Kategorie-Archiv: Denkverbote

Intelligenz und Charakter sind angeboren, vererbt, wie Augenfarbe, Nase, Füße, usw.

Autor: T. Knecht · Psychiatrische Klinik Münsterlingen

Was ist machiavellische Intelligenz?
Betrachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche

 

Was ist Intelligenz?

 

Schon die Frage, was denn eigentlich Intelligenz ist,stellt den Experten vor erhebliche Schwierigkeiten. Gemäß Arnold et al. [1] besteht heute noch keine anerkannte Definition von Intelligenz.Unstreitig ist aber,dass es sich um eine Fähigkeit, d.h.eine Bedingung,respektive einen Bedingungskomplex bestimmter Leistungen handelt.

Was Intelligenzleistungen sind und was nicht, ist dagegen nicht eindeutig bestimmt. Sir Francis Galton (1822–1911) ging Mitte des 19.Jahrhunderts noch von einer Funktionseinheit mit Universalcharakter aus. Die wissenschaftliche Intelligenzforschung wurde indessen 1927 von C.Spearman begründet, welcher diese komplexe Fähigkeit einer Faktorenanalyse unterzog.

Dabei gelangte er zur Zwei-Faktoren- Theorie, was bedeutet, dass er einen generellen Intelligenzfaktor g („general ability“) den spezifischen Faktoren (s) gegenüberstellte.

W.C.Halstead unterschied die 4 Faktoren A, C, D und P („abstracting“, „central“, „directional factor“, sowie power=Erkenntnisdrang).L.L.Thurstone definierte 1938 unter Verzicht auf einen allgemeinen Faktor 7 Primärfaktoren: „verbal“,„numerical“,„spatial comprehension“, „reasoning“, „perceptual speed“, „verbal fluency“,„memory“.

J.P. Guilford, der 1967 die ausgedehnteste Faktorenanalyse durchführte, schlug schließlich sogar eine 120-Faktoren-Theorie vor:Dabei ordnete er in einer 3-dimensional gedachten „Intelligenz-Struktur“ insgesamt 5 intellektuelle Operationen, 4 Arten von Symbolen (Bilder, Symbole, Bedeutungen, Verhalten) und 6 Ebenen (Einheiten, Klassen, Beziehungen, Systeme, Transformationen,Implikationen) an.

 

Untersuchungsverfahren zum Messen der Intelligenz

 

Nachdem der Franzose A. Binet 1905 zusammen mit T. Simon den ersten Intelligenztest veröffentlicht hatte, wurden verschiedenste  Untersuchungsverfahren entwickelt, die ein Maß für diese komplexe Persönlichkeitseigenschaft liefern sollten.

Besonders gut eingeführt sind die (revidierten) Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene (HAWIE-R) und Kinder (HAWIK-R),die in einem Verbal und einem Handlungsteil mit je einer Gruppe von Subtests verschiedene Facetten des intellektuellen Leistungsvermögens erfassen und zu einem generellen Messwert für Intelligenz, dem Intelligenzquotienten (IQ), verrechnen.Dabei spiegelt insbesondere der Verbalteil ein Stück weit den Schulbildungsgrad wider, sodass andere, bildungsunabhängige Testverfahren entwickelt werden mussten, z.B. die Progressive Matrices nach Raven,bei dem logische Reihen von Nonsense-Figuren im Multiplechoiceverfahren fortgesetzt werden müssen. Um spezifische Intelligenzfunktionen noch valider einzuschätzen, entwickelte Amthauer 1955 den sog. Intelligenz-Strukturtest (9Untertests), der 1973 als IST-70 in revidierter Form neu aufgelegt wurde. Natürlich stellte sich für die Forschung die Frage,von welcher Konstanz über die Zeit bei der Intelligenz, respektive ihren Teilfunktionen auszugehen ist.

 

Intelligenzentwicklung

 

Auch wenn aus Zwillingsstudien etc. als gesichert gilt,dass eine gewisse genetisch angelegte Grundlage der Intelligenzentwicklung existiert [23],so konnte dennoch festgestellt werden,dass IQs erst vom 3.–4. Lebensjahr an eine gewisse Konstanz zeigen.

Erst der mit 8–9 Jahren gemessene IQ lässt jedoch das Intelligenzniveau,das mit 16–17 Jahren erreicht werden wird,einigermaßen exakt voraussagen.

Dieser Art Intelligenz, wie sie von den standardisierten Tests gemessen wird,geht nun aber jegliche soziale Komponente ab.

Somit kann geschlossen werden, dass es sich um eine technische Form der Intelligenz handelt, die der Homo sapiens während seiner Entwicklungsgeschichte v. a. im Umgang mit den unbelebten Objekten seiner Lebenswelt erworben hat. Andererseits ist von der neueren Evolutionsbiologie immer wieder betont worden, dass es gerade die Auseinandersetzung mit den Artgenossen war, welche die größte Herausforderung für sozial lebende Primaten darstellte, und damit den größten Beitrag zur enormen Hirnentwicklung beim Menschen beitrug. So erkannte Humphrey [15] schon in den 70er-Jahren, dass Primaten über mehr Intelligenz verfügen, als zur Deckung ihrer biologischen Grundbedürfnisse nötig ist, was ihn zur Vermutung führte,dass diese „überschüssige“ Intelligenz das Resultat von Selektionsdrücken aus der sozialen Umwelt sein könnte. Dunbar wies nach, dass bei Primaten zwischen der typischen Gruppengröße und dem Volumen des Neokortex eine klare Korrelation besteht [8].Die belebte Umgebung stellte aufgrund ihrer Komplexität und raschen Variabilität im Durchschnitt die höchsten Anforderungen in Sachen Flexibilität und Improvisationsvermögen.

Diese evolutionär gewachsene Form der sozialen Intelligenz, die im Interesse der eigenen Zielerreichung einen dynamischen Wechsel zwischen kooperativem, kompetitivem und manipulativem Verhalten ermöglicht,wird auch machiavellische Intelligenz genannt.

