Kategorie-Archiv: Literatur

Eine neue Erzählung von Evelyn Kremer: Tod der Schwiegermutter

Tod der Schwiegermutter

von Evelyn Kremer

 

Mir gegenüber, in der U-Bahn, saßen zwei kräftige Frauen mittleren Alters. Sie wirkten beide etwas dümmlich aber sehr selbstzufrieden. Ein wenig ähnelten ihre Gesichter zwei kleinen Schweinchen. Sie trugen figurbetonte, pastellfarbene Hosen, unter denen sich die Speckschwarten abzeichneten und ihr Ausschnitt ließ tief blicken. Breitbeinig und fest saßen sie auf ihrem Sitz in der wackelnden Bahn. Ihre Brüste wippten. Mir fiel auf, dass die beiden Damen eine kleine Goldkette mit einem Kreuz um den Hals trugen. Ihren Gesichtern sah man allerdings keinerlei Frömmigkeit an: Beide wirkten eher durchtrieben. Eventuell waren sie Schwestern. Die eine hatte braune, die andere hellblond gefärbte Haare. Beide waren tief gebräunt, am Hals und Decolleté faltig. Sie trugen einige Goldringe an ihren dicken Wurstfingern und billige aber blinkende Taschen.

Ich lauschte ihrem Gespräch. Sie unterhielten sich über den Tod der Schwiegermutter. Die Schwiegermutter war wohl erst vor Kurzem gestorben und hatte keinerlei Geld für die Beerdigung hinterlassen. Die Blonde regte sich über die Verwandten auf, die ebenfalls keinerlei Ersparnisse hatten, um die Beerdigung zu bezahlen. So waren sie und ihr Mann auf jeglichen Kosten der Trauerfeier sitzen geblieben. Sie rechnete vor, dass ihr Mann und sie von dem Geld mindestens vier Kreuzfahrten hätten machen können. Weil alles so teuer gewesen sei, hätten sie nur einen hässlichen Sarg aus Polen bestellen können. Auf Blumen mussten sie auch verzichten. Außerdem wussten sie nicht, wie lange sie den Liegeplatz auf dem Friedhof noch zahlen könnten.

Die Blonde sagte, dass sie zu der Schwiegermutter sowieso nie ein gutes Verhältnis gehabt habe und sie immer nur besuchte, wenn es unbedingt notwendig gewesen war. Auch ihr Mann habe sich eigentlich nie um die Mutter gekümmert, da sie eine sehr schwierige Frau gewesen und immer störrischer geworden sei. Ständig habe sie ihren Sohn wie einen kleinen Jungen behandelt. Am Schluss habe sie in ihrer eigenen kleinen Welt gelebt, nur noch Lotto gespielt und Kreuzworträtsel gelöst. Die Geschwister des Mannes der Blonden wohnten weiter weg, so dass die Mutter allein im Fernsehsessel gestorben sei. Erst nach zwei Tagen habe man sie gefunden. Neben ihrem Sessel stand ein kleiner Tisch mit einem halbvollen Glas und einer Flasche Eierlikör. Der Fernseher lief noch. Als man sie spät abends fand, lief gerade ein Erotikfilm. Die Nachbarn hatten sich über das „schlimme“ Stöhnen gewundert und gedacht, dass es der Nachbarin nicht gut gehe. Man hatte dann die Polizei gerufen und die Tür aufgebrochen. Die Wohnung stank stark nach Zigaretten, weil die Verstorbene bis zum Schluss zwei Päckchen pro Tag geraucht hatte. Die Blonde sagte, dass die Schwiegermutter im Sarg „richtig gelb“ ausgesehen habe und es aus dem Sarg sogar nach Zigaretten gerochen hätte.

