildet das Zentrum des staatsbürgerlichen Bewusstseins der Eliten im Postnazismus. Man muss Eberhard Jäckel beinahe dankbar sein für seinen stolzen Ausspruch, andere Länder würden Deutschland um das Holocaust-Mahnmal beneiden. Während man goldene Steine vor die Häuser setzt, in denen die Opfer der Nazis lebten, um ihnen nachträglich Vor- und Zunamen zurückzugeben und sie als Staatsbürger post mortem, symbolisch und ohne Folgen anzuerkennen, weil Tote keine Forderungen stellen können, bleiben ihre überlebenden Mörder auch in der deutschen Gedenkkultur in geschützter Anonymität. Es scheint in Deutschland überall Opfer der Nazis gegeben zu haben, aber keine Täter.
Als könnte Mord nur nach Einreichung einer Klage verfolgt werden, gab es gegen die Täter bis Ende der 50er Jahre nur in Ausnahmefällen strafrechtliche Verfahren und da es bis zur Einrichtung der zentralen Ermittlungsstelle in Ludwigsburg keine systematische Sammlung von Beweisen gegen NS-Täter gab, endeten diese Verfahren weit überdurchschnittlich mit Freisprüchen. Erst in den ’60er Jahren folgten Prozesse zunächst gegen die Wachmannschaften kleinerer Lager, dann, angestrengt durch Fritz Bauer, selbst Verfolgter der Nazis, der Frankfurter Auschwitzprozess. Der BGH jedoch lehnte Bauers Argumentation, die Vernichtung in Auschwitz als einheitliche Tat, und damit jeden Beteiligten als Mittäter zu verurteilen, ab; während im Auschwitzprozess die nachgewiesene Beteiligung etwa bei der Selektion an der Rampe noch für eine Verurteilung genügte, wurden danach nur dann Täter verurteilt, wenn man ihnen konkrete exzessive Einzeltaten nachweisen konnte. Wer bei seiner Beteiligung an der Vernichtung anständig geblieben war, hatte nichts zu befürchten. [ 1 ]
Zum Gründungsmythos der Zivilgesellschaft im postnazistischen Deutschland wurde die Aufspaltung in anständige und exzessive Judenmörder. Doch die anständigen Antisemiten bedürfen der exzessiven, wenn die deutsche Zivilgesellschaft zuletzt Appelle gegen zunehmenden Judenhass verfasste. Sie dienen nicht dazu, die Täter zu denunzieren und gesellschaftlich zu bekämpfen, die diesmal nicht wie sonst aus der Neonazi-Szene, sondern aus dem Islamismus kommen. Als anlässlich des Gazakrieges im Sommer 2014 in ganz Europa größtenteils islamische Jugendliche “Kindermörder Israel”, “Hamas, Hamas, Juden ins Gas” und “Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein” riefen und auf israelsolidarische Gegendemonstranten losgingen, oft ungestört von der Polizei, die ihnen z.B. in Frankfurt noch einen Lautsprecherwagen zur Verfügung stellte, in einigen Städten gefolgt von Brandanschlägen auf Synagogen und einer Welle von antisemitischen Drohbriefen an jüdische Organisationen, mussten zwar erst die offiziellen Vertretungen der deutschen Juden die Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass man es hier mit Antisemitismus zu tun habe, bis sich dann aber auch weite Teile aus Zivilgesellschaft und Politik bereit erklärten, wie es im Jargon heißt “ein Zeichen” zu setzen gegen Judenhass.
In Nürnberg wurde beispielsweise im Anschluss an eine Demonstration gegen den Gaza-Krieg der Burgerking im Hauptbahnhof von einer “Kindermörder Israel” grölenden Meute gestürmt; als dann noch die israelitische Kultusgemeinde auf eine Welle von Hassbriefen und auf Schmähungen jüdischer Kinder in der Schule aufmerksam machte, riefen vom Oberbürgermeister und den Stadtratsfraktionen, über die Gewerkschaften und Handelskammer, sogar der FC Nürnberg und freilich die christlichen Kirchen, nicht zu vergessen die “muslimische Begegnungsstätte Medina e.V.” dazu auf, gegen Judenhass zu demonstrieren. Dies tat man nicht nur mit Israelfahnen, sondern in trauter Eintracht mit Schildern, die zur “Solidarität mit der israelischen Friedensbewegung” aufriefen, mit “Stoppt die Aggression gegen Gaza” und “Free Gaza – Stoppt den Massenmord Israels”. Es war und ist kein Widerspruch, sondern der ambivalente Kern des deutschen Selbstverständnisses, sich gegen “Judenhass” und für das “Existenzrecht Israels” zu bekennen und zugleich – anständig – Israel zu delegitimieren. Nachdem sich im Sommer 2010 der Linkspartei angehörige Mitglieder des deutschen Bundestags an einer paramilitärischen Aktion gegen Israel – der sogenannten Gaza-Hilfsflotte – beteiligt hatten, verabschiedete der deutsche Bundestag einstimmig eine Resolution, die Israel seine Sicherheitsinteressen diktieren sollte, einschließlich des irren Aufrufs, “die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen”. Gegen die deutschen Partisanen aus dem Bundestag ging man weder politisch, noch gesellschaftlich noch juristisch vor, sondern distanzierte sich höflich und erhöhte den Druck auf Israel. Der anständige Antisemit bestätigt den Israelis ihr legitimes Sicherheitsinteresse, das er aber sogleich israelkritisch delegitimiert, wenn die israelische Armee es aktiv verteidigt und gefährdet, indem er die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit dem Iran weiterführt.
Den israelkritischen Politikern kann man sowenig wie ihren Adjutanten im Medienunwesen zugute halten, sie wüssten nicht, was sie tun. Selbst in der Süddeutschen Zeitung erschien ein Artikel der thematisierte, dass die Hamas Schulen und Krankenhäuser für Waffenverstecke nutzt, um anschließend die Fotos zerstörter ziviler Ziele zum Propagandakrieg gegen Israel einzusetzen. Wie anders, denn als Unterstützung dieses Propagandakrieges soll man deuten, wenn nur ausnahmsweise deutsche Zeitungen darauf verzichten, Fotos von Ruinen mit drapiertem Kinderspielzeug oder Rollstühlen abzudrucken? Während der Abdruck solcher Bilder für den Nahen Osten zur Folge hat, dass das zynische Kalkül der Hamas aufgeht, aktualisiert er hierzulande als Reiz-Reaktionsschema die israelkritischen Ressentiments.
Als stets kritische Avantgarde gegen Banken, Amerikanismus und Israel treten die selbsternannten “Kulturschaffenden” mit einem “offenen Brief an die Bundesregierung” auf, der von über 500 Theatermachern, Schriftstellern, Schauspielern und Akademikern unterzeichnet wurde. “Wenn die israelische Armee zum wiederholten Male in einer Großoffensive die Bevölkerung Gazas angreift und für den Tod und unendliches Elend tausender Menschen die Hauptverantwortung trägt, so geschieht dies auch mithilfe einer engen deutsch-israelischen militärischen, politischen und kulturellen Zusammenarbeit. Als Kulturschaffende in Deutschland können wir dazu nicht schweigen.” [ 2 ] Dass deutsche “Kulturschaffende” nicht schweigen können, weil sie ihre Gesinnung permanent vermarkten müssen, ist die eine Sache; dass sie zum Elend in Gaza nicht schweigen könnten, wie sie es sonst in der Regel tun, wenn keine Juden oder Amerikaner verantwortlich gemacht werden können, ist natürlich glatt gelogen. Insbesondere die holprige und merkwürdige Behauptung, der Angriff auf Gaza geschähe “mithilfe” der “kulturellen Zusammenarbeit” zwischen Israel und Deutschland verrät, dass hier eigentlich ein etwas verbrämter Aufruf zum Boykott israelischer Kultur vorliegt. Besonderes Gewicht sollte dem offenen Brief wohl dadurch zukommen, dass er nur von Kulturschaffenden unterzeichnet werden durfte, um sicherzustellen, dass ihr “Kauft nicht beim Juden” nicht als Aufruf eines antisemitischen Pöbels, sondern intellektueller und kultivierter Israelkritik daherkommt.
Dabei sind die judenhassenden Jungmänner und -frauen, die zuletzt ihre Gewaltbereitschaft herausbrüllten, auch nicht einfach aus dem gar nicht so fremden Orient herübergekommen, in dem Juden schon lange nicht besonders geschätzt werden, sondern bei der deutschen Zivilgesellschaft in die Schule gegangen. Die exzessiven Antisemiten von heute brüllen “Kindermörder Israel”, während die anständigen von der Taz (30.07.14) eine Karikatur drucken, in der eine ausgebombte Schule mit palästinensischer Fahne, auf deren Trümmern eine Gruppe Kinder steht, von einem israelischen Panzer ins Visier genommen wird, dessen Sprechblase deklariert, es gebe Zweitklässler und Menschen zweiter Klasse.
Sich vom judenhassenden Pöbel, der zweifelsohne eine Gefahr für die in Deutschland lebenden Juden darstellt, abzugrenzen, ist eine leichte Übung; sie sind nützliche Idioten, gut genug, dass die Antisemiten auch gegen Judenhass ihre Stimme erheben können. Wer aber demonstriert gegen die antisemitischen “Kulturschaffenden”, die als Avantgarde einer selbstgerechten Zivilgesellschaft fungieren, die ihren Judenhass als solchen nicht unsublimiert zulassen? Die ihren Antisemitismus gar nicht mal hasserfüllt, sondern lieber als ästhetisches Wohlgefallen mit Sekt und Brezeln gemeinschaftsbildend im Theater genießt. Und mit leichtem Gruseln und mehr gespielter als echter Empörung bei der Lektüre der neuesten News aus Gaza sich mit den “Kindermörder”-Brüllaffen in der Sache einig weiß, den sie zugleich aber wie den Fußballfan für den emotionalen Ausbruch – und nicht dessen antisemitischen Gehalt – verachtet. Was dem Brüllaffen die Pogromstimmung, ist der Zivilgesellschaft das Gelächter – beides aggressive Triebabfuhr – und es genügt ein einziger Blick ins deutsche Kabarett um zu wissen, dass kein Blatt zwischen den Pro-Gaza-Demonstranten und den gewöhnlichen Bundesbürger mit staatsbürgerlichen Bewusstsein, sprich kritischem Anspruch passt.
Auf der bereits erwähnten Nürnberger Demonstration des islamistischen Milieus gegen den Gaza-Krieg klangen die Reden wie aus der Kommentarspalte einer beliebigen deutschen Zeitung: “Das Misstrauen ist groß auf beiden Seiten, umso mehr bräuchte es in dieser Stunde Diplomaten, die eine Annäherung zwischen den Konfliktparteien schaffen. Die traditionellen Vermittler haben wenig Lust und die ganze Welt schaut zu, bzw. weg, wie Zivilisten, unter anderem viele Kinder, ermordet werden. […] Ein Teil der Hamas hat in den letzten Tagen selbstgebastelte Raketen auf das israelische Staatsgebiet abgefeuert, die größtenteils vom israelischen Abwehrsystem […] abgefangen wurden. […] Auf israelischer Seite gibt es bislang zwei Todesopfer. Auch diese sind zuviel. Aber kann man unter diesem Gesichtspunkt noch über Verteidigung sprechen?”
Auch der wütende Sturm auf Burgerking und Hauptbahnhof war keine originäre Idee der Islamisten, sondern die Wiederholung einer Aktion von 2003, als aus einer Schülerdemonstration gegen den Irakkrieg heraus ebenfalls Burgerking und Bahnhof besetzt wurden. Damals wollte niemand – etwa gegen Antiamerikanismus – aufstehen, bestand der Mob doch aus den eigenen Kindern, die in konformistischer Enthemmung nur symbolisch die Wut auf die Straße trugen, die der amerikakritische Vater bei öffentlich-rechtlichen Kabarettsendungen herauslachte.
Die Wirkung die das damalige Bündnis aus Mob und Regierung und die damalige Berichterstattung über den elften September, die zweite Intifada und den Irakkrieg auf eben jenes Milieu hatte, deren Angehörige zuletzt nach dem Vorbild holländischer Fußballfans “Hamas, Hamas, Juden ins Gas” [ 3 ] riefen, oder sich freiwillig zum Kämpfen nach Syrien absetzten, lässt sich kaum überschätzen. Die meisten der Pro-Gaza Demonstranten sind Jugendliche und junge Erwachsene, die als Kinder die von Politik, Medien und Zivilgesellschaft angefachte Massenhysterie angesichts des Irakkrieges erlebt haben – nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule, wo ihnen Lehrer vom großen Weltenbrand erzählten, der damit entfacht worden sei und an dem manche von ihnen heute in Syrien und im Irak teilnehmen. Für eine ganze von Michael Moore und Gerhard Schröder verdorbene Generation begann politisches Urteilen mit der Verachtung für den Westen, womit Israel und die USA gemeint waren.
Der Islamismus ist wenigstens in Europa kaum etwas anderes als die konsequenteste Form jener Verachtung für die USA und Israel, die den Konsens aus europäischer Politik, Zivilgesellschaft und Kulturschaffenden bestimmt. Laut einem Artikel der FAS über eine Beratungshotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für Eltern, die eine islamistische Radikalisierung ihrer Kinder befürchten, haben mehr als zwei Drittel der Eltern, die die Hotline in Anspruch nehmen, gar keinen Migrationshintergrund. [ 4 ]
Antisemitismus und Antiamerikanismus waren nie nur explizit weltpolitische Einstellungen, sondern im schlimmsten Sinne ganzheitliche Denkformen, die auch das scheinbar Privateste umgreifen. Darin sind sie den Anforderungen des postmodernen Arbeitslebens genauso verwandt, wie der Ökoideologie, die aus Gesinnung das Essverhalten reguliert.
Der sexuelle Reinheitswahn des modernen Islamismus tritt dabei dem Antisemitismus nicht äußerlich hinzu, sondern ist nur dessen sexualpolitisches Pendant. Obgleich objektiv frauenfeindlich, fällt der vergleichsweise hohe Frauenanteil auf islamistischen Demonstrationen auf. Die Anziehungskraft religiöser Regelungsvorschriften dürfte sich dabei für Männer wie Frauen weniger aus alten religiösen Texten speisen, als aus dem Umstand, dass er scheinbar eine Alternative zu den Schattenseiten “westlicher” Sexualität, d.h. Konkurrenz auf dem Markt der Sexualpartner, darstellt. In einem zufällig mitgehörten Gespräch zweier Islamwissenschaftlerinnen erklärte die eine, die vor kurzem zum Islam konvertiert war und ihre Kommilitonin höchst pragmatisch anwarb, dass sie nun in dieser Gemeinschaft leicht einen Mann gefunden habe, der sich ihr dann auch gleich für das ganze Leben versprach und sie sich darüberhinaus dank Kopftuch sowohl vor abschätzigen Blicken ebenso schützen könne, wie sie auch der unangenehmen omnipräsenten sexuellen Konkurrenz endlich entronnen sei. Von islamischer Theologie habe sie bislang zwar noch keine Ahnung, wolle das aber mit dem Studium jetzt, nach ihrer Konversion, nachholen.
Wie weit das grundsätzliche Unbehagen an der gegenwärtigen sexuellen Situation in die Zivilgesellschaft hineinreicht, lässt sich an der Partei- und Presselandschaft übergreifenden Reinheitskampagne gegen Prostitution ablesen, an der jeder Mullah seine Freude hätte, die die Prostituierten und Freier stellvertretend für die geschlechtliche Konkurrenz und zugleich dafür, dass sie sich dieser vermeintlich entziehen, büßen lassen will. [ 5 ] Wie die Zivilgesellschaft die sexuelle Konkurrenz zugleich affirmiert, verdrängt und an den Prostituierten verfolgt, so affirmiert [ 6 ] und verdrängt sie auch die politische Konkurrenz zwischen den Staaten und verfolgt sie an Israel. Der postmoderne Islamismus geht jeweils einen entscheidenden Schritt weiter und tendiert dazu, sie gleich ganz still zu stellen: Als Regelung noch kleinster Details im Verkehr der Geschlechter oder politisch als weltumspannendes oder wenigstens nach Außen hermetisch abgeschlossenes und nach Innen von Gegensätzen bereinigtes Kalifat.#
Anmerkungen
[ 1 ] Erst 2011 wurde mit Demjanjuk wieder ein SS-Mann alleine wegen seiner Mitgliedschaft in einer Wachmannschaft verurteilt, als die meisten Täter schon tot und Deutschland schon als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister feststand.
[ 2 ] http://www.gazaopenletter.de
[ 3 ] Lange Zeit pflegten gegnerische Fans den als jüdischen Club geltenden Ajax Amsterdam mit dieser Parole zu schmähen.
[ 4 ] FAS vom 14.09.2014.
[ 5 ] Dass Frauen in der Prostitution “zur Ware” gemacht würden, ist nach gängigem Sprachgebrauch der wesentliche moralische Vorwurf gegen die Prostitution. Logisch kann daraus nur folgen, dass die Prostituierten entweder alle gezwungen wurden, sich zur Ware zu machen, was etwa Alice Schwarzer behauptet, die Prostitution mit Sklaverei identifiziert, oder aber, dass sich diese Frauen freiwillig “zur Ware” gemacht haben. Genau damit aber personifizieren sie geradezu die allgemeine Konkurrenz auf dem Markt um Sexualpartner, der sie sich gleichsam zu entziehen scheinen. Den Freiern wiederum nimmt man vor allem übel, dass sie sich für Geld holen, wofür sich andere in eben jener Konkurrenz mühsam durchsetzen müssen.
[ 6 ] Praktisch affirmiert sie die Konkurrenz zwischen den Staaten natürlich immer dann, wenn sie anderen Staaten mores lehren möchte. Dass sie dabei freilich auch eine Position innerhalb der konkurrierenden Mächte einnimmt, wird in Deutschland immer dadurch verdrängt, dass man die eigene Position als Völkerrecht ausgibt.
http://www.ca-ira.net/isf/jourfixe/jf-2014-2_volksfront.html

Von Brendan O’Neill
Zionismus ist eine beliebte Vokabel im politischen Kampf. Es gilt als fortschrittlich, Abscheu vor Zionisten zu äußern. Ein differenzierter Blick auf die Geschichte von Zionismus und Antizionismus hilft bei der Einordnung. Bei beidem hat auch der Westen eine problematische Rolle gespielt.
Israelkritiker behaupten oft, dass man Antizionist sein kann, ohne Antisemit zu sein. Sie haben Recht. Eine Ideologie zu kritisieren, ist nicht dasselbe wie den Hass gegenüber einer Menschengruppe zu artikulieren. Aber während Widerspruch gegen Zionismus völlig legitim ist, lautet die interessante Frage, was die Politik des Antizionismus heute motiviert. Kritik am „zionistischen Staat“ Israel ist weit verbreitet, nicht nur in arabischen Regimen, sondern auch in den besseren Kreisen in Europa. Und die Sprache, mit der man den Zionismus angeprangert, wird heftiger.
Der australische Autor John Pilger nennt den Zionismus „eine expansionistische, gesetzeswidrige und rassistische Ideologie“. Andere sagen, der Zionismus sei anderen „rassistischen Ideologien, wie Nazismus und Apartheid“ ähnlich. In ganz Europa fordern viele Studentenvertretungen an Universitäten und linksradikale Gruppen, keine „Plattform für Zionisten“ zu bieten, und zwar auf der Basis, dass sie „rassistisch“, „kolonialistisch“ und sogar „faschistisch“ seien.
Die unermüdliche Konzentration auf den Zionismus als die angeblich widerlichste Form des Kolonialismus und die widerlichste rassistische Ideologie in der Welt geht so weit, dass Antizionisten oft westliche Regierungen heranziehen – die Erfinder des modernen Kolonialismus –, um den Zionisten eine Lektion zu erteilen. Anti-Israel-Aktivisten fordern US-Präsident Barack Obama auf, die Zionisten „unter Kontrolle“ zu kriegen. In Großbritannien haben radikale Linke sich an die Regierung gewandt, um den israelischen Botschafter wegen der Verbrechen seines Heimatlandes aus dem Land zu weisen. Das heißt, dass sogar die britischen Machthaber, die in den Irak und in Afghanistan einmarschiert sind und als erste den Zionismus für „perfide“ kolonialistische Zwecke genutzt hatten, als weniger schlimm gelten als die bösen Zionisten.
Die Botschaft ist klar: Zionismus ist anders. Er ist böse. Er ist nicht tolerierbar. Es liegt kaum etwas Fortschrittliches in der derzeitigen Mehrheitspolitik des Antizionismus. Er wird von doppelten Standards getrieben. Er ist von mangelndem Wissen über die Vergangenheit und von politischer Richtungslosigkeit in der Gegenwart gestützt. Zionismus ist in europäischen Debatten über internationale Angelegenheiten zum Staatsfeind Nummer eins avanciert, weil er als explizitester Ausdruck dessen angesehen wird, was heute als überholt gilt: Nationalismus, Souveränität und die Vorstellung eines homogenen Volkes mit gemeinsamer Vergangenheit und gemeinsamem Schicksal. Außerdem bietet die Forderung radikaler Antizionisten, dass westliche Regierungen die Verbrechen des Zionismus in Angriff nehmen, europäischen Führern eine fantastische Gelegenheit: Sich gegen die Übel des Zionismus zu positionieren, erlaubt den zynischen Staatschefs Europas, sich von ihrer eigenen kolonialistischen und rassistischen Vergangenheit und Gegenwart reinzuwaschen und sich selbst als erhaben und weltgewandt darzustellen, als Wächter der internationalen Moral.
Dieser Text ist zuerst in der aktuellen NovoArgumente-Printausgabe (Nr. 118- II/2014) erschienen. Anmerkungen mit Fussnoten finden Interessierte hier.
Brendan O´Neill ist Chefredakteur des britischen Magzins Spiked. Dort ist das englischsprachige Original zuerst unter dem Titel „The Truth about Zionism“ erschienen.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/neue_serie_die_wahrheit_ueber_den_zionismus_1
Von Brendan O’Neill
Die Behauptung, Zionismus sei eine „rassistische Ideologie“, ist krude. Sie basiert auf dem Unvermögen, zwischen Zionismus in der Theorie und dem in der Praxis zu unterscheiden. Während Zionismus in der Praxis – gerade der vom Ende des Zweiten Weltkriegs zur unübersichtlicheren Gegenwart – ohne Frage zur Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern und der Kolonisierung Palästinas geführt hat, ist der Zionismus in der Theorie nur eine nationalistische Ideologie, wenn auch eine merkwürdige. Und wie andere nationalistische Ideologien ist er separatistisch und, ja, reaktionär – aber nicht mehr als viele andere moderne Bewegungen zur Schaffung eines Heimatstaats.
Kritiker wie Unterstützer Israels machen sich schuldig, hinsichtlich der Ursprünge und der Bedeutung des Zionismus historischen Analphabetismus zu verbreiten. Manche Anti-Israel-Aktivisten betrachten den Zionismus in stark vereinfachenden Begriffen als eine weitere Nazi-Ideologie. Unterdessen stellen Israel-Unterstützer den Zionismus als uraltes Bekenntnis dar, das sich von der Bibel herleitet, als rechtmäßige Erfüllung eines 2000 Jahre alten Traums, für Juden ein Heimatland auf dem Gebiet des historischen Palästina zu errichten. Tatsächlich ist der Zionismus eine moderne Bewegung, nicht von biblischen Träumen zusammengehalten, sondern von dem verzweifelten Wunsch, den Folgen des Antisemitismus in der dekadenten kapitalistischen Gesellschaft zu entkommen.
Theodor Herzl (1860–1904) gilt manchen als der „Vater des modernen politischen Zionismus“ . Der in Ungarn geborene jüdische Journalist schrieb 1896 „Der Judenstaat.“ Dabei handelte es sich um ein feuriges politisches Traktat, das als Antwort auf einen plötzlichen Aufschwung des Antisemitismus in Europa argumentierte, dass die Juden sich niemals vollkommen in die Mehrheitsgesellschaft assimilieren könnten und deshalb ihren eigenen Sonderstaat gründen müssten, um überleben und gedeihen zu können. Herzl und andere neuzionistische Denker – die namhaftesten unter ihnen Moses Hess und Max Nordau – übernahmen die Führung der frühen zionistischen Bewegung am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts und wollten Unterstützung für ihren Gedanken gewinnen, Juden von Nichtjuden zu trennen.
Wie Nathan Weinstock in seinem Buch „Zionism: False Messiah“ (1979) (deutsch etwa: Zionismus: Falscher Messias) darlegt, war der frühe Zionismus eine Lehre mit der „Unvereinbarkeit von Juden und Nichtjuden“ als Ausgangspunkt, die die „massive Auswanderung in ein unterentwickeltes Land mit dem Ziel, einen jüdischen Staat aufzubauen“, befürwortete. Diese neue Bewegung führte zwar alte jüdische Vorstellungen von einer „Rückkehr nach Zion“ und in das „Heilige Land“ in Palästina an, Vorstellungen, die bis zum späten 19. Jahrhundert eher religiöse Sentimentalitäten oder Beschwörungen darstellten, weniger maßgebliche politische Ziele. Tatsächlich war der Zionismus eine sehr moderne Bewegung, die Weinstock zufolge angesichts offener und hasserfüllter Formen des Antisemitismus im Europa der Jahrhundertwende gegründet wurde. Er schreibt: „Jüdischer Nationalismus, vor allem seine zionistische Variante, war ein komplett neues Konzept, geboren aus dem soziopolitischen Kontext Osteuropas im 19. Jahrhundert“.
In „Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung“ (zuerst 1946 auf Französisch erschienen), dem wahrscheinlich besten Text des 20. Jahrhunderts über das Dilemma der Juden, hat Abraham Léon in ähnlicher Weise die moderne, reaktive Natur des politischen Zionismus analysiert. Diese Bewegung wurde „geboren im Widerschein zweier Ereignisse […]: der russischen Pogrome des Jahres 1882 und der Dreyfus-Affäre [ein antisemitischer politischer Skandal im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts]“, schreibt Léon, Geschehnisse, „die Ende des 19. Jahrhunderts die zunehmende Verschärfung des jüdischen Problems widerspiegelten“.
Sowohl in West- als auch in Osteuropa hat sich Léon zufolge die unvorhersehbare und regelmäßig zerstörerische Natur der kapitalistischen Entwicklung besonders schwer auf die jüdischen Gemeinschaften ausgewirkt. In Russland machte „die schnelle Kapitalisierung der russischen Wirtschaft nach der Reform von 1863 […] die Situation der jüdischen Massen in den Kleinstädten unerträglich [die sich ihren Lebensunterhalt auf feudalistische Weise verdienten]“. Und in Westeuropa „begannen die Mittelklassen, von der kapitalistischen Konzentration zerrieben, sich gegen das jüdische Element zu wenden, dessen Konkurrenz ihre Situation verschärft“. Das folgende Aufkommen antisemitischer Pogrome im Osten und die Zunahme antisemitischer Stimmungen im Westen formten laut Léon die Bedingungen für das Entstehen des Zionismus – eine Bewegung, die „beansprucht […], [ihren] Ursprung in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit zu haben“, die aber tatsächlich „eine Reaktion gegen die für die Juden so verhängnisvolle Verknüpfung feudalistischer und kapitalistischer Auflösungstendenzen ist.“
Der politische Zionismus blieb aber unter den europäischen Juden des frühen 20. Jahrhunderts eine ziemlich marginale Bewegung. Ihm wurde von zwei anderen Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften entgegengewirkt: Assimilierte der Mittelklasse, die noch daran glaubten, dass sie in der kapitalistischen Massengesellschaft ihr Glück machen könnten, und, viel wichtiger, eine wachsende sozialistische Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse, die auch die Juden der Arbeiterklasse einschloss.
Viele Sozialisten des frühen 20. Jahrhunderts – sowohl Nichtjuden als auch Juden – sprachen sich gegen Antisemitismus wie Zionismus aus. Sie beschrieben den Antisemitismus, in den Worten des deutschen Sozialisten August Bebel, als den „Sozialismus der dummen Kerls“, wo jüdische Gemeinschaften als Sündenböcke für das Versagen und die Krisen des Kapitalismus herhalten mussten. Und sie betrachteten den Zionismus als eine nicht akzeptable Einigung mit dem Antisemitismus, da er ebenfalls die Juden als eine Rasse behandelte, als ein merkwürdiges Volk, das idealerweise von der Mehrheitsgesellschaft getrennt werden sollte.
Sozialisten haben den dem Zionismus innewohnenden defätistischen und fatalistischen Anstrich erkannt, nämlich dass diese Ideologie implizit auf dem Gedanken fußt, dass die Gesellschaft niemals grundsätzlich verändert werden kann. Deshalb müssten die Juden sich, sollten sie irgendeine Hoffnung hegen, zu prosperieren oder einfach nur zu überleben, sich selbst aus dieser Gesellschaft entfernen. Jüdische und nichtjüdische Sozialisten haben darauf hingewiesen, dass der Zionismus die Möglichkeit einer echten Veränderung, einer Revolution, die Möglichkeit künftiger Gleichheit und von Wohlstand für alle verweigert.
In den 1920er Jahren wirkte der Zionismus wie ein exzentrischer Minderheitenglaube. Im revolutionären Russland nach 1917, wo einst der Zar den Antisemitismus dafür instrumentalisiert hatte, die Arbeiter zu spalten, nahmen Juden wie Leo Trotzki verantwortungsvolle Machtpositionen ein. Die revolutionäre Regierung erklärte die Religionsfreiheit für alle und schaffte frühere Einschränkungen für Juden hinsichtlich Bildung und Aufenthaltsrecht ab. Einzelne oder Meuten, die Juden angriffen, wurde schwer bestraft. Inzwischen wanderten Juden weiterhin in westliche Länder aus und zeigten damit ihre Überzeugung, dass sie sich dort, trotz aller Übel des Antisemitismus, ein besseres Leben aufbauen könnten. 1927 sind mindestens so viele Leute aus Palästina emigriert – namentlich von Herzl und anderen Zionisten als der Ort genannt, an dem Juden sich selbst aus der Welt entfernen sollten –, wie dorthin eingewandert sind. Politischer Zionismus sah nach Verliererkarte aus.
Was hat sich also verändert? Wie konnte der Zionismus unter den drei gedanklichen Strömungen bei den europäischen Juden erfolgreich werden? Er wurde zum Nutznießer des politischen Verfalls wie des Kriegsausbruchs und des Genozids.
Die Strömung der jüdischen Assimilation, wo die Juden der Mittelschicht selbstbewusst daran glaubten, sie könnten in der europäischen Gesellschaft gedeihen, wurde von der unnachgiebigen Intensivierung des Antisemitismus in den 1920er und 1930er Jahren zerstört. Als sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft in Folge der russischen Revolution von 1917 und des Trends zu ökonomischer Rezession vertiefte, kam es in West- und Osteuropa zu einer heimtückischen rechten Gegenreaktion. Ziel dieser Gegenreaktion waren die Organisationen der Arbeiterklasse, sie zeigte aber auch ihren Zorn über die Juden, von denen behauptet wurde, sie wären der Hauptgrund für die „bolschewistische Verschwörung“ und den wirtschaftlichen Niedergang. Mit der Verbreitung des Nazismus im Europa der 1930er und 1940er Jahre und der Entscheidung, die Vernichtung der Juden auf die Ebene der Regierung zu heben, verlor die Idee von der jüdischen Assimilierung ihre gesamte Glaubwürdigkeit.
Unterdessen erlitt der positivste Strang, der Sozialismus – dessen jüdische Anhänger sich einfach weigerten, sich in die kapitalistische Gesellschaft zu assimilieren oder sich absichtlich davon fern hielten – in den 1920er und 1930er Jahren unzählige Rückschläge. Attacken auf die Arbeiterklasse in Europa und der schleichende Niedergang Russlands unter den Stalinisten versetzten dem Ideal des Internationalismus und der sozialistischen Solidarität gemeinsam einen schweren Todesstoß. In den späten 1920er Jahren war die Solidarität der Arbeiterklassen mit den Juden zurück- und sogar in neue Formen des Antisemitismus übergegangen. Vorurteile gegen Juden waren in Stalins Sowjetunion gewachsen. Bis 1930 hat sich die Deutsche Kommunistische Partei sogar schamhaft geweigert, ihre jüdischen Anführer öffentlich sprechen zu lassen, aus Furcht, dass solch ein Spektakel die Nazis aufregen könnte. Die deutschen Kommunisten brachten stattdessen feige nur „Nicht-Juden“ zu öffentlichen Diskussionen.
Unter diesen Umständen war es möglich, dass der Zionismus – begründet im späten 19. Jahrhundert, aber im frühen 20. Jahrhundert ziemlich marginal – für die europäischen Juden attraktiv wurde. Schikaniert von Regierungen und vom Sozialismus desillusioniert, haben viele Juden verständlicherweise die von den Zionisten angebotene Sicherheit und Gewissheit akzeptiert, die vollständige Abspaltung. Das ist die Tragödie des Zionismus. Er entstand als Reaktion auf den Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts und wurde durch die Intensivierung des Antisemitismus und den Niedergang der Linken in den 1920er und 1930er Jahren beliebter. Der Erfolg des Zionismus bei europäischen Juden war eine Antwort auf den Verfall der kapitalistischen Gesellschaft und das Versagen der Linken, den Internationalismus aufrechtzuerhalten.
Da die Assimilation in Verruf geraten und der internationale Sozialismus offensichtlich erschöpft war, haben die europäischen Juden sich dem Antisemitismus wirksam angepasst und nicht versucht, ihn zu bekämpfen. Der Zionismus basierte auf der Überzeugung, dass für Juden in einer nichtzionistischen Gesellschaft kein Platz ist, da, in den Worten des frühen zionistischen Denkers Leo Pinsker, der Antisemitismus unüberwindbar ist. Er ist „angeboren“, eine „Krankheit“, die seit „zweitausend Jahren […] unheilbar“ ist. Also müssten die Juden sich selbst abschotten. In diesem Sinne weist der Zionismus den Gedanken zurück, dass der Antisemitismus bekämpft und überwunden werden kann, und verleiht tatsächlich der Sichtweise Akzeptanz, dass die Juden irgendwie unnormal sind. Das ist ein guter Grund, gegen den Zionismus zu sein. Aber er ist kein altes Bekenntnis oder eine prinzipiell rassistische Ideologie, sondern das Ergebnis komplexer historischer Zwänge und der Erfahrung einer grundsätzlichen politischen Niederlage.
Dieser Text ist zuerst in der aktuellen NovoArgumente-Printausgabe (Nr. 118- II/2014) erschienen. Anmerkungen mit Fussnoten finden Interessierte hier.
