Intelligenz und Charakter sind angeboren, vererbt, wie Augenfarbe, Nase, Füße, usw.
Autor: T. Knecht · Psychiatrische Klinik Münsterlingen
Was ist machiavellische Intelligenz?
Betrachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche
Was ist Intelligenz?
Schon die Frage, was denn eigentlich Intelligenz ist,stellt den Experten vor erhebliche Schwierigkeiten. Gemäß Arnold et al. [1] besteht heute noch keine anerkannte Definition von Intelligenz.Unstreitig ist aber,dass es sich um eine Fähigkeit, d.h.eine Bedingung,respektive einen Bedingungskomplex bestimmter Leistungen handelt.
Was Intelligenzleistungen sind und was nicht, ist dagegen nicht eindeutig bestimmt. Sir Francis Galton (1822–1911) ging Mitte des 19.Jahrhunderts noch von einer Funktionseinheit mit Universalcharakter aus. Die wissenschaftliche Intelligenzforschung wurde indessen 1927 von C.Spearman begründet, welcher diese komplexe Fähigkeit einer Faktorenanalyse unterzog.
Dabei gelangte er zur Zwei-Faktoren- Theorie, was bedeutet, dass er einen generellen Intelligenzfaktor g („general ability“) den spezifischen Faktoren (s) gegenüberstellte.
W.C.Halstead unterschied die 4 Faktoren A, C, D und P („abstracting“, „central“, „directional factor“, sowie power=Erkenntnisdrang).L.L.Thurstone definierte 1938 unter Verzicht auf einen allgemeinen Faktor 7 Primärfaktoren: „verbal“,„numerical“,„spatial comprehension“, „reasoning“, „perceptual speed“, „verbal fluency“,„memory“.
J.P. Guilford, der 1967 die ausgedehnteste Faktorenanalyse durchführte, schlug schließlich sogar eine 120-Faktoren-Theorie vor:Dabei ordnete er in einer 3-dimensional gedachten „Intelligenz-Struktur“ insgesamt 5 intellektuelle Operationen, 4 Arten von Symbolen (Bilder, Symbole, Bedeutungen, Verhalten) und 6 Ebenen (Einheiten, Klassen, Beziehungen, Systeme, Transformationen,Implikationen) an.
Untersuchungsverfahren zum Messen der Intelligenz
Nachdem der Franzose A. Binet 1905 zusammen mit T. Simon den ersten Intelligenztest veröffentlicht hatte, wurden verschiedenste Untersuchungsverfahren entwickelt, die ein Maß für diese komplexe Persönlichkeitseigenschaft liefern sollten.
Besonders gut eingeführt sind die (revidierten) Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene (HAWIE-R) und Kinder (HAWIK-R),die in einem Verbal und einem Handlungsteil mit je einer Gruppe von Subtests verschiedene Facetten des intellektuellen Leistungsvermögens erfassen und zu einem generellen Messwert für Intelligenz, dem Intelligenzquotienten (IQ), verrechnen.Dabei spiegelt insbesondere der Verbalteil ein Stück weit den Schulbildungsgrad wider, sodass andere, bildungsunabhängige Testverfahren entwickelt werden mussten, z.B. die Progressive Matrices nach Raven,bei dem logische Reihen von Nonsense-Figuren im Multiplechoiceverfahren fortgesetzt werden müssen. Um spezifische Intelligenzfunktionen noch valider einzuschätzen, entwickelte Amthauer 1955 den sog. Intelligenz-Strukturtest (9Untertests), der 1973 als IST-70 in revidierter Form neu aufgelegt wurde. Natürlich stellte sich für die Forschung die Frage,von welcher Konstanz über die Zeit bei der Intelligenz, respektive ihren Teilfunktionen auszugehen ist.
