„Armut auf Höchststand: Studie belegt sprunghaften Armutsanstieg in Deutschland“ – so überschrieb der Paritätische Wohlfahrtsverband eine „Pressemitteilung“, die die Ergebnisse des von eben diesem Verband herausgegebenen Armutsberichts lancierte. Wie schon in der Überschrift ist in der gesamten Pressemeldung dann marktschreierisch von einem Anstieg der Armut die Rede, ohne dass „Armut“ präzisiert würde. Man vertraut stattdessen auf die plakative Wirkung des Begriffes, den wir allgemein mit dem Schlimmsten assoziieren. Man zielt auf Affekte, nicht auf faktenbasierte Überzeugungsarbeit.
Das wäre nicht weiter schlimm, ist der Paritätische Wohlfahrtsverband doch eine Vereinigung, die ihre „Mitgliedsorganisationen in ihrer fachlichen Zielsetzung und ihren rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen“ fördert, also ein Lobbyverband. Und dessen Mitglieder, das sollte man im Hinterkopf behalten, sind nicht in erster Linie die tatsächlich von Armut Betroffenen, sondern: „über 10.000 eigenständige Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich“. Also das Who-is-Who der Helferindustrie, die ein deutliches Interesse daran hat, die soziale Lage in Deutschland in besonders düsteren Tönen zu malen. Aber gut: Lobbyisten machen Lobbyarbeit, und in diesem Sinne ist die Art, wie der Verband Aufmerksamkeit für den Armutsbericht heischt, erfolgreich.
Problematisch wird die Sache spätestens dann, wenn die Presse ihrer Aufgabe als „vierte Gewalt“ nicht nachkommt. Die Berichterstattung über den Armutsbericht ist ein Musterbeispiel für den Totalausfall einer kritischen Öffentlichkeit. Beinahe im Wortlaut übernahm zuerst dpa die Behauptungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und flankierte diese mit O-Tönen der Vorsitzenden von gleich vier Sozialverbänden und Gewerkschaften. Nur die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände durfte als Feigenblatt auch ihre Meinung sagen. Die deutschlandweite Presse wiederum schrieb größtenteils unkritisch von dpa ab, selbst wirtschaftsfreundliche Medien machen da keine Ausnahme. Nur wenige Titel wie etwa „Süddeutsche Zeitung“ und „FAZ“ scherten ein bisschen aus dem breiten Konsens aus. So kann Journalismus nicht funktionieren.
Von welcher Armut reden wir eigentlich?
Denn keineswegs sind die Fakten rund um den „sprunghaften Armutsanstieg“ so klar, wie es der Wohlfahrtsverband glauben macht. Wie kommen die Daten zustande? Sagen die Daten das aus, wovon behauptet wird, dass sie es aussagen? Und taugt der vom Verband verwendete Begriff der Armut tatsächlich dazu, das Phänomen Armut in Deutschland zu beschreiben? An all diesen Stellen hätte eine kritische Presse nachzuhaken und würde sogleich auf mehrere Ungereimtheiten stoßen.
Der Armutsbericht bezieht sich nämlich auf die sogenannte relative Armut, die in Deutschland bei 60 Prozent des Medianeinkommens veranschlagt wird. Der Median wiederum ist das Einkommen, das, listet man alle Einkommen der Größe nach auf, „genau in der Mitte steht“. So soll verhindert werden, dass Extreme die Skala beeinflussen. Bei einem solchen Armutsbegriff geht es nicht um absolute Not, sondern um „gesellschaftliche Teilhabe“. 1872 Euro monatlich seien demnach die Schwelle, die eine vierköpfige Familie zu überspringen habe, um angemessen am sozialen Leben teilnehmen zu können.
Offensichtlich, dass wir es hier mit einem hochkomplexen Begriff zu tun haben, der zur platten Agitation eigentlich nicht taugt. Insbesondere der Maßstab der Armutsgrenze scheint willkürlich gesetzt, und man vermag sich bildlich vorzustellen, wie interessengeleitete Mitglieder verschiedener Verbände auf Arbeitnehmerseite, auf Arbeitgeberseite und in der Helferindustrie um eine für alle Gruppierungen halbwegs annehmbare Grenze schachern, die mit den Bedürfnissen tatsächlich Notleidender wenig zu tun hat.
Methodisch steht das Konzept der relativen Armut zudem vor dem Problem, dass ein kurzfristiger Anstieg des allgemeinen Wohlstands, etwa durch den Zuzug einiger Wohlhabender, die Ergebnisse verfälscht. In Extremsituationen kann das zu absurden Befunden führen. Etwa gäbe es nach dieser Methode in Nordkorea kaum einen Armen. Zwar hat ein relativer Begriff durchaus seine Daseinsberechtigung, denn Menschen mit einem Einkommen unterhalb der absoluten Armutsgrenze der Weltbank könnten in Deutschland gar nicht überleben, und auch ein deutscher Begriff von absoluter Armut müsste regelmäßig an die Teuerung angepasst werden. Doch die Tücken und Fallstricke der relativen Armut wären zumindest zu thematisieren. Eine Presse, die das nicht tut, und die Verlautbarungen eines Lobbyverbandes abschreibt, versagt auf ganzer Linie.