Brendan O´Neill ist Chefredakteur des britischen Magzins Spiked. Dort ist das englischsprachige Original zuerst unter dem Titel „The Truth about Zionism“ erschienen.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/die_tragoedie_des_zionismus_zionismus_serie_2._teil
Von Brendan O’Neill
Diejenigen, die heute behaupten, dass der Zionismus „eine expansionistische, gesetzeswidrige und rassistische Ideologie“ sei, verdrehen die Tatsachen. Es stimmt, dass der Zionismus sowohl vor als auch – vor allem – nach dem Zweiten Weltkrieg von imperialistischen Kräften abhängig war, um seine Träume von einem jüdischen Heimatland wahr werden zu lassen. Der Grund ist, dass der Zionismus implizit mit der imperialistischen Zeit verbunden war, und es gab mächtige Kräfte im Westen, besonders Großbritannien und die USA, denen daran gelegen war, den Zionismus für politische Zwecke zu verwenden. Derzeit haben wir aber, was man einen „defensiven Zionismus“ nennen könnte – eine Form des Zionismus, die weniger an Expansion interessiert ist als am Rückzug hinter eine Sicherheitsmauer. Dieser Zionismus rechtfertigt sich weniger durch den Verweis auf künftig zu verwirklichende Träume von einem Land Zion, sondern eher durch Appelle an eine „jüdische Identität“ der Opferrolle.
In der aktuellen Politik des Antizionismus scheint es verzeihlich, den Zionismus für die einzige und die schlimmste Form des Imperialismus zu halten. Viele denken auch, dass er die westlichen Spielarten des Imperialismus antreibt. In ihrem kontroversen Text „The Israel Lobby and US Foreign Policy“ (deutsch etwa: „Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik“) haben die US-Autoren John Mearsheimer und Stephen Walt ein zunehmend beliebtes Argument vorgebracht: dass die US-Außenpolitik von den Erfordernissen und Bedürfnissen der Zionisten vorgeschrieben wird, dass der zionistische Staat der Schwanz ist, der mit dem Hund wedelt.
Solch eine Sicht auf den „zionistischen Imperialismus“ verkennt die untergeordnete Beziehung, die der Zionismus zum Imperialismus immer hatte. Es stimmt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die zionistische Bewegung ihr Heimatland Israel nur dank der Hilfe und Unterstützung mächtiger westlicher Staaten schaffen, gründen und erhalten konnte. Das zeigt aber eher, dass es die Zionisten sind, die vom Imperialismus abhängig sind, und dass weniger der Imperialismus seinerseits dem Zionismus und den Juden verpflichtet wäre.
Abraham Léon hat überzeugend dargelegt, dass den Zionismus von anderen bürgerlichen nationalistischen Ideologien kein eingebauter Rassismus oder eine integrierte Gesetzeswidrigkeit unterscheidet, sondern vielmehr seine Entstehungsbedingungen. Während die meisten bürgerlichen nationalistischen Projekte entstanden, als der Kapitalismus in überlegener Stellung war, was den Wunsch der neuen kapitalistischen Eliten ausdrückte, die „nationalen Grundlagen der Produktion“ auszuhöhlen und schließlich den „Feudalismus zu beseitigen“, entstand der Zionismus, als der Kapitalismus sich in einer Krise und im Abstieg befand.
Léon schrieb: „Weit davon entfernt, Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte zu sein, ist der Zionismus gerade Konsequenz des totalen Stillstands der Entwicklung, das Resultat der kapitalistischen Erstarrung. Während die nationale Bewegung das Ergebnis der Entfaltung des Kapitalismus ist, ist der Zionismus ein Produkt der imperialistischen Ära“.
Tatsächlich weist Léon darauf hin, dass zu der Zeit, als die bürgerlichen nationalen Bewegungen wuchsen, Juden dazu tendierten, einer Assimilationshaltung beizupflichten. Der Kapitalismus war damals relativ stabil, der Antisemitismus daher eher schwach, und deshalb sahen sie sich als Teil von bereits existierenden Gesellschaften und nicht als auf nationaler Ebene von ihnen separiert. Erst mit Einsetzen von Krise und Niedergang des Kapitalismus, einmal im späten 19. Jahrhundert und dann viel schrecklicher in den 1920er und 1930er Jahren, begannen Juden, die „nationale Bewegung“ anzunehmen. Ihr Nationalismus ist ein Produkt des Kapitalismus (und des imperialistischen Zeitalters) im Niedergang und nicht des Kapitalismus im Aufwind. Der Zionismus hatte mehr Gemeinsamkeiten mit den kleineren, rückständigeren nationalen Bewegungen, die ebenfalls im frühen 20. Jahrhundert entstanden waren, etwa den aus dem Untergang Österreich-Ungarns entsprungenen, als mit dem klassischen Nationalismus – ihm fehlte sogar einiges ihrer historischen Vorgeschichte.
Folglich würde sich das Projekt eines zionistischen Staats nicht durch Juden verwirklichen lassen, die unabhängig agieren, um ihren eigenen bürgerlichen Nationalstaat zu gründen, sondern eher durch die Intervention und die Unterstützung imperialistischer Mächte. Léon hat erkannt, dass genau die Umstände, die den Zionismus hervorgerufen haben, auch seine Verwandlung in ein erfolgreiches Staatsprojekt nahezu verunmöglichten. „Der Niedergang des Kapitalismus, Grundlage für das Wachstum des Zionismus, ist auch die Ursache für die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung“, schrieb er in den frühen 1940er Jahren. „Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte zu sichern – und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind“.
Er stellt scharfsinnig fest, dass der Zionismus nur mit Unterstützung des Imperialismus einen Staat gründen kann und folgert acht Jahre vor der Gründung Israels: „Man kann natürlich einen relativen Erfolg des Zionismus nicht ausschließen, derart etwa, dass eine jüdische Mehrheit in Palästina entsteht. Denkbar wäre sogar die Bildung eines ‚jüdischen Staates‘, d.h. eines Staates unter der vollständigen Herrschaft des englischen oder amerikanischen Imperialismus“.
Das ist es, was eingetreten ist. Die Zionisten haben, zunächst mit der Unterstützung von Großbritannien und später mit der von den USA, den relativen Erfolg Israels erreicht. Seit seinen Anfängen war der Zionismus gezwungen, äußere Mächte um Hilfe für sein „nationales Befreiungsprojekt“ für Juden zu bitten. Eine Studie formuliert es so: „Von Anfang an war der Zionismus davon abhängig, dass europäische Mächte seine kolonialen Siedlerziele finanzierten“. Frühe Zionisten sprachen gezielt den Wunsch der imperialistischen Mächte an, ihren Einfluss auf der ganzen Welt zu zementieren und zu verbreiten. Genau Anfang des 20. Jahrhunderts hat Herzl in einer seiner vielen Diskussionen mit der britischen Regierung versprochen, dass sein jüdischer Staat „ein Teil des Bollwerks der Europäer gegen Asien sein würde, ein Außenposten der Zivilisation im Gegensatz zur Barbarei“.
Das reizte das Interesse imperialistischer Mächte, vor allem in Großbritannien. Die der extrem jungen Bewegung des Zionismus innewohnende Schwäche und Künstlichkeit auf der einen und die Ambitionen des britischen Empire auf der anderen Seite führten dazu, dass Großbritannien Elemente des zionistischen Anliegens übernahm. In den 1910ern und 1920ern, als der Zionismus unter den europäischen Juden immer noch relativ marginal war, hat Großbritannien Juden die Einwanderung in ihr Territorium in Palästina erlaubt, Léon zufolge vor allem als ein Weg, um die Juden als „Gegengewicht gegen die Araber“ zu nutzen. Großbritanniens Hauptinteresse war es, Juden in Palästina anzusiedeln (aber nicht zu viele), um dem „arabischen Nationalismus“ etwas an die Seite zu stellen. 1917 wurde mit der Balfour-Deklaration zum ersten Mal festgestellt, dass das britische Empire das Ziel eines jüdischen Staats in Palästina anerkennt.
Winston Churchill, damals Kabinettsminister, legte die Gründe Großbritanniens für ein Interesse am zionistischen Projekt wie folgt dar: „Ein jüdischer Staat unter dem Schutz der britischen Krone […] wäre unter jedem Gesichtspunkt von Vorteil und stünde im Einklang mit den wahrhaftigsten Interessen des britischen Empires“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Rückhalt der Autorität der jüdischen Erfahrung des Holocaust, haben erst Großbritannien und später die USA die Schaffung eines jüdischen Staats in Palästina unterstützt. Jüdische Guerillas haben mit britischen Kräften gekämpft, um das britische Mandat über Palästina zu beenden und die Schaffung eines jüdischen Staats zu beschleunigen. Mit der politischen, ökonomischen und militärischen Rückendeckung der USA von den 1950er Jahren an wurde das zionistische Projekt in Palästina so etwas wie ein Außenposten des westlichen Imperialismus. Der Mittlere Osten wurde die Schlüsselarena des Kalten Kriegs, mit Israel als Gendarm des Westens gegen den von der Sowjetunion unterstützten arabischen Nationalismus.
Weit davon entfernt, ein besonders böses oder hinterlistiges Projekt zu sein, hatte die Verwirklichung zionistischer Ziele in Palästina doch viel mit dem westlichen Kolonialismus im Allgemeinen gemeinsam. Sie bedeutete, dass Menschen von ihrem Land vertrieben wurden und dass umstrittenes Territorium besetzt wurde. Diese Dinge ereigneten sich nicht als Folge einer besonders gesetzlosen oder rassistischen Ideologie, sondern als Zusammenspiel von entstehendem jüdischem Nationalismus im Europa des 20. Jahrhunderts und der Ausnutzung dieses Nationalismus durch imperialistische Kräfte, die daran interessiert waren, ihren Einfluss im unbeständigen Nahen und Mittleren Osten zu erhalten und zu vergrößern.
Die derzeitige Meinung, dass die Zionisten die USA und andere westliche Staaten in der Hand hätten, interpretiert die Lage genau falsch herum. Wegen seiner eigentümlichen Ursprünge war der Zionismus tatsächlich immer vom Imperialismus und dessen Macht und Zielstellung abhängig und imperialistische Mächte waren regelmäßig willens, dies auszunutzen. In jüngerer Vergangenheit, vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges, sind westliche Mächte bereitwilliger geworden, Israel zu schelten und es sogar mit Bedrohungen und Sanktionen zu bestrafen, wie sich etwa in der Warnung von US-Außenminister John Kerry an Israels Führung beobachten ließ, ein neues Friedensabkommen zu unterzeichnen. Die Zionisten bleiben westlicher Macht verpflichtet.
Dieser Text ist zuerst in der aktuellen NovoArgumente-Printausgabe (Nr. 118- II/2014) erschienen. Anmerkungen mit Fussnoten finden Interessierte hier.
Brendan O´Neill ist Chefredakteur des britischen Magzins Spiked. Dort ist das englischsprachige Original zuerst unter dem Titel „The Truth about Zionism“ erschienen.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/zionismus_und_imperialismus_zionismus_serie_teil_3
Von Brendan O’Neill
Die Schaffung eines zionistischen Staats hat die „jüdische Frage“, die Frage nach dem Platz der Juden in der heutigen Gesellschaft, nicht gelöst. Sie hat sie nur verdrängt und in vielerlei Hinsicht intensiviert. Leo Trotzki hat 1940, acht Jahre vor der Gründung Israels, davor gewarnt, dass sich die „künftige Entwicklung militärischer Ereignisse Palästina in eine blutige Falle für einige hunderttausend Juden verwandeln könnte“. [26] Tragischerweise bedeutet die Schaffung eines „besonderen Orts“ für Juden nicht nur eine Anpassung an den westlichen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Es hat auch die Haltung einiger Menschen verstärkt, dass Juden seltsam, zurückgezogen und anders als wir anderen sind.
Derzeit ist die Debatte über den Zionismus gänzlich vom Wissen über seine historischen Ursprünge oder vom Verständnis seiner veränderlichen, 100 Jahre alten Beziehung mit dem Imperialismus losgelöst. Sie ist auch gänzlich von jeglicher humanistischen Diskussion über den Platz der Juden im 20. und 21. Jahrhundert entfernt. Stattdessen ist das Z-Wort zum billigen und bequemen Codewort für „böse“, für Boshaftigkeit geworden. Das liegt daran, dass sich die derzeitige antizionistische Politik nicht auf einer Anerkennung der Geschichte oder einer sinnvollen Solidarität entweder mit den Juden oder den Palästinensern gründet, sondern dass sie ein Ventil zum Ausdruck aller Arten von Unmut und, unter westlichen Funktionsträgern, zur Rückendeckung geworden ist.
Der Zionismus gilt als ein Überbleibsel der Vergangenheit des Westens, die die meisten Menschen am liebsten vergessen möchten. Zu einer Zeit, wo Souveränität nicht länger heilig ist, wo westliche Mächte ihre jeweilige staatlichen Souveränität zu so etwas wie der Europäischen Union zusammenlegen und verlangen, dass Staaten auf der ganzen Welt sich dem Verhör durch die „internationale Gemeinschaft“ öffnen, ist der Zionismus eine hässliche Erinnerung an ein kraftvolles, immer noch ungelöstes Souveränitätsprojekt. Zu einer Zeit, wo westliche Mächte ihre militärischen Unternehmungen zynisch als Verleugnung ihres Eigeninteresses beschreiben – offenbar kämpfen sie für die humanitäre Besserstellung belagerter Völker auf der ganzen Welt –, wird der militärische Einsatz der Zionisten, um ihrem Existenzrecht Ausdruck zu verleihen und ihre Grenzen zu stabilisieren, missbilligt. In unserer Zeit des Multikulturalismus, wo westeuropäische Regierungen das Hohelied der Mischung kultureller Identitäten singen (während sie ihre Grenzen für die falsche Art der kulturellen Identität entschieden geschlossen halten), wird der Wunsch der Zionisten, ihren jüdischen Staat zu erhalten, als Relikt des 19. Jahrhunderts angesehen. Die Ernüchterung über alte westliche Werte wird stets auf den Zionismus projiziert.
Schlimmer noch, manche westlichen Führer bemühen sich nun darum, ihr eigenes moralisches Ansehen im Weltgeschehen wieder herzustellen, indem sie die Herausforderung der Antizionisten annehmen, Israel die Stirn zu bieten. Für mich ist das Schauspiel britischer Politiker, des französischen Präsidenten und der deutschen Führung – drei Staaten mit schlimmer imperialistischer beziehungsweise rassistischer Vergangenheit –, bei dem sie vom zionistischen Staat verlangen zu zügeln, was die UN seine „rassistische und imperialistische Ideologie“ genannt hat, ekelerregend. Indem sie sich gegen den Zionismus in Position bringen, hoffen westliche Politiker, ihre koloniale und rassische Schuld auf den Nahen Osten verschieben zu können und die Zionisten zu Trägern der beschämenden westlichen Vergangenheit zu machen.
Kurz gesagt, stellen die Führungen der europäischen Staaten, deren früheres Handeln den Juden kaum eine Wahl ließ, außer dem Zionismus beizupflichten (Antisemitismus war im frühen 20. Jahrhundert, von Großbritannien über Deutschland nach Polen, weitverbreitet), nun den Zionismus als böse hin. Politik kann sich kaum degenerierter verhalten.
Wenn die Beschreibung des Zionismus als „expansionistisch, gesetzeswidrig und rassistisch“ in der Vergangenheit schon die Tatsachen verdreht hat, ist dies heute erst recht weit gefehlt. Heutiger Zionismus ist defensiv. Er stützt sich nicht auf Zukunftsvisionen, sondern auf Vorstellungen von der jüdischen Opferrolle, auf die Notwendigkeit „künftige Holocausts“ gegen Juden durch ihre verschiedenen Todfeinde aufzuhalten. Das hat eine physisch noch mehr abgeschottete Form des Zionismus entstehen lassen, wo Israel gewaltige, mit Stacheldraht bedeckte Ziegelmauern baut, um die Juden von der Außenwelt zu schützen. Das ist eine Tragödie, nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die Juden.
Die „jüdische Frage“ war lange von besonderer Bedeutung für Progressive, weil die Stellung von Juden in einer Gesellschaft viel über diese verrät. Während die Französische Revolution dazu beitrug, viele europäische Juden zu befreien („der Triumphzug der napoleonischen Armeen [bildete] das Signal für die Emanzipation der Juden“, so Abraham Léon), verdammte der Beginn des kapitalistischen Niedergangs Juden zu Sündenböcken und zu Vernichtung. Und während das Aufkommen des Zionismus eine tragische, defätistische Anpassung an den Antisemitismus darstellte, beinhaltet der Aufstieg des heutigen Antizionismus die Zuteilung der Schuld für Fehler des Westens. Dies ermutigt die Juden, sich noch mehr abzugrenzen, was die schlimmstmögliche Antwort auf die „jüdische Frage“ ist.
Dieser Text ist zuerst in der aktuellen NovoArgumente-Printausgabe (Nr. 118- II/2014) erschienen. Anmerkungen mit Fussnotenm finden Interessierte hier.
Brendan O´Neill ist Chefredakteur des britischen Magzins Spiked. Dort ist das englischsprachige Original zuerst unter dem Titel „The Truth about Zionism“ erschienen.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/defensiver_zionismus_zionismus_serie_teil_4

Initiative Sozialistisches Forum
Wer den größten Philosophen aller Zeiten einmal mit Adorno gelesen hat, dem fällt es gewiss schwer, noch zu staunen, wenn nun mit jedem seiner »Schwarzen Hefte« der Antisemitismus des Philosophen scheibchenweise verpackt in dessen Gesamtausgabe präsentiert wird. Seine berühmten Werke, in denen davon nichts zu finden ist, weil Juden und Judentum nicht erwähnt werden, verweisen dennoch auf ihn wie das Winterhilfswerk auf die Gaskammern. Anstelle von »Verjudung« und »jüdischer Verschwörung« ist darin vom Andrang des »Dämonischen« und von der »bodenlosen Organisation des Normalmenschen« in Russland und Amerika die Rede, die das deutsche Volk in die Zange nähmen; statt von »Gegenvolk« und »Vernichtung« von »Volk« und »Sein zum Tod«. Die Windungen seiner Sprache resultierten gerade daraus, dass Heidegger das ideologische Zentrum des nationalsozialistischen Staates – die antisemitische Projektion – ausspart und ihn zugleich als Ganzes – also mit seinem Zentrum – bejaht. Nun liefern aber die »Schwarzen Hefte« doch noch dieses Herzstück nach (das davor schon von Emmanuel Faye in Seminarprotokollen entdeckt worden war) – und der Schock im französischen und deutschen Feuilleton, das sich um Adornos, aber auch Karl Löwiths und Dolf Sternbergers Kritik kaum je gekümmert hat, tritt mit geradezu logischer Notwendigkeit ein. Aber die Schocktherapie, die Behandlung zur Exorzierung der kurzzeitig aufgetretenen Verstörung, begann schon, noch ehe die Hefte überhaupt publiziert waren.
Es ist ein Spezifikum der Heidegger-Rezeption in Deutschland nach 1945, dass sie stets den Umweg über Frankreich nimmt, um von dort reimportiert zu werden. Wie es einst eines Jean Beaufret oder eines Jacques Derrida bedurfte, um Heidegger auch unter deutschen Linken wieder hoffähig zu machen, so war es diesmal vor allem der Beaufret-Schüler und Heidegger-Übersetzer François Fédier, der eine Debatte auslöste, die auch den deutschen Blätterwald zum Rauschen brachte. Fédiers Anfeindungen gegen den Herausgeber der »Schwarzen Hefte«, Peter Trawny, und seine kolportierten Versuche, die Veröffentlichung der inkriminierten Stellen zu verhindern, waren der Auftakt einer Diskussion, die schon anlässlich der Bücher von Victor FarÃas und Emmanuel Faye geführt wurde und die erneut in der Entnazifizierung und Rehabilitation von Heideggers Denken enden wird.
Die Therapie, die auf den Schock folgt, dient einzig der Katharsis: der psychischen Reinigung durch Inszenierung einer Debatte, deren einziger Zweck es ist, dass nicht das Geringste an Erkenntnis aus ihr folgt, um so weitermachen zu können wie bisher. So sehr die schockierten Teilnehmer auch ihrer Erschütterung darüber Ausdruck verleihen, dass Heidegger angesteckt war »von den Pathologien des (20.) Jahrhunderts« (Günter Figal im Deutschlandradio Kultur), so sehr dient gerade ihr Engagement der übergeordneten Aufgabe, die altbekannte Aufspaltung mit erleichtertem Gewissen fortzuschreiben: die Trennung in die Person Heidegger, die fehlbar war und sich habe verführen lassen, und in das Werk eines »der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts«, aus dessen »schmerzhaften« Verirrungen sich lernen lasse, wie weit sich Philosophie, worauf Heidegger selbst aufmerksam gemacht habe, »versteigen« könne, wie Peter Trawny in der Zeit schreibt. Insofern wäre die Debatte als Spiegelspiel zu charakterisieren, in dem kritische Würdigung mit unbedingter Apologie um die Deutungsmacht streitet – solange gesichert ist, dass Heideggers Philosophie selbst nicht zur Debatte steht: Paradebeispiel jener permanent in Szene gesetzten Kontroversen, von denen das Feuilleton lebt.
Diejenigen, die sich nicht dazu verstehen, den Antisemitismus Heideggers frei heraus abzustreiten, folgen der Strategie der deutschen Vergangenheitsbewältigung, sich zur Geschichte und zu der Verantwortung, die aus ihr erwachse, zu bekennen. Während sie ideologische Legitimation für die Gegenwart daraus ziehen, das Unleugbare einzubekennen und in ein Argument für Heidegger zu transformieren, erklären die verbissenen Adepten allein die Idee, Heidegger könne antisemitische Ressentiments gehegt haben, für schieren Unsinn. Dieser resultiere daraus, so die antisemitische Abspaltung des Antisemitismus, »dass der Herausgeber Heideggers in Deutschland heute solche Angst hat, im Zusammenhang mit den Zitaten selbst als Antisemit zu erscheinen, dass er sich genötigt fühlt, bei jeder Erwähnung des Wortes Judentum den Antisemitismus-Vorwurf vorsorglich gleich selbst zu erheben«, so François Fédier in der Zeit. Mittels »der Keule des Antisemitismus« (Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung) wollten sich die Heidegger-Kritiker profilieren und darüber hinwegtäuschen, dass Heidegger als der Denker, der er war, niemals solch einer »richtig dumme(n) und totalitäre(n) Ideologie« (Silvio Vietta im Deutschlandradio Kultur) habe anhängen können.
Gemeinsam ist den kritischen und den apologetischen Stimmen das Bedürfnis, Heideggers Zivilisations- und Modernekritik zu retten – und nicht zuletzt darin zeigt sich, dass der Unterschied zwischen beiden Fraktionen lediglich ein gradueller ist. Letztere leugnen Heideggers Antisemitismus in toto, während erstere bloß verleugnen, dass dieser in unauflösbarem Zusammenhang mit seinem Denken steht. An der Kritik der »seit der Neuzeit um sich greifenden ›Bodenlosigkeit‹ und ›Weltlosigkeit‹« sei nur auszusetzen, dass in den »Schwarzen Heften« diese Erscheinungen der Seinsvergessenheit »dezidiert und platt mit dem ›Judentum‹ zusammengespannt« würden, so Matthias Flatscher in der österreichischen Tageszeitung Die Presse. Antisemitismus sei das keiner, nimmt Vietta im Deutschlandfunk Kultur vorweg, sondern vielmehr Kulturkritik an den Juden, die sich dem »rechnenden Denken« verschrieben hätten: Die »Kritik, die er an den Juden führt, ist eine ganz andere Kritik. Die kommt eigentlich aus einer Zivilisationskritik«. Und François Fédier erklärt in der Zeit Heideggers Ausführungen über »die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens«, in der die »Weltlosigkeit des Judentums gegründet« sei, geradezu zur Solidaritätserklärung, weil der Seinsphilosoph darin bloß das Judentum »als erstes Opfer dieses Riesigen« habe ansprechen wollen.
In einem interessierten Missverständnis wird – gemäß dem beliebten postmodernen Spiel, zwischen genetivus subjectivus und genetivus objectivus zu changieren – die »Weltlosigkeit« zum Subjekt erhoben, das sich das Judentum zum Instrument mache: Das »Weltbild« (Heidegger) des »Rechnens und Schiebens«, die seinsvergessene Verfallenheit ans Seiende bezeichneten für den Freiburger Existentialontologen also den »Grund des Riesigen« und nicht das Judentum, wie böswillige Interpreten ihm unterstellten. Spiegelbildlich zu Derridas Versuchen, aus Marx einen Kämpfer gegen die Uneigentlichkeit zu machen, versuchen Vietta und Fédier, Heidegger als frühen Marx zu verkaufen. Während die Anleihen, die Marx in seiner Schrift »Zur Judenfrage« beim christlichen Antijudaismus nimmt, Einsprengsel bleiben und angesichts seiner Kritik der politischen Ökonomie sich nicht nur erübrigen, sondern als wahnhaft durchschauen lassen, so sind es der Ursprungs- und Eigentlichkeitswahn in Heideggers Denken, seine Ranküne gegen Künstlichkeit und Rationalität, die den antisemitischem Hass auf Vermittlung und Versöhnung in sich tragen und zum Ausdruck bringen.
Das Judentum sei jedoch für Heidegger, so der Tenor des Feuilletons, lediglich eine der Formen, in der die Seinsvergessenheit auftrete. Dementsprechend habe er, nachdem seine anfängliche »Phase der Überwältigung durch den ›Führer‹ eine Enttäuschung erfahren« habe, auch »das Nazistische« gleichermaßen wie »das Jüdische« als »Triumph des ›Gestells‹« charakterisiert, »vor dessen Hintergrund Menschen, ob im Frieden oder Krieg, zum Material riesiger Kalküle, Verrechnungen, technischer Projekte unter dem Willen zur Macht wurden«, so der Grazer Philosoph Peter Strasser in der Presse. Abgesehen davon, dass nur im Wahnsystem eines Heidegger-Apologeten die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Judentum einen Beleg für die Inexistenz von Antisemitismus darstellen kann, erweist sich das vorgebrachte Argument angesichts der »Schwarzen Hefte« ganz offenbar als Schutzbehauptung, sprich: als dreiste Lüge. »Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, dass die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ›Geist‹ verschaffte«, heißt es im »Schwarzen Heft« von 1939 (Abteilung XII).
Wird schon hier die »leere Rationalität und Rechenfähigkeit« in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Judentum gebracht – sonst machte der Satz schlichtweg keinen Sinn: Wie soll das metaphysische Weltbild »Ansatzstelle« für etwas bilden, was es überhaupt erst hervorbringt? –, so spricht Heidegger im »Schwarzen Heft« von 1941 (Abteilung XIV) explizit gar von einer bestimmten Art der »Menschentümlichkeit«, die das Judentum charakterisiere: »Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als ›weltgeschichtliche‹ Aufgabe übernehmen kann.«
Es zeigt sich hier, wie falsch die Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus ist, die Behauptung, dass Antisemiten ihren Hass nur rassistisch begründen könnten. Die metaphysische Frage tut es ebenso, wenn nur die Antwort darauf, wer das Prinzip verkörpert, das für die »Entwurzelung« und »Zersetzung« des Eigentlichen verantwortlich ist, von vornherein feststeht. Er muss es gar nicht als Rasse im biologistischen Sinn verkörpern, das kann und soll sogar offen bleiben; wichtig ist nur, dass er vernichtet wird.
Für das Feuilleton ist hingegen die Gleichsetzung von Rassismus und Antisemitismus ein grundlegendes Element der Apologie: Antisemitismus ist hier nur als rassistisch denkbar, da Heidegger aber kein Rassist war, seine Vorstellungen von Volk und Gemeinschaft vielmehr seinsgeschichtlich begründete, kann er auch kein Antisemit gewesen sein. Ein »durchgängiges rassistisches Konzept des Judentums im faschistisch-biologistischen Sinne bestätigt der Text nicht«, schreibt Flatscher; »Antisemitismus ist ein rassistischer Begriff und rassistisch hat Heidegger nicht gedacht«, so Vietta im Deutschlandradio Kultur; »Heideggers Vorstellung vom Dasein lässt jede Form von Rassismus unmöglich erscheinen, sein Daseinsbegriff lässt nicht zu, den Menschen als Rasse zu denken«, meint Fédier in der Zeit.
Auf der sichersten Seite ist man darum, wenn Heideggers Philosophie überhaupt zur Religion erklärt wird – eine Wendung, die schon Heidegger selbst vollzogen hatte, als er seinem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview den Titel gab: »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Diesen Faden aufgreifend erklärt Peter Strasser in der Presse die Schicksalsgläubigkeit Heideggers zur »negative(n) Theologie«, die nichts mit »Faschismus« zu tun habe. Ganz so, als ob der Nationalsozialismus keinen Schicksalsglauben besessen hätte – während doch der Rassegedanke der gleichermaßen säkularisierte wie mythisch wiederauferstandene Gedanke an die göttliche Vorsehung war –, wird so getan, als ob Heideggers Motiv der »Wiederherstellung aller Dinge in ihrem ursprünglichen Reinheitszustand« nachgerade das Gegenteil des völkischen Gedankens darstelle. Vielmehr stecke hinter Heideggers auch von Strasser nicht zu leugnenden »Größenphantasien« doch nur der »kindlich-kindische Wunsch, aus einer Endschlacht siegreich hervorzugehen: als geschundener und letztlich strahlender Messias des Geistes. Dass den Juden dabei die Rolle des heilsgeschichtlichen Blockierer zugewiesen wurde (…) ist zumindest ein theologisches Ärgernis.«
Ein Ärgernis ist es also, noch dazu ein von kindlichen Phantasien geprägtes, dass Heideggers Suche nach dem Sein in seiner Ursprünglichkeit zielsicher bei der Identifizierung der Juden als Verkörperung jenes Prinzips landet, das diesem Sein den Garaus bereite. Heideggers Vernichtungsphantasien zu »Verirrungen« zu erklären, die nun einmal zum schicksalsgleichen »schmutzigen Erbe unserer Kultur« gehörten, weswegen nichts anderes übrig bliebe als sie anzunehmen, weil sie uns »noch trägt und bindet, indem wir sie verleugnen«, wie Strasser schreibt , diese Ontologisierung des Ontischen charakterisiert gleichermaßen Heideggers Philosophie wie die Versuche, sie zu retten: Einverständnis mit dem Bestehenden und Eskamotierung der Gewalt, die zu seiner Aufrechterhaltung notwendig ist.
Es wäre nun ein Leichtes nachzuweisen, dass es im Nationalsozialismus im Ideologischen durchaus keine einheitliche Auffassung dessen gab, wie der Vernichtungswahn auszubuchstabieren sei, vielmehr rivalisierten auch darin die verschiedenen Rackets, die einen mehr biologistisch orientiert, die anderen auf die metaphysische Frage konzentriert; die einen mit der Religion, die anderen gegen die Religion. Im Postnazismus eröffnete sich dadurch die Möglichkeit, immer die Position des jeweils anderen Rackets als die eigentlich nationalsozialistische zu brandmarken, um sich selbst davon freizusprechen. Und diese Möglichkeit setzt sich nicht zuletzt fort in der Art, wie man es gelernt hat, den Antizionismus vom Antisemitismus freizusprechen. Die Debatte um die »Schwarzen Hefte« zeigt, dass die Heidegger-Rezeption auch dafür ein Paradigma darstellt: Er war nach solchem Verständnis so wenig Antisemit, wie es der ist, der Israel kritisiert: Man wolle ja nicht die Juden verfolgen, sondern nur die Souveränität ihres Staates, ihre alles verschlingende »Rechenfähigkeit« und »Weltlosigkeit«.
So “geleitet” in der Tat ein Feldweg vom Heidegger-Hörsaal 1010 “den Fuß auf wendigem Pfad still durch die Weite des kargen Landes” (Heidegger: Der Feldweg) über Todtnauberg und Messkirch nach Palästina und von dort zurück an die Freiburger Universität, durch die Spechtpassage ins Jazzhaus. Beschritten hat ihn Gabi Webers Lieblingsreferent im Café Judenhass, der jüngst vor johlendem Publikum im Jos-Fritz-Café die “Dejudifizierung Israels” fordern durfte, das gegenwärtig freilich schlimmer als der Nationalsozialismus sei, um anschließend mit seinem nach dem ehemaligen Hauptquartier der PLO benannten “Orient-House”-Ensemble im Jazzhaus den Soundtrack zum multimedialen Aufgebot der Freiburger Antizionistenzentrale nachzuliefern. Gilad Atzmon hat wie kein anderer Heidegger-Apologet erkannt, dass es keiner neuen Veröffentlichung bedurfte, um zu wissen, dass Heidegger “kritisch” gegenüber “jüdischer Politik, Kultur, Ideologie und Geist” gewesen ist (so Atzmon in Veterans-Today). Allerdings: kein Antisemitismus sei es, sondern nur Kritik am Weltjudentum, wenn Heidegger in den Schwarzen Heften notiert, dieses sei “überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern”. “Kann eine ehrliche Beobachtung antisemitisch sein?” sekundiert ihm Atzmon, denn schließlich seien es “zionistische Stellvertreterkriege”, die Heidegger damit meine. Heidegger sei ein “deutscher Patriot” gewesen und habe als solcher gewusst, “dass es die Führer der Zionisten und die deutschen jüdischen Bankiers in Amerika waren, die den Eintritt Amerikas in den ersten Weltkrieg unterstützten”. Wer darin Antisemitismus glaubt erkennen zu müssen, so Atzmon, sei selbst nur ein “zionistisches Sprachrohr”.
Schon als Heidegger 1927 Sein und Zeit veröffentlichte, habe “die Frankfurter Schule, von jüdischen Akademikern beherrscht, bereits seit mehr als vier Jahren daran gearbeitet, die Grundlage für ihren Versuch zu schaffen, die deutsche Kultur im Namen des Kommunismus zu untergraben,” – kein Wunder also, so Atzmon, dass deutsche Nationalisten wie Heidegger genügend Gründe hatten, sich endlich einmal gegen jüdische “Kultur, Politik und Ideologie” (sowie, wie Atzmon an anderer Stelle notiert: “Religion” und “Geist”) zur Wehr zu setzen. Bestreitet man aber den Juden “politics”, also ihren Staat, “culture, ideology and spirit” und nicht zuletzt: “religion”, dann bleibt nach dieser Abstraktionsleistung nur noch der zu deportierende Körper übrig. So gibt sich Atzmons konsequente Heidegger-Apologie als nachgereichte Legitimation für den Massenmord zu erkennen.
Dass die Trennung von Werk und Person bei Antisemiten in der Regel so wenig aufgeht wie bei Heidegger, kann man an Atzmons Freunden vom Freiburger Antisemitenverein Café Palestine studieren. All die Vorträge und Events, ob in der Spechtpassage oder an der Uni, sind vom kaum noch camouflierten Hass auf die zum Opfer nicht bereiten Juden, auf ihren “Geist”, ihre Kultur und ihre Religion, also auf das “Weltjudentum” gezeichnet und bedienen das judenfeindliche Bedürfnis der Freiburger Szene, in der man auf Nachfrage selbstredend antworten wird, dass man “eigentlich” gegen Juden gar nichts habe, aber ….