 

Der Bezug zu Machiavelli

 

Niccolo Machiavelli (1469–1527) war von 1498–1512 Kanzler des „Rates der Zehn“ in Florenz, nachdem sowohl die Herrschaft der Medici wie auch die kurze Theokratie des Bußpredigers Savonarola zu Ende gegangen waren. Als die Ersteren 1512 wieder an die Macht kamen, verlor Machiavelli seine  Ämter und wurde nach San Casciano  auf sein bescheidenes Landgut verbannt.

Hier verfasste er sein berühmt gewordenes  Schlüsselwerk „Il Principe“, das allerdings  erst nach seinem Tod, nämlich im  Jahre 1532 gedruckt wurde. Darin legte er  Leitlinien zum Erwerb und Erhalt von  Macht für Regierende fest, wobei er z.T.in  krasser Weise von den moralischen Prinzipien  einer christlich-humanistischen Ethik  abwich. Im Interesse der Staatsraison, so  lautete seine Kernüberzeugung, sind Täuschung,  Verrat und sogar Grausamkeit zulässige  Mittel, wenn sie zur Festigung oder  Expansion des Systems dienlich sind. Ein  florierendes Staatswesen war seines Erachtens  das höchste Gut und nicht etwa die  moralische Integrität des Regenten. Dabei  legte er seinen Empfehlungen an die  Machthaber ein durchweg pessimistisches  Menschenbild zu Grunde,wie auch aus den  folgenden Zitaten hervorgeht [20]:

„Jene aus dem Adel, welche sich nicht an den Fürsten anschließen, da sie mehr an  sich selbst als an diesen denken, sie muss  er so genau beobachten, sich vor ihnen hüten,  als wenn sie seine offenbarsten Feinde  wären; denn bei jedem Sturm werden  sie zuverlässig ihn stürzen helfen.“

Zum Thema „Thronerwerb durch Verbrechen“  führte er aus:

„Wer auf widerrechtliche und gewaltsame  Weise die Krone an sich reißt, muss alle  Grausamkeiten auf einmal ausüben, damit  er nicht nötig habe, alle Tage damit  von vorn anzufangen; dann aber die Gelegenheit  ergreifen, die Gemüter durch Wohltaten  wieder zu versöhnen. Wer von diesem   Grundsatz abweicht, darf nie das  Schwert aus der Hand legen; er kann ebenso  wenig seinen Untertanen trauen, als  diese ihm trauen können.“

Ebenso hielt er dafür, dass eine gewisse  Zweigesichtigkeit beim Spiel mit der

Macht durchaus ihre Vorteile haben kann:

„Es ist nicht nötig, dass ein Fürst alle Tugenden   wirklich besitze, sondern es ist schon  hinlänglich, wenn er sie nur zu besitzen  scheint …Ein Fürst muss gnädig, rechtschaffen  aufrichtig und gottesfürchtig scheinen  und gleichwohl so ganz Herr über sich sein,  dass er im Falle der Not gerade das Gegenteil  von dem allem tun kann.“

Angesichts solcher Sentenzen darf es nicht  erstaunen,dass der Begriff„Machiavellismus“  gleichsam zum Synonym für rücksichtslose

Machtpolitik wurde.Der Lehre  Machiavellis erwuchs bald eine breite Gegnerschaft,  bestehend aus Vertretern der  Kirche,später auch der Aufklärer und der  Moralphilosophen. Diese Gegenströmung  wurde denn auch unter der Bezeichnung  „Antimachiavellismus“ bekannt. Ihr prominentester  Vertreter war ohne Frage der  Preußenkönig Friedrich der Große, der  1740 seine Streitschrift „Antimachiavell“ veröffentlichte [9]. Auch daraus 2 Zitate:

„Ich habe allezeit Machiavellis Buch von  der Regierungskunst eines Fürsten als eines  der allergefährlichsten Bücher angesehen,  die jemals in der Welt verbreitet  wurden.“

„Die Welt werde sich überzeugen, dass die  wahre, einzig auf die Gerechtigkeit, Klugheit  und Gütigkeit gegründete Staatskunst  der Könige in jeder Hinsicht dem unrichtigen  und abscheulichen Lehrgebäude vorzuziehen  sei, welches Machiavelli der Welt  darzubieten die Frechheit gehabt hat.“

Damit waren nun 2 Extrempositionen  markiert, deren Maximen sich diametral  entgegenstanden. Da Macht nun aber  wertneutral ist und sowohl zum Nutzen  wie auch zum Schaden der Gemeinschaft  eingesetzt werden kann, muss wohl offen  bleiben, welches der beiden Rezepte im  freien Spiel der politischen Kräfte letztlich  die Oberhand behält. Aus dem Studium  der Weltgeschichte kann diese Frage  sicherlich nicht definitiv entschieden werden.

 

Machiavellismus in der  Sozialpsychologie

 

In die Sozialpsychologie hielt der Begriff  des „Machiavellianism“ in den 60er-Jahren  Einzug. Damals forschte man in der  Frage „Welche psychologischen Charakteristika  muss eine Person haben, um andere  effektiv zu kontrollieren?“. Zu diesem  Zwecke entwickelte Christie [5] –  ausgehend vom Gedankengut Machiavellis  – die Machiavellianism-Scale, bei  der 20Aussagen in Bezug auf ihre Stimmigkeit  vor dem Hintergrund der eigenen  Werthaltung beurteilt werden müssen.

Die Personen, welche einen hohen  Punktwert erreichten, wurden im Fachjargon  als „High-Machs“ apostrophiert,  diejenigen, die tief scorten als „Low-  Machs“. Dabei waren Aussagen wie die  Folgenden zu bewerten (Übersetzung  durch den Autor):

▂ Am besten kommt man mit den Leuten  aus, wenn man ihnen das erzählt,

was sie hören wollen.

▂ Am sichersten ist es, davon auszugehen,  dass alle Leute einen üblen Charakterzug  haben, der zum Tragen  kommt, sobald sich eine Chance dafür  bietet.

▂ Wer anderen völlig vertraut, ist auf  dem besten Weg, in Schwierigkeiten  zu geraten.

 

Tatsächlich gelang es mit diesem Instrument,  Probandengruppen aufgrund ihres  Machiavellismuswertes in Untergruppen  einzuteilen, worauf bezüglich ihres kognitiven  Stiles und ihres Gruppenverhaltens  hochinteressante Unterschiede beobachtet  werden konnten (s.unten).