Intelligenzentwicklung
Auch wenn aus Zwillingsstudien etc. als gesichert gilt,dass eine gewisse genetisch angelegte Grundlage der Intelligenzentwicklung existiert [23],so konnte dennoch festgestellt werden,dass IQs erst vom 3.–4. Lebensjahr an eine gewisse Konstanz zeigen.
Erst der mit 8–9 Jahren gemessene IQ lässt jedoch das Intelligenzniveau,das mit 16–17 Jahren erreicht werden wird,einigermaßen exakt voraussagen.
Dieser Art Intelligenz, wie sie von den standardisierten Tests gemessen wird,geht nun aber jegliche soziale Komponente ab.
Somit kann geschlossen werden, dass es sich um eine technische Form der Intelligenz handelt, die der Homo sapiens während seiner Entwicklungsgeschichte v. a. im Umgang mit den unbelebten Objekten seiner Lebenswelt erworben hat. Andererseits ist von der neueren Evolutionsbiologie immer wieder betont worden, dass es gerade die Auseinandersetzung mit den Artgenossen war, welche die größte Herausforderung für sozial lebende Primaten darstellte, und damit den größten Beitrag zur enormen Hirnentwicklung beim Menschen beitrug. So erkannte Humphrey [15] schon in den 70er-Jahren, dass Primaten über mehr Intelligenz verfügen, als zur Deckung ihrer biologischen Grundbedürfnisse nötig ist, was ihn zur Vermutung führte,dass diese „überschüssige“ Intelligenz das Resultat von Selektionsdrücken aus der sozialen Umwelt sein könnte. Dunbar wies nach, dass bei Primaten zwischen der typischen Gruppengröße und dem Volumen des Neokortex eine klare Korrelation besteht [8].Die belebte Umgebung stellte aufgrund ihrer Komplexität und raschen Variabilität im Durchschnitt die höchsten Anforderungen in Sachen Flexibilität und Improvisationsvermögen.
Diese evolutionär gewachsene Form der sozialen Intelligenz, die im Interesse der eigenen Zielerreichung einen dynamischen Wechsel zwischen kooperativem, kompetitivem und manipulativem Verhalten ermöglicht,wird auch machiavellische Intelligenz genannt.
Der Bezug zu Machiavelli
Niccolo Machiavelli (1469–1527) war von 1498–1512 Kanzler des „Rates der Zehn“ in Florenz, nachdem sowohl die Herrschaft der Medici wie auch die kurze Theokratie des Bußpredigers Savonarola zu Ende gegangen waren. Als die Ersteren 1512 wieder an die Macht kamen, verlor Machiavelli seine Ämter und wurde nach San Casciano auf sein bescheidenes Landgut verbannt.
Hier verfasste er sein berühmt gewordenes Schlüsselwerk „Il Principe“, das allerdings erst nach seinem Tod, nämlich im Jahre 1532 gedruckt wurde. Darin legte er Leitlinien zum Erwerb und Erhalt von Macht für Regierende fest, wobei er z.T.in krasser Weise von den moralischen Prinzipien einer christlich-humanistischen Ethik abwich. Im Interesse der Staatsraison, so lautete seine Kernüberzeugung, sind Täuschung, Verrat und sogar Grausamkeit zulässige Mittel, wenn sie zur Festigung oder Expansion des Systems dienlich sind. Ein florierendes Staatswesen war seines Erachtens das höchste Gut und nicht etwa die moralische Integrität des Regenten. Dabei legte er seinen Empfehlungen an die Machthaber ein durchweg pessimistisches Menschenbild zu Grunde,wie auch aus den folgenden Zitaten hervorgeht [20]:
„Jene aus dem Adel, welche sich nicht an den Fürsten anschließen, da sie mehr an sich selbst als an diesen denken, sie muss er so genau beobachten, sich vor ihnen hüten, als wenn sie seine offenbarsten Feinde wären; denn bei jedem Sturm werden sie zuverlässig ihn stürzen helfen.“