So darf man annehmen, dass noch Atzmons Orientjazz und die zur Propaganda gereichten “arabischen Köstlichkeiten” politisch aufgeladen sind. Bot Heidegger nach einer Erinnerung von Günther Anders seinen Gästen – nicht frei vom Ressentiment gegen die Uneigentlichkeit und das Ge-stell – noch “sehr einfache Nudel-Abendessen” an, lädt Gabi Weber regelmäßig zum Falafelessen gegen Israel. Das muss er sein: der fundamentale Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus.
Der Text ist die von der ISF erweiterte Fassung eines in der Wochenzeitung Jungle World unter dem Titel “Die Schocktherapie” veröffentlichten Artikels von Alex Gruber und Gerhard Scheit, nachzulesen unter http://jungle-world.com/artikel/2014/13/49588.html. In der bei ça ira erscheinenden Zeitschrift sans phrase aus Wien, deren Redaktion die Autoren angehören, wird demnächst von Alex Gruber eine Fortsetzung veröffentlicht werden, die sich Slavoj Žižeks Heidegger-Verteidigung und seiner Auseinandersetzung mit der “‘judaischen’ Wende” im Poststrukturalismus durch Jacques Derrida widmen wird.
http://www.isf-freiburg.org/isf/jourfixe/jf-2014-1_groephaz.html

Joachim Bruhn
Das Unbewußte der kapitalisierten Gesellschaft, also das, was vernunftfrei als Herrschaft und Ausbeutung agiert, erscheint nicht allein, wie die Ökonomisten aller Fraktionen meinen, in Wert und Kapital; es erscheint mit Notwendigkeit zudem in Politik und Souveränität. Das kommt davon, daß die Ausbeutung ohne die Herrschaft nicht zu haben ist, die Warenform keineswegs ohne die Rechtsform. Während die Wirtschaft das Schicksal ist und damit das Reich von Notwendigkeit und Determinismus, erscheinen Politik und Souveränität als das Reich der Freiheit und der Selbstbestimmung des Willens. Die Rechtsform und ihr Garant, der Staat, gelten als reine Vergegenständlichung des freien Willens, und daher kommt das Idiodiktum schon Ferdinand Lassalles, auch der unfreieste Staat könne nicht gegen die Idee des Staates an sich, die Freiheit, verstoßen, eine Idiotismus, der sich von August Bebel über Lenin bis hin zu Lafontaines Satz durchhält: „Der Sozialdemokratismus ist dem Volk einfach nicht auszutreiben“. Noch anders gesagt: Gerechter Lohn fürs gerechte Tagwerk, und Good Governance als Dreingabe gratis.
Karl Marx, dessen Kritik des Kapitals den Wert als doppeltes, als so politisches wie ökonomisches Ereignis begreift, kam nicht in seinen schwärzesten Momenten auf die Idee, erst das Kapital zu denunzieren und dann eine Apologie des politischen Souveräns zu verfassen, etwa als – der Idee und Potenz nach – „Staat des ganzen Volkes“ oder „Rechtsstaat“ oder als „Demokratie“. Es kommt hier nicht, wie bei Beton, darauf an, was man draus macht. Und bei der Demokratie kommt es nicht auf den Demos an (der an sich gar nicht existiert, sondern nur als das Produkt der Homogenisierung der Individuen zu Subjekten), sondern auf die Kratie, auf das Befehlen und das Gehorchen. Woher nun die gesellschaftlich systematisch erzeugte Illusion und eigentlich Ideologie, der Staat sei ein an sich neutraler Apparat, der Hausmeister und Geherda des produktiven Volkes, dessen Willen und Aktion im Prinzip – die dunklen Mächte, die hinter den Kulissen agieren und die allemal „gleicher als gleich“ sind, auf Null gebracht und die „Heuschrecken“ einmal exterminiert – die Interessen des deutschen Wahlmobs als ein bewaffneter Notar exekutiert? Woher der Wahn und die Wirksamkeit solcher Slogans wie „Politik für alle“ (Oskar Lafontaine)?
Die Attraktivität der Linkspartei gibt das Maß des gesellschaftlich Unbewußten. In Wahrheit verhält es sich ja so, daß „Links“ und „Partei“ diametral sich ausschließen. Eine Partei ist, ein Blick ins Grundgesetz zeigt das, ein Organ der staatlichen Willensbildung; und jedwede Partei ist, genaueres regelt das Parteiengesetz, ein ideologischer Staatsapparat, eine Instanz, bei der es keineswegs um den Inhalt, um das Programm, um die gute, wahre, schöne Absicht geht, sondern um die politische Zentralisierung jener Gewalt des Kapitals, die in Gestalt der Bundeswehr praktisch längst vorliegt. Weil es kein „sozialistisches Geld“ (Karl Kautsky) geben kann, wird es auch keinen „sozialistischen Staat“ geben können, keine sozialistische oder kommunistische Partei. An der „Linkspartei“ ist nicht Links relevant, sondern die Partei, die Partei als Form. Schon die Gründungskalamitäten der Linkspartei zeigen, worum es geht: Zentralisierung des Willens als reine Form, als Selbstzweck, d.h. als Agentur der Selbstverwertung des Werts. Nur wenn man sieht, daß es um rein gar nichts geht, werden die erbitterten Streitereien um Listenplätze verständlich. Wer die Nummer 1 besetzt, wird der Souverän seines Wahlmobs. Usw., usf.: Überall da, wo, sei’s in Oberammergau, sei’s in Berlin die Zentralität verbindlich geltender Entscheidung bejaht wird, ist das Kapitalverhältnis als solches bejaht worden. Die Leidenschaft der Kämpfe widerspiegelt genau die Absenz subversiver Vernunft. Wo der Wahn des Politischen um sich greift, da ist die Herrschaft fein ’raus.
Marx wußte das, im Gegensatz zu den Marxisten, genau: „Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, daß statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staates, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen“ (1844).
Wie sagt das Sprichwort? Fleischmann schaut durch Wollmanns Laden, d.h. die Socken sind verschlissen, wenn auch nciht vom langen Marsch, und der groß Onkel guckt vor. Die Linkspartei ist eine fadenscheinige Angelegenheit.
Jungle World N° 35, 31.8.200
http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/bruhn-neue.linke.html

„Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“. So und ähnlich hallte es in diesem Sommer, genauer: während des letzten Gaza-Kriegs durch die Straßen deutscher und europäischer Großstädte. Synagogen wurden angegriffen und als „jüdisch“ identifizierte Menschen bzw. solche, die sich öffentlich mit Israel solidarisierten, physisch attackiert. Die Täter waren keine bestiefelten Nazis, sondern junge männliche Moslems. „Allahu Akbar“ und „Tod den Juden“ krakeelend, schwenkte dieser antisemitische Mob die palästinensische Flagge, die sich damit einmal mehr als die Fahne des dschihadistischen Terrors erwies.
In Essen zum Beispiel kam es am 18. Juli zu Flaschen- und Feuerzeugwürfen auf eine pro-israelische Gegenkundgebung. Untermalt wurde dieses Szenario durch „Adolf Hitler! Adolf Hitler“-Rufe. Der WDR meldete damals lapidar: „Es hat keine Anzeichen dafür gegeben, dass sich Extremisten unter diese Demonstration gemischt haben […] Bisher ist es alles ein bisschen brisant, aber friedlich.“ Nicht nur beim WDR wurden diese und andere antisemitische Ausschreitungen verharmlost und versucht, Israel die Schuld für die Aufregung junger Männer auf Deutschlands Straßen in die Schuhe zu schieben. So titelt beispielsweise die Taz zum Angriffskrieg der Hamas und den israelischen Verteidigungsaktivitäten: „Israel provoziert dritte Intifada“.
Nicht allein dass die Partei Die Linke schon Organisator der erwähnten Demonstration in Essen war, nein, die Bundestagsabgeordnete Inge Höger und andere Parteimitglieder sind Unterzeichner des „Appells der bundesweiten Bewegung für einen gerechten Frieden in Nahost“. Auf deren Homepage heißt es: „Wir solidarisieren uns mit dem Recht auf Widerstand der Palästinenserinnen und Palästinenser gegen das Besatzungsregime Israel.“ Womit Israel gemeint ist.
Frau Höger solidarisiert sich, unter Verweis auf die Charta der Hamas, in der das Existenzrecht Israels bestritten wird, mit dem eliminatorischen Antisemitismus der palästinensischen Führung. Was all diese Menschen eint, ob Redakteure und Auslandskorrespondenten verschiedenster Medienanstalten oder Parteigänger der Linken, ist ihr vehement vorgetragenes „Recht“, Israel kritisieren zu dürfen. Inzwischen haben sich alle Verantwortungsträger der Bundesrepublik pflichtschuldig von den antisemitischen Ausschreitungen von insgesamt Tausenden Jubelpalästinensern distanziert und nicht minder pflichtschuldig hinzugefügt, dass es selbstverständlich legitim sei, Israel zu kritisieren. Dass Israelkritik und Antisemitismus das gleiche sind und der Mob auf der Straße nur auf seine Weise von diesem „Recht“ Gebrauch gemacht hat, kommt in solchen Erklärungen nicht vor.
Wer sich dieser Tage gegen Freunde Israels stellt, begeht schon den Schulterschluss mit den antisemitischen Lumpen und deren dschihadistischem Glaubensbekenntnis. Wer es mit seiner Kritik am Antisemitismus ernst meint, der kommt nicht umhin, sich kompromisslos hinter den jüdischen Staat zu stellen.
http://www.redaktion-bahamas.org/aktuell/20141003detmold.html

Randale und Revolution
Das “Konzept Stadtguerilla” und die Gewaltmythen der Antiimperialisten und Autonomen
Joachim Bruhn
Es geht voran. So schnell hat die “Neue Linke” des kategorischen Imperativs sich entledigt, weder von der herrschenden Macht noch von der eigenen Ohnmacht sich verblöden zu lassen, daß allein die Geschwindigkeit dieser Verdrängung den Verdacht nahelegt, es habe nie eine “Neue Linke” gegeben. Zu schnell war die kurze Atempause zwischen dem kritischen Abtun der öffentlich anbefohlenen und dem begeisterten Aufbau der eigenen Dummheit vorbei, als daß nicht vermutet werden müßte, “Aufklärung” habe der Protestbewegung wenig mehr bedeutet als die günstige Gelegenheit, die langweilig gewordene Sklerose der Adenauer, Lübke und Kiesinger gegen lustvollere Gebrechen einzutauschen.
Kaum waren Mahatma Gandhi und Albert Schweizer entthront, da besetzten schon die proletarischen Kaiser W.I. Lenin und Mao Tse Tung ihre Plätze. Kaum waren die Idole des demokratischen Humanismus verabschiedet, schon herrschte in den Gazetten der Aufbauorganisationen der so aseptische wie exotische Geist des Lazaretts von Lambarene. Gegen die These, anders habe es wohl nicht kommen können, spricht nur eine kurze Irritation beim Übergang vom radikaldemokratischen Protest zum kommunistischen Aufbaueifer. Dem Zwang, die parteikommunistischen Konsequenzen zu ziehen, hätte durch die Erkenntnis, daß die radikaldemokratischen Prämissen bereits falsch waren, entgangen werden können. Es schien, als sei die “Trauer über den Verlust des bürgerlichen Individuums”[ 1 ] nicht nur geheuchelt, als stünde der Bruch mit dem Narrenkappenspiel der politischen Identität bevor, noch ehe es außer diesem Spiel nichts mehr geben sollte. Die APO der Ostermärsche war die Mobilmachung und “Politisierung von Staatsbürgern, die sich ihrer selbst bewußt wurden” [ 2 ]. Der Kampf für das Nachholen der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland, für die “politische Kultur”, überbot und radikalisierte das staatsbürgerliche Selbstbewußtsein soweit, daß es begann, sich vom bürgerlichen Leben zu emanzipieren, eigene Gestalt anzunehmen und sich rabiat gegen seine soziale Naturgrundlage zu wenden. Aus der heillosen Entzweiung des Citoyen mit sich selber, aus seinem Versuch, seinen schizophrenen Doppelgänger, den Bourgeois, zu vernichten und doch Bürger zu bleiben, zogen die ML/AO-Gruppen den Schluß, den Idealen der Verfassung sei nur mit revolutionären Methoden auf die Sprünge und damit zur Wirklichkeit zu verhelfen. Um zu staatsbürgerlichen Resultaten zu kommen mußte zu bolschewistischen Methoden gegriffen werden. Die plötzliche Wiederauferstehung des bürgerlichen Individuums als staatskapitalistischer Reform- oder auch Revolutionsbeamter [3 ] bewies, daß sein Tod nur ein Scheintod war, der scheinbare Verlust aber wirklichen Gewinn einbrachte; Als maostalinistischer Kader reinkarniert, streifte es sich die “politische Löwenhaut” [4 ] des Jakobiners über und avancierte als selbstloser Liebhaber der Arbeiterklasse.
Die Studentenbewegung blieb so in proletarischer Gestalt das bürgerliche Selbstmißverständnis, das sie zuvor schon war. Ihre Organisationswut bezeugte den Schrecken der trostlosen Vereinzelung im Konsum, dem die Eltern, ihres rücksichtslosen Einsatzes in der Produktionsschlacht um den Wiederaufbau der Volksgemeinschaft zum Trotz, Ende der 50er Jahre erlegen waren, aber auch ihren Willen, es diesmal besser zu machen. Stachanov war die Antwort auf die Sinn- und Zwecklosigkeit des bürgerlichen Lebens [ 5 ]. Die heute unverständliche Leidenschaft der Organisationsdebatten verdankte sich diesem sublimierten Schrecken und der panischen Angst, die Revolution, die nicht mit der wissenschaftlichen Präzision disziplinierter Berufsrevolutionäre kalt geplant und durchgeführt würde, werde zu keinem anderen Ergebnis führen als zuvor der Wiederaufbau.
Eine Revolution, die ihrem Begriff entsprechen soll, läßt sich nicht organisieren. Daß die Organisation es sei, die die Vermittlung zwischen revolutionärer Notwendigkeit und sozialer Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis leisten müsse, ist eine Mystifikation, hinter der sich der überwertige Wunsch nach Gemeinschaft davor schützt, die eigene Blamage noch wahrzunehmen. Die Revolution ist ebensowenig eine Frage der Organisation wie der Bau einer Brücke Frage einer spontanen Eingebung in Sachen Statik.
Die Linke, bemüht, die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zu erfinden, zu sein und sich als diese Vermittlung zu betätigen (worin schon ihre gesamte Geschichte besteht), erlag darin der bürgerlichen Revolutionsideologie, die die Revolution unter den manipulierbaren Gegenständen des technisch Machbaren klassifiziert, um sich sodann in Gestalt der Polizei auf die Fahndung nach ihren Ingenieuren und Technikern zu begeben. (Hierin läge ein Grund mehr, Amnestie für die politischen Gefangenen des bewaffneten Widerstandes zu fordern: Wenn es möglich ist, den genialsten “Hackern” die Strafe zu erlassen, um sie in den Computerkonzernen zu beschäftigen, warum sollte es unmöglich sein, die staatlichen Gewalttechniker dazu zu bewegen, ihre rein professionelle Hochachtung für das Revolutionsingenieurwesen auch öffentlich, als Amnestie eben, auszudrücken?). Der in der “Neuen Linken” allseits geteilte Wahn, es ginge darum, zwischen “Sein” und “Bewußtsein” zu vermitteln, diese Vermittlung zum Programm zu erheben und als Organisation zu praktizieren, führte dazu, daß sie Revolutionstheorie betrieb, anstatt die Geschichte der Revolutionen zu studieren. Die Linke memorierte Lenins Staat und Revolution bis zur Bewußtlosigkeit, aber sie ignorierte die Geschichte der Oktoberrevolution. Sie paukte Parteigeschichte und beherrschte all die Programme, Kongresse und Fraktionen auswendig; die Geschichte der Räte war ihr gleichgültig oder bloße Illustration. Sie machte sich daran, ökonomisches Sein und ideologisches Bewußtsein zu vermitteln und konnte darüber nicht mehr wahrnehmen, daß sie längst praktisch zur deutschen Misere vermittelt waren, aneinanderhingen wie Pech und Schwefel. Statt die Notwendigkeit der Revolution auf den Begriff zu bringen, diesen Begriff in Kritik und Polemik zu entfalten und im übrigen kontrafaktisch auf bessere Zeiten zu hoffen, ließ sie es mit der wissenschaftlichen Behauptung dieser Notwendigkeit bewenden, erhob sie zum Glaubenssatz und stürzte sich in den Aufbau der zur Vermittlung des Glaubens nötigen Apparate. Das vorgebliche Mittel war der eigentlich gewollte Zweck.
Im Konzept Stadtguerilla legte die Rote Armee Fraktion 1971 den Finger auf diese Wunde, ohne jedoch eine andere Medizin zu empfehlen als eben jenes Spektakel von Theorie und Praxis, von Sein und Bewußtsein, an dem die achtbare Linke sich längst berauschte. So treffend die Kritik, die Neue Linke sei nur ein “Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich vor einer imaginären Jury … den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen”, und so gerecht der Vorwurf, “mit Lukács langfristig zu promovieren ist ihnen wichtig, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen suspekt” [ 6 ], auch sind – die Kritik ist nur Ausdruck eben jener Vermittlungsphobie, deren Resultate sie denunziert. Am Fundament des “wissenschaftlichen Sozialismus” selber wurde nicht gekratzt, vielmehr noch zementiert.
Revolutionstheorie, deren praktische Anwendung das Konzept Stadtguerilla einklagte und zu deren militärwissenschaftlicher Fundierung ihre Thesen beitragen sollten, ist ein logischer Widerspruch in sich. Abgesehen davon, daß keine historische Revolution jemals organisiert worden ist, läßt sich nur jener Gegenstand theoretisieren, der den Geboten der Logik, der Widerspruchsfreiheit und des Verstandes an sich selbst schon folgt. Die bürgerliche Gesellschaft stellt aber nicht den seiner selbst noch unbewußten Sozialismus dar, sondern dessen gerades Gegenteil – postfaschistische Gesellschaft im genauen Gegensatz zu freier Assoziation. Da das Kapital als soziales Verhältnis nicht das entfremdete, aber theoretisch rekonstruierbare Verhältnis der Arbeit zu sich selber darstellt, “eigentlich” und “an sich” also keine Form des Selbstwiderspruchs der arbeitenden Gattung Mensch ist, kann es, im Gegensatz zur Notwendigkeit der Revolution, keine Theorie der Revolution geben. Gäbe es die Theorie trotzdem, so vermöchte sie nichts anderes zu beweisen als die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes. Wäre Revolution, was Theorie fordern muß, ein ableitbarer, bedingter Akt, “eine rationale, planbare Tat, dann wäre sie die Vernichtung ihrer selbst als eines Aktes der Freiheit, in dem sich, man weiß nicht wie, ein neuer Anfang setzt, ein gesellschaftlich-praktisches Aha-Erlebnis, das den Begriffshorizont revolutionärer Pädagogen und didaktisch geschulter Propagandisten notwendig überschreiten muß. Wäre schließlich Revolutionstheorie möglich, dann wäre die Revolution eine Probe aufs Exempel wie der Schokoladenpudding eine Probe auf Dr. Oetkers Rezept. Die Probe auf Dr. Oetker ist der Geschmack, die Probe auf jede Revolutionstheorie ihre praktische Widerlegung.
Die Kritik der RAF am neuen deutschen Kathedersozialismus der Marx-Engels-Exegeten – “Praxislos ist die Lektüre des Kapital nichts als bürgerliches Studium” [ 7 ] – zielte ebenso wie der Einwand gegen den diskreten Legalismus der Parteiaufbauer – “metaphysische Verlängerung der Legalität” [ 8 ] – ins Zentrum der neulinken Vorstellung gelingender Aufklärung. Indem die RAF auf die Verbindung von Aufklärung und Aktion beharrte, kritisierte sie bereits die pädagogische Idee vom “Lernprozeß”, mit der die akademischen Sozialisten die Verstaatlichung der Protestbewegung rechtfertigten. Vermittlung von Wissen als Aufklärung auszugeben hat seinen Frieden mit Herrschaft schon geschlossen, bevor noch eine Unterrichtseinheit erstellt und bevor noch der Staat das erste Mal aus dem Kapital “abgeleitet” wird: Ist doch als Voraussetzung immer schon unterstellt, Herrschaft beruhe auf nichts anderem als auf dem Nicht-Wissen der Beherrschten. Das Dogma der pädagogischen Linken: “Wissen ist Macht” signalisiert den Beherrschten im einfachen Umkehrschluß nur, daß die Macht alles weiß und jeder Widerstand zwecklos ist. Lernprozessse aber erfordern unbedingte Ruhe und Andacht – verständlich daher, daß die achtbare Linke den Theorien wie den Aktionen der RAF nicht mehr zu antworten wußte als: Nicht hier, nicht jetzt, nicht das. Die Kritik, die RAF verwechsle “in einem typisch bürgerlichen Mißverständnis die proletarische Klassengewalt mit dem privatisierten Faustrecht kleiner Gruppen”, führte nicht zur näheren Bestimmung dessen, was denn “proletarische Klassengewalt” sei, sondern allein zu der Aufforderung, “in den Gewerkschaften zu arbeiten, konkrete Interessenpolitik zu betreiben” und “dabei auch keine Angst vor einer Praxis zu haben, die im plakativen Revolutionsverständnis als reformistisch denunziert wird, so Elmar Altvater [ 9 ]. Die bewaffnete Kritik des Legalismus mündete in der Verhärtung des Kritisierten zum Syndrom. Der bewaffnete Aufstand würde zum Anathema der “Neuen Linken” – ein früher Grund dafür, daß sie nur Friedensforscher hervorgebracht hat. Die “Neue Linke” gelangte noch nicht einmal auf den Standpunkt offizieller Militärwissenschaft, leistete noch nicht einmal die nüchterne Kritik, die RAF berufe sich zu Unrecht auf Blanqui: der nämlich wußte, wann er aufzuhören hatte. Am 18. August 1870, wenige Wochen vor der Kommune, wagte er mit dreihundert Genösse” den Aufstand in Paris. Als sich seine Auffassung des Verhältnisses von organisierter Verschwörung und allgemeinem Volksaufstand nicht bestätigte, als die späteren Kommunarden nicht zu Hilfe kamen, schickte er seine Genossen wieder nach Hause – “angesichts der allgemeinen Gleichgültigkeit” [ 10 ].
Innerhalb der Zwangsvorstellung, Theorie und Praxis vermitteln zu müssen, ist die Idee des Lernprozesses allerdings ebenso rational wie die, Aufklärung des Bewußtseins durchs praktische Bombardement des herrschenden Seins und Bewußtseins treiben zu wollen. Banal wäre es, unter zwei fixen Ideen für die sich entscheiden zu wollen, die sich so ernst nimmt, daß, wer sie glaubt, sich zum Opfer bringt. Wer gratuliert schon einem Paranoiker dafür, daß er, im Wahn, hinter der Mauer lauere die verhaßte Schwiegermutter, mit dem Kopf durch die Wand will? Was wäre gewonnen, wenn er den blutigen Kopf sich ersparte, der Zwangsvorstellung aber weiter anhinge?
Der Wahn der Vermittlung wird praktisch in der Fahndung nach dem revolutionären Subjekt. Das Interesse, eine Revolutionstheorie auszuarbeiten, erfordert als die Bedingung seiner Möglichkeit die Existenz einer irgendwie gearteten Subjekt/Objekt-Einheit, das Sein eines Dinges also, das Handgreiflichkeit und Utopie vereint, eines Dinges, das zwar objektiv und “an sich” schon ist, subjektiv und “für sich” aber leider noch nicht zu welchem Bewußtsein der Revolutionstheoretiker ihm verhilft. Wo der Kathedersozialist die gewerkschaftseigene Arbeiterbewegung als derart metaphysisch-praktisches Subjekt/Objekt setzt, da setzt der Stadtguerillero, mit gleichem Recht, als revolutionäres Subjekt sich selbst. Zwischen der seminarmarxistischen Vorstellung, im Klassenkampf, unter der Führung einer umsichtig Theorie und Praxis vermittelnden Instanz, kämen die Arbeiter langsam zu sich und erführen sich als das, was sie aber immer schon waren, und der terroristischen These, Stadtguerilla erweise kämpfend ihre eigene Möglichkeit und konstituiere gehend erst den Boden, auf dem sie geht, herrscht erkenntnistheoretische Waffengleichheit und keine kann der anderen ihr Recht bestreiten.
Wie aber kann ein Subjekt sich als revolutionäres erklären, wie an sich selbst die Identität von Vernunft und Interesse praktisch erweisen? Subjekt und Objekt der Revolution zugleich zusein, das notwendige Absolute im empirischen Sozialen darzustellen und so die These: “Die politischen Möglichkeiten werden solange nicht wirklich ausgenutzt werden können, solange das Ziel, der bewaffnete Kampf, nicht als Ziel der Politik zu erkennen ist” [ 11 ], zu bewahrheiten, das provoziert schon die Frage nach der persönlichen Identität des Kämpfers. Wie kann er seine Entscheidung zur Illegalität als eine rationale noch festhalten, wie die im Konzept Stadtguerilla schon vorausgesetzte “permanente Integration von individuellem Charakter und politischer Motivation, d.h. politische Identität” [ 12 ] fortsetzen, wie den Zusammenhang von freier individueller Entscheidung und politischer Notwendigkeit unter den Horizont der Freiheit überhaupt stellen? Die Antwort der RAF zeigt das Dilemma wie die falsche Lösung zugleich: “Ohne den Rückzug in bürgerliche Berufe offen zu halten, ohne die Revolution nochmals an den Nagel des Reihenhauses hängen zu können, also auch ohne das zu wollen, also mit dem Pathos, das Blanqui ausgedrückt hat: ‚Die Pflicht eines Revolutionärs ist, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen, bis zum Tod zu kämpfen‘”. [ 13 ]
Der freie Wille zur Revolution kann nur als Zwang festgehalten werden, die rationelle Entscheidung nur als die irrationale, zur persönlichen Identität, zur Zwangsmoral, verdichtete existentielle Dezision, die sich vor ihrer eigenen Haltlosigkeit schützen muß. Am eigenen Leibe demonstriert so die RAF das Dilemma der Revolutionstheorie, .zwischen Notwendigkeit und Wirklichkeit vermitteln zu wollen. Da die Vermittlung real, als negative, immer schon besteht, kann sie nur zur Moral verdoppelt werden. Das an Revolution interessierte Individuum, das sein Interesse als vernünftig allgemeines Interesse nicht erweisen kann, ist gezwungen, den fehlenden Zusammenhang gewaltsam herzustellen. Paradox erweist es damit, was gerade bestritten werden sollte: Die Revolution ist zu dem geworden, was sich die bürgerliche Gesellschaft immer schon unter ihr vorstellte – ein Moment sozialer Pathologie, eine Halluzination und ein Hobby, eine Leidenschaft, die für sich die gleiche Notwendigkeit in Anspruch nehmen kann wie irgendeine andere Begierde, wie Surfen oder Kriminalromane lesen. Daß der Sozialismus zur Privatsache wurde in einer Gesellschaft, in der jeder nach seiner Façon selig werden kann, beweisen gerade seine resolutesten Vorkämpfer. Als Gegenstand der Moral rangiert die Revolution unter den Geschmacksfragen, über die sich nicht streiten läßt. Am Ende der Suche nach Vermittlung – das in den Letzten Texten Ulrike Meinhofs meistgebrauchte, stets bittflehend hervorgehobene Wort [ 14 ] – steht die völlige Vermittlungslosigkeit und ihr kategorischer Imperativ: Zwang zur existentiellen Entscheidung. In den Worten von Holger Meins: “Entweder Schwein oder Mensch. Entweder Überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod. Entweder Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts” [ 15 ], reflektiert sich das objektive Dilemma, daß die revolutionäre Notwendigkeit nur in völliger Privatheit noch erkannt werden kann. Die bürgerliche Gesellschaft hat es soweit gebracht, daß vernünftig ihre revolutionäre Wahrheit nicht mehr behauptet werden kann, sondern zum Wahn wird. Das Interesse, sie zu revolutionieren, kann außer des trotzigen “Ich will” keine weiteren Gründe mehr beibringen.
Es liegt in der traurigen Dialektik des bewaffneten Kampfes, daß sein Existentialismus erst unter den Bedingungen der Isolationshaft praktisch wahr wird. Hier, im Gefängnis, holt er sich selber ein, reinigt sich von allen empirischen Resten und wird mit sich selbst identisch – in völliger Leere, als das Nichts, das sich bis zum Ende mit Nichts zu Nichts vermittelt hat und nun als reines Sein, als pures Leben erscheint. “Die absolute Einsamkeit, die gewaltsame Rückverweisung auf das eigene Selbst, dessen ganzes Sein in der Bewältigung von Material besteht, im monotonen Rhythmus der Arbeit, umreißt als Schreckgespenst die Existenz des Menschen in der modernen Welt. Radikale Isolierung und radikale Reduktion auf stets dasselbe hoffnungslose Nichts sind identisch. Der Mensch im Zuchthaus ist das wirkliche Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in der Wirklichkeit erst machen soll”, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. [ 16 ] Anders als im Ergebnis der Anwendung physischen Zwanges jedoch konnten sie sich die Reduktion des Menschen auf nichts als das nackte Leben nicht vorstellen. Die modernen Freunde des bewaffneten Kampfes beweisen das Gegenteil.
Zu Beginn war die Rote Armee Fraktion Terrorismus im eigentlichen Sinne: “Spontane Revolte des Gefühls gegen alle Vernunft – großherzig, aber vergeblich” [ 17 ]; der Versuch, praktisch zu beweisen, daß dem Revolutionär die Zeit der Revolution immer reif ist, daß ihre Notwendigkeit immer schon besteht. Darin war sie Fortsetzung der Revolutionstheorie mit praktischen Mitteln, der Protest gegen die kathedersozialistische Trennung von Notwendigkeit und Möglichkeit, das Wissen, das keine noch so vollendete, keine noch so authentische “Rekonstruktion des Marxismus” ein Beweis gegen die unbestrittene Geltung falscher Verhältnisse ist. Weil die Radikalisierung des Protests zum Widerstand außer dem Willen nichts hinter sich hatte, konnte der Widerstand, um seiner selbst willen fortgesetzt, keine andere Zukunft vor sich haben als die, in absoluter Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft, doch ihr innerstes Gesetz, ihren objektiven Nihilismus, zu reproduzieren. Wie Blanqui der erklärte Ahnherr ihres Aufbruchs war, so ist Netschajev der diskrete Notar ihres Endes: “Der Revolutionär … hat kein Interesse an sich selbst, keine Affairen, keine Gefühle, keinen Besitz, nicht einmal einen Namen. Alles ist in ihm von einem einzigen, alles einnehmenden Interesse … besessen: der Revolution. … Er sollte sie (seine Genossen) als Teil eines allgemeinen Fundus revolutionären Kapitals ansehen, das zu seiner Verfügung steht. Er sollte seinen Anteil an diesem Kapital ökonomisch einsetzen, um den größtmöglichen Profit daraus zu schlagen. Sich selbst soll er als Kapital ansehen…” [ 18 ]. Der existentialistische Protest gegen den Kapitalismus mündet in der konsequenten Selbstverwertung des widerständigen Subjekts; das gerechte Attentat verkommt zur perfekten Liquidation.
Schon in der Frühphase vermochten es die Vertreter des bewaffneten Kampfes kaum, das Rationelle ihrer These in anderer als mystifizierter Form festzuhalten. Wie die legale Linke in Programmparteien einerseits, in Spontis und Stadtindianer andererseits zerfiel, sich in “Aufklärung” oder “Betroffenheit” spaltete, so auch ihr illegaler Schatten. Den Jesuiten des militarisierten Klassenkampfes traten seine Hedonisten zur Seite. Der asketische Jakobinismus der RAF provozierte als seinen Widerpart die lebenslustige proletarische Bohème der Haschrebellen, des “Blues” und der “Bewegung 2. Juni”. Die Pflicht zum Widerstand wurde die Lust dazu entgegengesetzt; der Vorwurf der Spontis an die Marxisten-Leninisten, unfähig zur “Vermittlung” von großer Politik und gelebtem Alltag zu sein, wiederholte sich im Untergrund. “Ein Intellektueller zieht den Moment, wo er Gewalt anwendet, aus einer Abstraktion, weil er sagt, ich mache Revolution wegen des Imperialismus oder aus anderen theoretischen Beweggründen. Daraus leitet er den Anspruch ab, daß er Gewalt einsetzen kann, den anderen gegenüber”, schreibt Bommi Baumann und unterstellt schon, ein Intellektueller könne nicht auch vernünftigere Gründe haben als ausgerechnet theoretische. Aber die “Guerilla diffusa” ist nicht weniger abstrakt als der antiimperialistische Zentralstaatsterror: “Wir haben mit der Gewalt von Kindesbeinen an gelebt, das hat eine materielle Wurzel. Wenn Zahltag ist, der Alte kommt besoffen nach Hause und verprügelt erstmal seine Alte, das sind doch die ganzen Geschichten. … Für dich ist Gewalt eine ganz spontane Sache, die du ganz leicht abwickeln kannst”. [ 19 ] Die proletarischen Bohème verachtet gerade das Rationelle an der RAF, die Gewalt auch als moralisches Problem aufzufassen und daher legitimieren zu müssen; ein Lebensgefühl läßt sich nicht legitimieren, es muß sich ausdrücken. Der Bohème-Terrorist ist immer schon der lammfromme Müslifresser, der Gewalt sagt und Liebe meint: “Daß du dich für den Terrorismus entscheidest, ist schon psychisch vorprogrammiert. Ich kann es heute an mir selber sehen, das ist einfach Furcht vor der Liebe gewesen, … aus der du dich flüchtest in die absolute Gewalt”. [ 20 ]
Der aus dem Umkreis des späteren “2. Juni”, von der Gruppe “Tupamaros Westberlin”, vorbereitete Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin, pünktlich zum 31. Jahrestag der “Reichskristallnacht” 1969 inszeniert, macht deutlich, wohin das “spontane” Gefühl in Deutschland immer noch führt. Der frustrierte Wunsch, von allen gehätschelt und geliebt zu werden, schlägt abrupt und gnadenlos in die Lust am allgemeinen Massaker um, dessen erstes Opfer in Deutschland natürlich die Juden sein müssen. Bommi Baumann dokumentiert, Jahre später, aber immer noch stolz, ein Flugblatt zu dieser Aktion. Darin heißt es: “Am 31. Jahrestag der faschistischen Kristallnacht wurden in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit ‚Schalom Napalm‘ und ‚El Fatah‘ beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert. Beide Aktionen sind nicht mehr (!) als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren, sondern sie sind ein entscheidendes Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität. … Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden”. [ 21 ] Der Judenhaß, unter linken Deutschen zum “Antizionismus” veredelt, erscheint, durch keine Reflexion gebrochen, als “eine ganz spontane Sache”. Das einzige, was Baumann daran noch zu bemängeln weiß, fällt in die Sparte Kameraderie und Manöverkritik, “denn daß wieder Deutsche in der jüdischen Synagoge eine Bombe deponieren, das war nicht mehr zu vermitteln” [ 22 ]. Dem Lebensgefühl existiert keine Intention, die durchs Resultat zu blamieren wäre; es ist immer schon über jedes Resultat hinaus und feiert gedächtnislos die Vermittlung mit sich selber.