„Eigentlich ein netter Tod – so vor dem Fernseher“, sagte die Braunhaarige. „Ich würde gerne währen der Sendung Traumschiff sterben mit meinem Hund auf dem Arm und bei einem kühlen Bier im Sommer bei offener Balkontür“. Beide lachten. Die Blonde fuhr fort in ihrer Erzählung: Bei dem letzten Besuch der Schwiegermutter hatte diese ihren Kindern gegenüber geäußert, dass sie gerne in ihrer Heimat, in Italien, begraben werden wolle. Beide Frauen lachten wieder und die Blonde sagte: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Sie flüsterte der anderen zu, dass der Leichentransport nach Italien mindestens zehntausend Euro gekostet hätte. Sie regte sich nun darüber auf, dass die Schwiegermutter so etwas verlangen konnte, wo sie doch selbst keinen Pfennig hinterlassen und das Geld beim Lotto lieber verspielt habe. Der Grund für ihren letzten Wunsch war wohl gewesen, dass sie sich von all ihren Kindern vernachlässigt fühlte und sie gerne in der alten Heimat begraben worden sei. Nun lag sie nicht auf dem Friedhof am Meer unter Olivenbäumen ihrer Heimatstadt in Italien, sondern auf einem reinlich deutschen Friedhof in einem Einzelgrab, säuberlich umringt von weißen Kieselsteinen. Auf der noch unbepflanzten Erde hatten Verwandte zwei rote Geranien in einem schwarz-weißen Blumentopf platziert, die inzwischen vertrocknet waren. Der Friedhof befand sich direkt am Standrand einer Kleinstadt, angrenzend an das Industriegebiet.

Dann erzählte die Blonde von der Beerdigung. Zum Zeitpunkt der Beerdigung war das Testament noch nicht eröffnet worden. Deshalb seien alle Verwandte scheinheilig angereist und täuschten bei der Beerdigung große Trauer vor. Viele der Verwandten hatten die Verstorbene jahrelang nicht gesehen. Sie vermuteten, dass die Verstorbene einiges an Geld von ihrer reichen Schwester geerbt hätte und jeder einzelne dachte, dass er im Testament eventuell berücksichtigt worden sei. Für große Aufregung sorgte ein allen unbekannter Herr bei der Beerdigung: Dieser gab an, der Freund der Verstorbenen gewesen zu sein. Er sagte, dass er die Verstorbene vor acht Monaten auf einer Singleplattform für Rentner kennengelernt habe und viel Zeit mit ihr verbracht habe – lachend sagte er, dass die Verstorbene „ein heißer Feger“ gewesen sei. Viele der Verwandte fürchteten, dass die Alte dem Freund das übrige Geld vermacht habe.

Nach der Beerdigungszeremonie in der Kirche war die ganze Gesellschaft in ein schäbiges Restaurant neben dem Friedhof gegangen. Hier heuchelte man bei billigen, belegten Wurst- und Käse-Broten, dünnem Kaffee und trockenem Kuchen Interesse an den anderen Gästen vor, lediglich um sie auszuhorchen und um zu erfahren, ob von dem Geld schon etwas verteilt worden sei. Niemand sprach über die Verstorbene. Nach der Testamentseröffnung am Nachmittag, die nur fünf Minuten dauerte, verließen alle Verwandte schweigend mit verzogenen und griesgrämigen Gesichtern den Notar und verabschiedeten sich gegenseitig kaum. Die Blonde sagte, dass man sich bestimmt erst bei der nächsten Beerdigung wiedersehen würde, in der Hoffnung, dass es hier endlich etwas zu holen gäbe. „Die haben alle selbst nichts erreicht im Leben und die letzte Hoffnung ist dann ein Erbe“, sagte sie.

„Wie schäbig und was für ein Theater“, sagte die Braunhaarige. „Da bildet man sich sein ganzes Leben ein, etwas Besonderes und wichtig für andere Menschen zu sein und dann so eine Beerdigung.“

Die U-Bahn hielt. Die beiden Frauen hätten fast den Ausstieg verpasst. Sich gegen die Schwerkraft aufbäumend erhoben sie sich schnell von ihrem Sitz und wackelten mit schnellem Schritt zum Ausgang der Bahn. Schade. Ich hätte sie gerne weiter belauscht.