 

Die phylogenetische Perspektive

 

Eine hierarchische Organisation als vertikales  Ordnungsprinzip wurde in der  Stammesgeschichte zum Erfordernis, als  sich bestimmte Arten zu sozialen Verbänden  zusammenschlossen und somit das  horizontale Ordnungsprinzip der Territorialität  überlagert, wenn auch nicht  gänzlich überwunden wurde. Dieses wirkt  nämlich bis hin zum Homo sapiens weiter  fort, was sich z. B. in arttypischen  „Hackdistanzen“ bei gesellig lebenden Vögeln,  im Gerangel um privilegierte Sitz- und  Schlafplätze bei niederen Primaten  oder auch in der Abriegelung von Grundstücken  beim Menschen äußert [18].

Was den Zusammenschluss im Rudel  und damit die Zunahme an territorialer  Toleranz begünstigt hat, kann nur vermutet  werden: Der gegenseitige Schutz vor  Raubfeinden mag dabei eine Rolle gespielt  haben, aber auch die ausgedehnte sexuelle  Empfänglichkeit der Weibchen, welche  die Männchen zunehmend an den sozialen  Nahraum band [22].Allerdings war es  auf dieser Stufe genauso essenziell, sich  eine günstige Position in der Rangordnung  zu erkämpfen wie zuvor die Eroberung  eines Territoriums über das genetische  Überleben entschied. Die Aussichten  auf Nahrungsressourcen sowie auf  Fortpflanzung waren in beiden Fällen untrennbar  mit dem Status des Individuums  verbunden.

Während sich Männchen territorialer  Arten bezüglich eines Reviers nur kompetitiv  verhielten, eröffnete die Rangordnung  auf einem gemeinsam behaupteten  Territorium auch die Möglichkeit zu kooperativen  Verhaltensweisen. So ergab sich  beispielsweise die Option, durch Koalitionsbildung  unter ranghohen Männchen  das dominante Alphatier zu stürzen. Bemerkenswert  ist, dass bereits Halbaffen  wie die madagassischen Lemuren die Fähigkeit  zum Leben in organisierten Gruppen  entwickelten. Damit war in der Evolution eine elementare soziale Kompetenz

geboren, wenngleich der flexible, kreative  oder geradezu virtuose Umgang mit  Machtkonstellationen erst bei den höheren  Primaten (am ausgeprägtesten bei Schimpansen und Bonobos) möglich wurde.

Dennoch ist mit aller Klarheit festzuhalten,  dass diese Art der Intelligenz – man  mag sie die machiavellische oder sozialmanipulative  Intelligenz nennen – in der  Stammesgeschichte sehr viel früher und  auch unabhängig von der technischen  (d.h.objektmanipulierenden) Intelligenz  entstand, die erst bei werkzeuggebrauchenden  Menschenaffen auftauchte.

Die Letztere ist es, welche wir mit den  konventionellen IQ-Tests zu messen versuchen  und welche beispielsweise für den  Schulerfolg ausschlaggebend ist. Tatsächlich  ergab sich bei psychometrischen Untersuchungen  am Menschen keinerlei Korrelation  zwischen dem Punktwert bezüglich  machiavellischer Intelligenz und dem  Intelligenzquotienten in verschiedenen  anderen Testverfahren [4]. Damit wäre ein  Erklärungsansatz gegeben, weshalb Schulerfolg  und Lebenserfolg (z. B. bezüglich  Erringen von Machtpositionen) keineswegs  Hand in Hand gehen müssen.

 

Beobachtungen aus der  Verhaltensforschung

 

Generell kann gesagt werden, dass ein Tier  Intelligenz zeigt, wenn es sein Verhalten  aufgrund von Erfahrungswerten in adaptivem  Sinne modifiziert. „Machiavellisch“  ist diese Intelligenz dann zu nennen, wenn  ein Individuum, etwa ein Schimpanse,seinen  Artgenossen als „soziales Werkzeug“  instrumentalisiert,um damit eigennützige  Ziele (Rangposition,Zugang zu Futterquellen  oder zu fortpflanzungsfähigen  Weibchen etc.) zu erreichen. Da geschicktes  sozialmanipulatives Verhalten Gewinner  und Verlierer schafft, sind alle Rudelangehörigen  gefordert, Konterstrategien  zu entwickeln, damit die eigenen vitalen  Interessen gewahrt bleiben.

Diese „Aufrüstungsspirale“ und der  damit verbundene Selektionsdruck werden  nun schwergewichtig für die massive  Hirn- und Intelligenzentwicklung in der  aufsteigenden Primatenreihe verantwortlich  gemacht [22]. Dabei ist zu beachten,  dass es völlige Interessensgleichheit auch  unter Koalitionspartnern nicht geben  kann. Beim gemeinsamen Jagen beispielsweise  herrschen die gemeinsamen Interessen  vor, bei der Fortpflanzung hingegen  nicht [3]. Die Fähigkeit, sich in Allianzen  einzubringen,wird so neben den klassischen  Dominanzmerkmalen wie Alter,  Geschlecht, Größe und Stärke zur Schlüsselqualifikation  für den Aufsteiger im Rudel.

Dabei spielen Verwandtschaftsgrade  eine wesentliche Rolle, doch können Bündnispartner  auch auf anderen Wege gewonnen  werden: z.B.durch „Grooming“-Verhalten  (soziale Fellpflege), durch Beuteteilen,  durch Beistehen in einem früheren Konflikt.