Gewalt, rationelles Mittel revolutionärer Politik, die es ernst meint und nicht zum kritischen Dialog mit Herrschaft sich verflüchtigen will, verkommt zum Dogma im Zustand der Unmöglichkeit dieser Politik. Ohne politische Strategie ist Gewalt noch nicht einmal Taktik – der Stadtguerillero wird vom Amokläufer ununterscheidbar. Wie dessen blinde Wut erst im unterschiedslosen Massaker ganz mit sich identisch wird und sich der Person restlos, noch ohne die Kontrolle der Selbsterhaltung, bemächtigt, so “materialisiert sich die Guerilla” für Holger Meins “im Kampf, in der revolutionären Aktion und zwar: ohne Ende – eben: Kampf bis zum Tod und natürlich kollektiv” [ 23 ], so ist die Guerilla nichts als praktizierter Existentialismus und “Sein zum Tode”. Wenn es stimmt, “daß Leben und Subjektivität nur im bewaffneten antiimperialistischen Kampf möglich sind” [ 24 ], dann sind Kampf und Leben ununterscheidbar. Diesem Existentialismus sind “Gewalt und Leben beinahe Synonyme. Die keimende Ähre, die den hartgefrorenen Boden sprengt, der Schnabel des Kükens, der die Eischale zerschlägt, die Befruchtung der Frau, die Geburt eines Kindes, sind nicht mit der Schuld der Gewalt beladen. Niemand klagt ein Kind, eine Frau, ein Küken, eine Knospe, ein Getreidekorn an”. [ 25 ] Wo es außer Fressen und Gefressenwerden nichts mehr gibt, ist jede Justiz nur die angemaßte Gewalt des zufällig Stärkeren. Die bürgerliche Gesellschaft, deren innerste Tendenz es ist, in ein naturwüchsiges Gehäuse der Hörigkeit sich zu verwandeln und deren praktische Fortschritte in der Mutation zum Ameisenstaat unübersehbar sind, hat kein Recht, die Gewalt des Guerillero als “unnatürlich”, als “unmenschlich” oder gar als “illegal” abzuurteilen.
In diesem Verhältnis sehen die modernen Freunde des bewaffneten Kampfes, die Antiimperialisten und große Teile der Autonomen, natürlich keinen Grund, sich für die Amnestie stark zu machen, sondern nur eine Ermächtigung mehr, den Heroismus des Opfers zu feiern. Ohne die Genossen im Gefängnis kein Genuß im Kampf. Als militarisierten Spontis gilt ihnen Revolution als die bloße Steigerungsform von Militanz. Daß sie die “Gewaltfrage” ebenso lustvoll, d.h. inquisitorisch, stellen wie ihre feindlichen pazifistischen Brüder, deutet schon an, daß der einstige Gegensatz der legalen zur illegalen Linken zum Schaukampf feindlicher Temperamente geworden ist. Zwischen der pazifistischen Vorstellung, die Gesellschaft sei letztlich ein menschliches Netzwerk und staatliche Gewalt daher auf Mißverständnisse der Kommunikation zurückzuführen, und der antiimperialistischen Vorstellung, die Staatsmacht “ist die Militärstrategie, Aufstandsbekämpfung, Maschine – aber hohl, nur Gewalt, sonst nichts” [ 26 ], ist der Unterschied nur der, daß die unentscheidbare Frage, ob die BRD eher einem Freizeitpark oder einem Knast gleicht, je nach Gusto doch entschieden werden muß. Zwischen den Satyagraha-Normen Mahatma Gandhis und den Hymnen auf den bewaffneten Kampf können nur noch Zufall des Charakters und Willkür der Wahl entscheiden. Horst-Eberhard Richter, der die latente Gewaltbereitschaft therapeutisch bis ins letzte Glied ausrotten möchte und dafür in der Friedensbewegung ein dankbares Publikum fand, und Petra Kelly, der, ganz in der Tradition des politisierenden Protestantismus, das Werk nichts gilt, wenn die Absicht nicht rein war, stellen nur die domestizierte Variante der anonymen Autoren dar, die im Januar 1986 nach Frankfurt zum “Kongreß antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa” einluden. “Der Staat, der sich in seinem totalen Machtanspruch über alles, was sich selbstbestimmt organisieren will, drüber stülpt, die Destruktivität, die alle Lebensäußerungen besetzt: Hier ist die Wurzel der Kämpfe nicht die materielle Bedürfnissicherung, sondern das Bedürfnis zu leben – die subjektiven Ziele nach selbstbestimmter Kollektivität. Das ist hier die Triebfeder zu kämpfen, und wo ‚Leben‘ erst da wieder anfängt, wo mans selber zum Bruch bringt mit der ganzen ‚Normalität‘ der Metropolenwirklichkeit – antagonistisch dazu ist, weil man kämpft, und von da aus die Rückeroberung von Identität und Klassenbewußtsein läuft”. [ 27 ]
Die Entscheidung für oder gegen die Gewalt ist, ebenso wie die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen oppositioneller Gewalt, Ausdruck einer existentiellen Dimension, an sich unbegründbar und ganz von den Ansprüchen abhängig, die einer an seine psychische Innenausstattung, seine Identität, stellt. Die Zeitschrift Radikal meint: “Es gibt keine Argumente für oder gegen den totalen Angriff auf den Imperialismus mit allen Mitteln, das ist eine persönliche Willensentscheidung und weniger ein Ergebnis theoretischer Diskussionen… Deine Motivation für den Kampf kannst nur Du selber sein”. [ 28 ] Während die antiimperialistische Fraktion ihre Identität vorzugsweise mit den reinen Negationen der bürgerlichen möbliert, d.h. mit nichts, und dafür auch die angemessene sprachliche Form, das seiner selbst kaum noch mächtige Gestammel, findet, da richten sich die Autonomen mit den Überbleibseln der früher unter Spontis und Stadtindianern beliebten “Politik in erster Person” ein. Die Lektüre der Radikal erhärtet den Verdacht, bei den Autonomen handle es sich um die nun schwarzledern drapierten lila Latzhosen von Vorgestern. Konsequent meint ihre Kritik am bewaffneten Kampf der RAF und den Antiimperialisten nur das eine: Wir sind eben anders! Alles weitere ist eine Frage der Vermittlung: “Kommunikation und Guerilla sind zwei Dinge, die sich nicht voneinander trennen lassen. Die Guerilla muß sich vermitteln können… (Guerilla) ist eine Perspektive, die für uns, die wir uns hier draußen mit dem Alltag auseinandersetzen, völlig fremd ist. Weil wir in erster Linie das Leben wollen, damit wir es in Kampf umwandeln, nicht den Kampf als unser Leben begreifen.” [ 29 ] Wo der Antiimperialismus eingesteht, daß es zwischen der revolutionären Notwendigkeit und den gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht die geringste Vermittlung gibt, da erblickt die Lebensfreude der Autonomen ein bruchloses Kontinuum zwischen Bedürfnis und Kommunismus. “Käseklau und Bombenbau” [ 30 ] sind nur verschiedene Formen ein und desselben Bruchs mit der Legalität. Die allgemein geübten Praktiken der Steuerhinterziehung oder die massenhafte Übung, bei Rot über die Straße zu gehen, beherrscht längst der Traum von der kommunistischen Sache, der nur das Bewußtsein dieser Sache fehlt, um sie wirklich zu haben. “Der Antiimperialismus”, wie die Radikal gegen den Antiimperialismus einzuwenden weiß, “beginnt im Klassenzimmer: Wenn Schüler lernen, auf Noten zu scheißen, wenn sie Klassenarbeiten verweigern, sich der Schulpflicht entziehen; im Elternhaus, wenn sich die Leute der elterlichen Autorität widersetzen, die erdrückende Sexualmoral durchbrechen; in der Fabrik: Absentismus und Sabotage; in jedem von der Tauschwertlogik befreiten Akt: Kaufhausdiebstahl ist Antiimperialismus!” [ 31 ] Der autonome Blick durchschaut den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang mühelos auf einen Kosmos widerständigen Lebens. Im feierabendlichen Gemecker über die Marotten und Schikanen der Vorgesetzten erblickt er die zarten Keime prinzipieller Autoritätsverachtung, an denen “anzuknüpfen” wäre – nicht, was doch näher läge, den Heinz-Rühmann-Charakter deutscher Kritik: Kritisieren um zu beweisen, daß man die Geschäfte der Obrigkeit besser besorgen kann. Die Unmöglichkeit, den vernünftigen Zusammenhang von Interesse und Revolution aus dem blanken Willen herzuleiten und so die autonome Selbstwertsetzung dauerhaft auf das “orgiastische Lebensgefühl” [ 32 ] der Straßenkämpfe zu stellen, bekennt sich im Rückgriff auf Althergebrachtes: “Für uns negative Bedeutung haben, weil wir nur ihren reaktionären Inhalt kennengelernt haben, Wörter wie: Geschichte, Moral, Volk, Leid, Hunger, Vorfahren, Eltern.” Ihr selbst seien, gesteht die Radikal-Autorin, “diese Begriffe auch ziemlich neu; ich habe in der letzten Zeit gemerkt, wie viel fortschrittliche Kraft in ihnen stecken kann.” Es scheint, als seien die Autonomen dabei, der Friedensbewegung mit einiger Zeitverzögerung in den inneren Kampf gegen die “Schmarotzerbedürfnisse” [ 33 ] zu folgen. Autonomie mündet in neue Volkstümelei – ein Ergebnis, das die achtbare Linke, bevor sie sich in grünes Wohlgefallen auflöste, mit einer veritablen Bloch-Debatte erst noch rechtfertigen mußte.
Hatte das Konzept Stadtguerilla noch versucht, den bewaffneten Kampf traditionalistisch, im Rahmen der klassisch marxistischen Identität von Kapital- und Revolutionstheorie, zu begründen, so gelangte die RAF im Resultat doch nur dazu, wie jede andere therapeutische Richtung auch, Beweggrund und Ziel ihres Handelns in der “Wiederherstellung der vollen Dimension des Menschen” [ 34 ] zu erblicken. Die Fahndung nach einem revolutionären Subjekt, das der theoretischen Forderung genügen konnte, völlige Immanenz wie revolutionäre Transzendenz des Kapitalverhältnisses zugleich zu sein, verendete im Existentialismus, der, als die Kapitalform des Subjekts, in der unendlichen Fülle seiner vollendeten Leere schwelgt. Waren die Theoretiker der Autonomie bemüht, ebenfalls auf dem Boden des klassischen Marxismus, das militante Subjekt ausfindig zu machen, das den bewaffneten Kampf, im Gegensatz zur RAF, vom Kopf auf die Beine stellen könnte, so genügte zwar das Produkt ihrer Subjekterschleichung, der “Massenarbeiter”, ebenfalls der theoretischen Prämisse und konnte sogar, mit Blick auf die französische “Gauche prolétarienne” und die italienischen “Brigate rosse”, gesellschaftliche Evidenz beanspruchen – so gelangten sie im Ergebnis doch nur zu der Forderung, das revolutionäre Subjekt existentiell zu erfühlen und moralisch aus eigener Machtvollkommenheit vorwegzunehmen. Die Hoffnung etwa Karl-Heinz Roths, “der Ausnahmezustand des Arbeiteralltags (werde) zur antagonistischen und nicht weniger alltäglichen Arbeiter-Guerilla führen”, einfach deshalb, weil die Negation der Arbeit durch das Kapital nur der anschließenden Negation des Kapitals durch die Arbeit wegen geschehe, führte nur dazu, noch jede Randale als revolutionär zu rechtfertigen und jeden Rocker zum Revoluzzer zu stilisieren. Nach wenigen Jahren schon hatte sich die These, “daß der barbarisierte und entzivilisierte Massenarbeiter, die bislang brutalste Negation der befreiten kommunistischen Gesellschaft durch das Kapital, in seinem Widerstand notwendig am konsequentesten zur Negation der Negation übergehen muß” [ 35 ], blamiert. Die Negation der Arbeit wollte und konnte nicht neue Position werden, zumindest nicht aus sich selbst heraus. Es lag in der Konsequenz der Subjektfahndung, die Weigerung des Massenarbeiters, die konkrete Utopie wie gefordert aus seiner völligen Leere zu gebären, dahingehend zu interpretieren, er mache sich in seiner Verachtung der Arbeit diese Mühe nur deshalb nicht, weil er seinen Inhalt in Gestalt der Alternativbewegung schon fertig vorfände: “Der Kampf gegen die Arbeit ist nichts anderes als der Kampf für die soziale, selbstbestimmte Tätigkeit der Massen in der Gemeinde. Indem das Subjekt sich der verkehrten Pseudo-Objektivität der zweiten Natur in Gestalt der kapitalistischen Fabrik entzieht, kehrt es umso entschlossener … zu seinem Alltagsleben zurück, und beginnt, indem es sich alternativ zum ‚wir‘ befreit, die zerstückelten sozialen Sphären … zugunsten der Kommune neu zusammenzusetzen”. [ 36 ] Kaum hatte der radikale Linkskommunismus begriffen, daß sein Inhalt aus “nichts anderem als” dem neuesten deutschen Mief der Wohngemeinschaften bestehen sollte, da brachen die Theoretiker der Autonomie bereits nicht nur mit der Einheit von Kapital- und Revolutionstheorie, sondern, um zumindest an der Revolutionstheorie festzuhalten, mit dem Marxismus überhaupt und erklärten sich zu Erben der Narodniki der Zarenzeit. Die Narodniki, die zu ihrer Zeit tatsächlich davon ausgehen konnten, was die RAF allein zu halluzinieren vermag, daß der “Riß zwischen Gesellschaft und Staat in den Metropolen” [ 37 ], wenn auch noch nicht vollzogen, so doch offenkundig sei, sollten zum .Vorbild der “existentiellen Entscheidung” herhalten, die “eigenen Erfahrungen und Lernprozesse so weiterzuentwickeln, daß analytische Einsicht und praktisches Handeln wieder miteinander übereinstimmen” [ 38 ]. Die Praxis, von der Theorie einstweilen getrennt, mußte weitergehen; auf ihre intellektuellen Unkosten wurde ein spekulativer Kredit aufs Existentielle aufgenommen. Auch dieser Versuch ist mittlerweile bankrott, und es macht die Ehrlichkeit der Zeitschrift Autonomie aus, die Pleite auch zuzugeben und sich, auf der Suche nach dem Subjekt, nicht mehr der Politik, sondern der Geschichtswissenschaft zu widmen. Die Autonomie hat erkannt, daß die revolutionäre Linke in Deutschland nur die traurige Wahl hat, zwischen “terroristischem Nihilismus” einerseits, “sozialarbeiterischer Befriedigung” [ 39 ] andererseits sich zu entscheiden. Und daß die autonome Theorie nicht die Argumente besitzt, die Prämissen dieser falschen Konsequenz zu bestreiten. Gegen die enervierende Kälte der Feststellung, “daß nach Auschwitz das Leben als ethischer Komplex zerfällt”, vermögen die schüchterne Hoffnung und die “ferne Ahnung” dessen, daß das “Leben etwas anderes ist als Arbeit und Konsum” [ 40 ], nur das Gegenteil von Politik zu begründen: Eingedenken als die Chance, den Wiederholungszwang zu brechen.
Der erklärte Bankrott ihrer Theorie wird die Autonomen nicht daran hindern, ihrem überwertigen Bedürfnis, Praxis um jeden Preis zu treiben, weiter zu frönen. Hauptsache, es geht voran. “Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Charakter der Bohème”, bemerkte Marx über die Pariser Geheimgesellschaften von 1850: “Sie sind die Alchimisten der Revolution und teilen ganz die Ideenzerrüttung und die Borniertheit in fixen Vorstellungen der früheren Alchimisten”. [ 41 ] Die Autonomen werden noch eher die Alchimie der zur Revolution destillierten Randale beherrschen, als auf den psychischen Mehrwert und das Flair der Konspiration zu verzichten.
Aus: Wolfgang Pohrt u.a., Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der RAF, Berlin: edition tiamat 1986, S. 157 – 174
Anmerkungen
[ 1 ] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt 1971.
[ 2 ] Peter Brückner, Ulrike-Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin 1976, S. 86.
[ 3 ] Götz Eisenberg/Wolfgang Thiel, Fluchtversuche, Gießen 1975, S. 138 ff., Jürgen Jacobi, Der Marxismus-Leninismus als Ideologie des Zerfalls der Studentenbewegung, in: “Politikon”, Nr. 35, 1972; Wolfgang Zimmermann, Die proletarische Theorie der bürgerlichen Revolutionäre als revolutionär bürgerliche Theorie des Proletariats oder: Die neuen Ritter von der traurigen Gestalt, in: “Politikon”, Nr. 43, 1974.
[ 4 ] Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW Bd. 7, S. 355
[ 5 ] Siehe die exemplarische Autobiographie Jochen Schimmangs, Der schöne Vogel Phönix, Memoiren eines Dreißigjährigen, Frankfurt 1978.
[ 6 ] Rote Armee Fraktion, Das Konzept Stadtguerilla, in: Wolfgang Pohrt u.a., Die alte Straßenverkehrsordnung. Dokumente der RAF, Berlin: edition tiamat 1986, S. 33.
[ 7 ] Ebd., S. 35.
[ 8 ] Ebd., S. 43.
[ 9 ] Elmar Altvater, “Rede auf der Veranstaltung des Komitees zur Verteidigung der Grundrechte anläßlich des Todes von Ulrike Meinhof am 20.5.1976 im Audimax der FU Berlin”, in: “Radikal – Sozialistische Zeitschrift für Westberlin” Nr. 2 vom 1.7.1976, S. 10.
[ 10 ] Emilio Lussu, Theorie des Aufstands, S. 32.
[ 11 ] Das Konzept Stadtguerilla, S. 39.
[ 12 ] Ebd., S. 22.
[ 13 ] Ebd., S. 39 (meine Hervorhebung).
[ 14 ] Letzte Texte von Ulrike, herausgeben vom Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa, o. O. 1976, z.B. S. 27 – vgl. Christoph Türcke, Vermittlung als Gott, Lüneburg 1986.
[ 15 ] zitiert nach Brückner, S. 180.
[ 16 ] Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 202.
[ 17 ] Lussu, S. 103.
[ 18 ] Netchajev, Katechismus eines Revolutionärs (1869) in: Walter Laqueur (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 56 f.
[ 19 ] Bommi Baumann, Wie alles anfing, Duisburg 1986, S. 108
[ 20 ] Ebenda, S. 150
[ 21 ] Ebenda, S. 81
[ 22 ] Ebenda, S. 82
[ 23 ] Zitiert nach Brückner, S. 180.
[ 24 ] Letzte Texte von Ulrike, S. 24.
[ 25 ] Jean Genet, Staatsschuld. Die RAF hat recht, in: “Neues Forum”, (Wien), 24. Jg. 1977, Heft 286, Oktober, S. 45 f.
[ 26 ] Erklärungen der Gefangenen zum Hungerstreik, in: “Radikal”, Nr. 129, S. 4 f.
[ 27 ] Dokumentation zum Kongreß antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa, 1986, S. 163.
[ 28 ] “Radikal” Nr. 131, S. 11 und S. 16.
[ 29 ] Ebenda S. 13 und S. 16
[ 30 ] “Radikal” Nr. 104, Mai 1982, S. 11
[ 31 ] “Radikal” Nr. 106, Juli 1982, S. 9
[ 32 ] “Radikal” Nr. 104, S. 10
[ 33 ] “Radikal” Nr. 131, S. 22
[ 34 ] Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front (Mai 1982), in: Texte der RAF. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe, 1983, S. 599 ff.
[ 35 ] Karl Heinz Roth, Die andere Arbeiterbewegung, München 4. Auflage 1977, S. 267.
[ 36 ] Detlev Hartmann/Karl Heinz Roth, Dialektik der Arbeit. Zur Kritik der politischen Ökonomie der Arbeitskraft als Klasse, in: “Autonomie” Nr. 5, 1977 S. 38.
[ 37 ] Kommunique des Kommandos Mara Kagol zum Attentat auf Karl-Heinz Beckurts
[ 38 ] Redaktion Autonomie, Die neuen Sozialrevolutionären Inhalte und das Recht zum sozialrevolutionärem Handeln, in: “Radikal” Nr. 108, September 1982 S. 12.
[ 39 ] “Autonomie” – Neue Folge, Nr. 14, 1985, S. 11.
[ 40 ] ebenda, S. 212 und S. 209
http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/bruhn-randale.revolution.html

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I.
Ausmaß und Stärke der Reaktionen auf den Fernsehfilm Holocaust werfen Fragen bezüglich des Verhältnisses von Antisemitismus und Nationalsozialismus und deren öffentliche Diskussion in der BRD auf.[ 1 ]
Diese Diskussion ist durch eine offenbare Antinomie gekennzeichnet. Einerseits haben Liberale und Konservative, während sie die Diskontinuität zwischen der Nazivergangenheit und der Gegenwart betonten, im Bezug auf jene Vergangenheit ihre Aufmerksamkeit auf die Verfolgung und Vernichtung der Juden konzentriert. Andere Gesichtspunkte, die für den Nazismus zentral waren, sind dabei vernachlässigt worden. Die Betonung des Antisemitismus diente dazu, den angeblich totalen Bruch zwischen dem Dritten Reich und der BRD zu unterstreichen. Eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und strukturellen Wirklichkeit des Nationalsozialismus, die 1945 nicht plötzlich verschwunden war, wurde so vermieden. Es ist bezeichnend, daß die westdeutsche Regierung an Juden ‘Wiedergutmachungszahlungen’ leistet, jedoch nicht an Kommunisten und andere verfolgte, radikale Gegner der Nazis. Mit anderen Worten, was den Juden geschah, ist instrumentalisiert und in eine Ideologie zur Legitimation des gegenwärtigen Systems verwandelt worden. Diese Instrumentalisierung war nur möglich, weil der Antisemitismus vorwiegend als eine Form des Vorurteils behandelt wurde. Eine solche Sündenbockideologie ist eine Auffassung, die die innere Beziehung zwischen Antisemitismus und anderen Aspekten des Nationalsozialismus verdeckt.
Andererseits neigte die Linke dazu, sich auf die Funktion des Nationalsozialismus für den Kapitalismus zu konzentrieren. Sie hob daher die Zerstörung der organisierten Arbeiterklasse hervor, die Gesellschafts-und Wirtschaftspolitik der Nazis, den Expansionismus und die bürokratischen Herrschaftstechniken von Partei und Staat. Kontinuitätsmomente zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik wurden von ihr betont, doch hat sie die Vernichtung der Juden natürlich nicht unterschlagen. Allerdings ist die Vernichtung schnell unter die allgemeinen Kategorien von Vorurteil, Diskriminierung und Verfolgung subsumiert worden.[ 2 ] Mit anderen Worten: Die Vernichtung der Juden wurde außerhalb des Rahmens einer Analyse des Nazismus behandelt. Antisemitismus wurde als eher peripheres denn als zentrales Moment des Nationalsozialismus verstanden. Auch die Linke hat die inneren Beziehungen zwischen beiden verdeckt.
Beide Positionen teilen ein Verständnis von modernem Antisemitismus als antijüdischem Vorurteil, als besonderem Beispiel für den Rassismus im allgemeinen. Die massenpsychologische Natur des Antisemitismus wird in einer Weise betont, die es ausschließt, ihn in eine sozioökonomische Untersuchung des Nationalsozialismus einzubeziehen.
Die Schwäche dieses Verhältnisses war insbesondere in den TV-Diskussionen offensichtlich, die im Anschluß an die Ausstrahlungen des Fernsehmehrteilers Holocaust geführt wurden. Die Podiumsteilnehmer waren besonders gut darin, Informationen zu vermitteln: über die Bedingungen in den Konzentrationslagern, die Aktivitäten der ‘Einsatzgruppen’ und deren Zusammensetzung (der Polizei ebenso wie der SS-Einheiten), den Massenmord an den Zigeunern und über die materiellen Schwierigkeiten und das Ausmaß des jüdischen Widerstandes. Jedoch gerieten sie in Verlegenheit, als sie die Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären versuchten. Sie erörterten die Frage hauptsächlich unter der Annahme eines Mangels an Zivilcourage in der Bevölkerung (was implizierte, daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung dem Antisemitismus der Nazis zumindest passiv widerstanden habe oder in den allgemeinen Kategorien von Mißtrauen und Furcht gegenüber dem Anderen oder in individualpsychologischen Kategorien (“Der potentielle ‘Dorf’ steckt in jedem von uns”)[ 3 ] Über Antisemitismus wurde hingegen wenig gesprochen und es gab keinen Versuch, den modernen Antisemitismus genauer zu bestimmen und ihn auf den Nazismus zu beziehen. Folgerichtig blieb die Frage, warum so etwas geschehen konnte, notwendig rhetorisch und bloßer Ausdruck von Scham und Entsetzen.
Die Scham und das Entsetzen, die der Film weckte, fokussierte die Diskussion auf die Frage, ob die Deutschen gewußt hätten, was den Juden geschehen war; eine Frage, die in Fernsehen und Presse sehr hitzig und emotional diskutiert wurde.[ 4 ] Indem Holocaust Massenerschießungen von Juden durch ‘Einsatzgruppen’ zeigte, untergrub der Film die Fiktion, der Völkermord der Nazis sei Sache einer Handvoll Leute gewesen, die innerhalb eines Rahmens operierten, der von den Soldaten wie von der übrigen deutschen Bevölkerung hermetisch getrennt gewesen sei. Die Tatsache, daß Millionen Juden, Russen und Polen außerhalb der Lager mit Wissen und zeitweise mit aktiver Unterstützung der Wehrmacht ermordet wurden oder Hungers starben, konnte vom öffentlichen Bewußtsein nicht länger verdrängt werden.[ 5 ] Die öffentliche Reaktion auf Holocaust machte klar, daß Millionen Deutscher tatsächlich davon gewußt haben mußten, selbst wenn nicht in allen Einzelheiten.
Die Tatsache dieses Wissens wirft das Problem auf, daß der typische Deutsche nach dem Krieg darauf beharrte, nichts über die Vernichtung des europäischen Judentums und andere Naziverbrechen gegen die Menschheit gewußt zu haben. Es ist klar, daß die Verleugnung dieses Wissens einen Versuch darstellt, die Schuld zu leugnen. Es könnte jedoch argumentiert werden, daß, selbst wenn die Leute davon gewußt hätten, es wenig gab, was sie hätten tun können. Das Wissen um die Naziverbrechen muß nicht notwendigerweise Schuld einschließen. Welche Bedeutung hat also die Leugnung dieses Wissens nach dem Krieg, als die Meisten doch sicherlich alles wußten?
Nach dem Krieg darauf zu beharren, nichts gewußt zu haben, muß vermutlich als fortgesetztes Beharren darauf interpretiert werden, nichts wissen zu wollen. “Wir wußten nicht” müßte als “Wir wollen noch immer nicht wissen” interpretiert werden. Das Wissen zuzugestehen – selbst als post factum erworbenes – hätte notwendig eine innere Distanzierung von vergangener Identifikation erfordert und zu politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen geführt. Wären die Menschen nach dem Krieg für dieses Wissen offen gewesen, wäre vielleicht das, was ersichtlich fehlte, eingetreten: eine massive öffentliche Reaktion des Entsetzens und die Forderung nach gerechter Strafe. Vielleicht wäre es für viele Nazibeamte, Staatsanwälte und Richter nicht möglich gewesen, weiterhin die gleichen Funktionen in der Bundesrepublik auszuüben.[ 6 ] Ein antinazistischer Umschwung der Massen stand jedoch nicht auf der Tagesordnung. Das Ziel war ‘Normalität’ um jeden Preis – eine Normalität, die ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erreicht werden sollte. Die starke Identifikation mit jener Vergangenheit wurde nicht überwunden, sondern einfach unter Unmengen von Volkswagen begraben.
Das Ergebnis war psychische Selbstverleugnung und Verdrängung. Es gibt viele Interpretationen der Natur dieser massiven psychischen Verdrängung: Angst vor Strafe, Scham, fortgesetzte Identifikation oder statt der Überwindung die Verleugnung einer vergangenen starken Identifikation (Mitscherlichs These von der Unfähigkeit zu trauern). Daß eine solche Verdrängung stattfand, ist unbestreitbar. Daraus entstand eine Art kollektiver Somnambulismus: Die Mehrheit der Bevölkerung ging schlafwandelnd durch den Kalten Krieg, durch das ‘Wirtschaftswunder’ und durch das Wiederauftauchen von Politik während der Studentenbewegung.
Dieser schlafähnliche Zustand ist durch Holocaust, zumindest für einen Augenblick, erschüttert worden. Dies ist vermutlich ebenso ein Ergebnis der Zeit als des Films selbst. 34 Jahre nach Kriegsende hat sich die Geschichte verlangsamt. Die Vorwärtsgerichtetheit der Nachkriegsära – die Aufsplitterung der Welt in zwei Lager; die Periode der wirtschaftlichen Expansion, in der Glück durch Konsum erkauft werden sollte; die Periode der Studentenbewegung, als man die Wurzel allen Glücks in der praktischen Politik vermutete, ist vorüber. Die Vergangenheit, die man glaubte hinter sich gelassen zu haben, ist wieder aufgetaucht. Sie war immer im Schlepptau, einen Schritt hinterher. Das ist jetzt offensichtlich geworden. Doch ist es noch zu früh, um festzustellen, ob die Reaktionen auf Holocaust zu Auseinandersetzungen mit weitreichenden Konsequenzen führen oder sich als eine vorübergehende Katharsis erweisen werden.
II.
Das Problem des Wissens von der Nazi-Vergangenheit hat eine besondere Rolle in der deutschen Neuen Linken gespielt, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Diese Vergangenheit und ihre kollektive psychische Verdrängung waren sehr wichtige Momente in der Entstehung der Neuen Linken. Obwohl es eine Diskussion über den Nazismus und den Holocaust innerhalb der Linken gab, haben viele Gespräche in Frankfurt jüngst ein bemerkenswertes Phänomen offenbart: Während die meisten der älteren Generation der Neuen Linken sich in den 60er-Jahren intensiv mit dem Problem beschäftigt haben, scheint es, daß ein großer Teil der jüngeren Generation, vielleicht die meisten, die sich 1968 und danach politisiert haben, über die Vernichtung des europäischen Judentums niemals Dokumentationen eingesehen oder sich überhaupt informiert hatten. Für diese Generation war Holocaust ein Schockerlebnis. Es war das erste Mal, daß sie konkret und hautnah mit dem Schicksal der Juden konfrontiert wurden. Sie hatten natürlich davon gewußt, aber offensichtlich nur abstrakt. Mit der Wirklichkeit dieses Entsetzens haben sie sich nie konkret auseinandergesetzt. Das Fehlen einer solchen Konfrontation spiegelte sich im Umgang der Nach-68er-Generation mit Geschichte und in ihrem Verständnis des Nationalsozialismus wieder.
In den späten 60er und den frühen 70er Jahren schenkte die Neue Linke der Geschichte der Arbeiterbewegung, insbesondere von 1918 bis 1923, und dem Widerstand gegen die Nazis weit mehr Aufmerksamkeit als der Geschichte des Nationalsozialismus selbst. Das Studium der Geschichte wurde zu einer Suche nach Identifikation, einer Suche, die angesichts der Nazivergangenheit besonders intensiv war. Eine historische Konfrontation mit dem Dritten Reich wurde dadurch jedoch umgangen. Durch die Hervorhebung der revolutionären Bewegungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, wurde aber die Tatsache verdeckt, daß diese Geschichte spätestens 1933 zu Ende war und weder in der BRD noch in der DDR eine lebendigehistorische Tradition darstellte. Das Bedürfnis nach Identifikation führte zu einer Überbetonung des Widerstands gegen Hitler, die eine Auseinandersetzung mit der Popularität des Naziregimes vermied. Dadurch wurde aber auch die Entwicklung eines Verständnisses für die Lage der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945 abgeblockt. Vielmehr wurde der ‘Mangel an jüdischem Widerstand’ zu einer impliziten Anklage, anstatt Ausgangspunkt für genauere Untersuchungen zu bilden.
Das Fehlen wirklichen Wissens über die Aktivitäten und die Politik der Nazis in Polen und in der Sowjetunion, in den Ghettos und in den Vernichtungslagern führte zu einem unvollständigen Bild des Nazismus. Das Ergebnis war eine Analyse des Nationalsozialismus, die jene Momente des Phänomens heranzog, welche in den Jahren 1933-1939 augenscheinlich waren: ein terroristischer, bürokratischer Polizeistaat, der im unmittelbaren Interesse des Großkapitals arbeitete und auf autoritären Strukturen, der Glorifizierung der Familie und der Benutzung des Rassismus als Mittel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beruhte. Diese Art der Analyse wurde noch durch die kommunistische Angewohnheit verstärkt, lieber vom Faschismus als vom Nazismus zu sprechen, wodurch die Klassenfunktion unter Ausschluß anderer Momente hervorgehoben wurde. Mit anderen Worten: Sowohl die undogmatische Linke als auch die orthodoxen Marxisten neigten dazu, den Antisemitismus als Randerscheinung des Nationalsozialismus zu behandeln. Dadurch wurden die Naziverbrechen gegen die Menschheit von der sozialhistorischen Untersuchung des Nationalsozialismus getrennt. Das Ergebnis ist, daß die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer (oder totalitärer) Massenmorde erscheinen oder unerklärt bleiben.
Das Bestehen auf einer Auseinandersetzung mit der Besonderheit des Nazismus und der Vernichtung des europäischen Judentums ist in Deutschland häufig als eine Anklage verstanden worden – auch von der Linken. Daß Terror, Massenmord, Rassismus und Autoritarismus ein deutsches Monopol seien, ist ein Mißverständnis, das Abwehrreaktionen hervorruft. Die bloße Erwähnung von Nazismus wird unmittelbar mit Greuelbeispielen in Vietnam, Palästina usw. ‘beantwortet’. Auch linke Theorien des Nationalsozialismus neigen zu dieser Abwehrhaltung. Objektivistische Theorien verkehren entweder Horkheimers Diktum von der Beziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus in eine vorausgesetzte Identität oder vermitteln beides ökonomistisch. Subjektivistische Theorien (wie z.B. die von Theweleit[ 7 ]) lassen hingegen die Besonderheit des Nationalsozialismus außer acht. So wird das Dritte Reich entweder mit dem Kapital oder mit dem Patriarchat identifiziert, jedenfalls in historisch unspezifischen Kategorien begriffen.