Hamed Abdel-Samad: „Der islamische Faschismus. Eine Analyse“.

Zum Interview kommt Hamed Abdel-Samad zusammen mit drei Polizisten. Der Personenschutz ist notwendig. Kritiker haben gedroht, ihn umzubringen. Auslöser war ein Vortrag, den er im vergangenen Juni in Kairo gehalten hat. Das Thema: religiöser Faschismus in Ägypten. Kurz darauf rief ein Professor der Kairoer Al-Azhar Universität live im Fernsehen dazu auf, den Buchautor zu töten. Eine Mord-Fatwa. Abdel-Samad zählt zu den Islamkritikern, die von Islamisten weltweit am meisten gehasst werden. Auch sein neues Buch dürfte dem Politikwissenschaftler viel Hass einbringen. Er vergleicht darin faschistische Regime des vergangenen Jahrhunderts mit heutigen islamistischen Bewegungen. Seine Diagnose:

Faschismus ist eine politische Religion, die einen charismatischen Führer in der Mitte hat. Faschismus verachtet die Feinde dermaßen, dass man sie entmenschlicht und Massenvernichtung duldet. Das ist bei beiden Bewegungen vorhanden. Faschismus als Ideologie ist ein Wegbereiter für Gewalt. Faschismus teilt die Welt in Gut und Böse. Das tut der Islamismus auch. Der Faschismus geht von der Auserwähltheit seiner Gruppe aus. Das tut der Islamismus auch. Der Faschismus will die Welt beherrschen, und das will der Islamismus auch. Das ist Faschismus islamischer Prägung.“

Abdel-Samad sieht zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den faschistischen Regimen Deutschlands und Italiens im 20. Jahrhundert und heutigen islamisch geprägten Regierungen und islamistischen Gruppen. Etwa den Kampf gegen die Moderne, die Aufklärung und die Juden, außerdem die Glorifizierung des Militärs. Autorität statt Freiheit, Gemeinschaft statt Individuum. Es sind heikle Thesen, die der Politikwissenschaftler vertritt. Und es ist ihm klar, dass jeglicher Vergleich mit dem Nationalsozialismus schwierig ist – insbesondere für ein deutsches Publikum.

Vergleichen bedeutet nicht automatisch gleichsetzen. Die zwei verspäteten Nationen Italien und Deutschland hatten andere Voraussetzungen. Der Islamismus ist auch eine verspätete Bewegung, kann auch mit dem Nationalismus verglichen werden, hat auch versucht diese Rolle, die der Nationalismus in Europa gespielt hat, zu spielen als Identitätsstifter für die Völker.“

Es hilft seinem Buch, dass es Abdel-Samads darin weniger um den Vergleich historischer Fakten geht als um die Gegenüberstellung von Ideologien und Geisteshaltungen. Was also haben Faschismus und Islamismus seiner Ansicht nach gemeinsam?

Die Parallele beginnt für mich mit der Spannung zwischen den eigenen Realitäten und der Weltrealität. Das war in Italien und Deutschland sehr deutlich. Dass man eigentlich eine Niederlage erlebt hat und gleichzeitig sich gewünscht hat, die Welt zu beherrschen. Der Islamismus nach dem Sturz des Osmanischen Reiches war genau in der gleichen Krise. Man erlebte eine Demütigung, eine Erniedrigung, eine Niederlage und wünschte sich eine Metamorphose, eine Wiedergeburt der islamischen Nation, Umma, Kalifat und hat diese Ideologie Islamismus benutzt, um diesen Wiederaufbau zu erreichen.“

Verschiedene Länder als Beispiele

Um seine Thesen zu belegen, hat der Politikwissenschaftler religiös geprägte Regierungen in Ländern wie Ägypten, Tunesien oder dem Iran untersucht.