Zum Thema „Thronerwerb durch Verbrechen“ führte er aus:
„Wer auf widerrechtliche und gewaltsame Weise die Krone an sich reißt, muss alle Grausamkeiten auf einmal ausüben, damit er nicht nötig habe, alle Tage damit von vorn anzufangen; dann aber die Gelegenheit ergreifen, die Gemüter durch Wohltaten wieder zu versöhnen. Wer von diesem Grundsatz abweicht, darf nie das Schwert aus der Hand legen; er kann ebenso wenig seinen Untertanen trauen, als diese ihm trauen können.“
Ebenso hielt er dafür, dass eine gewisse Zweigesichtigkeit beim Spiel mit der
Macht durchaus ihre Vorteile haben kann:
„Es ist nicht nötig, dass ein Fürst alle Tugenden wirklich besitze, sondern es ist schon hinlänglich, wenn er sie nur zu besitzen scheint …Ein Fürst muss gnädig, rechtschaffen aufrichtig und gottesfürchtig scheinen und gleichwohl so ganz Herr über sich sein, dass er im Falle der Not gerade das Gegenteil von dem allem tun kann.“
Angesichts solcher Sentenzen darf es nicht erstaunen,dass der Begriff„Machiavellismus“ gleichsam zum Synonym für rücksichtslose
Machtpolitik wurde.Der Lehre Machiavellis erwuchs bald eine breite Gegnerschaft, bestehend aus Vertretern der Kirche,später auch der Aufklärer und der Moralphilosophen. Diese Gegenströmung wurde denn auch unter der Bezeichnung „Antimachiavellismus“ bekannt. Ihr prominentester Vertreter war ohne Frage der Preußenkönig Friedrich der Große, der 1740 seine Streitschrift „Antimachiavell“ veröffentlichte [9]. Auch daraus 2 Zitate:
„Ich habe allezeit Machiavellis Buch von der Regierungskunst eines Fürsten als eines der allergefährlichsten Bücher angesehen, die jemals in der Welt verbreitet wurden.“
„Die Welt werde sich überzeugen, dass die wahre, einzig auf die Gerechtigkeit, Klugheit und Gütigkeit gegründete Staatskunst der Könige in jeder Hinsicht dem unrichtigen und abscheulichen Lehrgebäude vorzuziehen sei, welches Machiavelli der Welt darzubieten die Frechheit gehabt hat.“
Damit waren nun 2 Extrempositionen markiert, deren Maximen sich diametral entgegenstanden. Da Macht nun aber wertneutral ist und sowohl zum Nutzen wie auch zum Schaden der Gemeinschaft eingesetzt werden kann, muss wohl offen bleiben, welches der beiden Rezepte im freien Spiel der politischen Kräfte letztlich die Oberhand behält. Aus dem Studium der Weltgeschichte kann diese Frage sicherlich nicht definitiv entschieden werden.
Machiavellismus in der Sozialpsychologie
In die Sozialpsychologie hielt der Begriff des „Machiavellianism“ in den 60er-Jahren Einzug. Damals forschte man in der Frage „Welche psychologischen Charakteristika muss eine Person haben, um andere effektiv zu kontrollieren?“. Zu diesem Zwecke entwickelte Christie [5] – ausgehend vom Gedankengut Machiavellis – die Machiavellianism-Scale, bei der 20Aussagen in Bezug auf ihre Stimmigkeit vor dem Hintergrund der eigenen Werthaltung beurteilt werden müssen.
Die Personen, welche einen hohen Punktwert erreichten, wurden im Fachjargon als „High-Machs“ apostrophiert, diejenigen, die tief scorten als „Low- Machs“. Dabei waren Aussagen wie die Folgenden zu bewerten (Übersetzung durch den Autor):
▂ Am besten kommt man mit den Leuten aus, wenn man ihnen das erzählt,
was sie hören wollen.
▂ Am sichersten ist es, davon auszugehen, dass alle Leute einen üblen Charakterzug haben, der zum Tragen kommt, sobald sich eine Chance dafür bietet.