Dies alles setzt aber voraus, dass die  betreffenden Tiere individualisierte Beziehungen  zueinander eingehen, wobei  sie ihre Verbündeten bzgl. ihres präsumtiven  „Wettbewerbs-Wertes“ genau einschätzen  können [16]. Diese Fähigkeit manifestiert  sich durch eine Präferenz für  hochrangige Exemplare sowie deren Verwandte.  Insbesondere Weibchen zeigen  auch eine bemerkenswerte Sicherheit,  wenn es darum geht, bei Konflikten im  Rudel Partei für die stärkere Seite zu ergreifen  [12]. Der bekannte Primatologe  DeWaal [7] stellte fest,dass Schimpansen  in ihrem Sozialverhalten doch wesentlich  machiavellistischer seien als beispielsweise  Paviane, weshalb er von eigentlichen  „Chimpanzee-Politics“ sprach. So  beobachtete er, dass Aufsteiger in der  Gruppe zunächst konsequent Gewinner  von Rangkämpfen unterstützten, um sich  gleichsam in deren Windschatten an die  Spitze des Rudels hochzukämpfen.Wenn es dann aber einem Männchen gelang, in  Alpha-Position zu kommen, änderte es  seine Taktik radikal: Von nun an wurden  nur noch Schwächere gegen Stärkere unterstützt,  wodurch dem Rangstreben anderer  ehrgeiziger Männchen natürlich  Einhalt geboten und die eigene Spitzenposition  gesichert wurde. Daneben beschrieb  DeWaal eine Reihe von Täuschungsmanövern,  mit denen Konflikte  mit hochrangigen Tieren vermieden werden  können: Vortäuschung von Hinken,  Verbergen der eigenen Erektion vor dem  Blick dominanter Tiere, jedoch Entblößung,  wenn ein junges Weibchen naht,  Involvierung hochrangiger Alttiere zur  Streitschlichtung u.a.m.

Solche Manöver haben zur Voraussetzung,  dass sich das betreffende Tier ein

Bild davon machen kann, wie seine Artgenossen  auf bestimmte Situationen reagieren  werden.Dies ist eine hochkomplexe  kognitive Leistung,welche gemeinhin  als „theory of mind“ bezeichnet wird und  zur Grundlage aller gezielten sozialen Manipulationen  wird. So weiß beispielsweise  ein Pavianenweibchen, dass ein dominantes  Männchen, aus dessen Nahraum  heraus sie gegen Dritte droht, unweigerlich  jeden Angreifer attackieren wird, sobald  ein solcher sich nur zu einer Drohgebärde  in ihre Richtung versteigen sollte  [17].

Hauser [13] wies darauf hin, dass die  natürliche Selektion letztlich alles fördere,  was die Gewinnchancen eines Individuums  erhöhe, ob es nun um anatomische  Strukturen für den Rivalenkampf  oder neuronale Netze für sozialkompetentes

Verhalten gehe. Dies gelte auch für  Täuschungen, bei denen er funktionale  wie das Ausstoßen falscher Warnrufe  (z. B. zum Verscheuchen eines Konkurrenten)  und taktische Täuschungen (z.B.  Vortäuschen sexueller Bereitschaft zum  Ablenken von einer Futterquelle) unterschied.

 

Analoges aus der Humanethologie

 

Bereits Menschenkinder zeigen eine bemerkenswerte  Tendenz, relativ stabile  Rangordnungen zu bilden. Dies ist zum  einen an der „Aufmerksamkeitsstruktur“  abzulesen, was bedeutet, dass ranghohe  Kinder von den anderen mehr angesehen  werden; zum anderen zeigen diese ranghöheren  nach Hold [14] eine Reihe spezifischer  Verhaltensmerkmale wie das gehäufte  Initiieren und Organisieren von  Spielen, das Spiel mit vielen verschiedenen  Kindern, das häufigere Schlichten von  Streitigkeiten, die Kontrollübernahme  beim Verteilen von Süßigkeiten sowie eine  überdurchschnittliche Aggressivität, die  sich allerdings in moderater Form, z. B.  Drohungen, äußere. Bezeichnend dabei  sei, dass im Alter von 10–11 Jahren die  Rangordnung bei der Auswahl von Freunden  zunehmend wichtiger werde [21].

Aber auch der Einsatz von Täuschung und  manipulativen Techniken wird im Kindesalter  beobachtet. La Frenière [19] erstellte eine funktionale Taxonomie der  5 Möglichkeiten, die sich auf verschiedenen  Altersstufen ergeben:

▂ Spielerisch: Bietet Spielzeug an, zieht  es schnell weg (mit 19Monaten).

▂ Defensiv: Verschüttet Milch, beschuldigt  kleinen Bruder (mit 2 Jahren).

▂ Aggressiv: Beisst sich in die Hand, beschuldigt  anderes Kind (mit  2 1/2 Jahren).

▂ Kompetitiv: Mogelt beim Abzählspiel  (mit 4 Jahren).

▂ Protektiv: Lächelt nach Erhalt eines  enttäuschenden Geschenkes (mit  8 Jahren).

Wie oben erwähnt,lässt sich testmäßig bereits  bei Kindern ein „Machiavellianism-  Score“ erheben. Dass Kinder mit hohem  Punktwert tatsächlich durchsetzungsfähiger  sind, dokumentiere Braginsky [2] in  ihrer Dissertation: High-Mach-Kinder  brachten andere eher dazu, ein chiningetränktes  Biskuit zu essen. Bei Erwachsenen  wurde bei Top-Scorern auf der Machiavellianism- Scale eine Anzahl spezifischer  Wesenszüge herausgearbeitet [6].

▂ High-Machs beurteilen ihre Mitmenschen  generell ungünstiger: als  weniger großzügig, freundlich, führungsfähig,  selbstbewusst, kooperativ,  zuverlässig, anpassungsfähig, intelligent,  aktiv und männlich!

▂ Auch fällt es ihnen leichter, beim Betrügen  den Blickkontakt zu halten.

▂ Im Übrigen werden sie als manipulativ,  opportunistisch, grenzüberschreitend,  machtmaximierend,  misstrauisch, wenig beeindruckbar  und mit einer guten Fähigkeit zum  Abschätzen von Machtverhältnissen  charakterisiert [10].

Aufgrund dieser charakterlichen Disposition  dominieren diese Persönlichkeiten  sehr schnell eine Interaktion, wirken in  Verhandlungen überzeugender, strukturieren  Gruppenprozesse stärker und werden  überzufällig als Anführer gewählt. In  negativer Hinsicht sind sie wenig teamfähig,  ausbeuterisch, latent feindselig und  nur beschränkt führungsfähig,wenn das  Gruppenziel für sie keinen Eigennutz  bringt.