Der Iran ist das erste muslimische Land, das den modernen islamischen Faschismus als Staatsdoktrin durchgesetzt hat. Seit über 35 Jahren dienen die faschistoiden Züge des Islamismus als Eckpfeiler der islamischen Republik: Hinrichtung von Regimegegnern, totale Überwachung der Bürger, (dpa/picture-alliance/epa Taherkenareh)Auch die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten ist für den Autor ein Merkmal. (dpa/picture-alliance/epa Taherkenareh)und aggressiver Antisemitismus.“

Daneben dienen dem Politikwissenschaftler islamistische Gruppen als Vergleichsbeispiele. Die palästinensische radikal-islamische Hamas, die ägyptische Muslimbruderschaft oder die libanesische Hisbollah.

Kaum eine Bewegung hat die Grundzüge des Faschismus so eins zu eins kopiert und in die Tat umgesetzt wie die Hisbollah: Der Antisemitismus ist Leitmotiv, es gibt die bewaffnete Schwarzhemden-Miliz, es gilt der unbedingte Gehorsam und die Gefolgschaft zum Führer, Kampfbereitschaft und Tod werden verherrlicht.“

In seiner Analyse geht der Islamkritiker allerdings noch weiter. Denn er sieht die eigentlichen Wurzeln des aggressiven Islamismus im Ur-Islam in dessen Jahrhunderte alter Lehre und Geschichte. Aus dem Koran und dem Beispiel Mohamed beziehe der heutige – Zitat – „Islamofaschismus“ seine eigentliche Sprengkraft.

Es waren nicht die Islamisten, die den Dschihad-Prinzip erfunden haben. Das war der Islam. Es waren nicht die Islamisten, die damit angefangen haben, die Welt in Gläubige und Ungläubige aufzuteilen. Das war der Islam. Islamisten haben nicht den Machtanspruch des Islam erfunden, sondern das ist im Koran verankert.“

Keine Probleme mit der spirituellen und sozialen Seite

Als Beleg dafür erzählt der Autor zahlreiche Geschichten aus dem Koran, in denen Mohamed die Stadt Medina von Juden und Christen säubern lässt oder Milizen aufstellt, die Oppositionelle töten. Leider lässt der Autor seine Leser streckenweise darüber im Unklaren, ob er nun den Islam insgesamt als faschistisch ansieht oder der Weltreligion nur faschistische Züge attestiert. Im Interview aber betont er, dass er die juristische und politische Seite der Religion als faschistisch betrachte, während er mit den spirituellen und sozialen Facetten des Islams keine Probleme habe.

Das ist die letzte Hoffnung für den Islam, dass er klar zwischen der politisch-juristischen Seite und der spirituellen und der sozialen Seite unterscheidet. Die juristisch-politische Seite baut eine geistige Mauer zwischen Muslimen und dem Rest der Welt. Wenn Muslime ihre Religion friedlich ausleben können, dann sollten sie sich von dieser juristisch-politischen Seite trennen, damit sie im 21. Jahrhundert endlich ankommen.“

Wie seine bisherigen Veröffentlichungen ist auch das neue Buch von Hamed Abdel-Samad eine sachliche Analyse und keine Anklageschrift. Der Politikwissenschaftler schreibt und argumentiert ohne Zorn und Eifer in einem unaufgeregten Ton – völlig frei von Häme, Verachtung oder Polemik. Und so lohnt sich auch die Lektüre dieses Buches, weil es dabei hilft, die Motivation religiöser Fanatiker besser zu verstehen.

Hamed Abdel-Samad: „Der islamische Faschismus. Eine Analyse“.
Verlag Droemer, 221 Seiten, 18,00 Euro.