▂ Wer anderen völlig vertraut, ist auf dem besten Weg, in Schwierigkeiten zu geraten.
Tatsächlich gelang es mit diesem Instrument, Probandengruppen aufgrund ihres Machiavellismuswertes in Untergruppen einzuteilen, worauf bezüglich ihres kognitiven Stiles und ihres Gruppenverhaltens hochinteressante Unterschiede beobachtet werden konnten (s.unten).
Die phylogenetische Perspektive
Eine hierarchische Organisation als vertikales Ordnungsprinzip wurde in der Stammesgeschichte zum Erfordernis, als sich bestimmte Arten zu sozialen Verbänden zusammenschlossen und somit das horizontale Ordnungsprinzip der Territorialität überlagert, wenn auch nicht gänzlich überwunden wurde. Dieses wirkt nämlich bis hin zum Homo sapiens weiter fort, was sich z. B. in arttypischen „Hackdistanzen“ bei gesellig lebenden Vögeln, im Gerangel um privilegierte Sitz- und Schlafplätze bei niederen Primaten oder auch in der Abriegelung von Grundstücken beim Menschen äußert [18].
Was den Zusammenschluss im Rudel und damit die Zunahme an territorialer Toleranz begünstigt hat, kann nur vermutet werden: Der gegenseitige Schutz vor Raubfeinden mag dabei eine Rolle gespielt haben, aber auch die ausgedehnte sexuelle Empfänglichkeit der Weibchen, welche die Männchen zunehmend an den sozialen Nahraum band [22].Allerdings war es auf dieser Stufe genauso essenziell, sich eine günstige Position in der Rangordnung zu erkämpfen wie zuvor die Eroberung eines Territoriums über das genetische Überleben entschied. Die Aussichten auf Nahrungsressourcen sowie auf Fortpflanzung waren in beiden Fällen untrennbar mit dem Status des Individuums verbunden.
Während sich Männchen territorialer Arten bezüglich eines Reviers nur kompetitiv verhielten, eröffnete die Rangordnung auf einem gemeinsam behaupteten Territorium auch die Möglichkeit zu kooperativen Verhaltensweisen. So ergab sich beispielsweise die Option, durch Koalitionsbildung unter ranghohen Männchen das dominante Alphatier zu stürzen. Bemerkenswert ist, dass bereits Halbaffen wie die madagassischen Lemuren die Fähigkeit zum Leben in organisierten Gruppen entwickelten. Damit war in der Evolution eine elementare soziale Kompetenz
geboren, wenngleich der flexible, kreative oder geradezu virtuose Umgang mit Machtkonstellationen erst bei den höheren Primaten (am ausgeprägtesten bei Schimpansen und Bonobos) möglich wurde.
Dennoch ist mit aller Klarheit festzuhalten, dass diese Art der Intelligenz – man mag sie die machiavellische oder sozialmanipulative Intelligenz nennen – in der Stammesgeschichte sehr viel früher und auch unabhängig von der technischen (d.h.objektmanipulierenden) Intelligenz entstand, die erst bei werkzeuggebrauchenden Menschenaffen auftauchte.
Die Letztere ist es, welche wir mit den konventionellen IQ-Tests zu messen versuchen und welche beispielsweise für den Schulerfolg ausschlaggebend ist. Tatsächlich ergab sich bei psychometrischen Untersuchungen am Menschen keinerlei Korrelation zwischen dem Punktwert bezüglich machiavellischer Intelligenz und dem Intelligenzquotienten in verschiedenen anderen Testverfahren [4]. Damit wäre ein Erklärungsansatz gegeben, weshalb Schulerfolg und Lebenserfolg (z. B. bezüglich Erringen von Machtpositionen) keineswegs Hand in Hand gehen müssen.