 

Schlusswort

 

Welches Fazit kann aus diesen Ausführungen  gezogen werden? Können diese  Erkenntnisse Medizin,Psychiatrie und die  Humanwissenschaften im Allgemeinen  in irgendeiner Weise voranbringen? Ich  denke,dass dies tatsächlich der Fall ist. So  ist in allen therapeutischen Berufen – und  nicht etwa nur bei den Seelenärzten – eine  vertiefte Selbsterkenntnis für die Gestaltung  der Arzt-Patienten-Beziehung von  beträchtlichem Nutzen. Und warum sollte  hierbei ausgerechnet das eigene Verhältnis  zum Machtgewinn und Machterhalt  außer Acht gelassen werden?

Aber auch außerhalb des ärztlichen  Sprechzimmers geschieht in diesen Zeiten  so manches, was an die Existenzgrundlagen  des Ärztestandes rührt und  unübersehbar viel mit Macht und Ohnmacht  zu tun hat. Sogar auf dieser Ebene  könnte das Konzept der machiavellischen  Intelligenz als ein Aspekt der Psychologie  von Macht und Kontrolle tiefere Einblicke  in komplexe gesellschaftliche Prozesse  ermöglichen.

 

Autor: Dr. T. Knecht

Psychiatrische Klinik, 8596 Münsterlingen,Schweiz

E-Mail: Thomas.Knecht@stgag.ch

 

 

Literatur

 

 

  1. Arnold W, Eysenck H-J, Meili R (1996) Lexikon der Psychologie,Band 2.Bechtermünz,Augsburg
  2. Braginsky DD (1966) Machiavellism and manipulative interpersonal behavior in children: two explorative studies.Unpublished doctoral dissertation, University  of Conneticut
  3. Chance MRA, Mead AP (1988) Social behavior and primate evolution. In: Byrne RW,Whiten A (eds) Machiavellian intelligence – social expertise and the  evolution of intellect in monkeys, apes and humans.  Clarendon Press,Oxford
  4. Christie R (1970): Why Machiavelli? In: Christie R, Geis FL (eds) Studies in Machiavellianism.Academic Press,  New York
  1. Christie R (1970) Scale Construction, In: Christie R, Geis FL (eds) Studies in Machiavellianism.Academic Press, New York
  2. Christie R (1970): Relationship between Machiavellianism and measures of ability, opinion and personality. In: Christie R, Geis FL (eds) Studies in Machiavellianism.  Academic Press,New York
  3. De Waal F (1988): Chimpanzee politics. In: Byrne RW, Whiten A (eds): Machiavellian intelligence – social expertise and the evolution of intelligence in monkeys,  apes and humans.Clarendon Press,Oxford
  4. Dunbar RM (1988) The social brain hypothesis.Evol Anthropol 6:178–190 9. Friedrich der Grosse (1913) Antimachiavell.Deutsche  Bibliothek,Berlin
  5. Geis FL, Christie R, Nelson C (1970) In search of the Machiavell. In: Christie R, Geis FL (eds) Studies in Machiavellianism.Academic Press,New York
  6. Geis FL, Christie R (1970) Overview of experimental research. In: Christie R, Geis FL (eds) Studies in Machiavellism.Academic Press,New York
  7. Harcourt AH (1988) Alliances in contest and social intelligence. In: Byrne RW,Whiten A (eds) Machiavellian intelligence – social expertise and the evolution of intellect  in monkeys, apes and humans.Clarendon Press,  Oxford
  8. Hauser MD (1997) Minding the behavior of deception. In: Whiten A, Byrne RW (eds): Machiavellian intelligence II – extensions and evaluations.Cambridge  University Press,Cambridge
  9. Hold B (1974) Rangordnungsverhalten bei Vorschulkindern. Homo 25:252–267
  10. Humphrey NK (1976) The social function of intellect. In: Bateson PPG, Hinde RA (eds) Growing points in ethology. University Press,Cambridge,pp 303–317
  11. Jolly A (1966) Lemur social behavior and primate intelligence. Science 153:501–506
  12. Jolly A (1988) The evolution of purpose. In: Byrne RW, Whiten A (eds) Machiavellian intelligence – social expertise and the evolution of intellect in monkeys, apes  and humans.Clarendon Press,Oxford
  13. Knecht T (1996) Territorialität – Eine wenig beachtete Determinante in der Genese psychischer Störungen. Krankenhauspsychiatrie 1:10–14
  14. La Frenière PJ (1988) The antagony of tactical deception in humans. In: Byrne RW,Whiten A (eds) Machiavellian intelligence – social expertise and the evolution  of intellect in monkeys, apes and humans.Clarendon  Press,Oxford
  15. Machiavelli N (1913) Der Fürst.Deutsche Bibliothek, Berlin
  16. Strayer FF,Warening S, Rushton JP (1979) Social constraints on naturally occurring preschool altruism. Ethology Sociology 1:3–11
  17. Whiten A, Byrne RW (1988) The machiavellian intelligence hypothesis. In: Byrne RW,Whiten A (eds) Machiavellian intelligence – social expertise and the evolution  of intellect in monkeys, apes and humans.Clarendon  Press,Oxford
  18. Zerbin-Rüdin E (1974) Vererbung und Umwelt bei der Entstehung psychischer Störungen.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

 

 

Zusammenfassung · Summary

 

What is Machiavellian intelligence? Views on a little-appreciated side of the psyche

 

Keywords

Intelligence · Machiavellian intelligence ·

Manipulation · Power display

 

Summary

Ethological and evolutionary psychological research  has produced evidence that intelligence is  not a monolithic functional entity but includes a  number of specialized mental abilities to cope  with life which even stem from diverse evolutionary

origins. One of these subforms of intelligence  is called „Machiavellian intelligence,“  named after the 15/16th century Italian politician  and author, Niccolo Machiavelli.It provides individuals  or groups with a means of social manipulation in order to attain particular goals.Thus, it  builds the psychological basis for the display of  power in social groups.Machiavellian intelligence  can be observed and evaluated in bands  of primates as well as in humans, and there are  even tools for measurement in the latter.

