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Religion ist gefährlich

An Gott zu glauben, 
ist menschlich und vernünftig. Religion aber ist gefährlich.

Von Roger Köppel

Zum Abschluss des Jahres möchte ich versuchen, etwas über Religion zu schreiben. Das ist natürlich ein heikles Thema. Zumal ich nicht religiös bin, aber daran glaube, dass es ­einen Gott gibt, der an uns glaubt.

Ein religiöser Mensch ist für mich ein Mensch, der besonderen Wert auf die Verbindung zwischen sich und dem lieben Gott legt. Er glaubt, Gott besonders nahezustehen, näher jedenfalls als andere, weniger religiöse Menschen.

Wer sich Gott näher wähnt als andere, neigt zur Selbstüberhöhung.

Er empfindet sich als besserer Mensch, als Gutmensch.

Der Religiöse erliegt einem zweiten Irrtum. Er bildet sich ein, er könne Gott durch eigene Leistung näherkommen.

Er ist der Meinung, die Zuneigung Gottes ­lasse sich gezielt erwerben. Man muss sich nur genügend anstrengen.

Das war ungefähr die Vorstellung, die mir meine Grossmutter einzuimpfen versuchte, als sie mich jeden Abend aufforderte, zu beten: «Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich zu Dir in den Himmel komm, amen.»

Damit das Gebet aber seine segensreiche ­Wirkung entfalten könne, drängte sie, müsse ich vorher zwingend die Sauordnung in meinem Zimmer aufräumen. Andernfalls sei nicht nur sie böse, sondern auch der liebe Gott.

Ich merkte früh: Wer von Gott redet, redet möglicherweise von sich selbst.

Heute durchschaue ich den Unsinn: Der allmächtige Gott kann unmöglich allmächtig sein, wenn Kinderverse und ein aufgeräumtes Spielzimmer genügen, um seine Gunst in die ­gewünschte Richtung zu lenken.

Ein Allmächtiger, der sich so leicht bestechen lässt, ist nicht allmächtig.

Aber einen Irrtum zu durchschauen, heisst noch nicht, ihn zu vermeiden. Die meisten ­Religionen behaupten nach wie vor, der Mensch könne durch sein «gottgefälliges» Wirken dem Allermächtigsten gefallen, ihn günstig und gnädig stimmen.

Im Kanton Zürich engagieren sich derzeit prominente protestantische Geistliche gegen die Unternehmenssteuerreform III. Vermutlich sind auch sie der Ansicht, mit ihren Anliegen beim Allmächtigen zu punkten.

Die Idee, der Mensch könne durch eigene Handlungen auf Gott einwirken, ist falsch, aber sie ist verführerisch. Es ist kein Wunder, dass so viele daran glauben.

In einer Welt, in der wir uns nicht einmal der ungeteilten Aufmerksamkeit unserer Freunde, unserer Kinder oder unserer Ehefrauen sicher sein können, ist die Aussicht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit des Allmächtigen berauschend, eine übersinnliche Aufputschdroge.

Mehr noch: Der liebe Gott, der Schöpfer des Universums, schaut uns ja nicht nur selbstvergessen zu. Er betreibt darüber hinaus auch eine exakte moralische Buchführung unseres Handelns. Er schreibt ein umfassendes Zeugnis, das bei einer bestimmten Gesamtpunktzahl automatischen Zugang zum Paradies verspricht.

Nicht Gott entscheidet, wer in den Himmel kommt, sondern der Mensch hat es in der Hand, wie Gott entscheiden wird.

Nach dieser verlockenden, wenn auch irrigen Idee ist Gott eigentlich gar nicht der Chef, sondern ein freundlicher Wunscherfüller, ein sympathischer höherer Handlanger des Menschen.

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Fast spurlos geht hier die Anbetung Gottes in die Selbstanbetung des Menschen im ­Namen Gottes über. Leute, die glauben, Gott ­interessiere sich für ihre Handlungen, reden von Gott, aber eigentlich meinen sie sich selbst. Ihre Gottesverehrung ist im Grunde Selbstvergottung.

Das ist nicht harmlos. Menschen, die sich der Anmassung hingeben, sie ­seien in der Lage, Gott zu lenken, fühlen sich mit Gott im Bunde, exklusiv befreundet, sie glauben ihn zu verstehen, zu durchschauen.

Da ist es nur ein kleiner Schritt, bis sich diese grössensüchtigen Gottesfreunde für Gottes Sachwalter und Willensvollstrecker auf Erden halten.

Früher salbten die Päpste die Schwerter, mit denen christliche Gotteskrieger im Nahen ­Osten die Köpfe der Ungläubigen abschlugen.

Heute sind es fanatische Muslime, die sich als Werkzeuge eines göttlichen Heilsplans wähnen, wenn sie mit Lastwagen in Menschenmengen rasen, um dort möglichst viele Nichtmuslime oder aus ihrer Sicht falsch- oder zu wenig recht­gläubige Muslime zu ermorden.

Es liegt in der Natur des Menschen, beim ­Anblick des Universums die Frage nach dem Ursprung aufzuwerfen. Es ist menschlich, sich ein höchstes Wesen, eine Urkraft, einen Gott zu denken.

Überall dort allerdings, wo es einen Gott gibt, besteht das Risiko, dass Menschen seinen Platz einnehmen wollen. Gott ist eine mächtige ­Waffe. In den falschen Händen richtet sie enormen Schaden an.

Diese Gefahr erkannten vor 500 Jahren die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin. Sie riskierten ihr Leben, um gegen die Selbstvergottung des Menschen anzutreten.

Ihre Botschaft veränderte die Welt: Mensch ist Mensch, Gott ist Gott.

Es darf keine Vermischung geben. Gott liebt die Menschen, auch die bösen, schlechten. Gott ist da, aber nicht verfügbar. Niemand ist Gottes Willensvollstrecker auf Erden.

Die Reformatoren retteten den Glauben vor der Verführung durch die Macht. Sie schützten Gott vor dem Missbrauch durch die Menschen.

Der geniale Schweizer Theologe Karl Barth verweigerte als Lehrer in Göttingen seinen Professoreneid auf den vergötterten Nazi-Führer Adolf ­Hitler. Nach dem Krieg freilich war er der Erste, der seine Hand nach den verfemten Deutschen ausstreckte.

Der Religiöse hält sich für etwas Besseres. Der bloss Gläubige weiss, dass wir alle in der gleichen Sauce stecken.Reformation: Das ist die dauernde Befreiung des Glaubens von seiner religiösen Verseuchung.