Theorie wurde zu einer Form psychischer Verdrängung. Konzepte wurden lieber genutzt, um eine unverstellte Wahrnehmung des Nazismus abzublocken, als um jene Wirklichkeit zu begreifen und verstehbar zu machen. Diese Verkehrung der Funktion von Analyse nährte sich meines Erachtens aus der Abscheu und Schuld, die die Nachkriegsgeneration gegenüber der Nazi-Vergangenheit empfand. Mit dem Schuldgefühl war nur schwer umzugehen. Es war kaum zu greifen, da es ja nicht auf wirklicher Schuld beruhte. Die Verbindung von Abscheu und Schuld führte vielmehr zu einem Interesse am Nazismus, das durch Abwehrreaktionen gekennzeichnet war. Jene verhinderten eine Auseinandersetzung mit der Besonderheit der Vergangenheit, da ein Zugeständnis jener Besonderheit mit einem Eingeständnis von Schuld verbunden gewesen wäre. Als Ergebnis wurde der Nazismus als leere Abstraktion behandelt, die mit Kapitalismus, Bürokratie und autoritären Strukturen assoziiert wurde und einfach eine schlimmere Ausprägung der uns bekannten ‘Normalität’ gewesen sei. Dadurch wurde nicht nur die Besonderheit der deutschen Vergangenheit aufgehoben, sondern der Terminus ‘Faschismus’ durch rhetorische Inflation in seiner Bedeutung entwertet. Einerseits verkannte diese einseitige Betonung der oben angesprochenen Momente des Nationalsozialismus seine antibürgerlichen Aspekte: die Revolte, sowie den Haß auf die Herrschenden und den grauen kapitalistischen Alltag. Andererseits konnte der Kampf gegen die autoritäre, kapitalistische Gegenwart der BRD, die durch Kontinuitäten der Nazivergangenheit geprägt war, als direkter Kampf gegen Faschismus interpretiert werden. Dies war ein Versuch, das damalige Fehlen eines deutschen Widerstandes wiedergutzumachen. Solche Tendenzen beeinflußten stark die politische Diskussion im Frankfurt der 70er Jahre, die in hohem Maße durch die Auseinandersetzung mit Theorie, Strategie und Taktik des westdeutschen Untergrunds bestimmt war. Viele politische Aktivitäten in der BRD werden heute als ‘Lernen aus der Vergangenheit’ dargestellt. Die Foci des politischen Interesses und der Aktivität in Westdeutschland sind die Kämpfe gegen Unterdrückung, Berufsverbot, den Eingriff in bürgerliche Freiheiten, Gerichtsverfahren, die erschreckende Behandlung politischer Gefangener (in Wirklichkeit aller Gefangener), die Diskriminierung ausländischer Arbeiter, Rassismus und Kernenergie mit ihren politischen wie ökologischen Auswirkungen. Machen es diese Kämpfe notwendig, aus der Nazi-Vergangenheit zu lernen? Sicherlich sind sie zwar gegen den autoritären Staat gerichtet. Diese Bestimmung erschöpft die des Nationalsozialismus aber keineswegs. Diese Kampagnen – so wichtig sie sind – als ‘Lernen aus der Vergangenheit’ darzustellen, ist irgendwie verdächtig. Das Lernen geht hier etwas zu schnell und stellt zum Teil eine Flucht aus der Besonderheit jener Vergangenheit dar.
Die Auswirkungen dieser Flucht sind zweideutig. Ich bezweifle, daß es im Westen eine andere Linke gibt, die gegenüber Entwicklungen in anderen Ländern so offen und informiert ist wie die westdeutsche. Jedoch spürt man eine unterschwellige Verzweiflung, eine Suche nach Identität, mit der große Teile der undogmatischen Linken versucht haben, sich unmittelbar auf die Entwicklungen im Ausland zu beziehen – den italienischen ‘heißen Herbst’ 1969, die Black-Panther-Bewegung, Palästina, Portugal, alternative Projekte in den USA, die italienischen Stadtindianer, die französische ‘ Neue Philosophie’ usw.
Am deutlichsten kam das Problem des Lernen und Verdrängens, beziehungsweise von Flucht und der Suche nach Identität, in der Haltung der deutschen Neuen Linken gegenüber Israel zum Vorschein. Keine westliche Linke war vor 1967 in dem Maße philosemitisch und prozionistisch wie sie nach dem Sechs-Tage-Krieg propalästinensisch war. Was ‘Antizionismus’ genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und psychisch beladen, daß es weit über die Grenzen einer politischen und gesellschaftlichen Kritik am Zionismus hinausging. Das bloße Wort war so negativ besetzt wie Nazismus; und das in einem Land, wo die Linke es hätte besser wissen müssen.[ 8 ] Der Wendepunkt vom Philosemitismus zu jener Form des Antizionismus war der Krieg 1967. Ich vermute, daß hier ein Prozeß psychologischer Umkehr stattfand, in dem die Juden als Sieger mit der Nazi-Vergangenheit identifiziert wurden – positiv durch die deutsche Rechte, negativ von der Linken. Umgekehrt wurden die Opfer der Juden, nämlich die Palästinenser, als Juden identifiziert. Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, daß der Auslöser für eine solche Wende nicht die Vertreibung und das Leiden der Palästinenser war, das schon lange vor 1967 begonnen hatte, sondern der siegreiche ‘Blitzkrieg’ der Israelis. Der Philosemitismus offenbarte seine andere Seite: Wenn die Juden einerseits keine Opfer sind und deshalb integer und andererseits die Israelis brutal und rassistisch sind, dann müssen sie ‘Nazis’ sein. Nach der Schlacht von Karameh 1968 erwiesen sich die Palästinenser zudem als die ‘besseren Juden’ – sie leisteten Widerstand. So war endlich eine Gelegenheit gegeben, sich mit den ‘Juden’ und mit ihrem Widerstand zu identifizieren. Der Kampf gegen Zionismus verwandelte sich in den langersehnten Kampf gegen die Nazivergangenheit – befreit von Schuld.
Diese Abfolge psychischer Verkehrung manifestierte sich am groteskesten 1976 in Entebbe. Ein Flugzeug der Air France war entführt und alle nicht-jüdischen Passagiere freigelassen worden. Als Geiseln wurden die jüdischen Passagiere zurückgehalten, nicht einfach alle Israelis – was schlimm genug gewesen wäre. Dieses ‘Selektionsverfahren’ wurde, weniger als vierzig Jahre nach Auschwitz, von zwei jungen linken Deutschen vorgenommen. Innerhalb der Neuen Linken in Deutschland gab es keine öffentliche Protestreaktion – geschweige denn einen allgemeinen Aufschrei. ‘Lernen aus der Vergangenheit’ ist von einer Verwirklichung noch weit entfernt. Schuld hatte es abgeblockt, Unkenntnis hatte es behindert, und das überwältigende Bedürfnis nach unzweideutiger Identifikation hatte es schließlich verdrängt. Vielleicht haben die unmittelbaren Probleme, denen sich eine deutsche Linke gegenübersieht, viel mehr mit einem zunehmend autoritären technokratischen Kapitalismus zu tun als mit Nazismus und Antisemitismus. Nichtsdestoweniger lastet die Vergangenheit zu schwer, als daß sie ignoriert werden könnte; der Versuch, die Vergangenheit beiseite zu schieben, um mit der Gegenwart fertig zu werden, hat nicht funktioniert. Die verdrängte Vergangenheit ist geblieben, hat ihre untergründige Arbeit fortgesetzt und dazu beigetragen, den Umgang mit der Gegenwart zu bestimmen.
III.
Ein wichtiger Aspekt in der Konfrontation mit dieser Vergangenheit wäre der Versuch, sich mit der Beziehung von Antisemitismus und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen; zu versuchen, die Vernichtung des europäischen Judentums zu verstehen. Das kann nicht gelingen, solange Antisemitismus als Beispiel für Rassismus sans phrase und der Nazismus als Ausdruck des Großkapitals und eines terroristisch-bürokratischen Polizeistaates verstanden wird. Auschwitz, Chelmno, Majdanek, Sobibor und Treblinka dürfen nicht außerhalb der Analyse des Nationalsozialismus behandelt werden. Sie stellen nicht einfach seine furchtbarsten Randerscheinungen dar, sondern einen seiner logischen Endpunkte. Keine Analyse des Nationalsozialismus, die nicht die Vernichtung des europäischen Judentums erklären kann, wird ihm gerecht. Meine Absicht ist nicht die Beantwortung der Frage, warum dem Nazismus und dem modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in Deutschland gelungen ist. Ein solcher Versuch müßte einer Betrachtung der Besonderheit deutscher Entwicklung Rechnung tragen: darüber ist zur Genüge gearbeitet worden. Dieser Essay will vielmehr untersuchen, was damals durchbrach: Er ist eine Betrachtung der Aspekte des modernen Antisemitismus, die als unabdingbarer Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus verstanden werden müssen und dazu beitragen, die Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären. Dies ist auch die notwendige Voraussetzung einer adäquaten Beantwortung der Frage, warum es gerade in Deutschland geschah. Was ist die Besonderheit des Holocaust und des modernen Antisemitismus? Dies ist sicherlich keine Frage der Quantität, sei es der Zahl der Menschen, die ermordet worden sind, noch des Ausmaßes ihres Leidens. Es gibt zu viele historische Beispiele für Massenmord und Genozid. So sind zum Beispiel viel mehr Russen als Juden von den Nazis getötet worden. Die Frage zielt vielmehr auf die qualitative Besonderheit. Bestimmte Aspekte der Vernichtung des europäischen Judentums bleiben so lange unerklärlich, wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteil, Fremdenhaß und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für Sündenbockstrategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können. Charakteristisch für den Holocaust war der verhältnismäßig geringe Anteil an Emotion und unmittelbarem Haß (im Gegensatz zu Pogromen zum Beispiel). Dafür zeichnete ihn das Selbstverständnis einer ideologischen Mission aus, und, was das wichtigste ist: Der Holocaust hatte keine funktionelle Bedeutung. Die Vernichtung der Juden war kein Mittel zu einem anderen Zweck. Sie wurden nicht aus militärischen Gründen ausgerottet oder um gewaltsam Land zu nehmen (wie bei den amerikanischen Indianern); es ging auch nicht um die Auslöschung der potentiellen Widerstandskämpfer unter den Juden, mit dem Ziel, den Rest als Heloten besser ausbeuten zu können (dies war übrigens die Politik der Nazis den Polen und Russen gegenüber). Es gab auch kein ‘äußeres’ Ziel. Die Vernichtung der Juden mußte nicht nur total sein, sondern war sich selbst Zweck – Vernichtung um der Vernichtung willen –, ein Zweck, der absolute Priorität beanspruchte.[ 9 ] Eine funktionalistische Erklärung des Massenmords und eine Sündenbocktheorie des Antisemitismus können nicht einmal im Ansatz erklären, warum in den letzten Kriegsjahren, als die deutsche Wehrmacht von der Roten Armee überrollt wurde, ein bedeutender Teil des Schienenverkehrs für den Transport der Juden zu den Gaskammern benutzt wurde und nicht für die logistische Unterstützung des Heeres. Ist die qualitative Besonderheit der Vernichtung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, daß Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben. Die Besonderheit des Holocaust erfordert eine spezifischere Vermittlung, um sie wenigstens im Ansatz zu verstehen. Die Vernichtung des europäischen Judentums steht natürlich in Beziehung zum Antisemitismus. Die Besonderheit des ersteren muß auf letzteren bezogen werden. Darüber hinaus muß der moderne Antisemitismus im Hinblick auf den Nazismus als Bewegung verstanden werden – eine Bewegung die in der Sprache ihres eigenen Selbstverständnisses eine Revolte war. Der moderne Antisemitismus, der nicht mit dem täglichen antijüdischen Vorurteil verwechselt werden darf, ist eine Ideologie, eine Denkform, die in Europa im späten 19. Jahrhundert auftrat. Sein Auftreten setzt Jahrhunderte früherer Formen des Antisemitismus voraus. Antisemitismus ist immer ein integraler Bestandteil der christlich westlichen Zivilisation gewesen. Allen Formen des Antisemitismus ist eine Vorstellung von jüdischer Macht gemein: die Macht, Gott zu töten, die Beulenpest loszulassen oder, in jüngerer Zeit, Kapitalismus und Sozialismus herbeizuführen. Seine Denkweise ist manichäisch, mit den Juden in der Rolle der Kinder der Finsternis. Nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus. Alle Formen des Rassismus schreiben dem Anderen potentielle Macht zu. Diese Macht ist gemeinhin konkret, materiell und sexuell. Es ist die potentielle Macht des Unterdrückten (als Macht des Verdrängten) in Gestalt des ‘Untermenschen’. Die den Juden zugeschriebene Macht ist jedoch größer und wird nicht nur als potentiell, sondern als tatsächlich wahrgenommen. Sie ist vielmehr eine andere Art der Macht, die nicht notwendigerweise konkret ist. Die den Juden im modernen Antisemitismus zugeschriebene Macht wird durch mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Universalität charakterisiert. Es wird angenommen, daß diese Form der Macht sich selbst nicht direkt manifestieren kann, sondern eine gesonderte Ausdrucksweise benötigt. Sie sucht sich einen Träger, sei er politisch, sozial oder kulturell, durch den sie wirken kann. Weil die Macht der Juden nicht konkret gebunden, nicht ‚verwurzelt’ ist, wird sie zum einen als überwältigend wahrgenommen und ist zum anderen sehr schwer nachzuprüfen. Es wird angenommen, daß sie hinter den Erscheinungen stehe, ohne mit diesen identisch zu seien. Ihre Quelle ist hinterlistig verborgen: konspirativ. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfaßbare internationale Verschwörung. Ein Naziplakat bietet ein plastisches Beispiel für diese Wahrnehmung: Es zeigt Deutschland – dargestellt als starken, ehrlichen Arbeiter – das im Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch einen brutalen, barbarischen, bolschewistischenKommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der Jude. Eine solche Vision war keineswegs Monopol der Nazis. Der moderne Antisemitismus ist dadurch gekennzeichnet, daß die Juden für die geheime Kraft hinter jenen Widersachern, dem plutokratischen Kapitalismus und dem Sozialismus gehalten werden. ‘Das internationale Judentum’ wird darüber hinaus als das wahrgenommen, was hinter dem ‘Asphaltdschungel’ der wuchernden Metropolen, hinter der ‘vulgären, materialistischen, modernen Kultur’ und, generell, hinter allen Kräften steht, die zum Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge, Werte und Institutionen führen. Die Juden stellen demnach eine fremde, gefährliche und destruktive Macht dar, die die soziale ‘Gesundheit’ der Nation untergräbt. Für den modernen Antisemitismus ist nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch, sondern auch sein systemartiger Charakter. Er beansprucht, die Welt zu erklären. Diese deskriptive Bestimmung des modernen Antisemitismus ist zwar notwendig, um ihn von Vorurteil oder Rassismus im allgemeinen zu unterscheiden; sie kann jedoch als solche noch nicht die innere Beziehung zum Nationalsozialismus aufzeigen. Die Absicht also, die übliche Trennung zwischen einer sozioökonomischen Analyse des Nazismus und einer Untersuchung des Antisemitismus zu überwinden, ist auf dieser Ebene noch nicht erfüllt. Es bedarf einer Erklärung, die fähig ist, beides zu vermitteln. Sie muß in der Lage sein, den oben beschriebenen Antisemitismus in den gleichen historischen Kategorien zu fassen, die auch benutzt werden könnten, um den Nationalsozialismus zu erklären. Es ist nicht meine Absicht, sozialpsychologische oder psychoanalytische Erklärungen zu negieren [ 10 ], sondern vielmehr einen historisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhang zu erläutern, innerhalb dessen weitere psychologische Spezifizierung stattfinden kann. Solch ein Zusammenhang muß den besonderen Inhalt des modernen Antisemitismus fassen und hat insofern historisch zu sein, da erklärt werden muß, warum diese Ideologie – beginnend im ausgehenden 19. Jahrhundert – sich zu jener Zeit so verbreitete. Fehlt ein solcher Zusammenhang, bleiben alle anderen Erklärungsversuche, die sich um Subjektivität zentrieren, historisch unspezifisch. Es bedarf einer Erklärung in Form einer materialistischen Erkenntnistheorie. Eine vollständige Entfaltung des Antisemitismusproblems würde den Rahmen dieses Essaysbei weitem sprengen. Dennoch gilt es hervorzuheben, daß eine sorgfältige Überprüfung des modernen antisemitischen Weltbildes das Vorliegen einer Denkform deutlich werden läßt, in der die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert wird. Es handelt sich dabei nicht um die bloße Wahrnehmung der Juden als Träger von Geld – wie im traditionellen Antisemitismus; vielmehr werden sie für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen Industrialisierung einhergehen: explosive Verstädterung, der Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Maße sich organisierenden industriellen Proletariats und so weiter. Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des ‘internationalen Judentums’ wahrgenommen wurden. Dies ist nicht wesentlich mehr als ein erster Zugang. Die Personifizierung ist zwar beschrieben, aber nicht erklärt. Es fehlt die erkenntnistheoretische Begründung. Ansätze dazu hat es gegeben. Das Problem jener Theorien – wie der Max Horkheimers[ 11 ] –, die sich wesentlich auf die Identifizierung der Juden mit dem Geld und damit auf die Zirkulationssphäre beziehen, besteht darin, daß sie nicht imstande sind, die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter Sozialdemokratie und Kommunismus. Auf den ersten Blick erscheinen Theorien wie die George Mosses[ 12 ], die den modernen Antisemitismus als Revolte gegen die ‘Moderne’ interpretieren, angemessener. Sowohl Plutokratie als auch Arbeiterbewegung waren Begleiterscheinungen der Moderne, beziehungsweise der massiven sozialen Umstrukturierungen, die aus der kapitalistischen Industrialisierung resultierten. Das Problem, das sich solchen Ansätzen stellt, ist der Umstand, daß die ‚Moderne’ ohne Zweifel das Industriekapital einschließt, welches bekanntlich gerade nicht Objekt antisemitischer Angriffe war, nicht einmal in der Periode rascher Industrialisierung. Die Einstellung der Nationalsozialisten gegenüber anderen Dimensionen der Modernität, insbesondere gegenüber modernen Technologien, war vielmehr affirmativ als kritisch. Jene Aspekte des modernen Lebens, die jeweils zurückgewiesen, und solche, die angenommen wurden, bilden zusammengenommen ein Muster. Dieses Muster muß in einem adäquaten Konzept dieses Problems enthalten sein. Da das Muster nicht nur auf den Nationalsozialismus beschränkt ist, hat dieses Problem eine darüber hinausreichende Bedeutung. Die Affirmation des Industriekapitals durch den modernen Antisemitismus erfordert einen Ansatz, der unterscheiden kann zwischen dem, was moderner Kapitalismus ist, und der Art, wie er sich darstellt. Der Begriff ‘modern’ hält keine inhärente Differenzierung bereit, die eine solche Unterscheidung erlauben würde. Ich halte demgegenüber soziale Kategorien, wie ‘Ware’ und ‘Kapital’, die von Marx in seinem Spätwerk entwickelt wurden, für angemessener, da diesen eine Reihe von Unterscheidungen zwischen dem, was ist, und dem, was zu sein scheint, inhärent ist. Diese Kategorien können als Ausgangspunkt für eine Analyse dienen, die in der Lage ist, diverse Wahrnehmungen ‘der Moderne’ zu unterscheiden. Ein solcher Ansatz würde versuchen, das Muster sozialer Kritik und Affirmation, mit dem wir uns beschäftigen, mit den Charakteristika kapitalistischer Verhältnisse selbst in Beziehung zu setzen.
IV.
Diese Überlegungen führen zu Marx‘ Begriff des Fetischs, einem Begriff, der die Grundlage einer historischen Erkenntnistheorie bildet, die sich in der Unterscheidung zwischen dem Wesen der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Erscheinungsformen gründet. Was dem Begriff des Fetischs vorausgeht, ist Marx‘ Analyse der Ware, des Geldes, des Kapitals als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht nur als bloße ökonomische Bestimmungen. Nach seiner Analyse erscheinen kapitalistische Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche, sondern drücken sich in vergegenständlichter Form aus. Weil Arbeit im Kapitalismus auch die Funktion einer gesellschaftlichen Vermittlung hat (‘abstrakte Arbeit‘), ist die Ware nicht bloß Gebrauchsgegenstand, in dem konkrete Arbeit vergegenständlicht ist, sondern sie verkörpert auch gesellschaftliche Verhältnisse. Insofern ist ihr Produkt, die Ware, nicht einfach ein Produkt, in dem sich konkrete Arbeit vergegenständlicht; es ist ebenso die Form vergegenständlichter sozialer Beziehungen. Die Ware, als Vergegenständlichung beider Dimensionen kapitalistischer Arbeit, ist ihre eigene soziale Vermittlung. Sie hat insofern einen ‘Doppelcharakter‘: Wert und Gebrauchswert. Als Objekt drückt die Ware soziale Verhältnisse aus und verschleiert sie zugleich. Diese Verhältnisse haben keine andere, davon unabhängige Ausdrucksform. Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein quasi-objektives Eigenleben. Sie bilden eine ‘zweite Natur’, ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und ‘objektiv’ ist und deshalb natürlich zu sein scheint. Diese gesellschaftliche Dimension bestimmt die Waren und ihre Produktionsweise. Zugleich drücken die kategorialen Formen eine spezifische, sozial konstituierte Naturvorstellung in der Begrifflichkeit objektiven, gesetzmäßigen und quantifizierbaren Verhaltens eines qualitativ homogenen Wesens aus. Die Marxschen Kategorien beziehen sich simultan auf besondere gesellschaftliche Verhältnisse und Denkformen. Der Fetisch verweist auf die Denkweisen, die auf Wahrnehmungen und Erkenntnissen basieren, die in den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse befangen bleiben.[ 13 ] Betrachtet man die besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne Antisemitismus den Juden zuordnet -nämlich Abstraktheit, Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität –, dann fällt auf, daß es sich hierbei um Charakteristika der Wertdimension jener gesellschaftlichen Formen handelt, die Marx analysiert hat. Mehr noch: diese Dimension – wie die den Juden unterstellte Macht – erscheint nicht unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form eines stofflichen Trägers, wie der Ware, an. Um die oben beschriebene Personifizierung zu deuten und dabei die Frage zu klären, warum der moderne Antisemitismus, der sich gegen so viele Aspekte der ‘Moderne’ wandte, sich dem industriellen Kapital und der modernen Technologie gegenüber so verdächtig still verhielt, wird es an dieser Stelle nötig sein zu analysieren, wie kapitalistisch-gesellschaftliche Verhältnisse sich darzustellen pflegen. Ich beginne mit der Warenform als Beispiel. Die dialektische Einheit von Wert und Gebrauchswert in der Ware erfordert, daß dieser ‘Doppelcharakter’ sich in der Wertform entäußert, in der er ‘doppelt’ erscheint: als Geld (die Erscheinungsform des Werts) und als Ware (die Erscheinungsform des Gebrauchswerts). Diese Entäußerung erweckt den Schein, als enthalte die Ware, die eigentlich sowohl Wert wie Gebrauchswert ausdrückt, nur letzteren, das heißt, sie erscheint als rein stofflich und ‘dinglich’. Weil die gesellschaftliche Dimension der Ware dabei entfällt, stellt sich das Geld als einziger Ort des Wertes dar, als Manifestation des ganz und gar Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware selbst. Die dem Kapitalismus eigene Form vergegenständlichter gesellschaftlicher Beziehungen erscheint so auf der Ebene der Warenanalyse als Gegensatz zwischen Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur andererseits. Die kapitalistischen Verhältnisse scheinen ihren Ausdruck nur in der abstrakten Dimension zu finden – etwa als Geld und als äußerliche, abstrakte, allgemeine ‘Gesetze’. Ein Aspekt des Fetischs ist also, daß kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten und sich zudem antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem, darstellen. Und weil beide Seiten der Antinomie vergegenständlicht sind, erscheint jede als quasi-natürlich: Die abstrakte Seite tritt in der Gestalt von ‘objektiven’ Naturgesetzen auf, und die konkrete Seite erscheint als reine stoffliche Natur. Die Struktur entfremdeter gesellschaftlicher Beziehung, die dem Kapitalismus eigen ist, hat die Form einer quasi-natürlichen Antinomie, in der Gesellschaftliches und Historisches nicht mehr erscheinen. Diese Antinomie wiederholt sich im Gegensatz positivistischer und romantischer Denkweisen. Die Mehrzahl der kritischen Untersuchungen fetischistischer Denkformen bezieht sich vor allem auf jenen Strang der Antinomie, der das Abstrakte als überhistorisch hypostasiert – das sogenannte bürgerliche Denken – und damit den gesellschaftlichen und historischen Charakter der bestehenden Beziehungen verschleiert. In diesem Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren. Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als ‘Wurzel allen Übels’. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das ‘natürliche’ oder ontologisch-menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt. So wird – wie etwa bei Proudhon – konkrete Arbeit als das nichtkapitalis tische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist.[ 14 ] Daß konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen beinhaltet und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen. Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus, der Kapitalform und ihres Fetischs bekommt die dem Warenfetisch innewohnende Naturalisierung neue Dimensionen. Wie bei der Warenform ist die Kapitalform durch das antinomische Verhältnis des Abstrakten und Konkreten, die beide natürlich erscheinen, gekennzeichnet. Die Qualität des ‘Natürlichen’ ist aber unterschiedlich. Verbunden mit dem Warenfetisch ist die Vorstellung grundsätzlich gesetzmäßiger Verhältnisse zwischen individuellen Monaden, wie es sich etwa in der klassischen politischenÖkonomie und der Theorie von Naturgesetzen zeigt. Das Kapital ist nach Marx in seiner prozessualen Form als selbstverwertender Wert charakterisiert, als die unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des Wertes. Es erscheint in der Form von Geld sowie in der von Waren, das heißt, es hat keine fertige und endgültige Gestalt. Kapital erscheint als rein abstrakter Prozeß. Seine konkrete Dimension ändert sich dementsprechend: Individuelle Arbeiten bilden nicht länger abgeschlossene Einheiten, sondern werden mehr und mehr zu Teilkomponenten eines größeren dynamischen Systems, das Mensch wie Maschine umfaßt und dessen Zweck Produktion um der Produktion willen ist. Das Ganze wird größer als die Summe der sie konstituierenden Individuen und hat einen Zweck, der außerhalb ihrer liegt. Die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden, prozessualen, quasi-organischen Charakter. Mit der Durchsetzung der Kapitalform verlor das mechanische Weltbild des 17. und 18. Jahrhunderts an Bedeutung; mehr und mehr übernahmen organische Prozesse an Stelle statischer Mechanik die Form des Fetischs. Das drückt sich zum Beispiel in der Verbreitung solcher Denkformen aus wie der Lehre vom Staat als lebendigem Organismus, aber auch in den Rassentheorien und der zunehmenden Bedeutung des Sozialdarwinismus im späten 19. Jahrhundert. Gesellschaft wie historischer Prozeß werden zunehmend biologisch begriffen. Diesen Aspekt des Kapitalfetischs will ich jedoch hier nicht weiter verfolgen. Festzuhalten ist, welche Wahrnehmungsweisen von Kapital sich daraus ergeben. Wie angedeutet, läßt der ‘Doppelcharakter’ auf der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals läßt der ‘Doppelcharakter’ (Arbeits-und Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ‘natürlicher’ handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum ‘parasitären’ Finanzkapital, als ‘organisch’ verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefaßt: Gemeinschaft, Volk, Rasse. Kapital selbst – oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird – wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz-und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht steht die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension (des Kapitalismus) als ‘natürlich’ und ‘gesund’ dem Kapitalismus (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der ‘dinglichen’ Seite der Antinomie. Das wird gewöhnlich mißverstanden. So zum Beispiel von Norman Mailer, der in einer Verteidigung des Neo-Romantizismus (und des Sexismus) in seinem Buch The Prisoner of Sex schrieb, daß Hitler zwar von Blut gesprochen, aber die Maschine gebaut habe. Dabei blieb unverstanden, daß im fetischistischen ‘Antikapitalismus’ dieser Art beides, Blut wie Maschine, als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen wird. Die positive Hervorhebung der ‘Natur’, des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals. [ 15 ] Diese Denkweisen sind genauso wenig anachronistisch oder Ausdruck einer historischen Ungleichzeitigkeit zu nennen, wie der Aufstieg von Rassentheorien im späten 19. Jahrhundert als Atavismus aufzufassen ist. Sie sind historisch neue Denkformen, nicht die Wiederauferstehung einer älteren Form. Sie erscheinen nur als atavistisch oder anachronistisch aufgrund ihrer Betonung der biologischen Natur. Das ist jedoch selbst Teil des Fetischs, der das ‘Natürliche’ als ‘wesensgemäß’ und ursprungsnäher erscheinen läßt und die geschichtliche Entwicklung als zunehmend künstlich. Solche Denkformen begleiten die Entwicklung des industriellen Kapitalismus. Sie sind Ausdruck jenes antinomischen Fetischs, der die Vorstellung erzeugt, das Konkrete sei ‘natürlich’, und dabei das gesellschaftlich ‘Natürliche’ zunehmend so darstellt, daß es biologisch erscheint. Genau diese Hypostasierung des Konkreten und die Identifikation des Kapitals mit dem manifest Abstrakten lag einem ‘Antikapitalismus’ zugrunde, der die bestehende soziale Ordnung von einem der Ordnung immanenten Standpunkt aus überkommen wollte. Insofern dieser Standpunkt die konkrete Dimension der kapitalistischen Verhältnisse ist, deutet diese Ideologie in Richtung einer konkreteren und verstärkt organisierten Form der offenbar kapitalistischen sozialen Synthese. Diese Ideologie ist besonders funktional für die Entwicklung des Industriekapitals in der Krise. Die nationalsozialistische Ideologie war nicht nur aufgrund ihres Antimarxismus, und weil die Nazis die Organisationen der deutschen Arbeiterklasse zerstörten, im Interesse des Kapitals, sondern auch für den Übergang vom liberalen zum Quasi- Staatskapitalismus. Die Identifikation des Kapitals mit dem manifest Abstrakten überschneidet sich zum Teil mit seiner Identifikation mit dem Markt: Die Angriffe auf den liberalen Staat als abstraktem beförderten die Entwicklung des interventionistischen Staates als konkretem. Diese Form des ‘Antikapitalismus’ erscheint daher nur so, als ob sie sehnsüchtig rückwärts gewandt sei; als Ausdruck des Kapitalfetischs drängt sie in Wirklichkeit vorwärts. Sie ist ein Beitrag zum Kapitalismus in seinem Übergang zum Quasi-Staatskapitalismus in einer Situation der strukturellen Krise. Diese Form des ‘Antikapitalismus’ beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt. Statt dessen findet sich lediglich der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene, gegen das Geld-und Finanzkapital. So gesehen entspricht dieses Denken seiner komplementären liberalen Position in antinomischer Weise: Im Liberalismus bleibt die Herrschaft des Abstrakten unbefragt; eine Unterscheidung zwischen positiver und kritischer Vernunft wird nicht getroffen. Der ‘antikapitalistische’ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird – als internationales Judentum. Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt. Diese fetischisierende Anschauung schloß in ihrem Verständnis des Kapitalismus alle konkreten Aspekte wie Industrie und Technologie aus. Der Kapitalismus erschien nur noch als das Abstrakte, das wiederum für die ganze Reihe konkreter gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, die mit der schnellen Industrialisierung verbunden sind, verantwortlich gemacht wurde. Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen kapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar nicht etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten und abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte. Deshalb geriet die ‘antikapitalistische’ Revoltezur Revolte gegen die Juden. Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.[ 16 ]
V.
Obwohl die innere Verbindung zwischen jener Art des ‘Antikapitalismus’, der den Nationalsozialismus beeinflußte, und dem Antisemitismus gezeigt worden ist, bleibt die Frage offen, warum die biologische Interpretation der abstrakten Seite des Kapitalismus sich an den Juden festmacht. Diese ‘Wahl’ war innerhalb des europäischen Kontextes keineswegs zufällig. Die Juden hätten durch keine andere Gruppe ersetzt werden können. Dafür gibt es vielfältige Gründe. Die lange Geschichte des Antisemitismus in Europa und die damit verbundene Assoziation Juden = Geld ist wohlbekannt. Die Periode der schnellen Expansion des industriellen Kapitals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fiel mit der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation der Juden in Mitteleuropa zusammen. Die Zahl der Juden an den Universitäten, in den freien Berufen, im Journalismus, den schönen Künsten, im Einzelhandel nahm immer schneller zu – das heißt, die Juden wurden in der bürgerlichen Gesellschaft rasch aufgenommen, besonders in Sphären und Berufen, die sich gerade ausweiteten und mit der neuen Form verbunden waren, die die Gesellschaft gerade annahm. Man könnte viele andere Faktoren berücksichtigen. Einen möchte ich hervorheben: Ebenso wie die Ware, als gesellschaftliche Form, ihren ‚Doppelcharakter’ in dem entäußerten Gegensatz zwischen dem Abstrakten (Geld) und dem Konkreten (der Ware) ausdrückt, so ist die bourgeoise Gesellschaft durch die Trennung von (politischem) Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft charakterisiert. Im Individuum stellt sie sich als Trennung zwischen Staatsbürger und (Privat-)Person dar. Als Staatsbürger ist das Individuum abstrakt. Das drückt sich zum Beispiel in der Vorstellung von der Gleichheit aller vor dem (abstrakten) Gesetz (zumindest in der Theorie) aus oder in der Forderung ‘eine Person, eine Stimme’. Als eine (Privat-)Person ist das Individuum konkret, eingebettet in reale Klassenbeziehungen, die als ‘privat’ angenommen werden; das heißt, sie betreffen die bürgerliche Gesellschaft (im Gegensatz zum Staat) und sollen keinen politischen Ausdruck finden. In Europa war jedoch die Vorstellung von der Nation als einem rein politischen Wesen, abstrahiert aus der Substantialität der bürgerlichen Gesellschaft, nie vollständig verwirklicht. Die Nation war nicht nur eine politische Entität, sie war auch konkret, durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Traditionen und Religion bestimmt. In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret. Sie waren außerdem noch Staatsbürger der meisten europäischen Länder. Diese Realität der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer Unmittelbarkeit kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen Staat und das Recht, wurde genau mit den Juden identifiziert. In einer Periode, in der das Konkrete gegenüber dem Abstrakten, dem ‘Kapitalismus’ und dem bürgerlichen Staat verklärt wurde, entstand daraus eine fatale Verbindung: Die Juden wurden als wurzellos, international und abstrakt angesehen.
VI.
Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstandener Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden Konkreten mündet in einer einmütigen, grausamen – aber nicht notwendig haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden. Die Vernichtung des europäischen Judentums ist ein Anzeichen dafür, daß es viel zu einfach ist, den Nazismus als eine Massenbewegung mit antikapitalistischen Obertönen zu bewerten, die diese Hülse 1934 im Röhmputsch abwarf, nachdem sie erst einmal ihren Zweck erreicht und sich in Form staatlicher Macht gefestigt hatte. Zum einen sind die ideologischen Formen nicht einfach Bewußtseinsmanipulationen. Und zum anderen mißversteht diese Auffassung das Wesen des ‘Antikapitalismus’ der Nazis – das Ausmaß, in dem es der antisemitischen Weltanschauung innerlich verbunden war. Es stimmt, daß auf den zu konkreten und plebejischen ‘Antikapitalismus’ der SA 1934 verzichtet wurde; nicht jedoch auf die antisemitische Grundhaltung – die ‘Erkenntnis’, daß die Quelle allen Übels das Abstrakte sei – der Jude. Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der ‘unglücklicherweise’ die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige Träger des Abstrakten produziert. Die Vernichtungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische ‘antikapitalistische’ Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur ‘Vernichtung des Werts’, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu ‘befreien’. Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt die ‘Maske’ der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen, was ‘sie wirklich sind’, Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite Schritt war dann, diese Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch zu verwandeln, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten gegenständlichen ‘Gebrauchswerts’ abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife. Auschwitz, nicht die ‘Machtergreifung’ 1933, war die wirkliche ‘Deutsche Revolution’ – die wirkliche Schein-‘Umwälzung’ der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Tat sollte die Welt vor der Tyrannei des Abstrakten bewahren. Damit jedoch ‘befreiten’ die Nazis sich selbst aus der Menschheit. Militärisch verloren die Nazis den Krieg gegen die Sowjetunion, die USA und Groß-Britannien. Sie gewannen ihren Krieg, ihre ‘Revolution’ gegen das europäische Judentum. Sie ermordeten nicht nur sechs Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es ist ihnen gelungen, eine Kultur zu zerstören – eine sehr alte Kultur –, die des europäischen Judentums. Diese Kultur war durch eine Tradition gekennzeichnet, die eine komplizierte Spannung von Besonderheit und Allgemeinheit in sich vereinigte. Diese innere Spannung wurde als äußere in der Beziehung der Juden zu ihrer christlichen Umgebung verdoppelt. Die Juden waren niemals völlig Teil der größeren Gesellschaften, in denen sie lebten; sie waren auch niemals völlig außerhalb dieser Gesellschaften. Dies hatte für die Juden häufig verheerende Auswirkungen, manchmal jedoch auch sehr fruchtbare. Dieses Spannungsfeld sedimentierte sich im Zuge der Emanzipation in den meisten jüdischen Individuen. Die schließliche Lösung dieser Spannung zwischen Besonderem und Allgemeinem ist in der jüdischen Tradition eine Funktion der Zeit, der Geschichte – die Ankunft des Messias. Vielleicht jedoch hätte das europäische Judentum angesichts der Säkularisierung und Assimilation jene Spannung aufgegeben. Vielleicht wäre jene Kultur schrittweise als lebendige Tradition verschwunden, bevor die Auflösung des Besonderen und des Allgemeinen verwirklicht worden wäre. Hierauf wird es niemals mehr eine Antwort geben können.
VII.
‘Lernen aus der Vergangenheit’ muß das Verständnis des Antisemitismus, mithin des verkürzten ‘Antikapitalismus’, einschließen. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, würde die Linke den Kapitalismus nur in der Form der abstrakten Dimension des Kapitalwiderspruchs wahrnehmen, sei es in der Begrifflichkeit der technokratischen Herrschaft oder der abstrakten Vernunft. Es ist mehr als Vorsicht geboten gegenüber solchen Vorstellungen, die, wie in Gestalt ‘neuer’ Psychotherapieformen, das Gefühl in einen Gegensatz zum Denken stellen, oder gegenüber Auffassungen die das gesellschaftliche Problem der Ökologie biologisieren. ‘Antikapitalismus’, der das Konkrete verklärt und das Abstrakte unmittelbar abschaffen möchte – anstatt praktische und theoretische Überlegungen darüber anzustellen, was die historischeÜberwindung von beidem bedeuten könnte –, kann politisch und gesellschaftlich im besten Falle unwirksam bleiben. Schlimmstenfalls wird er jedoch selbst dann gefährlich, wenn die Bedürfnisse, die der ‘Antikapitalismus’ ausdrückt, als emanzipatorische interpretiert werden könnten. Die Linke machte einmal den Fehler anzunehmen, daß sie ein Monopol auf Antikapitalismus hätte; oder umgekehrt: daß alle Formen des Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler war verhängnisvoll – nicht zuletzt für die Linke selbst. 1979
Übersetzt von Renate Schumacher und Dan Diner Redaktion: J. Olaf Kleist
[ 1 ] Ich möchte mich für die Diskussion und Kritik bei Barbara Brick, Dan Diner und Jeffrey Herf bedanken. In Bezug auf den Film selbst konzentriert sich ein Großteil der Kritik in westdeutschen Publikationen auf den kommerziellen Charakter und seine Tendenz zur Trivialisierung. Meines Erachtens waren andere Aspekte des Films weitaus wichtiger im deutschen Kontext. Die besonderen Schwächen des Films begründeten gerade seine Stärke, eine öffentliche Reaktion hervorrufen zu können. Die Schilderung des Schicksals einer einzelnen jüdischen Familie lieferte Vorschub für Sympathien mit den Opfern. Eine deutsche Öffentlichkeit fand sich in der Identifikation mit den Juden wieder, die durch die Darstellung einer assimilierten Familie der Mittelklasse zudem erleichtert worden war. Das Wissen um die Ermordung von 6.000000 jüdischen Menschen wurde dadurch hervorgehoben. Die Darstellung und die Reaktionen verblieben jedoch im liberalen Reaktionsschema gegenüber Rassismus und begegneten nicht den Implikationen der eigenen Mehrheit. In der einfachen Reaktion auf die negativen Bewertungen des Anderen durch Rassismus und Antisemitismus werden die Tatsache und das Recht auf das Anderssein verneint. Was damit verschleiert wird, ist der Umstand, daß nicht nur Millionen von jüdischen Leben vernichtet wurden, sondern ebenso das Leben des europäischen Judentums. Durch die Erleichterung einer Identifikation schwächte der Film die Wahrnehmbarkeit, daß es sich um die Auslöschung einer anderen Kultur handelte. Eine andere Schwäche des Films war die Darstellung der Lebensbedingungen in den Ghettos und in den Lagern, die imVergleich zu den Greueln der Realität mild ausfielen. Doch erlaubte gerade dieser Umstand der Öffentlichkeit den Horror mitzufühlen. Die Zuschauer konnten in einer Art und Weise offen sein, die den meisten nicht möglich ist, wenn sie mit Dokumentaraufnahmen konfrontiert sind, die das unbegreifliche Grauen zeigen, die Opfer als entmenschlichte Skelette – lebend oder tot –, und daher häufig negative Abwehrreaktionen hervorrufen. Schließlich behandelt der Film die Verfolgung und Vernichtung der Juden ausschließlich auf der Erscheinungsebene. Es wurde kein Versuch unternommen, den Antisemitismus oder die gesellschaftlichen und historischen Dimensionen des Nationalsozialismus anzudeuten. Jedoch zwang gerade dieser Mangel die Zuschauer, sich mit dem unverarbeiteten Phänomen zu konfrontieren und sich nicht hinter analytischen Kategorien oder moralisierendem Bedauern zu verstecken.
[ 2 ] Alle Juden in Ostdeutschland, ungeachtet ihrer politischen Herkunft, erhalten höhere Pensionen von der Regierung. Sie erhalten sie jedoch nicht als Juden, sondern als ‘Antifaschisten’.
[ 3 ] ‘Dorf’ war der Name der zentralen (fiktiven) Nazi-Figur in dem Film.
[ 4 ] Während der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, ein Editorial verfaßte, in dem er sein fehlendes Wissen betonte (aber nicht entschuldigte), schrieb Henri Nannen vom Stern ein Editorial, in dem er sich selbst seines Wissens, aber Nichthandelns wegen, zumal er sogar weiterhin voller Stolz eine Uniform der Luftwaffe trug, verurteilte. Eine dramatische Situation ereignete sich im Fernsehen, als, nach vielen Unkenntnis vorschützenden Stellungnahmen, ein Nachrichtenredakteur, der über die öffentlichen Reaktionen berichtet hatte, seinen Bericht unterbrach, um eine persönliche Erklärung abzugeben. Während des Krieges habe er auf einem U-Boot im Atlantik gedient. Sie hätten selbst dort über Auschwitz Bescheid gewußt.
[ 5 ] Schon 1940 beziehen sich interne Memoranden von Heydrichs SD (Sicherheitsdienst) auf das ‘Problem’ der deutschen Soldaten – die meisten von ihnen waren übrigens an der Ostfront –, die zum Urlaub nach Hause kamen und ihre Erfahrungen berichteten.
[ 6 ] Ich glaube nicht, daß das Ausbleiben einer solchen Reaktion nur der konservativen Politik der Alliierten nach 1945 zugeschrieben werden kann. Die ‘Antifa’-Komitees waren klein und isoliert. Aus den Nazilagern entlassene Antifaschisten fanden beim ‘Volk’ wenig Beifall.
[ 7 ] Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt (Roter Stern Verlag) 1977. Das Buch ist eine reiche Quelle an Dokumenten und Interpretationen männlicher Phantasien. Seine Schwäche liegt in dem Versuch, den Nazismus in diesen Termini zu begreifen, d.h. als Resultat des Patriarchats. Die These ist mehr als fraglich. Erstens: Soweit eine Beziehung zwischen Patriarchat und Nazismus besteht, bedeutet dies keineswegs eine Identität. Im Gegenteil, die wohlbekannten Photos bartloser junger Nazis, die sadistisch lächeln, während sie älteren jüdischen Männern die Bärte ausreißen, scheinen auf psychologischer Ebene einen Haß auf das Patriarchat anzudeuten. Das wird nicht nur durch die Überlegung bestätigt, daß Hitler eher Gegenstand der Identifikation mit dem Ebenbürtigen als mit dem Vater war, sondern auch durch die Untersuchung der Familienpolitik der Nazis, die trotz ihrer Slogans keineswegs traditionalistisch war. Die offensichtlich paradoxe Verbindung von Revolte mit dem Wunsch nach Disziplin und Ordnung kann als Revolte gegen einen zu schwachen Vater verstanden werden, d.h. als eine Bewegung, die den Niedergang des Patriarchats ausdrückt (was natürlich von seiner Überwindung sehr verschieden ist). Zweitens macht Theweleit den Fehler, psychosexuelle Strukturen unvermittelt auf direkte Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu beziehen. Das führt ihn dann zu einem Verständnis von Rassismus als Nebenresultat der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Der geschichtliche Charakter besonderer Formen des Rassismus wird darin verdeckt. Es ist erstaunlich, daß in einem Buch, das von der subjektiven Seite des Nazismus handeln will, Rassismus außer acht gelassen und Antisemitismus ignoriert wird. Der Versuch, die subjektive Seite eines historischen spezifischen Phänomens zu untersuchen, endet bei einer subjektivistischen, überhistorischen und unspezifischen Ideologie. Das Problem wird in der Form formuliert, ob es überhaupt möglich sei, von ‘nichtfaschistischen’ Männern zu reden (S. 44). Männerphantasien ist in Deutschland ein großer publizistischer Erfolg gewesen. In der liberalen Presse wurde das Buch hoch gelobt. (Die Zeit widmete ihm eine ganze Seite.) Zur gleichen Zeit war es in der linken ‘Szene’ ungeheuer populär. Meiner Meinung nach aus genau dem Grund, aus dem ich es kritisiert habe: Die Interpretation des Textes stimmte mit dem Trend überein – eine nichtauthentische Huldigung an die Frauenbewegung – und ist so unspezifisch, daß das Problem des nationalsozialistischen Erfolgs in Deutschland in ein Problem von Männern überhaupt aufgelöst wird; außerhalb von Raum und Zeit.
[ 8 ] Ein nicht weniger häufig angegebener Grund mancher Linker für die Weigerung Holocaust anzusehen, war das Argument, daß er ein Ausdruck zionistischer Propaganda sei. Das vernachlässigt die offensichtliche Tatsache, daß die Vernichtung des europäischen Judentums für die meisten Juden nach 1945 der Grund war, mit dem Zionismus zu sympathisieren. Das hing nicht allein mit den Nazis zusammen, sondern auch mit dem Eifer der rumänischen, ukrainischen, kroatischen, flämischen und französischen Antisemiten und Faschisten, die die Nazis bei der Verfolgung und Vernichtung der Juden unterstützten. Gleiches gilt für die Politik ‘passiver Duldung’, wie sie von den Amerikanern und Briten vollzogen wurde. Zionismus wurde als nationalistische Antwort für viele Juden überzeugend, nachdem sie erfahren hatten, wie die Projektion einer jüdischen Weltverschwörung in ihr Gegenteil umschlug: eine Weltverschwörung gegen die Juden. Die Gründe für die jüdische Massenunterstützung des Zionismus zu verstehen, hat nicht notwendigerweise zur Folge, zionistische Politik zu akzeptieren und zu entschuldigen. Genauso wenig, wie Verständnis für die Reaktionen der Palästinenser auf Jahrzehnte zionistischer Unterdrückung, Einverständnis mit der Politik radikaler Nationalisten eines Habaschs oder Wadi Haddads bedeutet. Es ist wirklich nicht schwer, solche Unterscheidung zu machen. Das also kann nicht das Problem sein. Braucht sich eine deutsche Linke mit der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis deshalb nicht zu befassen, weil es die Wirklichkeit des Zionismus gibt?
[ 9 ] Einer der wenigen jüngeren Versuche in den westdeutschen Medien, die Vernichtung der Juden durch die Nazis qualitativ zu bestimmen, wurde von Jürgen Thorwald unternommen. (Der Spiegel vom 5. Februar 1979).
[ 10 ] Siehe z.B., Norman Cohen, Warrant for Genocide, London 1967.
[ 11 ] Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 4, Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 308-331. Der Text entstand im Jahr 1939 und wurde zuerst in der Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, New York 1939, Doppelheft 112, S. 115-137 veröffentlicht.
[ 12 ] George Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964.
[ 13 ] Die erkenntnistheoretische Dimension der Marxschen Kritik ist dem ganzen Kapital immanent, wurde aber nur im Rahmen seiner Warenanalyse entschlüsselt dargestellt. Seine Kategorien sollen verstanden werden als gleichzeitige Ausdrucksformen besonderer verdinglichter gesellschaftlicher Beziehungen und Denkweisen. Dies unterscheidet sie wesentlich von der Hauptströmung marxistischer Tradition, in der die Kategorien als Bestimmungen einer ‘ökonomischen Basis’ begriffen werden und das Denken als Überbauphänomen aufgefaßt wird, das sich aus Klasseninteressen und -bedürfnissen ableitet. Diese Form des Funktionalismus kann, wie erwähnt, die Nicht-Funktionalität der Vernichtung der Juden nicht adäquat erklären. Allgemeiner formuliert: Sie kann nicht erklären, warum eine bestimmte Denkform, die sehr wohl im Interesse bestimmter Klassen und anderer gesellschaftlicher Gruppen liegen kann, eben diesen und keinen anderen ideologischen Inhalt hat. Gleiches gilt für die aufklärerische Vorstellung von Ideologie (und Religion) als Ergebnis bewußter Manipulation. Die Verbreitung einer bestimmten Ideologie impliziert, daß sie eine Resonanz besitzen muß, deren Ursprung zu erklären ist. Andererseits steht der von Lukács, der Frankfurter Schule und Sohn-Rethel weiterentwickelte Marxsche Ansatz jenen einseitigen Reaktionen auf den traditionellen Marxismus entgegen, die jeden ernst zu nehmenden Versuch aufgegeben haben, Denkformen historisch zu erklären und jeden Ansatz in solche Richtung als ‘Reduktionismus’ ablehnen.
[ 14 ] Proudhon, der in dieser Hinsicht als einer der geistigen Vorläufer des modernen Antisemitismus gelten kann, meinte daher, die Abschaffung des Geldes – der erscheinenden Vermittlung – genüge bereits, um die kapitalistischen Beziehungen abzuschaffen. Kapitalismus ist jedoch von vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet, die in kategorialen Formen vergegenständlicht sind, von denen Geld ein Ausdruck, nicht aber Ursache ist. Proudhon verwechselt demnach die Erscheinungsformen – Geld als Vergegenständlichung des Abstrakten – mit dem Wesen des Kapitalismus.
[ 15 ] Theorien, die den Nationalsozialismus als ‘antimodern’ oder ‘irrational’ darstellen, erklären die Wechselbeziehung dieser beiden Momente nicht. Der Begriff ‘Irrationalismus‘ stellt den noch fortbestehenden ‘Rationalismus‘ gar nicht mehr in Frage und kann das positive Verhältnis einer ‘irrationalistischen’, ‘biologistischen’ Ideologie zur Ratio von Industrie und Technologie nicht erklären. Der Begriff ‘antimodern’ übersieht die sehr modernen Aspekte des Nationalsozialismus und kann nicht angeben, warum nur einige Aspekte des ‘Modernen’ aufgegriffen wurden und andere nicht. Beide Analysen sind einseitig und repräsentieren nur die andere, die abstrakte Seite der oben beschriebenen Antinomie. Tendenziell verteidigen sie unkritisch die bestehende nichtfaschistische ‘Modernität’ oder ‘Rationalität’. Damit ließen sie Raum für neue einseitige Kritik (diesmal seitens Linker) wie etwa die von Foucault oder Glucksmann, die die heutige moderne kapitalistische Zivilisation nur als abstrakte verstehen. All diese Ansätze sind nicht nur unbrauchbar für eine Theorie des Nationalsozialismus, die eine angemessene Erklärung für die Verbindung zwischen ‘Blut und Maschine’ geben soll, sie können auch nicht aufzeigen, daß die Gegenüberstellung von ‘abstrakt’ und ‘konkret’, von positiver Vernunft und ‘Irrationalismus’ keineswegs die Grenzen einer absoluten Wahl abstecken, sondern daß die Pole dieser Gegensätze miteinander verbunden sind als antinomische Ausdrücke der dualen Erscheinungsformen ein und desselben Wesens: der kapitalistischen Gesellschaftsformation. (In diesem Sinn fiel Lukács in seinem unter dem Eindruck der unaussprechlichen Brutalität der Nazis geschriebenen Buch Die Zerstörung der Vernunft hinter seine eigenen kritischen Einsichten in die Antinomien bürgerlichen Denkens zurück, die er 25 Jahre zuvor in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt hatte.) So bewahren solche Ansätze die Antinomie, anstatt sie theoretisch zu überwinden.
[ 16 ] Wollte man die Frage behandeln, warum der moderne Antisemitismus so unterschiedlich stark in den verschiedenen Ländern verbreitet war und warum er in Deutschland hegemonial geworden ist, dann müßte man die oben entwickelte Argumentation in den entsprechenden sozialen und historischen Kontext stellen. Was Deutschland betrifft, ließe sich von der besonders raschen Industrialisierung mit ihren weitreichenden sozialen Umwälzungen und dem Fehlen einer vorausgegangenen bürgerlichen Revolution mit ihren liberalen Werten und ihrer politischen Kultur ausgehen. Die Geschichte Frankreichs von der Dreyfus-Affäre bis zum Vichy-Regime scheint aber zu zeigen, daß eine bürgerliche Revo lution vor der Industrialisierung keine ausreichende ‘Immunität‘ gegen den modernen Antisemitismus gibt. Andererseits war der moderne Antisemitismus in Großbritannien nicht sehr verbreitet, obwohl es dort natürlich auch Rassentheorien und Sozialdarwinismus gab. Der Unterschied könnte in dem Grad der Entwicklung der gesellschaftlichen Abstraktheit von Herrschaft vor der Industrialisierung liegen. Unter diesem Gesichtspunkt kann der Grad der Vergesellschaftung Frankreichs als zwischen dem Englands und zum Beispiel dem Preußens betrachtet werden, gekennzeichnet durch eine besondere Form der ‘Doppelherrschaft‘: Ware und Staatsbürokratie. Beide sind Rationalitätsformen. Sie unterscheiden sich jedoch durch den Grad an Abstraktheit, wodurch sie Herrschaft vermitteln. Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen der institutionellen Konzentration konkreter Herrschaft im Frühkapitalismus (Kirche und Staatsbürokratie inklusive Armee und Polizei) und dem Ausmaß, in dem später die abstrakte Herrschaft des Kapitals nicht nur als bedrohlich, sondern auch als mysteriös und fremd wahrgenommen wurde.
http://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/postone-deutschland_lp.html

Initiative Sozialistisches Forum
“Die Veröffentlichung von 93 gewaltsamen Todesfällen mit rechtsextremistischem Hintergrund der vergangenen zehn Jahre in FR und Berliner Tagesspiegel hat ein solch starkes Echo ausgelöst …”, war auf der Titelseite der FR zu lesen – … daß die geneigte Leserschaft zum Generalstreik gegen Staat und Kapital aufruft? Nein: “ … daß sich beide Zeitungen entschlossen haben, die Texte als Sonderdrucke herauszugeben.” An sich ein löbliches Unterfangen, war es doch bisher linken Publikationen wie jungle world und konkret vorbehalten, die Morde und Übergriffe gegen Ausländer, Punks und Obdachlose, die Anschläge auf jüdische Einrichtungen zu dokumentieren. Nun zeigt die breite Öffentlichkeit der Deutschen ein verstärktes Interesse an den Taten der braunen Schläger und Mörder und dokumentiert ihr Bedürfnis, sich von den häßlichen Glatzköpfen zu distanzieren.
Das Bedürfnis, guter Deutscher, das Bedürfnis, normaler Staatsbürger und damit normaler Nationalist zu sein, ist hingegen alles andere als neu. Neu allein ist die unverblümte Weise, in der sich dieses Bedürfnis artikuliert. Bis in die achziger Jahre war es noch üblich, den normalen deutschen Nationalismus, d.h. den Patriotismus, in die Begeisterung für die nationalen Befreiungsbewegungen der guten Völker im Trikont umzulenken. In der nationalen Erweckungsbewegung, also in der Friedensbewegung der achtziger Jahre, äußerte sich das nationale Bedürfnis dann wesentlich offener: im Engagement, deutschen Boden gegen amerikanische Pershings zu verteidigen. Heute endlich dürfen alle ihren Stolz, Deutsch zu sein, offen aussprechen. Zehn Jahre Berliner Republik, so heißt es nun allerorten, hätten gezeigt, daß die Behauptung, es entstehe ein “Viertes Reich” bevor, keinerlei Berechtigung hatte: “Angst ging um. Aber es kam Normalität” freut sich die Geburtstagsausgabe der Zeit. Und das – aber das ist schon lange lange her – ehemals linke Kursbuch, dem Wolfgang Pohrt bereits 1980 das “Umschlagen neudeutscher Klebrigkeit in reaktionäre Ideologie” prognostizierte, erscheint rechtzeitig zum Jahrestag der deutschen Einheit unter dem Hefttitel “Das gelobte Land” mit einer “Schrift über die Vorzüge Deutschlands”, die dazu beitragen möchte, die “Überproduktionskrise der Selbstkritik” zu überwinden und die Lücke an positivem Schriftum über das Vaterland – “als sich einfach keiner getraut hat” (Enzensberger) – zu schließen.
Das resignative Statement von Max Horkheimer von 1939 – “Aber es ist, als seien die vertriebenen Intellektuellen nicht bloß des Bürgerrechts, sondern auch des Verstands beraubt worden. Denken, die einzige Verhaltensweise, die ihnen anstünde, ist in Mißkredit geraten. Der ‘jüdisch-hegelianische Jargon’, der einst aus London bis zur deutschen Linken drang und schon damals in den Brustton von Gewerkschaftsfunktionären übertragen werden mußte, gilt jetzt als vollends überspannt. Aufatmend werfen sie die unbequeme Waffe weg und kehren zum Neuhumanismus, zu Goethes Persönlichkeit, zum wahren Deutschland und anderem Kulturgut zurück.” (Die Juden und Europa) – ist heute so wahr wie damals: Nach Bitburg, Historikerstreit, Wiedervereinigung, Mahnmaldebatte, Wehrmachtsaustellung, Goldhagen, Walser, Kosovo-Krieg scheint die Befreiung der Deutschen von Auschwitz endgültig abgeschlossen, kann reinen Gewissens zum wahren Deutschtum zurückgekehrt werden. Deutschland, nach fünfundfünfzig Jahren endlich “total normal” (Zeit).
Das Bild vom guten, vom normalen deutschen Volk wird nur noch von den häßlichen Taten der braunen Glatzen gestört. Sie bringen immer wieder die zuerst verdrängte, dann in mühsamer Kleinarbeit scheinbar erfolgreich wegrationalisierte nationalsozialistische Kontinuität der postfaschistischen Gesellschaft an die Oberfläche. Deshalb müssen die braunen Schläger nun von der Bildfläche verschwinden. Denn in der Zivilgesellschaft ist nur ein entnazifizierter Faschismus ein brauchbarer Faschismus.
Die Gewalt der Neonazis beunruhigt auch die herrschende Klasse. Spätestens seit dem Bombenattentat von Düsseldorf, bei dem im Juli sieben Juden schwer verletzt worden waren, hat der Staat Antifaschismus zu seiner Sache gemacht: Politiker aller Parteien werden nicht müde, die “braune Gefahr” zu geißeln. Vorläufiger Höhepunkt der seit Wochen die Innen- und Sicherheitspolitik bestimmenden Debatte: Nach den antisemitischen Anschlägen am Tag der Deutschen Einheit fordert der Bundeskanzler einen “Aufstand der Anständigen”. Man kann nur hoffen, daß die Deutschen diesem Aufruf nicht Folge leisten.
Weil der Grund für die hektischen Umtriebe der StaatsAntifa nicht die in Düsseldorf verletzten Juden sind – Verletzte und Tote gab es bereits bei früheren rechtsextremistischen Anschlägen, wie die mittlerweile auch von ARD-Fernsehmagazinen veröffentlichten Listen des rechten Terrors dokumentieren –, müssen die wirklichen Gründe für den staatlichen Antifaschismus woanders liegen. Die einen werten den staatlichen Antifaschismus als eine PR-Kampagne für die Berliner Republik – was er sicherlich auch ist –, andere verorten den rationalen Kern des regierungsamtlichen antirassistischen, antifaschistischen und philosemitischen Konsens im internationalen Konkurrenzkampf um migrantische Facharbeiter (Stichwort: Green-Card für den Wirtschaftsstandort Deutschland) und bieten renten- bzw bevölkerungspolitische Erklärungsansätze an – was ebenfalls sicherlich nicht falsch ist, denn der Staat des Kapitals hat nun mal für optimale Verwertungsbedingungen zu sorgen –, wieder andere betonen, die rechte Gewalt sei für den Staat eine willkommene Legitimation, an der Repressionsschraube zu drehen, oder bedauern, daß staatliche Verbote von Naziorganisationen wie Blood & Honour aufgrund deren internationalen Verflechtungen nicht greifen – was vermutlich leider auch stimmt.
Mediales Sommertheater, ökonomische Notwendigkeit (Standort Deutschland), politische Repression? Sicherlich ist kein Erklärungsangebot völlig falsch, und die Bedenken der Antifa, daß die Nazis die Verbote und Ächtungen unbeschadet überstehen werden, sind ernst zu nehmen. Wie auch die Einschätzung, daß der legale Rassismus und Antisemitismus, wie er in der Zivilgesellschaft gang und gäbe ist, durch die StaatsAntifa gestärkt wird: Gemeinsam gegen rechts, das heißt gemeinsam für Deutschland. Gemeinsam gegen den rechten Mob, das heißt für eine von der Geschichte befreite deutsche Normalität. Von der Idee eines weltoffenen Einwanderungsland besessen, wird übersehen, daß die Politik der Green-Cards sowohl den alltäglichen Rassismus der zivilgesellschaftlichen Bürger wie den brutalen Rassismus den rechten Schläger bedient: die Logik, Ausländer nach ökonomischen Nutzenkalkülen zu sortieren, liefert den rechten Schlägern das Motiv und die stillschweigende Zustimmung des Volkes. Die internationale Konkurrenz um migrantisches Fachpersonal und die nationale Konkurrenz um Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind nur verschiedene Erscheinungsweisen ein- und desselben Kapitalverhältnisses, das die Mehrzahl der Menschen weltweit zu überflüssigen und nutzlosen Empfängern von Unterhaltsleistungen oder humanitären Hilfsaktionen macht. Futterneid und Konkurrenz scheinen die Beweggründe der Feindschaft gegen Ausländer zu sein – auch wenn diese keinen Mord erklären können. “Zum Ärgernis werden sie (die Ausländer) also nicht durch die Fremdheit ihrer besonderen Kultur, sondern dadurch, daß sie sich einen Mercedes kaufen, in die Disco gehen und die Kaufhäuser bevölkern … weil sie mit den bundesrepublikanischen Verhältnissen so wenig Probleme haben, daß sie im Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Wohnungen mithalten können, werden sie gehaßt.” (Pohrt, Linke und Ausländerpolitik, in: Zeitgeist – Geisterzeit)
Die Parolen vom Boot, das voll sei, sind verklungen, Parolen einer Politik, die nicht nur das Asylrecht praktisch abgeschafft und die rechtlichen Grundlagen für die rigide Abschiebepraxis geschaffen hat, sondern die zugleich den rechten Mob als ihren – mit Baseball-Schläger und Brandsatz – bewaffneten Arm legitimiert hat. Diese werden nun als Bedrohung für die Demokratie gebrandmarkt. In der Weimarer Republik wurden die rechten Schlägertrupps als SA/SS legalisiert und damit gesellschaftlich integriert. Heute versucht man es mit Sozialarbeit. Doch die “staatlich geförderte Glatzenpflege” ist, nachdem sie zunächst als der Weisheit letzter Schluß gelobt wurde, mittlerweile als rechtsradikale Nachwuchsarbeit negativ in die Schlagzeilen geraten. Was also tun?
Politiker aller Parteien formieren sich zur antifaschistischen Volksfront. Die Rede des Bundestagspräsidenten in der Debatte über Rechtsextremismus liest sich an manchen Stellen wie ein Flugblatt der Antifa: “Die Namen Rostock und Mölln, Eberswalde und Solingen, Hoyerswerda, Guben und Hünxe – die Namensliste ließe sich fortsetzen – sind verbunden mit der Erinnerung an schreckliche Gewalttaten gegen Bürger ausländischer Herkunft.” Der bisher als Randphänomen bagatellisierte Rechtsradikalismus wird nun als eine Gefahr beschrieben, die “bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht”.
Dort organisiert sich mit der “Aktion weltoffenes Deutschland” bereits ein Antifaschismus, der die antifaschistische Legende vom “anderen Deutschland”, die immer schon das völkische Denkschema tradiert hat, kulturindustriell auf die Höhe der Zeit bringt. Der staatlich geförderte Anti-Rassismus-Verein will Versteigerungen im Internet, Galamenüs von Spitzenköchen organisieren, Telefonkarten mit Vereinslogo verkaufen. Die Legende vom anderen Deutschland, d.h. die antifaschistische Basis der völkischen Kontinuität, geht voll und ganz in der medienwirksamen Reklameveranstaltung deutscher Prominenter auf, die vor allem ihr “Gesicht zeigen!”. Eine der Beteiligten, die ihr Gesicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu zeigen weiß, engagiert sich “nicht als Prominente, sondern als Frau, die in diesem Land lebt, und das seit 26 Jahren mit einem jüdischen Mann”. Die Pflicht eines jeden hervorhebend, sich der Geschichte zu stellen (deshalb will sie eine Lesung aus dem Buch “Mama, was ist Auschwitz?” von Annette Wieviorka auf Kassette aufnehmen und an Schulen verteilen) betont sie zugleich ihr Opfer, nicht nur in diesem Land leben zu müssen, sondern zudem auch noch einen jüdischen Mann zu haben, und stellt mit der nach 45 von jedem deutschen Antisemiten zur persönlichen Entlastung geäußerten Formel: mein bester Freund war Jude, ihre (verfolgende) Unschuld unter Beweis.
“Das Kapital braucht nicht immer den Faschismus. Aber der Zusammenhang zwischen dem repressiven Charakter des liberalen und neoliberalen Staates und den terroristischen Methoden des faschistischen Staates darf nicht übersehen werden … Die Staatsgewalt muß jederzeit die Fähigkeit bewahren, gegen Emanzipation konkret zu werden.” (Johannes Agnoli, Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat, in: Faschismus ohne Revision)
Im Deutschen Herbst von 1977, als der Staat den Ausnahmezustand verhängte, war die antifaschistische Welt für einen kurzen Augenblick in Ordnung: der demokratische Nachfolgestaat des Nationalsozialismus zeigte seine totalitäre Fratze in aller Deutlichkeit und offenbarte so sein autoritäres Wesen. Doch dem Gerede der damaligen Linken vom “neuen Faschismus” folgte bald das Bekenntnis zum Primat der Gewaltfreiheit linker Politik – die Zivilgesellschaft war geboren und der Staat konnte sich wieder liberal geben. Heute versucht sich die staatliche Repression an der rechten Gewalt, gegen die er sein Gewaltmonopol behaupten will. Doch dieser Kampf gegen rechts ist von der Natur der Sache her ein anderer als der gegen links. Ein Rechter, der dem Staat das Gewaltmonopol bestreitet, ist ein Widerspruch in sich. Auch die Linke mag aus sich heraus nie wirklich dieses Gewaltmonopol in Frage gestellt haben, auch sie wollte, wie sich historisch gezeigt hat, jenseits aller emanzipatorischer Rhetorik in Wirklichkeit nur den Staat für sich, den Austausch der Eliten – aber von der herrschenden Klasse wird doch instinktiv gespürt, daß eine tatsächlich Gefahr für sie nur von links ausgehen kann. Und so braucht es nicht viel, um prophezeien zu können, daß es im Kampf gegen rechts zu einer Sympathisantenhatz wie in den siebziger Jahren nie kommen wird (müßte doch dann der gesamte Bundestag mit dem § 129a zur Räson gebracht werden.) Ebensowenig verwundert es, daß die nationalistisch-konservativen klammheimlichen Sympathisanten der rechten Schläger im Umkreis ihres Zentralorgans für Deutschland (der FAZ), genau dieselben Argumente gegen staatliche Repression anführen, die im deutschen Herbst der siebziger Jahre aus linksliberalen Kreisen zu vernehmen waren: zuviel Repression gefährde die Demokratie.
Die Bombe von Düsseldorf gefährdet das Gewaltmonopol des Staates selbst jedenfalls nicht – doch die zur Zeit verfochtene herrschende Politik. Der Kampf gegen rechts soll allen Rechten – also auch der (glücklicherweise noch) schweigenden Mehrheit der Bevölkerung – zeigen, daß zwar alle dasselbe wollen – Deutschland –, die staatliche Antifa von Stoiber bis Gysi aber nicht gewillt ist, für Deutschland eine andere Politik zu machen als die bisherige. Und so lange die derzeitige Koalition von Staat und Kapital nicht in die Krise gerät, wird die Rechte sich daran die Zähne ausbeißen.