 

 

Schlüsselwörter

Intelligenz · Machiavellische Intelligenz ·  Manipulation · Machtausübung

 

 

Zusammenfassung

 

Was ist machiavellische Intelligenz? Betrachtungen über eine wenig beachtete Seite unserer Psyche

 

Aus ethologischer und evolutionspsychologischer  Forschung geht immer deutlicher hervor,  dass Intelligenz keine monolithische Funktionseinheit  ist, sondern eine Reihe von Spezialfunktionen  zur Lebensbewältigung umfasst, welche  z.T. sogar unterschiedliche evolutionäre Wurzeln  aufweisen. Eine dieser Unterformen wird in Anlehnung  an den italienischen Politiker und  Schriftsteller aus dem 15./16.Jahrhundert, Niccolo  Machiavelli, auch „machiavellische Intelligenz“  genannt.Sie ermöglicht soziale Manipulation im Dienste (gruppen)egoistischer Zielerreichung.

Damit wird sie zur fassbaren psychologischen  Grundlage der Machtausübung in sozialen Verbänden.

Machiavellische Intelligenz kann sowohl  bei höheren Primaten wie auch beim Menschen  beobachtet und evaluiert, bei letzterem sogar  gemessen werden.

 

Nervenarzt 2004 · 75:1–5
DOI 10.1007/s00115-003-1543-0
Online publiziert: 15. Juli 2003
© Springer-Verlag 2003

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Nach der Veröffentlichung von „Deutschland schafft sich ab“ (2010) hatte es zu den größten Aufregern gehört, dass ich Ergebnisse der Intelligenzforschung zitierte, wonach Unterschiede der bei Tests gemessenen Intelligenzleistung zu 50 bis 80 Prozent erblich sind. Zwei renommierte Intelligenzforscher kamen wenige Tage nach dem Erscheinen des Buches in einem FAZ-Artikel zu dem Schluss, dass ich die wissenschaftliche Literatur richtig verstanden und zutreffend zitiert hätte. Wörtlich schrieben sie: „Die von Sarrazin angegebenen Zahlen, die sich auf die Bedeutung der Genetik für Intelligenzunterschiede beziehen, sind korrekt.“[1]  Das interessierte aber niemanden, die Aufregung ging weiter.

Anderthalb Jahre später widmete Dieter E. Zimmer der Frage „Ist Intelligenz erblich?“ ein ganzes Buch und zog das Fazit: „Es ist so robust erwiesen, wie etwas in den Naturwissenschaften überhaupt etwas erwiesen sein kann, dass die Unterschiede in der von IQ-Tests gemessenen Intelligenz bei Erwachsenen zu mindestens 60 bis 75 Prozent, bei Kindern zu 40 Prozent auf Unterschiede im Genotyp zurückgehen … Was die Gene vorherbestimmen, ist kein fester IQ-Wert, sondern ein Potential, aus und mit der Umwelt zu lernen, wie man analytisch denkt. … Lernen und Trainieren erhöhen die Intelligenz, aber nur in Grenzen.“[2]  Zimmers Buch fand nur eine lauwarme Aufnahme. Widersprüche zu seinen Schlussfolgerungen in der politischen Publizistik oder in den Feuilletons habe ich damals nicht registriert.

Der Grund für den publizistischen und politischen Zorn auf mich war mir natürlich klar: Ich hatte in Frage gestellt, dass der Mensch beliebig formbar ist und im Wesentlichen durch seine Umwelt bestimmt wird. Damit hatte ich ein zentrales Tabu des herrschenden Zeitgeistes verletzt und wurde entsprechend abgestraft. Was Wissenschaftler folgenlos schreiben durften, durfte eine ehemaliger Politiker wie ich noch lange nicht öffentlich sagen. 2014 widmete ich dieser Frage in „Der neue Tugendterror“ erneut längere Passagen. Diesmal zogen es die Medien vor, das Thema zu beschweigen. Bei der Konzeption und Abfassung von „Wunschdenken“ plante ich, eine erneute Intelligenzdebatte zu vermeiden. Alles aus meiner Sicht Notwendige war dazu gesagt, und dabei sollte es auch bleiben.

Die kognitive Kompetenz speist sich aus vielen Quellen

In „Wunschdenken“ behandele ich unter anderem die Quellen wirtschaftlichen Wohlstands. Dabei ist die Erkenntnis zentral, dass das menschliche Wissen, die Summe der kognitiven Kompetenzen, die vornehmliche Wohlstandquelle ist. Daraus ergibt sich die große Bedeutung eines leistungsfähigen Bildungssystems. Unterschiede im Wissenskapital erklären weitestgehend die Wohlstandsunterschiede zwischen Staaten und Gesellschaften. Das ist eine gesicherte Erkenntnis der Bildungsforschung. Ebenso gesichert ist, dass sich die kognitiven Kompetenzen aus vielen Quellen speisen, dem Bildungssystem, der familiären Herkunft, der Sozialisation in einer bestimmten Kultur, aber natürlich auch dem angeborenen individuellen Potential. Politisch kann man also eine Menge tun, und das muss man auch.

Kein Weg führt aber daran vorbei, dass das Gefälle der kognitiven Kompetenzen international sehr groß ist, dass Einwanderer mit ihrer Herkunftskultur grundsätzlich auch ihre kognitiven Kompetenzen mitbringen und diese weitgehend an ihre Kinder weitergeben. Was das bedeutet und was daraus folgt, führe ich auf vielen Seiten aus.

Ich fand es dann etwas überraschend, dass die Fragen der FAS in einem Interview zu „Wunschdenken“ vornehmlich dem Versuch dienten, mich einseitig auf genetische Aussagen festzulegen. Der Versuch war nicht erfolgreich, ich blieb dabei, die Wirklichkeit so differenziert zu beschreiben, wie sie ist.[3]  Eine Woche später schob mir der Molekularbiologe Karl-Friedrich Fischbach in einem FAS-Artikel  das unsinnige und falsche Zitat unter „Dummheit ist erblich“.[4] Offenbar wollte er erneut die längst abgeschlossene  Intelligenzdebatte führen, die aber gar nicht der Gegenstand von „Wunschdenken“ ist. Die „Umweltabhängigkeit der messbaren Intelligenz“, die er als scheinbar neues Argument gegen mich vorbrachte, hatte ich bereits in „Deutschland schafft sich ab“ diskutiert, teilweise bejaht und dazu den sogenannten Flynn-Effekt erläutert – benannt nach seinem Entdecker, dem Psychologen James R. Flynn. Dessen damals jüngstes Buch „Are We Getting Smarter?“ hatte ich 2014 in „Der neue Tugendterror“ zitiert.