Beobachtungen aus der Verhaltensforschung
Generell kann gesagt werden, dass ein Tier Intelligenz zeigt, wenn es sein Verhalten aufgrund von Erfahrungswerten in adaptivem Sinne modifiziert. „Machiavellisch“ ist diese Intelligenz dann zu nennen, wenn ein Individuum, etwa ein Schimpanse,seinen Artgenossen als „soziales Werkzeug“ instrumentalisiert,um damit eigennützige Ziele (Rangposition,Zugang zu Futterquellen oder zu fortpflanzungsfähigen Weibchen etc.) zu erreichen. Da geschicktes sozialmanipulatives Verhalten Gewinner und Verlierer schafft, sind alle Rudelangehörigen gefordert, Konterstrategien zu entwickeln, damit die eigenen vitalen Interessen gewahrt bleiben.
Diese „Aufrüstungsspirale“ und der damit verbundene Selektionsdruck werden nun schwergewichtig für die massive Hirn- und Intelligenzentwicklung in der aufsteigenden Primatenreihe verantwortlich gemacht [22]. Dabei ist zu beachten, dass es völlige Interessensgleichheit auch unter Koalitionspartnern nicht geben kann. Beim gemeinsamen Jagen beispielsweise herrschen die gemeinsamen Interessen vor, bei der Fortpflanzung hingegen nicht [3]. Die Fähigkeit, sich in Allianzen einzubringen,wird so neben den klassischen Dominanzmerkmalen wie Alter, Geschlecht, Größe und Stärke zur Schlüsselqualifikation für den Aufsteiger im Rudel.
Dabei spielen Verwandtschaftsgrade eine wesentliche Rolle, doch können Bündnispartner auch auf anderen Wege gewonnen werden: z.B.durch „Grooming“-Verhalten (soziale Fellpflege), durch Beuteteilen, durch Beistehen in einem früheren Konflikt.
Dies alles setzt aber voraus, dass die betreffenden Tiere individualisierte Beziehungen zueinander eingehen, wobei sie ihre Verbündeten bzgl. ihres präsumtiven „Wettbewerbs-Wertes“ genau einschätzen können [16]. Diese Fähigkeit manifestiert sich durch eine Präferenz für hochrangige Exemplare sowie deren Verwandte. Insbesondere Weibchen zeigen auch eine bemerkenswerte Sicherheit, wenn es darum geht, bei Konflikten im Rudel Partei für die stärkere Seite zu ergreifen [12]. Der bekannte Primatologe DeWaal [7] stellte fest,dass Schimpansen in ihrem Sozialverhalten doch wesentlich machiavellistischer seien als beispielsweise Paviane, weshalb er von eigentlichen „Chimpanzee-Politics“ sprach. So beobachtete er, dass Aufsteiger in der Gruppe zunächst konsequent Gewinner von Rangkämpfen unterstützten, um sich gleichsam in deren Windschatten an die Spitze des Rudels hochzukämpfen.Wenn es dann aber einem Männchen gelang, in Alpha-Position zu kommen, änderte es seine Taktik radikal: Von nun an wurden nur noch Schwächere gegen Stärkere unterstützt, wodurch dem Rangstreben anderer ehrgeiziger Männchen natürlich Einhalt geboten und die eigene Spitzenposition gesichert wurde. Daneben beschrieb DeWaal eine Reihe von Täuschungsmanövern, mit denen Konflikte mit hochrangigen Tieren vermieden werden können: Vortäuschung von Hinken, Verbergen der eigenen Erektion vor dem Blick dominanter Tiere, jedoch Entblößung, wenn ein junges Weibchen naht, Involvierung hochrangiger Alttiere zur Streitschlichtung u.a.m.