Aber unterstellen wir einmal, es ginge dem Paritätischen Wohlfahrtsverband tatsächlich darum, die reale Problematik „Armut“ in Deutschland zu diskutieren. Dann müsste doch in erster Linie eine regionale Aufschlüsselung erfolgen, die in der Pressemitteilung des Verbandes gerade unterlassen wird. Sicher, mit 2000 € bekommt man in der Münchner Innenstadt derzeit nicht mal eine Wohnung. In einem rheinhessischen Vorort lebt es sich damit aber ganz gut, in einigen ländlichen Gegenden Mecklenburg-Vorpommerns gehört man schon beinahe zur Oberschicht (außen vor bleibt übrigens auch, ob jemand Wohneigentum oder Vermögen besitzt, ein bezüglich der Armut nicht ganz irrelevanter Faktor). Betrachtet man die dem Armutsbericht beigefügte Karte genauer, fällt auf, dass vor allem der Osten in Relation zum Westen „arm“ ist. Ein strukturelles Problem, sicher, dass noch immer fern von einer Lösung steht. Aber keine neue Erkenntnis. Würde man den gleichen relativen Armutsbegriff, den der Paritätische zugrunde legt, kleinteiliger anwenden, etwa auf einzelne Bundesländer oder sogar Städte und Regionen bezogen, verlören die Zahlen ihren Schrecken. Damit aber kann man längst nicht so gut politische Stimmung machen.
Die Erhöhung unterer Einkommen bringt nichts
Der politischen Polarisierung Abbruch täte es auch, würden die Erträge aus Schwarzarbeit in den Armutsbericht eingerechnet. Bei dieser kann man davon ausgehen, dass sie insbesondere in den einkommensschwächeren Sektoren verbreitet ist. In der Raumpflege, im Handwerk, in der Gärtnerei, in der medizinischen Pflege. „Sicher“, wird ein findiger Verteidiger des Armutsberichts nun einwenden, „aber dieses zusätzliche Einkommen würde doch den Median verschieben – die Leute blieben relativ arm.“ Und damit wären wir wieder bei der systemischen Problematik des Konzepts von der relativen Armut.
Die wird auch deutlich, nimmt man einige gut gemeinte Vorschläge beim Wort, wie Armut in Deutschland zu bekämpfen sei. Bildung etwa sei der sicherste Schutz vor Armut, heißt es immer wieder. Ich bin ganz dieser Meinung! Aber je mehr Zeit junge Menschen mit Schule und Studium verbringen, desto länger verdienen sie kein Geld. Fast alle Studenten heute gehören der Gruppe der relativ Armen an. Nach diesem Modell erhöhten Bildungsinitiativen die Armut, von etwaigen Verschiebungen des Medians wiederum abgesehen.
Diese Verschiebungen allerdings sind unbedingt zu beachten, will man die Erfolgsaussichten einer Methode beurteilen, die der Wohlfahrtsverband in rigoros absoluter Weise zur Bekämpfung relativer Armut fordert: Eine „deutliche Erhöhung der Regelsätze in Hartz IV“. Die scheinbar so einfache Lösung des Problems müsste nicht nur erst mal irgendwie finanziert werden, sondern ist innerhalb der vom Wohlfahrtsverband verwendeten Begrifflichkeiten geradezu hirnrissig. Eine Erhöhung aller unteren Einkommen verschöbe einfach das Einkommensgefüge als Ganzes, die Armut nähme nicht ab. Wie ja auch in der Schweiz erst ein Haushalt als arm gilt, der ein Einkommen von „weniger als 5100 Franken“ sein Eigen nennt. Zudem wäre volkswirtschaftlich davon auszugehen, dass die Preise aufgrund der gestiegenen Nachfrage in den unteren Einkommensschichten mit der Zeit kräftig anziehen würden. Auch ganz real wäre für die „Armen“ womöglich wenig gewonnen.
Einer vernünftigen lösungsorientierten Diskussion über tatsächlich vorhandene Armut in Deutschland stehen Betrachtungen wie die von der Masse der Presseorgane nachgebeteten des Wohlfahrtsverbands im Wege. Stattdessen werden Steroide des Sozialneids ins System gespritzt. Menschen, die sich vielleicht gar nicht als solche gesehen haben, wird gelehrt, sich als „Arme“ von „den Reichen“ abzugrenzen. Auf der anderen Seite ist bei einer ausreichend großen Zahl an relativ Armen der gegenteilige Effekt zu befürchten: Armut wird zur Normalität. Menschen, die durchaus Perspektiven haben, wird die Hoffnung genommen. Tatsächlich Notleidende werden als Teil einer großen Klasse von nur relativ Armen ignoriert.
Teilhabe ist wichtig. Neiddebatten helfen nicht weiter.
Gesellschaftliche Teilhabe! Das ist der Gedanke, der hinter all den Überlegungen zum Thema relative Armut steht. Und das zumindest ist lobenswert. Ein demokratisches Gemeinwesen, das immer mehr Menschen die Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften erschwert, die überhaupt erst ein Bewusstsein dafür schaffen, dass dieses Gemeinwesen erhaltenswert ist, wird über kurz oder lang Probleme haben. Auch Wohlhabende, die ihr Vermögen und ihr Glück auch der freien Gesellschaft verdanken, sollten ein Interesse daran zeigen, dass die Masse der Menschen weder abgehängt wird noch sich abgehängt fühlt. Eine instabile Demokratie birgt sozialen Sprengstoff.
Es gäbe sicher Stellschrauben, an denen sich drehen ließe. Warum nicht beispielsweise in sowieso schon staatlich subventionierten Betrieben für Menschen unter einer noch genauer zu definierenden regionalen Armutsgrenze Rabatte einführen? Warum nicht Bürgertickets in großen Städten, damit „Arme“ aus den oft wirklich traurigen Vorortsiedlungen herauskommen? Warum nicht freien Eintritt in staatliche Theater? Mobilität und Zugang zu Kultur und Bildung, das sind zwei wichtige Aspekte, die es unter Umständen ermöglichen, Armut zu entkommen.
Vor allem aber ist der Begriff der Armut differenziert zu betrachten. Sonst helfen wir der Helferindustrie, die die Armut braucht, um ihr Geschäftsmodell zu legitimieren. Und nicht den Armen.