Adoptivkinder nehmen nicht die Intelligenz der Adoptiveltern auf

Fischbach mag etwas von Genetik verstehen, die Intelligenzforschung ist definitiv nicht sein Fachgebiet. Fälschlich behauptet Fischbach, dass Adoptivkinder die Intelligenz ihrer Adoptiveltern annehmen. Für erwachsene Adoptivkinder ist das Gegenteil wahr. Ihr IQ weist keine statistisch signifikante Korrelation zum IQ ihrer Adoptiveltern auf, wohl aber zum IQ der ihnen unbekannten leiblichen Eltern. Unterschiede in der häuslichen Umgebung des Kindes produzieren keine Unterschiede bei der gemessenen Intelligenz der erwachsenen Kinder.[5]

In „Wunschdenken“ lasse ich die ganze Intelligenzdebatte links liegen und arbeite stattdessen mit dem in der Bildungsforschung gebräuchlichen Begriff der „kognitiven Kompetenzen“, wie er jedem Pisa-Test zugrunde liegt. Dass die kognitiven Kompetenzen, neben vielen anderen Einflussfaktoren, auch von der individuellen Intelligenz beeinflusst werden, ist richtig, tut aber nichts zur Sache. Die weltweiten Unterschiede in den kognitiven Kompetenzen können wir messen. Spekulationen über das relative Gewicht der verschiedenen Einflussgrößen, die auf die gemessenen kognitiven Kompetenzen einwirken, habe ich bewusst nicht angestellt. Sie sind für meine Argumentation auch gar nicht nötig.

Der linke Journalist und gelernte Philosoph Arno Widmann ging in seinem kritischen Eifer noch weiter als Fischbach. Seine Rezension in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung  erhielt den Aufmacher „Thilo Sarrazin erklärt fehlende Intelligenz für vererbbar“.[6]  Offenbar konnte er mit dem Begriff der kognitiven Kompetenz nichts anfangen. Er erfand für die Zwecke seiner Rezension den von mir gar nicht benutzten, völlig sinnfreien Begriff der „kognitiven Intelligenz“ und verwendete ihn nicht weniger als neunmal. Gleichzeitig kritisierte er, dieser Begriff lasse „sich sinnvoll überhaupt nicht auf ganze Bevölkerungsgruppen, geschweige den in der fragwürdigen Welt der Völkerpsychologie einsetzen“.

Stimmt, das habe ich ja auch gar nicht getan. Stattdessen habe ich eine Fülle staubtrockener Statistiken zum Vergleich der in der Bildungsforschung gemessenen kognitiven Kompetenzen gebracht und diese näher erläutert. Arno Widmann hat in seiner Rezension ein von ihm selbst geschaffenes Phantom bekämpft, offenbar ohne es zu merken.

Einmal Holocaust, zweimal Hitler und zehnmal Rassismus

Mein Verlag verlangte von der Redaktionsgemeinschaft DuMont, zu der beide Zeitungen gehören, eine entsprechende Richtigstellung. Daraufhin wurde im Onlinetext der Frankfurter Rundschau „kognitive Intelligenz“ kommentarlos durch „kognitive Kompetenz“ ersetzt. Damit ist Widmanns Text der Sinnlosigkeit bzw. Lächerlichkeit preisgegeben, er hat seine Pointe verloren. Eine Richtigstellung oder gar Entschuldigung für Widmanns freie Erfindung erfolgte nicht. In der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung blieb der Text dagegen bis heute unverändert.

Joachim Müller-Jung, Ressortleiter Natur und Wissenschaft bei der FAZ, fand offenbar Gefallen an Arno Widmanns Rezension. Er übernahm von ihm die freie Erfindung der „kognitiven Intelligenz“ und belegte damit zugleich, dass  er „Wunschdenken“  gar nicht erst aufgeschlagen hatte. In FazNet zitierte er zustimmend Widmanns Vorwurf, dass bei Sarrazin „die gröbsten Dummheiten als differenzierte Analysen verkauft“ werden und bemängelte, ich hätte „mich nicht um eine aufrichtige und sorgfältige Beschäftigung mit der Intelligenzforschung bemüht“.[7] Es war ihm offenbar entgangen, dass ich das längst in früheren Werken bewerkstelligt und mich dabei innerhalb des gesicherten Wissens der Intelligenzforschung bewegt hatte, dass zudem in „Wunschdenken“  die kognitiven Kompetenzen im Mittelpunkt stehen.

Welche Motive treiben eigentlich den Ressortleiter Natur und Wissenschaft einer seriösen Zeitung wie der FAZ ? Wovor hat er Angst, wenn er zu solchen Methoden greift?

Der Dampfplauderer Jakob Augstein sank noch ein wenig tiefer. In einem kurzen Text über „Wunschdenken“ kommt einmal Holocaust, zweimal Hitler und zehnmal Rassismus oder rassistisch vor. Anrüchig findet er den Begriff „kognitive Kompetenz“. Fischbach zitiert er als Beweis dafür, dass Intelligenz eben doch nicht erblich sei, und verpasst die Pointe, dass es darum in Wunschdenken gar nicht geht.[8]

Da bleibt mir nur die Vermutung: Wer dem Objekt der Kritik nicht auf Augenhöhe begegnen kann oder will, ist offenbar um Argumente verlegen. Nur wenn man die Erkenntnisse der Wissenschaft durch einen quasi religiösen Glauben ersetzt, kann man an der Fiktion festhalten, Vererbung und Tradition seien weitgehend belanglos, und von daher sei es für die Zukunft der Gesellschaft gleichgültig, wer die Eltern künftiger Generationen sind und wer in welcher Zahl einwandert. Fragen der Erblichkeit umfassen keineswegs nur die Intelligenz, sondern auch andere für den Bildungserfolg wesentliche persönliche Eigenschaften. [9]

[1] Heiner Rindermann, Detlef H. Rost: Was ist dran an Sarrazins Thesen?, FAZ vom 7. September 2010

[2] Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich?, Hamburg 2012, S. 250 f.