Solche Manöver haben zur Voraussetzung, dass sich das betreffende Tier ein
Bild davon machen kann, wie seine Artgenossen auf bestimmte Situationen reagieren werden.Dies ist eine hochkomplexe kognitive Leistung,welche gemeinhin als „theory of mind“ bezeichnet wird und zur Grundlage aller gezielten sozialen Manipulationen wird. So weiß beispielsweise ein Pavianenweibchen, dass ein dominantes Männchen, aus dessen Nahraum heraus sie gegen Dritte droht, unweigerlich jeden Angreifer attackieren wird, sobald ein solcher sich nur zu einer Drohgebärde in ihre Richtung versteigen sollte [17].
Hauser [13] wies darauf hin, dass die natürliche Selektion letztlich alles fördere, was die Gewinnchancen eines Individuums erhöhe, ob es nun um anatomische Strukturen für den Rivalenkampf oder neuronale Netze für sozialkompetentes
Verhalten gehe. Dies gelte auch für Täuschungen, bei denen er funktionale wie das Ausstoßen falscher Warnrufe (z. B. zum Verscheuchen eines Konkurrenten) und taktische Täuschungen (z.B. Vortäuschen sexueller Bereitschaft zum Ablenken von einer Futterquelle) unterschied.
Analoges aus der Humanethologie
Bereits Menschenkinder zeigen eine bemerkenswerte Tendenz, relativ stabile Rangordnungen zu bilden. Dies ist zum einen an der „Aufmerksamkeitsstruktur“ abzulesen, was bedeutet, dass ranghohe Kinder von den anderen mehr angesehen werden; zum anderen zeigen diese ranghöheren nach Hold [14] eine Reihe spezifischer Verhaltensmerkmale wie das gehäufte Initiieren und Organisieren von Spielen, das Spiel mit vielen verschiedenen Kindern, das häufigere Schlichten von Streitigkeiten, die Kontrollübernahme beim Verteilen von Süßigkeiten sowie eine überdurchschnittliche Aggressivität, die sich allerdings in moderater Form, z. B. Drohungen, äußere. Bezeichnend dabei sei, dass im Alter von 10–11 Jahren die Rangordnung bei der Auswahl von Freunden zunehmend wichtiger werde [21].
Aber auch der Einsatz von Täuschung und manipulativen Techniken wird im Kindesalter beobachtet. La Frenière [19] erstellte eine funktionale Taxonomie der 5 Möglichkeiten, die sich auf verschiedenen Altersstufen ergeben:
▂ Spielerisch: Bietet Spielzeug an, zieht es schnell weg (mit 19Monaten).
▂ Defensiv: Verschüttet Milch, beschuldigt kleinen Bruder (mit 2 Jahren).
▂ Aggressiv: Beisst sich in die Hand, beschuldigt anderes Kind (mit 2 1/2 Jahren).
▂ Kompetitiv: Mogelt beim Abzählspiel (mit 4 Jahren).
▂ Protektiv: Lächelt nach Erhalt eines enttäuschenden Geschenkes (mit 8 Jahren).
Wie oben erwähnt,lässt sich testmäßig bereits bei Kindern ein „Machiavellianism- Score“ erheben. Dass Kinder mit hohem Punktwert tatsächlich durchsetzungsfähiger sind, dokumentiere Braginsky [2] in ihrer Dissertation: High-Mach-Kinder brachten andere eher dazu, ein chiningetränktes Biskuit zu essen. Bei Erwachsenen wurde bei Top-Scorern auf der Machiavellianism- Scale eine Anzahl spezifischer Wesenszüge herausgearbeitet [6].
▂ High-Machs beurteilen ihre Mitmenschen generell ungünstiger: als weniger großzügig, freundlich, führungsfähig, selbstbewusst, kooperativ, zuverlässig, anpassungsfähig, intelligent, aktiv und männlich!
▂ Auch fällt es ihnen leichter, beim Betrügen den Blickkontakt zu halten.
▂ Im Übrigen werden sie als manipulativ, opportunistisch, grenzüberschreitend, machtmaximierend, misstrauisch, wenig beeindruckbar und mit einer guten Fähigkeit zum Abschätzen von Machtverhältnissen charakterisiert [10].