Sei es wie es ist. Der Gewinner des politischen Spiegelgefechts zwischen Demokratie und Repression, zwischen Recht und Gewalt, steht von vorn herein fest: der Staat selbst – den es, wollte man mit Antirassismus und Antifaschismus ernst machen, abzuschaffen gälte. Doch diese Minimalforderung wird man im zum gesellschaftlichen Mainstream avancierten Antirassismus vergeblich suchen: Staat, Volk, Prominente und Intellektuelle haben sich zu einer antifaschistischen Volksgemeinschaft formiert, die sich über “die brutalen Formen von Rassismus in unserem Land” empört, sich jedoch einen Dreck um deren Ursachen schert. So abgegriffen kann das Diktum Horkheimers, demzufolge vom Faschismus schweigen soll, wer vom Kapitalismus nicht reden will, gar nicht sein, als daß man den antirassistischen Konsens in Deutschland nicht wieder und wieder damit konfrontieren müßte.
So wie es ist, muß es nicht bleiben. Die Alternative zeigt sich in der Gleichzeitigkeit, mit der das Feuilleton zur Feier des hundertjährigen Todestags von Nietzsche “die Entfesselung der von ihm propagierten Energien kreativer Zerstörung” zelebriert (Hartmann in konkret 10/2000), mit der Wirtschaftsmagazine unter Berufung auf Josef Schumpeters aggressive Theorie des Unternehmertums die “schöpferische Zerstörung” als Innovationspotential gegen die kommunikative Ethik der runden Tische anpreisen, mit der sich die Mitte der Gesellschaft als verfolgende antirassistische Unschuld liberal und humanistisch zu inszenieren weiß, verweist auf die Gleichzeitigkeit von Liberalismus und Anti-Liberalismus. Genauso, wie der Liberalismus das Gespenst vom die Demokratie bedrohenden Faschismus braucht, benötigt dieser die Ideologie eines die Gemeinschaft gefährdenden, reinen Liberalismus. Doch Liberalismus und Faschismus sind keine Gegensätze. Im Rationalismus des Liberalismus steckt bereits der Umschlag in die Irrationalität, die dem Faschismus als Differenzkriterium zugesprochen wird; in der Aufklärung steckt bereits die Gegenaufklärung. Die in der bürgerlich-liberalen Ideologie zur “invisible hand” mystifizierte, von antiindividualistischen Gemeinschaftsideologen als abstrakt und unpersönlich diffamierte gesellschaftliche Synthesis durch den Wert, und die volksgemeinschaftliche Form der nationalsozialistischen Synthesis stehen sich (bei aller Unterschiedlichkeit) nicht diametral entgegen. Ebensowenig aber läßt sich das historisch Spätere (die Volksgemeinschaft) aus dem Früheren (der unsichtbaren Hand) logisch ableiten. Beide haben denselben Grund: das Kapital und seinen Staat.
Gleichwohl gehört die Bekämpfung des Liberalismus zum festen Bestandteil der totalitären (faschistischen) Ideologie, der nationalsozialistischen in den dreißiger Jahren ebenso wie der von heute. Die von Sloterdijk und anderen Heideggerianern im “Kulturkampf” (Zeit) gegen die Kritische Theorie vorgetragene Humanismuskritik soll den Weg in ein nach vorne gerichtetes, die Last der Vergangenheit abgeschütteltes Denken ebnen. Sloterdijks Regeln für den Menschenpark eröffnen den Deutschen eine Perspektive, auch bei den zukunftsträchtigen Themen wie Gentechnologie zur Normalität und Kontinuität westeuropäischer Geschichte zurückzukehren. Die Größe der Aufgabe verlangt aber nach einem heroischen Menschenbild, nach einem Übermenschen, der nicht unmittelbar mit dem Herrenmenschen der Nazis identisch ist, verlangt nach einer von humanistischer Moral und der störenden Erinnerung an die nationalsozialistische Eugenik befreiten germanischen Züchtungsprogramm. Die Philosophie Heideggers, deren faschistischer Gehalt immer nur von wenigen Außenseitern thematisiert wurde, und die bereits über die postmoderne Rezeption in Frankreich auch hierzulande höhere Weihen erhielt, und die Philosophie Nietzsches, vor deren Faszination auch kritische Rezipienten nicht gefeit sind, sind längst zur geistigen Grundlage der Berliner Republik avanciert. Wahre Stärke repräsentiert nicht der Baseball schwingende Hooligan, sondern der narzistische, erfolgsorientierte, souveräne Machtmensch, dessen stählerner Blick einem aus jeder Hugo Boss Werbung entgegen stiert.
Und was hat die kritische Linke der antifaschistischen Volksgemeinschaft entgegenzusetzen? Gibt es in dieser überhaupt noch einen emanzipatorischen Anti-Rassismus, gibt es noch eine Kritik des Antisemitismus, die nicht zum bloßen Selbstzweck heruntergekommen ist? Gerade letztere hat sich innerhalb der Linken in den letzten Jahren zum festen Bestandteil des theoretischen Repertoires etabliert: Man hat seinen Postone gelesen, hat gelernt, die Personifizierung der abstrakten Form der Vergesellschaftung und die Unterscheidung von raffendem und schaffendem Kapital als antisemitische Stereotype zu denunzieren, schaut, völlig zurecht, ganz genau hin, wenn vom Spekulationskapital und Casino-Kapitalismus die Rede ist. Zweierlei allerdings sucht man in der Kritik des linken Mainstream an Antisemitismus und an Rassismus nach wie vor vergebens: die Reflexion auf den Zusammenhang von Warenform und Denkform (kritische Selbstreflexion) und das Einbeziehen einer Staatskritik. Zu oft noch wird, wenn nicht kulturalistisch, dann strukturtheoretisch oder ökonomistisch argumentiert: der Gegensatz von abstraktem Wert und konkretem Gebrauchswert wird meist zum Strukturprinzip der “Wertvergesellschaftung” verallgemeinert, ohne auf die Form zu reflektieren, die das Verhältnis von abstrakt und konkret in der für den gesunden Menschenverstand ebenso wie für die akademische Denkform selbstverständlichen Weise konstituiert. Es bleibt der an der Wertformanalyse von Marx orientierten Kritik vorbehalten, den Gegensatz von abstrakt und konkret nicht als quasi-natürliche Denkvoraussetzung zu ontologisieren, sondern als notwendiges Resultat des Denkens in der Form des Werts selbst zu begreifen – einem Denken, dem Antisemitismus und Rassismus nicht als kulturelle oder ökonomische oder politische Phänomene hinzutreten, sondern als notwendig falsches Bewußtsein völlig immanent sind. Den Zusammenhang von Kritik der politischen Ökonomie und Erkenntniskritik ignorierend, haben linksakademische Theorien des Antisemitismus und Rassismus etwa denselben Stellenwert wie gutgemeinte Sonntagsreden des Bundespräsidenten: sie versuchen zu verstehen, was, wollte man es wirklich bekämpfen, abzuschaffen wäre.
http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/isf-gemeinschaft.html

http://www.redaktion-bahamas.org/aktuell/20141030halle.html
Wir dokumentieren den Aufruf von der Seite http://israelkritik.de:
Antisemitische Lumpen sind in den vergangenen Wochen tagein, tagaus durch europäische Innenstädte gezogen, mit palästinensischen Gesinnungsfetzen um den Hals und selbstgefertigten oder auch vorab verteilten Plakaten in der Hand, auf denen die brutalste Dummheit prangte, während über ihren Köpfen schwarze, grüne und rote Fahnen flatterten. Aufgedrehte und erregte Jungmännerhorden suchten einander an Hitzigkeit der Raserei und Brachialität des Judenhasses zu übertreffen. Die Frauengrüppchen, der familiären Autorität, der handfesten Männerherrschaft über sie stets unterwürfig, waren trotz Sommerhitze oft züchtig verschleiert, wenngleich sich bei nicht wenigen dadurch das paradoxe Bild vom Kopftuch in Kombination mit Hotpants ergab. Doch der Hass auf die Juden versöhnt viele unüberbrückbare Gegensätze, auch die sichtlich frommer gehaltenen Mädchen durften in der Ausflugslaune solcher mitmachen, die man ansonsten kaum je vor die Tür lässt. Der Fastenmonat Ramadan tat ein Übriges, man sah bei den antisemitischen Kundgebungen landauf, landab Leute plötzlich in Ohnmacht fallen, weil die Mischung aus nicht nur physischer Aushungerung, herausgebrülltem Judenhass und schwülem Wetter zu viel wurde. Diese Intifadisten möchten gewiss ihr Auftreten gegen Israel als gute muslimische Tat verbucht sehen, etwa als Ausgleich für ein ansonsten mehr als mageres spirituelles Leben. Bei den meisten der Jünglinge wird der Alltag nicht so sehr von Moscheebesuchen als von schlechtem Hiphop und stupidem Krafttraining geprägt sein. Bei den Mädchen wäre großteils von einem möglichst sorgfältigen Kontrollregime über ihr Leben auszugehen, das bei manchen von ihnen in totale Affirmation, totale Identifikation, totale Selbstnegation – arabisch „Dschihad“ – umschlägt. Deutlich zu sehen bei den verschleierten Fanatikerinnen, die etwa in Köln die schwarze Flagge des dschihadistischen Terrors über ihren Köpfen schwangen, dem Symbol ihrer totalen Entrechtung als Frauen. Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher „Allahu-Akbar“-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren. Dieser Verlust kann unter Aufrechterhaltung der Lebenslüge Islam nur mittels einer unaufhörlichen Verfolgung immer neuer Abweichler oder Ungläubiger abgewehrt werden. An ihnen wird der eigene, unwahre Glaube gebüßt, das offenkundige islamische Unglück gerächt. Gäbe es keine Juden, der Islam müsste sie erfinden. Ohne diese Sündenböcke müsste er sonst an seiner eigenen Unerträglichkeit krepieren!
Die Verkünder Allahs wollen die ganze Welt in einen autoritären Kollektivismus hineinterrorisieren, die strikte islamische Trennung des „Reinen“ vom „Unreinen“ soll alles beherrschen und jedes bisschen Leben, jedes bisschen Freiheit in Angst und Todeskult ersticken. Die radikale Abschaffung dieses unvergleichlich amoralischen, menschenfeindlichen und despotischen Gottesbildes kristallisiert sich als die vordringlichste Aufgabe für jeden heraus, der die Idee einer Menschheit noch nicht aufgegeben hat. Der Islam ist keine schützenswerte Kultur, sondern eine furchtbare, autoritäre, gnadenlose Ideologie, die durch die Verkommenheit der westlichen Intellektuellen und Politiker, durch das Versagen und die Borniertheit der Zivilisation voranschreitet: in Gaza, Syrien, Irak, Nigeria, Somalia und zahllosen anderen Stätten islamischen Grauens. Sein terroristisches Vordringen auf den globalen Schlachtfeldern muss mit angemessenen militärischen Maßnahmen bekämpft, seiner „friedlichen“ Missionstätigkeit und Propaganda im Westen mit den Mitteln des Rechtsstaats und den Waffen der Kritik das Handwerk gelegt werden. Wer das unaussprechliche Unglück hat, unterm Banner der Schahada, des muslimischen Glaubensbekenntnisses, existieren zu müssen, sei der Hintergrund des Banners nun schwarz wie bei ISIS und Al Qaida oder grün wie bei der Hamas und Saudi-Arabien, sieht sich von jeder Hoffnung auf westlichen Beistand komplett verlassen. Kein George W. Bush im Weißen Haus mehr, der so „dumm“ und „arrogant“ wäre, den Menschen im Orient democracy & freedom bringen zu wollen. Die vor aller Welt live sich vollziehenden, von den ISIS-Verbrechern selbst stolz ins Internet gestellten Massaker an Kurden, Assyrern, Yeziden, Christen, Schiiten und nicht wenigen Sunniten im nördlichen Irak und Syrien sind allzu lang von der untätig gebliebenen Administration des unsäglichen Friedensnobelpreisträgers Obama und von den ebenfalls friedensnobelpreistragenden Europäern ermöglicht, zugelassen, mitverursacht worden, von denen also, die das Scheitern von Iraqi Freedom immer schon vorausgesagt hatten und es nun geradezu triumphierend konstatieren dürfen.
„Kritisch ja, antisemitisch nein. Der Ton macht die Musik.“ (Frank Elstner, BILD, 25.7.2014)
Auf die Hilfe der „mit Gaza“ gegen Israel ach so solidarischen Mitmuslime kann ohnehin lange warten, wer als Muslim von rasenden Barbaren im Namen des keineswegs dabei missdeuteten Koran entmündigt, unterdrückt, erniedrigt, geschlagen, misshandelt, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, ermordet wird. Allerhöchstens senden die „Brüder“ aus dem Westen weitere Fanatiker und Massenmörder, wie es derzeit in Syrien und im Irak geschieht. Die telegenen Muslimsprecher, die bärtigen Verbandsvorstände, die noch bärtigeren Imame sind viel mehr an der Hetzkampagne gegen „Kindermörder Israel“ interessiert als an den Massakern, den gesprengten Heiligtümern und Moscheen im Irak, den ca. 250.000 muslimischen Toten in Syrien, den Gräueltaten von Boko Haram auch an muslimischen Schulbesucherinnen, den Untaten von al-Schabaab an Muslimen in Somalia.
Die Gier der exklusiv zum Thema Gaza auf einmal ganz muslimsolidarischen Pallywood-Lobbyisten nach Bildern von Kinderleichen, die man dem Judenstaat anlasten kann, führt nicht nur zu den absurdesten Fälschungen von Pressebildern und sogar Horrorfilmschnipseln, sondern ist auch der Grund, warum Hamas für viele solcher Leichen sorgt, indem man die Raketenstellungen bewusst dort aufstellt, wo bei israelischen Gegenschlägen hohe zivile Opferzahlen zu erwarten sind. Entgegen der unendlich oft wiederholten Behauptung, der Gazastreifen sei der am dichtesten bevölkerte Ort der Welt – dies gilt allenfalls für die Ortschaften Gaza City, Khan Yunis und Rafah – weist das Gebiet nicht wenige unbesiedelte Zonen und Halbwüsten auf, die Hamas ganz bewusst nicht als Abschussbasen für Raketen und Startpunkte ihrer Terrortunnel gewählt hat.
Der Hetzruf „Kindermörder Israel“ ist die totale Dämonisierung nicht nur Israels, sondern der Juden überhaupt. Sein an mittelalterliche, antijüdische Legenden anknüpfendes Bild, das nur um weniges vorsichtiger in der europäischen und deutschen Qualitätspresse wiedergegeben wird, ist der Gipfel der Perfidie. Wer die zutiefst verlogene Parole vom „Kindermörder“ aufgreift, beweist den Wahnsinnigen der Hamas, dass die Reklame mittels Kinderleichen wirkt und weiter betrieben werden soll. Jeder Journalist, Politiker, jede Einzelperson, die die Schuld an den toten Kindern mit Israel identifiziert, befeuert diese nekrophile Kinderpornographie. Die „Kindermörder“-Losung reizt die Massen, total enthemmt überzuschnappen, durch die Unschuld der Toten vollkommen moralisch legitimiert außer sich zu geraten und die Juden oder ihre Fürsprecher, echte und gewähnte Islamfeinde (wie etwa eine Burger-King- und eine McDonald‘s-Filiale in Nürnberg) mit ungehemmter Brutalität anzugreifen.
In der Öffentlichkeit besteht kein Verbot, Israel zu kritisieren, sehr wohl aber ist mittlerweile jede Kritik der Israelkritik delegitimiert. Eine stetig größer werdende Welle antisemitischer Gewalttaten bricht sich in ganz Europa Bahn, im Namen der von der Hamas ganz bewusst gefährdeten, exponierten und geopferten Kinder. Die plötzliche Vervielfachung der Angriffe auf Juden wird durch die demonstrativ in die Kamera gehaltenen Leichen befeuert, wird von den israelkritischen Politikern und Journalisten angeheizt. Die Folgen dieser Propagandaschlacht für die Juden wurden möglichst kleingeredet und verharmlost, erste antisemitische Gewalttaten prompt zu gesellschaftlichen Randerscheinungen erklärt, wie es Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter und oberste Persilscheinaussteller des Berliner Zentrums für Antisemitismus der deutschen Gesellschaft nur zu bereitwillig attestierte. Die schließlich unleugbar gewordenen antisemitischen Vorfälle hat natürlich „niemand“ gewollt, und alle hatten Israel sogar noch gewarnt, schon um der Juden im Ausland willen, für deren Sicherheit gegebenenfalls auch „niemand“ bürgen könne… Wer so argumentiert, nimmt gedanklich schon einmal Geiseln.
Hamas ist eine nekrophile politische Selbstmordsekte, die rituelle Menschenopfer zelebriert und offen die Vernichtung Israels und aller Juden als ihr Ziel erklärt hat. Ganz nebenbei ermordet sie weit mehr Muslime als Juden – die Hinrichtungen von „Spionen“, „Abtrünnigen“, „Verrätern“ und all derer, die sich dem mafiösen Alltagsgeschäft und dem inneren Terror der Hamas in den Weg zu stellen wagten, sind Legion. Die Einwohner Israels verdanken ihre relative Sicherheit der unermüdlichen Arbeit der israelischen Armee, die die Mordlust der Hamas – unter möglichst wenigen Verlusten auf allen Seiten – einzudämmen versucht. Ziele israelischer Luftschläge werden zuvor gewarnt, es werden Flugblätter abgeworfen, sprengsatzlose Raketen vorausgeschickt, damit die betreffenden Gebäude von Zivilisten rechtzeitig geräumt werden können. Laut mehreren Berichten ist dies aber schon von Hamas-Funktionären mit der Waffe in der Hand verhindert worden, um die Opferzahlen in die Höhe zu treiben. Diese abscheulichen Vorgänge werden von jedem mitverschuldet, der die antisemitische Parole vom „Kindermörder Israel“ mitblökt, ob wutbürgermäßig mit selbstgemachtem Plakat oder per konsterniertem Leitartikel über das Leiden der unschuldigen Kinder in Gaza. Die antisemitischen Massen brüllten in Deutschland zu Hunderten „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ oder „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf‘ allein!“, griffen echte oder gewähnte „jüdische“ Passanten brutal und rücksichtslos an. Dies geschah eine ganze Zeit lang, ohne dass die deutsche Polizei groß intervenierte, die sich bei staatlicherseits wirklich unerwünschten Aktionen hinsichtlich der Einsatzstärke oder Robustheit nicht lumpen lässt.
Hätten etwa irgendwelche NPD- oder ProKöln-Figuren auf der Kölner Domplatte demonstriert, wäre nicht nur das Polizei-, sondern auch das klassische Antifa-Aufgebot überwältigend gewesen. Die ganze Stadt hätte sich ihnen entgegengestellt und sie niedergebrüllt. Aber gegen die Freunde des arabischen Judenmordes kommt kein „Arsch huh“, gehen keine „Zäng ussenander“. Das vermeintliche „Versagen“ dem offenen, hauptsächlich islamisch motivierten Antisemitismus gegenüber, sowohl seitens der staatlichen als auch der möchtegern-staatlichen Organe (wie die sogenannte Antifa, die – mit wenigen Ausnahmen – dem antisemitischen Geschehen kaum kritische Aufmerksamkeit schenkte), ist weder ein Lapsus noch ein Zufall, sondern der sichtbare Ausdruck ihres fortschreitenden Verfalls: Es käme uns gewiss nicht in den Sinn, mit dummer Gläubigkeit an sie zu appellieren. Die ganz doll antifaschistische Linkspartei, speziell ihr nordrhein-westfälischer Landesverband, meldete Demonstrationen an, auf denen antisemitische Hetzparolen gebrüllt wurden, man suchte von linker Seite her den Schulterschluss mit muslimischen Multitüden, unter denen sich sogleich türkische Graue Wölfe und deutsche Neonazis tummelten. Die zu konstatierende Erfahrung mit dem bürgerlichen Staat im Allgemeinen und dem postnazistischen deutschen Staat samt all seinen Hilfspolizisten im Besonderen ist vielmehr: Mitten im Normalbetrieb kann jederzeit der Ausnahmezustand ausbrechen, in welchem die großherzigen Garantien und demokratischen Sonntagsreden ausgesetzt werden und auch die Staatsräson hinfällig wird, weil krisenbedingt wieder einmal gehobelt werden muss und dementsprechend blutige Späne fallen dürfen.
So geschehen bei den staatlicherseits zugelassenen, per taktischem Polizeimangel ermöglichten Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, die schließlich zur de-facto-Abschaffung des grundgesetzlich verbürgten Asylrechts führten. Die deutsche Spezialität bei solchen Vorkommnissen ist die glänzend inszenierte Heuchelei, die mustergültige, nicht einmal bewusst abgesprochene Arbeitsteilung zwischen den Arbeitern der Stirn und den Arbeitern der Faust: Die einen schrieben damals „Das Boot ist voll“ wie Der Spiegel, andere warfen dann die Brandsätze, die natürlich „niemand“ gewollt hatte. Den Rest erledigte der Reichstag.
In der jetzigen Situation beginnt sich dieses widerliche deutsche Muster zu wiederholen: Der Spiegel, die Waffen-SZ, die liberalen und linken Zeitungen, das öffentlich-rechtliche Fernsehen… all diese Sturmgeschütze der Demokratie feuern unisono los, geben ihre freundschaftlichen Ratschläge an Israel, schreiben ihr infames „gerade wir als Deutsche“ hin, mahnen stirnrunzelnd zur Zurückhaltung im Raketenhagel, schwafeln von Gewaltspiralen und Pulverfässern, breiten ihre hübschen Lösungen der nahöstlichen Judenfrage aus. Sie problematisieren und denunzieren gezielt die jüdische Selbstbewaffnung, die als Einziges die Fortexistenz des jüdischen Staats in einer antisemitischen Welt sichert. Sie schämen sich nicht, antifaschistisch besorgte Vergleiche ausgerechnet zu den Massenmördern zu ziehen, die die Gründung Israels als jüdische Lebensversicherung zu einer absoluten Notwendigkeit machten – also zu ihren Eltern und Großeltern. Sie reüssieren, protestieren, räuspern sich vernehmlich, bekommen ihre deutschen Bauchschmerzen, ihr altes jüdisches Geschwür, platzen schließlich mit dem heraus, was unter Freunden doch einmal gesagt werden muss, beten für den Frieden, finden jeden Krieg ganz, ganz furchtbar, in einem Wort: sie hetzen. Aus purem Ressentiment, aus einem sehr deutschen Abrechnungsbedürfnis, das den Juden Auschwitz nicht verzeihen kann, aus der schunkelnden, seelischen Korruption, der ekelhaften deutschen Verbrüderung, die immer auf Kosten des Volksfeindes geht.
Die öffentlichen Schwätzer und Schreiber gegen Israel sind als Mittäter anzusehen, die für die Gräueltaten ihrer antisemitischen Lieblinge mitverantwortlich sind. Denunzianten Israels wie Franziska und Jakob Augstein, Günter Grass, Daniel Bax, Heribert Prantl, Dieter Hallervorden, Nina Hagen, Sabine Rau würden in einer wirklichen Zivilisation für ihre Schreibtischtaten zur Rechenschaft gezogen werden. Sie gehören mindestens mit Verachtung gestraft. Ebenso die politischen Karrieristen wie Bernd Riexinger und abgehalfterte Trommler wie Jürgen Todenhöfer, die quer durch die Parteienlandschaft mittels des Themas Israel den Schulterschluss mit den dumpfen Ressentiments der Volksgemeinschaft suchen und zuverlässig auch finden. Jeder dieser obsessiven Hetzer kann sich einer ganzen Flut an Dankesbriefen für jede seiner bebenden Kühnheiten sicher sein, wird für sein larmoyantes, selbstgefälliges Maulheldentum von den anderen deutschen Zensuropfern zum Helden der Meinungsfreiheit gekürt. Jeder niederträchtige Anschlag auf den jüdischen Staat, jede bestenfalls verantwortungslose Gefährdung jüdischer Leben in Deutschland kann damit rechnen, noch zur tapferen Intervention gegen eine gewähnte, allgegenwärtige Mediendiktatur verklärt zu werden.
Der von der BILD publizierte Aufschrei „Nie wieder Judenhass!“ erging nach einer geraumen Zeit alles andere als stillschweigender Unterstützung des antisemitischen Mobs seitens der deutschen, sogenannten Qualitätspresse. Von Kai Diekmann lanciert, von der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten, Veronika Ferres und Johannes B. Kerner unterstützt, war der anti-antisemitische BILD-Titel im ersten Augenblick gewiss ein Anlass zum Aufatmen, speziell für die Juden in Deutschland, die sich angesichts der faktischen Koalition von Mob und Elite und einer schlagartigen Vervielfachung antisemitischer Gewalttaten unmittelbar bedroht sahen und über zu packende Koffer laut nachzudenken begonnen hatten. Doch liest man die verschiedenen, politisch korrekten Bekenntnisse des staatstragenden und kulturindustriellen Personals um den BILD-Titel herum, wird klar, dass hier der kurz von der Leine gelassene Antisemitismus der eifernden, migrantisch-hintergründigen Wutbürger vom ideellen Gesamtdeutschen in Regie genommen und politisch verwertbar gemacht werden soll. Es geht nunmehr um die genau richtige Dosierung der Israelkritik in absolut gewissensreiner Abgrenzung vom Antisemitismus, der von der Intelligenz weniger im Schach als vielmehr drohend bereit gehalten wird. Nichts anderes bedeutet etwa das Grass-Gedicht, die Zuckerberg-Krake und andere Anlehnungen an den „Stürmer“ seitens der SZ. Es geht um den amtlich zugelassenen Härtegrad der Hetze gegen den Judenstaat, die unverdrossen weiter gehen soll, ohne aber die staatlich geschützten Juden sichtbar zu beschädigen, welche wiederum der Ausweis des wieder gut gewordenen Deutschlands sind. Die stets nachjustierte, nervös und plump dirigierte Unterscheidung zwischen verbaler Verfolgung der Juden in Deutschland und der verfolgend-unschuldigen „Frage“ nach dem Existenzrecht – nein, eleganter noch: der abgrundtiefen „Sorge“ um die Zukunftsfähigkeit Israels ist der Kern des aktuellen, postnazistischen Bewusstseins. Wie es Heiko Maas von der SPD auf dem BILD-Titelblatt zum Erschaudern deutlich auf den Punkt bringt: „Juden dürfen sich bei uns nie wieder bedroht fühlen.“ Es ist hinter allem Pseudokalkül vor allem ein ungeheurer Selbstbetrug, vergleichbar dem Versuch, ein offenes Feuer in der Hosentasche zu tragen. Die Exponentialität seiner Energie, die stete Steigerung seiner Aggression ist wesentliches Element des Antisemitismus‘, der als Israelkritik keineswegs aufgehoben, sondern schlichtweg raffiniert und salonfähig wird. Dass all die feuilletonistisch-politischen Finessen dem Pöbel nicht ganz so schnell einleuchten, zeigt sich in den Anschlägen, brutalen Übergriffen, enthemmten Drohungen, mit denen sich Juden und jüdische Einrichtungen derzeit auf breiter Linie konfrontiert sehen. Die hetzende Journaille weiß genau um diese „unerwünschte Nebenwirkung“ ihrer israelkritischen Obsession und fährt dennoch ungebremst, mit unheilbar reinem Gewissen mit ihren Angriffen fort. Es ist ein Skandal, dass die israelkritischen Lautsprecher anerkannt und erfolgreich sind, ins Fernsehen und Radio eingeladen und dort auch noch hofiert werden, als wären sie respektable Menschen, während sich durch die Mitschuld dieser Giftspritzen Juden in der Öffentlichkeit fürchten müssen, als solche erkannt zu werden. Würden die antifaschistischen Bekenntnisse dieses erbärmlichen Landes wirklich etwas bedeuten, hätten die Hetzer und Trittbrettfahrer, die Opportunisten und Türöffner des Antisemitismus nicht so ein leichtes Spiel. Wie es mit der NPD und anderen rechten Widerlichkeiten geschieht, würde jeder ihrer öffentlichen Auftritte skandalisiert, gestört, blockiert, möglichst verhindert werden. Aber Antifaschismus heutzutage ist kaum mehr als lokalpatriotischer Standortschutz und Fankurvengesang gegen Rechts.
Die politische Spitze hält sich vom allzu vulgären Judenhass und auch von allzu rabiater Israelkritik fern, weil es sich sonst mit den staatslegitimierenden Andachten am von vielen Völkern so beneideten Holocaust-Denkmal bisse, zu welchem man ja als Deutscher „gerne hingehen“ können soll, wie Gerhard Schröder es treffend ausdrückte. Man darf sich hier keinen Augenblick täuschen, was die bürgerliche Republik im Postnazismus angeht: Als es darum ging, den Einsatz der israelischen Marine gegen die Mavi Marmara zu verurteilen, haben sie ausnahmslos und erstmalig in der Geschichte der BRD alle – von Angela „Staatsräson“ Merkel bis Inge „Frauendeck“ Höger – einstimmig mit „Ja“ zur Resolution gegen Israel gestimmt, man kannte keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.
Deutscherseits erfüllten „die empörten Muslime“ eine sehr wichtige, wenngleich für Deutsche kaum bewusste und noch weniger eingestehbare psychosoziale Funktion. Die Toleranz und das Verständnis seitens der Leitkultur, die den Wutmuslimen eine zeitweilige, antisemitische und darum falsche Katharsis gewährten, sollten aber nicht nur den Irren unter Allahs Fahne als vermeintliches Ventil dienen, sondern eben auch all den Deutschen, die es kaum erwarten konnten, sich in ihren Hass, ihre „Kindermörder“-Rufe einzufühlen. Doch Deutsche – und ihre Dichter und Denker allemal – wissen um Stalingrad und Dresden, fürchten sich vor dem Preis totalen antisemitischen Kontrollverlustes bei für sie ungünstigen Kräfteverhältnissen. Sobald sich also das kleine, wärmende Flämmchen der Israelkritik als hell auflodernde Synagoge herauszustellen droht, fürchtet man doch sehr um das mustergültige Ansehen des Landes, sieht schon die bösen Artikel in der ausländischen Presse, sorgt sich um den Ehrenplatz als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister, von welchem aus man doch so freimütig allen anderen Völkern im Allgemeinen und den Juden im Besonderen ethisch-moralische Lehren erteilen kann. Die lange polizeiliche Leine, an der man die Pogromwilligen kurz spazieren ließ, wird also wieder eingezogen, zumindest sollte das durch den BILD-Titel in die Welt hinaus und vor sich selbst suggeriert werden. Exakt so wollen die Deutschen mit ihren Juden kommunizieren und exakt so ihre Muslime handhaben. Die Juden sollen ja nie vergessen, ihre Dankbarkeit zu bekunden, wenn etwa so ein muslimisch-migrantischer underdog nach ein paar unverkrampften Bissen wieder zurückgezogen wird. Die Muslime wiederum, denen man jetzt liebe- und verständnisvoll den feinen Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus erklärt, sollen sich dankbar in die (auch ideologische) Drecksarbeit für die Deutschen schicken, wie es für sie immer schon verfügt war. Im Ankläffen der Juden und im gehorsamen Befolgen von „Fass!“ und „Sitz! Aus!“ liegt – wohlgemerkt nur laut dem schier unvergänglichen Herrenwahn der Deutschen – die Zukunft der deutschen Integration nützlicher Muslime, an denen man sich zudem so wunderbar erzieherisch betätigen kann. Das beispielhafte Endprodukt postnazistischer Integration wäre idealiter der politisch oberkorrekte Cem Özdemir, doch hier wird dann realiter der unheilbare Widerspruch zwischen deutschem pädagogischen Anspruch und deutschem psychologischen Bedürfnis deutlich: Dem Musterdeutschen Özdemir fehlt vor lauter Verinnerlichung deutscher Magengeschwüre bereits wieder das migrantisch-ungebärdige Element, also das nunmal sehr gefragte „extra scharf“: Jener von hochdeutschen Sensibilisierungen ungehemmte Judenhass, der in Deutschland ohnehin am Liebsten auf bildungsferne Unterschichten (z.B. Lichtenhagen) oder eben „barbarische Ausländer“ hinwegprojiziert wird. Noch in der genüsslichen Skandalisierung des jeweiligen Tabubruchs lebt man ein wenig aus, was man umso eifriger abstraft. Diesen Judenhass sollen die gegebenenfalls kurzfristig wieder von der Leine gelassenen, per Muslimsein „Betroffenen“ weiterhin liefern können. Gleichzeitig darf dieser keinesfalls ganz offen zutage treten, ist er doch sogleich ein ungeheurer Skandal. Exakt hierin ist der postnazistische Wahn in seiner unheilbaren Inkohärenz sichtbar, exakt hierin besteht die ehrlich geglaubte, weil deutsche Lüge von „Israelkritik ja, Judenhass nein!“
Näheres zum genau richtigen, orientalisch-deutschen Zungenschlag lässt sich vielleicht auf dem westlich-östlichen Diwan bei der nächsten Islamkonferenz bei Dr. de Maizière nachjustieren, wo es etwa dieses Jahr um „Wohlfahrt“ und „Seelsorge“ gehen soll, also um sehr viel Geld, um zu verteilende Pfründe im Gesundheits- und Sozialsystem. Man glaubt seine Kettenhunde und Kiezaufpasser so gleichermaßen im Zaum und bei der Stange zu halten, es ist eine moderne, postnazistische Variante der Integration, die sich hier zeigt. Die Möglichkeit antisemitischer Übergriffe, die durch die interessierte Passivität von Politik und Polizei bei den ersten antisemitischen Demonstrationen entstand und sogleich einen Brandanschlag gegen die Synagoge in Wuppertal zeitigte, war das mehr oder weniger unfreiwillige (und nunmehr die ja immer total anständigen Deutschen doch ein wenig erschreckende) Ergebnis der alten Arbeitsteilung zwischen Richtern und Henkern. In ihr waren Letztere immer auf den gesellschaftlichen Seiteneingang verwiesen, so dass sie mit reinem Gewissen verleugbar, notfalls immer noch abschiebbar blieben. Diese Art, A zu sagen, um sich prompt von B zu distanzieren, ist hierzulande also keineswegs neu. So etablierten ja auch die Eltern und Großeltern der heutigen Israelkritiker die Anfänge ihrer Volksgemeinschaft mittels der Zusammenarbeit von Elite und SA-Schlägern, verschworen sich klassen- und andere Gegensätze übergreifend zum völkischen Mordkollektiv, bis schließlich zu den unerfreulichen, weil unfreiwilligen Reuebekenntnissen, die ihnen 1945 kurz zusetzten, als sie etwa in den von den Alliierten gerade befreiten KZs Zwangsbesichtigungen und erste Aufräumarbeiten über sich ergehen lassen mussten. Ihre Entwicklung zu Nazis ließ die Ankunft des Henkers in der gesellschaftlichen Mitte zutage treten, und die Vernichtung als arbeitsteiliges Werk der gesamten deutschen Gesellschaft. Ihre Nachfahren empfinden es bis heute als tiefe Kränkung, wenn man ihnen die Folgen ihrer Dummheit, Bösartigkeit und ihres Ressentiments vor Augen stellt. Im Beleidigtsein machen die Muslime den Deutschen so schnell nichts vor. Eine fein austarierte Herrschaft!