[3]  FAS vom 24. April 2016, S. 25

[4] Karl-Friedrich Fischbach: Warum Thilo Sarrazin die Genetik nicht versteht, FAS vom 1. Mai 2016

[5] Vgl. Steven Pinker: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York 2002, S. 376

[6] Arno Widmann: Buch „Wunschdenken“. Thilo Sarrazin erklärt fehlende Intelligenz für vererbbar, Berliner Zeitung vom 25.4. 2016

[7] Joachim Müller Jung: Wie vermehrt man Intelligenz?

[8] Jakob Augstein: Im Zweifel links: Gerüchte über Muslime

[9] In Großbritannien wurde die Bildungsleistung von 13.300 Zwillingspaaren beim General Certificate of Secondary Education (GSCE), das im Alter von 16 Jahren abgelegt wird, untersucht. Dabei ergab sich für die gemessenen Unterschiede der Bildungsleistung eine Heritabilität von 75 %. Diese hohe Heritabilität ergibt sich, so das Ergebnis, aus vielen genetisch beeinflussten persönlichen Eigenschaften, nicht nur der Intelligenz. Vgl. Eva Krapohl u.a.: The high heritability of educational achievement reflects many genetically influencend traits, not just intelligence

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Von Professor Gerald Wolf.

„Die Tücken des Erblichkeitsbegriffs – Eine Antwort auf Thilo Sarrazin“ hieß ein Beitrag von Karl-Friedrich Fischbach und Martin Niggeschmidt , der sich auf einen Text von Thilo Sarrazin bezog. Es war gleichsam eine Selbstrezension zu ihrem soeben erschienenen Buch: „Erblichkeit der Intelligenz. Eine Klarstellung aus biologischer Sicht„. Eine Klarstellung, in der die Autoren klarzustellen versuchen, dass sich die Aussagen der Genetik zur Vererbbarkeit der Intelligenz dem politischen Zeitgeschmack folgend recht einfach hinbiegen lassen. Das kann nicht unwidersprochen bleiben.

Seit jeher tun sich Politiker und Sozialwissenschaftler mit der Genetik schwer, ganz besonders dann, wenn es um die Vererbung der Intelligenz geht. Diese Last tragen zu helfen, versuchen die Autoren des oben genannten Buches, indem sie die Wirksamkeit von Genen bei der individuellen Ausformung der Intelligenz so weit wie möglich in Abrede stellen. Am Ende der Lektüre muss man den Eindruck haben, als sei die Vererbung von Anlagen zur Intelligenz lediglich Hirnprodukt einiger weniger reaktionärer Genetiker und nicht dem Bereich der Tatsachen zugehörig.

Gewiss, die Welt wäre viel einfacher zu begreifen und sicherlich auch viel schöner, würden wir Menschen uns in genetischer Hinsicht gerade einmal von den Tieren unterscheiden, untereinander aber identisch sein. Dann wären jegliche Unterschiede zwischen den Menschen allein durch die Umwelt bedingt, und diese könnte man zum Guten hin nach Belieben formen. Mit solch utopistischer Einstellung feierten einst die sowjetischen Genetiker Mitschurin und Lyssenko politische Triumphe.

Wenn es um die Vererbung der Intelligenz geht hat das Wort „umstritten“ Hochkonjunktur

Sie machten sich damit bei Stalin sehr beliebt, während er – Väterchen Stalin, wie er sich gern nennen ließ – kritisch eingestellten Genetikern mit dem Gulag aufwartete. Im sowjetischen Einflussbereich wurde der Lyssenkoismus als „Feldzug gegen die gegen die faschistische und bourgeoise Genetik“ zur Staatsdoktrin. Auch in der DDR. Diese Schmach wirkt bis heute fort, so dass man in Kreisen mit sozialutopischen Tendenzen nunmehr vorzieht, von „umstrittenen“ Hypothesen zu sprechen, ganz besonders eben dann, wenn es um die Vererbung der Intelligenz geht.

In diesem Sinne, nämlich sich genetikfernen Kreisen anzudienen, ist das Buch von Fischbach und Niggeschmidt geschrieben. Vor den Augen des Lesers wird mit Begriffen und terminologischen Missverstehbarkeiten gespielt, um – ideologisch intendiert – den Leser zum Schluss gänzlich in die Unbestimmtheit zu entlassen. So wie die Autoren zudem die von ihnen ausgewählte Literatur interpretieren, wird sehr schnell klar, dass (wie einer der Rezensenten befriedigt feststellt) „Sarrazin und seine Vordenker nicht nur die gesellschaftliche Natur des Menschen verkennen, sondern dass ihnen auch naturwissenschaftliche Grundkenntnisse fehlen“.

Auf das mächtige Instrument der Zwillingsforschung gehen die Autoren gar nicht ein, geschweige denn auf deren Ergebnisse. Stattdessen Polemik, wo sachliche Auseinandersetzung gefragt wäre. Es gibt weder einen Hinweis darauf, dass die Bestimmung der Intelligenz zu den schärfsten Testverfahren der Psychologie gehört, noch eben, dass die genetischen Voraussetzungen der so gemessenen Intelligenz über die der Umwelt eindeutig dominieren. Und das durchaus auch unabhängig vom jeweiligen Bildungsstand der untersuchten Personen. Weltweit hunderte von Studien, zumal Zwillings- und Adoptionsstudien, haben das gezeigt. So unbezweifelbar, dass es hierzu kaum noch weitere Forschung gibt.

Dem Problem genetisch bedingter Intelligenzunterschiede ist nicht durch Leugnen beizukommen

Dem Problem genetisch bedingter Intelligenzunterschiede ist nicht durch Leugnen beizukommen, vielmehr muss in einer wahrhaft humanen Gesellschaft alles getan werden, um jedem seinen individuellen Anlagen gemäß und möglichst weitgehend zu einem persönlichen Optimum zu verhelfen. Theodor Storm hatte Ähnliches im Sinn: „Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat.“

Übrigens, was in der gesamten Debatte um die genetische Veranlagung zur Intelligenz fehlt, ist eine klare Aussage der für den Problemkreis zuständigen Fachverbände. Bangt man dort um die staatlichen Forschungsgelder? Etwa so wie die Klimatologen, wenn es um den angeblich CO2-bedingten Klimawandel geht?

Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern stammen von ihm drei Wissenschaftsromane.