Aufgrund dieser charakterlichen Disposition dominieren diese Persönlichkeiten sehr schnell eine Interaktion, wirken in Verhandlungen überzeugender, strukturieren Gruppenprozesse stärker und werden überzufällig als Anführer gewählt. In negativer Hinsicht sind sie wenig teamfähig, ausbeuterisch, latent feindselig und nur beschränkt führungsfähig,wenn das Gruppenziel für sie keinen Eigennutz bringt.
Schlusswort
Welches Fazit kann aus diesen Ausführungen gezogen werden? Können diese Erkenntnisse Medizin,Psychiatrie und die Humanwissenschaften im Allgemeinen in irgendeiner Weise voranbringen? Ich denke,dass dies tatsächlich der Fall ist. So ist in allen therapeutischen Berufen – und nicht etwa nur bei den Seelenärzten – eine vertiefte Selbsterkenntnis für die Gestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung von beträchtlichem Nutzen. Und warum sollte hierbei ausgerechnet das eigene Verhältnis zum Machtgewinn und Machterhalt außer Acht gelassen werden?
Aber auch außerhalb des ärztlichen Sprechzimmers geschieht in diesen Zeiten so manches, was an die Existenzgrundlagen des Ärztestandes rührt und unübersehbar viel mit Macht und Ohnmacht zu tun hat. Sogar auf dieser Ebene könnte das Konzept der machiavellischen Intelligenz als ein Aspekt der Psychologie von Macht und Kontrolle tiefere Einblicke in komplexe gesellschaftliche Prozesse ermöglichen.
Autor: Dr. T. Knecht
Psychiatrische Klinik, 8596 Münsterlingen,Schweiz
E-Mail: Thomas.Knecht@stgag.ch
Literatur
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Zusammenfassung · Summary
What is Machiavellian intelligence? Views on a little-appreciated side of the psyche
Keywords
Intelligence · Machiavellian intelligence ·
Manipulation · Power display
Summary
Ethological and evolutionary psychological research has produced evidence that intelligence is not a monolithic functional entity but includes a number of specialized mental abilities to cope with life which even stem from diverse evolutionary
origins. One of these subforms of intelligence is called „Machiavellian intelligence,“ named after the 15/16th century Italian politician and author, Niccolo Machiavelli.It provides individuals or groups with a means of social manipulation in order to attain particular goals.Thus, it builds the psychological basis for the display of power in social groups.Machiavellian intelligence can be observed and evaluated in bands of primates as well as in humans, and there are even tools for measurement in the latter.
Schlüsselwörter
Intelligenz · Machiavellische Intelligenz · Manipulation · Machtausübung
Zusammenfassung
Was ist machiavellische Intelligenz? Betrachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche
Aus ethologischer und evolutionspsychologischer Forschung geht immer deutlicher hervor, dass Intelligenz keine monolithische Funktionseinheit ist, sondern eine Reihe von Spezialfunktionen zur Lebensbewältigung umfasst, welche z.T. sogar unterschiedliche evolutionäre Wurzeln aufweisen. Eine dieser Unterformen wird in Anlehnung an den italienischen Politiker und Schriftsteller aus dem 15./16.Jahrhundert, Niccolo Machiavelli, auch „machiavellische Intelligenz“ genannt.Sie ermöglicht soziale Manipulation im Dienste (gruppen)egoistischer Zielerreichung.
Damit wird sie zur fassbaren psychologischen Grundlage der Machtausübung in sozialen Verbänden.
Machiavellische Intelligenz kann sowohl bei höheren Primaten wie auch beim Menschen beobachtet und evaluiert, bei letzterem sogar gemessen werden.
Nervenarzt 2004 · 75:1–5
DOI 10.1007/s00115-003-1543-0
Online publiziert: 15. Juli 2003
© Springer-Verlag 2003