Jede Stimme, die es wagt, Partei für den jüdischen Staat zu ergreifen, soll als fanatisch, autoritär, menschenverachtend delegitimiert werden. Jeder Jude ist und bleibt dieser Parteilichkeit verdächtig und wird sich gegebenenfalls erklären müssen: Israel zu verleugnen ist die neue Zwangstaufe, und die Vorgänge auf den Straßen beweisen geradezu, dass selbst das den Juden nicht helfen würde, auch wenn manche – wie der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats Josef Schuster – schon soweit sind. Israel wird systematisch und immer wieder dem Dritten Reich gleichgesetzt. Die übelsten Frauenunterdrücker, fanatischsten Schwulenhasser, grässlichsten Judenmörder des Nahen Ostens stellen sich als Opfer dar, und ihre westlichen Fürsprecher plappern ihre Parolen nach, weil deren Barbarei das eigene Ressentiment gegen die misslungene Zivilisation transportiert.
Wer in diesen gesamteuropäischen, antisemitischen Tagen wider besseres Wissen Abstand zu Israel hält, ist feige, ein falscher Freund, ein hohler Zahn, der zerbricht, wenn es auf ihn ankommt. Wer ausgerechnet jetzt und ausgerechnet beim Thema Hamas gegen Israel einen äquidistanten Pazifismus pflegt, gehorcht de facto dem Israelboykott, lässt den Volkssturm gewähren, hilft mit, Israel zu isolieren und seinen erklärten Todfeinden preiszugeben. Wer sich der „ollen Diskussionen“ um des Hausfriedens wegen heraushält, hilft den Antisemiten, deren Wut und Energie keineswegs nachgelassen hat. Es ist ein Skandal, dass Leute, die sich als fortschrittliche Menschenfreunde ansehen, in der Stunde der Not auf Abstand zum Judenstaat gehen und keinen Einwand erheben, um bei Freunden, Kollegen, Verwandten keinesfalls anzuecken. Wer hier auf seinen Status unter Freunden achtet, macht mit. Es ist unerträglich, dass die Demonstrationen für Israel so einsam und verlassen dastehen, während sich der antisemitische Mob auf den Straßen austobt. Warum marschieren ein paar einsame Juden und die paar üblichen Verdächtigen durch die Innenstädte, warum stellt sich kaum jemand dem islamfaschistischen Mob entgegen? Ist Euch nicht klar, dass das Nazis sind, versteht Ihr nicht, was sie mit Euch tun würden, wenn sie könnten? Der Grad der nachbürgerlichen Verkommenheit – ob links, grün, konservativ, liberal, christlich, säkular – ist beschämend, man kann förmlich sehen, wie all die vermeintlichen Individuen auf das Stichwort ihrer Meinungsgeber warten und den strunzdeutschen Dreck nachplappern, der von der Jungen Welt bis zum WDR, von der Süddeutschen bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung verbreitet wird. Es ist tatsächlich bei vielen Menschen bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.
Lang lebe Israel!
http://www.redaktion-bahamas.org/aktuell/20141030halle.html

Politische Korrektheit: Sprachpolizei ersetzt traditionelle Werte
Von Brendan O’Neill novo-argumente.com
Sie begleitet jede öffentliche Debatte. Politische Korrektheit verdankt ihren Erfolg allerdings nicht nur „linken“ Sprachpolizisten. Vielmehr möchte sie die Leere füllen, die durch den Zerfall traditioneller Werte entstanden ist, meint Brendan O’Neill.
In meinem Lieblingsbeispiel für politische Korrektheit spielt die amerikanische Marine die Hauptrolle. Im Oktober 2001, kurz nachdem die USA in Afghanistan einmarschiert waren, bereitete Marine-Personal einige Raketen zum Abschuss auf Al-Qaida und die Taliban vor. Einer der Marinesoldaten verlieh seiner Wut über die Anschläge am 11.September Ausdruck, indem er einige Worte auf die Rakete schrieb. In Anspielung auf die Flugzeugentführung notierte er also folgende Botschaft auf seiner Rakete: „Entführt das, ihr Schwuchteln“.
Er hatte wohl kaum erwartet, dass er beim Militär, das gerade recht viel zu tun hatte, eine gewaltige Kontroverse auslösen würde. Als die höheren Ränge der Marine von der Sache Wind bekamen, reagierten sie empört. Sie betonten ihre „offizielle Missbilligung“ der homophoben Botschaft. Mitglieder der Marine wurden angehalten, ihre „spontanen Darbietungen der Schreibkunst sorgfältiger zu überdenken“. Es wurden inoffizielle Richtlinien zur Regulierung der Beschriftung von Geschossen nach dem 11. September herausgegeben. Botschaften wie „Ich liebe New York“ waren erlaubt, Wörter wie „Schwuchtel“ jedoch nicht.
Das ist aus zwei Gründen mein Lieblingsbeispiel. Erstens, weil es die wahnwitzige Sprachbesessenheit politisch korrekter Menschen auf den Punkt bringt. Die Marine sagt damit praktisch aus, dass es in Ordnung geht, Menschen zu töten, aber nicht, sie zu beleidigen. Es geht in Ordnung, Städte zu bombardieren, aber nur, solange nichts „Unangemessenes“ auf den Bomben steht. Gott bewahre, dass das letzte Wort, was ein Talibankämpfer in seinem Leben sieht, bevor ihm der Kopf weggeblasen wird, ihn an die Existenz von Homosexualität erinnert.
„Die Marine hat kein Problem damit, Menschen zu töten. Nur beleidigen will sie sie nicht“
Dieses Beispiel zeigt, wie politische Korrektheit die Moral verzerrt: Die kurzsichtige Fokussierung auf Sprachverordnungen und die sprachliche Darstellung einer Sache ordnet alle anderen Angelegenheiten, selbst wenn es um Leben oder Tod geht, der Sprache unter.
Zweitens verdeutlicht das angeführte Beispiel eine häufig übersehene Wahrheit über politische Korrektheit. Sie stammt nicht von kleinen Gruppen von Kulturmarxisten oder unzufriedener Linksliberaler. Sie lässt sich nicht einfach nur auf den Aktivismus und die Agitation von Teilen jener einflussreichen, aber nicht durch demokratische Wahlen legitimierten plappernden Klassen in Medien und Zivilgesellschaft zurückführen, die vulgäre Sprache genauso verabscheut wie in ihren Augen intolerante Ideen. Falls dem so wäre, wie sollte man dann die Vorgehensweise der US-Marine erklären? Warum sollte eine der mächtigsten und am besten bewaffneten Institutionen der Welt dem Druck postmoderner Feministen oder von taz-Lesern nachgeben?
Nein, die Ursachen der politischen Korrektheit greifen tiefer, als deren Kritiker gerne zugeben. Ihr Erfolg beruht auf dem Niedergang und Verfall traditioneller Formen von Autorität und Moral. Die Idee der politischen Korrektheit ernährt sich parasitär von dem, was wir vielleicht als die Krise konservativen Denkens bezeichnen können. Ich würde sogar argumentieren, dass sich die Macht der politischen Korrektheit direkt proportional zur Schwäche alter, einst als selbstverständlich geltender Formen der Moral verhält.
Es ist verlockend und zu einfach, politische Korrektheit als Unterdrückung durch eine kleine Gruppe illiberaler Linksliberaler darzustellen, als bewusstes Projekt einer Mittelschichtselite, die von der Gesellschaft abgesondert und mit dem Kopf in den Wolken lebt und die die Welt nach ihrem Ebenbild umformen möchte.
Tatsächlich scheinen zwei auffallende Aspekte der politischen Korrektheit für eine Verschwörung übellauniger, misanthropischer Feministen und Grüner zu sprechen. Erstens erlebte die politische Korrektheit ihren Aufstieg, als konservative Regierungen eine relativ große Wählerschaft hatten. In Amerika und England zum Beispiel kam PC in den 1980er-Jahren richtig in Fahrt, als Reagan und Thatcher an der Macht waren. Also gaben viele Wähler ihre Stimme konservativen Regierungen, während gleichzeitig politische Korrektheit an Popularität gewann – das bestärkt die Vorstellung, eine linksorientierte kulturelle Elite weit entfernt vom Treiben der Masse hätte sich eines Tages hingesetzt und sich neue Regeln für die Regulierung des alltäglichen Lebens und des Sprachgebrauchs ausgedacht.
Zweitens wird die politische Korrektheit vor allem von den Medien und von Teilen der akademischen Welt vorangetrieben, also von recht exklusiven, volksfernen Institutionen, die mehr als genügend übliche Verdächtige beherbergen.
„Politische Korrektheit füllt ein Vakuum, das der Verlust traditioneller Werte hinterlassen hat“
Betrachtet man die politische Korrektheit jedoch nur auf diese Art – als eine neue Form der Zehn Gebote, die von winzigen Eliten durchgesetzt wurden –, so übersieht man den Grundstein, auf dem die politische Korrektheit errichtet wurde. Diesen bildet nämlich die Unfähigkeit traditioneller Moralisten, sich selbst, ihre Lebensweise und ihre Moral zu rechtfertigen. Es ist diese Unfähigkeit, die Ende des 20. Jahrhunderts ein moralisches Vakuum schuf, das durch instinktive und reflexartige neue Formen der moralischen Kontrolle und Zensur gefüllt wurde.
Wenn ein traditionelles Wertesystem, das so lange die Gesellschaft beherrscht hat, in einer tiefen Krise steckt, werden bis dahin normale und nicht hinterfragte Verhaltensweisen in Frage gestellt. Von der Sprache, über zwischenmenschliche Beziehungen, sogar bis hin zu Kinderliedern – nichts kann mehr als selbstverständlich gelten, wenn der alte Blickwinkel verloren geht. Alle Selbstverständlichkeiten der letzten 200 Jahre sind im Zerfall begriffen. Politische Korrektheit ist in Wirklichkeit das Gerüst, das hastig errichtet wurde, um die Ruine der alten Moral zu ersetzen. Sie bedeutet die allmähliche Übernahme durch eine neue Art von modernen Moralisten. Das Endergebnis ist ohne Frage von Unterdrückung und Zensur geprägt. Es steht der individuellen Unabhängigkeit sowie der Meinungsfreiheit feindlich gegenüber.
Um zu verstehen, wie politische Korrektheit mit dem Untergang alter Traditionen zusammenhängt, hilft ein Blick auf das Beispiel der britischen Pfadfinderinnen. 100 Jahre lang waren die Pfadfinderinnen im Vereinigten Königreich und in Australien eine sehr unkomplizierte Vereinigung: Sie war darauf ausgerichtet, Mädchen mit Stolz für das Empire zu erfüllen. Die Pfadfinderinnen hatten einen sehr einfachen Kodex: Man legte einen Schwur über seine Loyalität gegenüber Gott, Königin und Vaterland ab.
Vor etwa 15 Jahren gaben sich die Pfadfinderinnen plötzlich eine neue Verfassung. Aus einer Seite wurden etwa 20. Es gab keine altmodische „Verpflichtung gegenüber Gott“ mehr – stattdessen versprachen die Mädchen jeweils, „meinen Gott zu lieben“. Damit wurde die Tatsache anerkannt, dass es in unseren relativistischen Zeiten, in denen sowohl Wahrheit als auch Christentum nicht mehr als makellose Werte gelten, viele Götter gibt. Die beschworene Loyalität gegenüber der Königin wurde durch einen Ausdruck von Sympathie für die Königin ersetzt – „weil es bestimmt nicht einfach ist, überall wo man hingeht, fotografiert zu werden!“
„Motor der politischen Korrektheit ist der moralische Verfall traditioneller Bereiche der Gesellschaft“
Man beachte, dass niemand das Pfadfinderinnen-Hauptquartier gestürmt und deren Topfrauen mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen hat, ihre Werte neu zu definieren. Die Pfadfinderinnen machten das aus eigener Initiative. Sie erkannten instinktiv die Tatsache an, dass die drei Institutionen, auf denen sie basieren – Gott, Königin und Nation – keine vollkommene Autorität mehr besitzen. Jedes dieser drei riesigen politischen Gebilde des modernen britischen Bürgertums – Kirche, Monarchie und Nationalismus – leidet seit drei Jahrzehnten an einer schweren Legitimitätskrise. Die Umstellung der Pfadfinderinnen auf eine „modernere“ Präsentation ihrer Organisation und die Überarbeitung ihrer Mission verdeutlicht sehr schön, was der Motor der politischen Korrektheit ist: Kein Angriff von außen durch die „PC-Lobby“, sondern der interne moralische Verfall traditioneller Bereiche der Gesellschaft.
Die politische Korrektheit ist somit kein einfacher Fall einer Bastille-Erstürmung durch „Kulturmarxisten“; vielmehr ist die Bastille von selbst eingestürzt, und jetzt haben wir einige recht opportunistische, instinktiv autoritäre Elemente in der Gesellschaft, die versuchen, in den Ruinen ein neues moralisches System zu errichten.
Darum ist politische Korrektheit so hysterisch und intolerant, so eifrig, alles zu regulieren; von der Art und Weise, wie ein Professor mit seinen Studenten kommuniziert, über die Frage, ob Lehrer ihre Schüler anfassen dürfen, bis hin zu der Frage, ob man Negerkuss oder Mohrenkopf sagen darf – nicht weil die Ideologie der politischen Korrektheit so stark ist, sondern weil sie so schwach und isoliert ist. Sie hat im Gegensatz zu den traditionelleren Formen der Moral keine echten Wurzeln in der Gesellschaft oder in der Geschichte. Sie erhält weder öffentliche Unterstützung noch gesellschaftliche Legitimation. Der Ausdruck „Aus dem Ruder gelaufene politische Korrektheit“ belegt die Abneigung eines großen Teils der Gesellschaft für die neuen Redens- und Verhaltensregeln. Es sind die leere Oberflächlichkeit und die parasitäre Natur der politischen Korrektheit, die sie zum unersättlichen Einmischen treibt.
In einer Zeit, in der Richtig und Falsch, Gut und Böse nicht klar definiert sind, herrscht eine Art moralisches Chaos vor. Es steht nicht mehr fest, wer respektabel ist und wer nicht. Das weckt einen Hunger, ein Verlangen in den neuen Eliten, ihre Macht auf vormals normale Verhaltensweisen, die, wenn überhaupt, nur wenig Intervention bedurften, auszuweiten. Selbst Kinderlieder werden neu geschrieben. In England änderte ein Kinderbuch den alten Klassiker „What shall we do with the drunken sailor?“. Der „betrunkene Seemann“ wurde zum „mürrischen Piraten“. Im alten Lied hieß es: „Steckt ihn in den Sack und prügelt ihn besinnungslos“. Im neuen: „Kitzelt ihn, bis er lachen muss.“
„Was für eine verrückte Gesellschaft muss Kinderlieder umschreiben?“
Wir mögen uns über solche Sachen lustig machen. Aber was für eine verrückte Gesellschaft muss alberne Lieder umschreiben, die seit Generationen existieren und wahrscheinlich nie dazu geführt haben, dass ein betrunkener Seemann in einen Sack gesteckt und besinnungslos geprügelt wurde? Das erinnert an das Wahrheitsministerium in Orwells 1984, nur dass das Ministerium nicht einmal politische Dokumente oder historische Thesen an die herrschende Ideologie anpasst, sondern ein Kinderlied, das in Sandkästen und auf Spielplätzen gesungen wird. So etwas macht nur eine Gesellschaft, die ihre moralische Haftung vollkommen verloren hat und ohne Anker, von Gewissheiten, akzeptiertem und natürlichem Verhalten entfremdet vor sich hin treibt. Jeden Aspekt des menschlichen Zusammenlebens muss sie kontrollieren.
Ein selbstbewusstes moralisches System könnte Abweichler besser tolerieren. Ein unsicheres, willkürliches System wie die politische Korrektheit kann keine Verstöße tolerieren, weil es ständig ums eigene Überleben fürchten muss.
Allzu oft stellen sich die Kritiker der politischen Korrektheit heutzutage als Opfer dar. Viele rechts-orientierte Denker behaupten, eine Verschwörung von PC-Verrückten würde unser Leben ruinieren. Das bewahrt solche Denker praktischerweise davor, den Verlust der eigenen Traditionen und Moral erklären zu müssen. Wo sind die hin? Es ist viel einfacher zu behaupten, die Gesellschaft sei eine Geisel gemüsefressender, sprachbesessener Irrer, als dem Niedergang einer Lebensweise, die für einen Großteil der Moderne existierte, ins Gesicht zu blicken und zu versuchen, ihn zu erklären. Tatsächlich hat der Begriff „politische Korrektheit“ nur eine geringe reale Grundlage – er ist die Erfindung von Konservativen, die in ihrer Erklärungsnot gegenüber jüngsten historischen Entwicklungen lieber über eine „linke“ Verschwörung fantasieren, die rücksichtslos ihre überlegene Lebensweise zerstört.
Natürlich hätte der Zerfall traditioneller Moral nichts Schlechtes sein müssen. Sie reagierte auf jene, die mit ihrer Lebensweise oder sexueller Orientierung experimentieren wollten, mit Zensur und Unterdrückung. Das Problem ist, dass die alte, oft spießige Moral nicht erfolgreich durch eine fortschrittlichere, humanistische moralische Perspektive ersetzt wurde. Stattdessen verdorrte und zerbrach die alte Moral unter der Last von Krisen und hinterließ ein moralisches Vakuum, das durch jene Menschen gefüllt wurde, die in der post-traditionellen Welt Einfluss besitzen: Die immer lauter werdende plappernde Klasse. .
Aber es bringt nichts, sich als Opfer einer scheinbar allmächtigen „PC-Polizei“ zu stilisieren. Nein, wenn Sie das Gefühl haben, als Häretiker behandelt zu werden, weil Sie in unserer politisch korrekten Welt die „falschen Sachen“ sagen, dann sollten sie anfangen, sich wie ein anständiger Häretiker zu benehmen: Vertrauen Sie auf Ihre Überzeugungen. Sagen Sie, was sie denken, ungeachtet der Konsequenzen.
Aus dem Englischen übersetzt von Patrick Schulz.
Brendan O’Neill ist Chefredakteur des britischen Novo-Partnermagazins Spiked. Der Artikel ist eine überarbeitete Version einer Rede, die er auf dem Big Ideas Forum des Centre of Independent Studies in Sydney am 1. August 2011 gehalten hat. Dieser Artikel ist zuerst unter dem Titel „The new war against PC – it’s too late and it’s picked the wrong target“ bei Spiked erschienen.
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Ein Interview
Von York-Gothart Mix und Lois Brendel

Lois Brendel: Zensur ist seit jeher für mehrere Disziplinen ein wichtiges Forschungsgebiet. Aber die vielen Einlassungen der Kultur-, Geschichts- und Rechtswissenschaften führen im Einzelfall nicht unbedingt weiter. Ist der Zensurbegriff heute komplexer geworden? Lässt sich Zensur, wie das der Mainstream meint, auf staatliches Handeln beschränken?
York-Gothart Mix: Das lässt sich nicht wie in einer Talk-Runde kurz und knapp mit einem Satz beantworten. Zunächst einmal: Die Opinio communis versteht unter Zensur gemeinhin die Überprüfung von Texten oder Bildern nach staatlich oder kirchlich verfügten Normen, um gegebenenfalls eine Modifizierung des Monierten oder ein Verbot zu erwirken. Literaturverbote, die wie die Indizierung von Klaus Manns Mephisto zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes erwirkt werden, scheinen auf den ersten Blick nicht dieser Kategorie anzugehören und werden deshalb häufiger nicht in diesem Kontext angeführt – diese Einschätzung erweist sich aber aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als genauso irrig wie eine allein auf staatliches oder kirchliches Handeln fixierte Zensurdefinition.
Lois Brendel: Können Sie das konkretisieren, was bedeutet das für unsere heutige Situation?
York-Gothart Mix: Heute ist tatsächlich danach zu fragen, ob ein auf Tradition des Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts rekurrierendes, staatsfixiertes Zensurverständnis angesichts diskursbestimmender Aktivitäten weniger Globalpayer im World Wide Web, supranational oder lokal agierender Pressuregroups und Religionsgemeinschaften sowie massiver Konzentrationsprozesse im Buch- und Printmedienbereich noch überzeugend ist. Das gleiche gilt hinsichtlich einer quotengerechten Anpassung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens an das Privat-TV durch Gesetz, Staatsvertrag und die Aufsichtsgremien, die von Parteien rekrutiert werden und damit mitnichten unabhängig sind. Parteien sind auf Mehrheiten fixiert und mit Avantgarde- oder Hochkultur kann man keine Wahlen gewinnen.
Lois Brendel: Was heißt das bezogen auf die Fernsehproduktion?
York-Gothart Mix: Nicht nur für Thomas Bauckhage, der mit seinem Social Media-Startup http://www.moviepilot.de zwei Millionen Filmliebhaber erreicht, steht fest, wie einschränkend sich dieses Diktat der Quote auswirkt: Die Vielfalt der Produktionen nimmt rapide ab, die Rendite-Überlegungen der Finanzabteilungen dominieren zunehmend den kreativen Prozess und unter den wenigen erfolgreichen Filmen dominieren Sequels, Prequels oder Bestseller-Verfilmungen. Aber der Fernsehspielchef Reinhold Elschot vom ZDF hält es für völlig normal, das kulturelle Gedächtnis für das Linsengericht der Werbeeinnahmen preiszugeben. Die erfolgreiche Drehbuchautorin Annette Hess skizziert die Praxis so: „Drehbucharbeit läuft hier zu oft so, als läge mit dem Buch eine Speisekarte auf dem Tisch: Ich nehme die 18, die 117 ohne das Kind und die 40, aber bitte mit Brustkrebs.“ Noch undurchsichtiger wird diese Situation durch die Kooperation von Fernsehsendern wie RTL oder Pro Sieben mit dem Datenauswertungsdienst Google Analytics. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang einmal die irritierenden Recherchen des c’t-Redakteurs Ronald Eisenberg zur Kenntnis zu nehmen.
Lois Brendel: Wenn man sich die Drehbücher von Jurek Becker zu Liebling Kreuzberg oder die Fernsehproduktionen von Edgar Reitz oder Rainer Werner Fassbinder ins Gedächtnis ruft, so war das nicht immer so. Was wissen wir über die Behinderung oder Verhinderung von Literatur in den vergangenen Jahrzehnten? Inwiefern ist die Zensurgeschichte der Bundesrepublik eine Geschichte der Verdrängung?
York-Gothart Mix: Während sich die Erforschung der Zensurverhältnisse im Biedermeier, im wilhelminischen Deutschland, im NS-Staat und in der DDR zu einem weit gefächerten Arbeitsfeld entwickelt hat, weist die Beschäftigung mit diesem Thema für die Geschichte der Bundesrepublik alarmierende Defizite aus. Viele Indizierungsinitiativen sind wie der Streit um Vladimir Nabokovs Lolita, Jean Genets Querelle und Notre Dame des Fleurs, Christiane Rocheforts Le repos du guerrier, David Herbert Lawrence Lady Chatterly’s Lover, Henry Millers Opus Pistorum, Dino Segres (alias Pitigrilli) Kokain, Ulrich Schamonis Dein Sohn läßt grüßen, Friedrich Christian Delius’ Unsere Siemens-Welt oder Bret Easton Ellis American Psycho bewusst bagatellisiert worden. Nancy Fridays Die sexuellen Phantasien der Frauen und das Pendant Die sexuellen Phantasien der Männer hat man kurzerhand verboten, ebenso Ausgaben von Franz Blei, Restif de la Bretonne, William Borroughs, Robert Crumb, Eduard Fuchs, Leopold von Sacher-Masoch, Marquis de Sade oder kurioserweise auch das Haschisch-Kochbuch.
Lois Brendel: Günter Grass müsste man auch nennen, oder?
York-Gothart Mix: Ja, prominente Beispiele wie der Verbotsantrag gegen Günter Grass’ Novelle Katz und Maus sind nach wie vor unzureichend dokumentiert. De facto könnte man einen, wie sein ehemaliger Lektor Helmut Frielinghaus erklärt hat, ganzen Materialienband zum Thema „Günter Grass und die Zensur“ zusammenstellen. Grundsätzlich stellt sich, ganz gleich, ob es um Jugendschutz oder den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geht, die Frage nach dem künstlerischen Anspruch oder der Literarizität sowie das Problem einer Abgrenzung von juristischer und literarischer Kompetenz. Das gilt auch für die neueren Fälle: Billers Esra, Herbsts Meere und Liebermanns Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuss oder auch Birgit Kempkers Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag – ein Text, der 2000 verboten wurde, weil sich der Liebhaber nach 25 Jahren zu erkennen glaubte. Die Zensurgeschichte der Bundesrepublik ist tatsächlich in starkem Maße, vor allem in der sogenannten Adenauer-Ära, eine Geschichte der Verdrängung.
Lois Brendel: Was wurde verdrängt?
York-Gothart Mix: Wer weiß beispielsweise, dass 1965 unter einer Koalitionsregierung von CDU und FDP mit behördlicher Genehmigung am Düsseldorfer Rheinufer eine Bücherverbrennung stattgefunden hat, die ungeachtet aller Kritik beim Berliner Bischof und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Otto Dibelius, wohlwollenden Zuspruch gefunden hat. Bei diesem Autodafé wurden neben anderen Texten auch Vladimir Nabokovs Lolita, Erich Kästners Herz auf Taille, die Erzählung La chute von Albert Camus auch der Roman Die Blechtrommel von Grass als besonders „unappetitliches“ Buch in das Feuer geworfen. Dibelius zählte nämlich Die Blechtrommel nicht zur Literatur, sondern zu den „unappetitlichen“ Büchern und damit war für ihn der Fall erledigt.
Lois Brendel: Was unterscheidet die Zensur in der Adenauer-Ära von der Situation heute?
York-Gothart Mix: Vieles hat sich verändert, aber zensurierendes, vor allem selbstzensurierendes Handeln ist keineswegs verschwunden. Das Problem reicht von Kirsten Harms Einknicken vor Pressuregroups, die 2006 aus Angst vor islamistischen Anschlägen Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Idomeneo, Rè di Creta in der Inszenierung von Hans Neuenfels in Berlin aus dem Programm strich oder dem Verbot eines Charlie-Hebdo-Wagens auf dem Kölner Rosenmontagszug bis zur kunstfeindlichen Auslegung des Persönlichkeitsrechts. Das Verbot des Romans Esra ist zwar kein Fall staatlich exekutiver Zensur im formellen Sinne, die gemäß Art. 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz verfassungsmäßig verboten ist. Dennoch fügt sich auch ein von der Judikative ausgesprochenes Bücherverbot mit definierbaren Modifikationen in die Phänomenologie der Zensur ein: Auf Initiative von Privatpersonen entscheidet ein staatliches Gericht unter Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter, dass im konkreten Fall die Kunstfreiheit von Autor und Verlag hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht der beiden Klägerinnen zurückzutreten hat. In diese Entscheidung fließen für die Phänomenologie der Zensur bedeutsame Erwägungen ein: Es wird über die Fragen „Was ist Kunst?“ und „Was ist Literatur?“ ebenso geurteilt wie über das Problem, wie Literatur im außerliterarischen Bereich wirkt und bis zu welchem Grad ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten „darf“. Sind – und wenn ja welche – Grenzen für die Reportage, Personalsatire, den Schlüsselroman oder das Pamphlet denkbar und wer bestimmt sie? Einzig und allein die Juristen? Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Christian Eichner und ich haben versucht, im Karlsruher Verfahren gegen Maxims Billers Esra die Grenzen präziser zu definieren. Leider war das nur für die Minderheit der Verfassungsrichter einsichtig.
Lois Brendel: Wie lässt sich Zensur phänomenologisch en détail fassen?
York-Gothart Mix: Zensur ist kategoriell, phänomenologisch zu differenzieren. Unter der Berücksichtigung temporärer Merkmale lässt sich der zensorische Eingriff als Vorzensur, Nachzensur und Rezensur oder auch als Präventiv- oder Prohibitivzensur charakterisieren. Unter Rezensur versteht man die wiederholte Zensur bereits erschienenen Schrifttums, die Präventivzensur zielt als umfassendste Form der Kontrolle auf eine Überwachung vor der Verbreitung eines Textes. In der DDR hat man das „Druckgenehmigung“ genannt. Diese für totalitäre Staaten symptomatische Variante ist in der Bundesrepublik verboten und existiert de facto nicht. Literaturverbote in der DDR waren intransparent und juristisch nicht anfechtbar. Außerdem gab es für einen verbotenen Text keine Publikationsalternativen. Er konnte auch nicht ohne Genehmigung im Ausland erscheinen.
Lois Brendel: Alle in der Bundesrepublik inkriminierten Texte kann man im Gesamtverzeichnis indizierter Bücher, Taschenbücher, Broschüren, Comics und Flugblätter nachschlagen und im Zweifelsfall auch die Verfahren rekonstruieren. Aber was ist mit der Selbstzensur?
York-Gothart Mix: Die Selbstzensur als subtilste Variante kann als Unterdrückung eines eigenen Werkes oder als Korrektur einzelner Passagen definiert werden, die von einem Autor entgegen seiner ursprünglichen Intentionen im Wissen der Geltung einer ihm fremden Norm – und im Bewusstsein der Sanktion im Falle ihrer Nichtbeachtung – vorgenommen wird. Für die Selbstzensur, die nicht mit der Selbstkritik eines Autors verwechselt werden sollte, ist bedeutsam, dass die Veränderung des Textes von Seiten der normmächtigen Instanz noch nicht erfolgt ist, das Werk aber in der Vorstellung der Kontrolle durch diese Instanz umgeschrieben wird. Schadenersatzforderungen in ungewöhnlicher Höhe oder Unterlassungsansprüche gegen die Veröffentlichung, Verbreitung und Bewerbung eines Buches wie im Fall Esra sind als Beweggründe der Selbstzensur ebenso denkbar wie wirtschaftlicher Druck oder die Androhung sozialen Zwangs. De facto nachweisbar ist ein selbstzensorischer Akt nur durch explizite Äußerungen eines Autors, die über die Genese des betreffenden Werkes Aufschluss geben. Denkbar ist allerdings auch, dass die restriktiven Normen schon so weit internalisiert worden sind, dass keine Variantenspuren auffindbar sind oder entsprechende Hinweise vom Autor selbst vernichtet wurden. Im Gegensatz zur formellen Zensur, die juristisch legitimiert und durch administrative Zwangshandlungen durchgesetzt wird, basiert die informelle Zensur auf Vorbehalten, die mit Hilfe psychologischen, ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Druckes geltend gemacht werden. Sie spielt heute eine zentrale Rolle.
Lois Brendel: Bietet das Internet Handlungsalternativen?
York-Gothart Mix: Die Mythen des Internet-Zeitalters werden sich zunehmend verflüchtigen, wie zum Beispiel der jüngste Beitrag Pixel Dust: Illusions of Innovation in Scholarly Publishing von Johanna Drucker, Professorin an der UCLA, zeigt. Die Veränderung totalitärer Strukturen gelingt nicht deswegen, weil es Twitter gibt. Das Prinzip von Wikipedia, die freie Mitarbeit, eröffnet bisher ungekannte Möglichkeiten großflächig angelegter Undercoveraktionen interessierter Stellen. Apple und Amazon schliessen, wie der Medienwissenschaftler Ernst Fischer dargelegt hat, unerwünschte Contents aus allen Verbreitungs- und Vertriebskanälen aus, Google strebt eine weltweite Monopolstellung der Informationsbereitstellung jenseits jeder öffentlichen Kontrolle an. Aufklärung und Öffentlichkeit – hatte Immanuel Kant das nicht zusammengedacht?
Lois Brendel: Was heißt das bezogen auf die heutige Situation?
York-Gothart Mix: Ein Beispiel: Die jüngst durch Edward Snowden bekannt gewordenen, illegalen Aktionen der Geheimdienste sind, wie die Forschungen des Historikers Joseph Foschepoth deutlich machen, eine effektivere, flächendeckende Fortsetzung früherer Praktiken. Das im Grundgesetz 10 formulierte Post- und Fernmeldegeheimnis gibt es de facto nicht mehr. Im Visier der Geheimdienste ist mittlerweile fast jede normale Sprachverwendung, wenn Begriffe wie „U-Bahn“, „krank“, „elektrisch“, „Schwein“, „Schnee“, „Blitz“, „Heilung“, „Grenze“, „Welle“, „Wolke“, „Symptome“, „Grippe“, „Antwort“, „Telekommunikation“, „Rotes Kreuz“, die Nennung Mexikos, der Stadt Tucson in Arizona, zahlreiche Abkürzungen, Angaben und Kommentare Verdacht erregen. Auf der als Staatsgeheimnis behandelten Liste der NSA sollen 38.897 Adressen stehen und die Zahl der Suchbegriffe zu europäischen Institutionen und ihrem Personal ist vierstellig. Sind die Sorgen John Perry Barlows und der Freedom of the Press Foundation unberechtigt? Beunruhigend ist in diesem Kontext auch die Kollusion, also das geheime Einverständnis, zwischen drei, vier weltweit agierenden „Big-Data“-Marktführern und staatlichen Stellen, deren Aktivitäten einer kritischen Öffentlichkeit ganz und gar verborgen bleiben, unter dem sich propagandistisch blähenden Banner gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Nehmen wir zur Kenntnis, dass es mit den von Facebook gesammelten Daten möglich ist, in Sekundenschnelle eine Liste der Befürworter oder Gegner dieser oder jener politischen, sexuellen oder intellektuellen Orientierung in diesem oder jenem Land zu erstellen? Was passiert, wenn ein gewinnorientiertes Social Network seine beispiellose Marktmacht nutzt und die Kontrolle durch den Staat versagt? Die Transformation einer Grundwerten verpflichteten Marktwirtschaft zur digital überwachten Marktgesellschaft zum Nutzen weniger ist hier evident. Letztlich ist der gläserne Bürger in einem intransparenten Staat entstanden. In solchem Klima entstehen Unternehmen wie die schwedische Internetseite Lexbase, deren Geschäft die gewerbsmäßig betriebene Denunziation ist. Ähnliches gilt für die Kampagne gegen Herfried Münkler. Wir brauchen einen digitalen Radiergummi, aber ob das von Evan Spiegel entwickelte Prinzip „Snapchat“ tatsächlich eine Lösung ist, bleibt fraglich. Übrigens: Die Selektoren-Liste der NSA könnte man gar nicht löschen, sondern nur auf „disapproved“ setzen…
Lois Brendel: Damit deuten Sie eine Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit an…
York-Gothart Mix: Ja, die in vielen Verfassungen – so auch im Grundgesetz – verankerte Ächtung der Zensur hat in der Regel mit der Verfassungswirklichkeit nur bedingt etwas gemein. Zensur reglementiert soziales Verhalten nach der Maßgabe einer soziokulturellen und politischen Ordnung, einer postulierten Moral, der dominanten Religion, einer implantierten Ideologie oder einer zum monokratischen Dogma erhobenen Ökonomie. Ihr Augenmerk richtet sie auf die vermutete Wirksamkeit von Textzeugnissen oder Ideologemen, ihr Ziel ist die Konformität eines für verbindlich erklärten Kulturhorizonts – ergo rückt auch die rigorose Verpflichtung staatlich protegierter Leitmedien (ARD, ZDF) auf einen marktk