Neue Erzählung von Evelyn Kremer: Letzter Spaziergang zu Zweit

Letzter Spaziergang zu Zweit
Sie waren extra früh aufgestanden. Es war einer der ersten Frühlingstage. Schon morgens war der Himmel blau. Aber es war noch kalt. Sie zogen sich warme Jacken an, schlossen die Tür hinter sich und stiegen ins Auto. Es war Sonntag und die Straßen der Stadt waren leer. Ohne zu sprechen, fuhren sie Richtung Autobahn. Raus aus der Stadt. Erst langsam wurde es warm im Auto.
Als er auf der Autobahn etwas schneller fuhr, wurde sie nervös. „Fahr langsam“, sagte sie und schaute vorwurfsvoll zu ihm. Sie versuchte, ruhig zu wirken. „Das passt ins Bild“, dachte sie. „Warum kann er nicht fürsorglicher sein?“ Er fuhr kurz langsamer, machte dann laute elektronische Musik an – ohne zu sprechen. Ohne zu fragen, ob ihr die Musik gefiel.
Er war genervt. Im Grunde genommen, kotzte ihn alles an. Er schaut zu ihr hinüber; Schaute in ihr ungeschminktes Gesicht. Dann schaute er auf ihren Bauch. Der Bauch war groß. Riesig. Er war die letzten Wochen immer größer geworden. Je größer der Bauch wurde, desto mehr Angst hatte er und desto fremder war sie ihm geworden.
Auch sie selbst war sich fremd. Wenn Sie in den Spiegel schaute, kam ihr Körper ihr unwirklich vor. Die Brüste waren groß, ihre Haut wirkte aufgedunsen und ihre Kleider passten nicht mehr. Hinzu kamen die starken Rückenprobleme – so dass sie in den letzten Tagen nur noch liegen konnte.  Die Wohnung war unaufgeräumt. Genauso, wie es in ihrem Inneren aussah.
Seit einer Woche verließ sie heute zum ersten Mal die Wohnung. Sie wusste, dass dies ihr letzter Ausflug zu Zweit war. Schon in wenigen Tagen würde sie für die Entbindung im Krankenhaus sein, um anschließend mit einem kleinen Wesen das Leben zu Dritt zu beginnen. Sie freute sich auf ihre Tochter. Sie hatte sich immer ein Kind gewünscht. Aber auch sie hatte Angst – vor dem Leben danach. Wird alles anders sein?
Sie schaute ihn unauffällig an. Er wirkte angespannt. Sie fasste Mut und streichelte ihn an der Schulter; Ein kurzes, unsicheres Lächeln zuckte über sein Gesicht. Er wollte stark wirken. Erneut erhöhte er die Geschwindigkeit des Autos. Kurz kam ihm der Gedanke, dass es schön wäre, jetzt alleine im Auto zu sitzen und einfach immer weiter und weiter zu fahren. Weit weg.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, parkten sie und stiegen aus. Immer noch hatten sie kein Wort gesprochen. Sie hatte Schwierigkeiten, aufzustehen und aus dem Auto zu kommen. Er half ihr. Sie sagte: „Lass uns langsam laufen.“
Es war schön hier. Die Bäume waren noch kahl, aber die Sonnenstrahlen ließen den Wald freundlich aussehen. Die Äste der Bäume warfen lange Schatten. Endlich hört man wieder Vögel. Auf dem Waldboden zeigten sich die ersten grünen Spitzen von Gräsern.
Sie liefen in den Wald hinein. Der Weg war matschig. Vorsichtig nahm er ihre Hand. Sie freute sich über das zärtliche Zeichen. Wie oft hätte sie in den letzten Wochen eine Umarmung von ihm gebrauchen können. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass er sich genauso freuen würde wie sie – über das Kind. Stattdessen war es ihm in den letzten Wochen schlecht gegangen: Nur mühsam schleppte er sich zur Arbeit und er war noch stiller geworden als zuvor.
Wenigstens hier im Wald konnte man tief durchatmen. Die Luft war frisch. Es roch nach Holz und vermodertem Laub. „Unser letzter Spaziergang zu Zweit“, sagte sie und schaute ihn an. Er blieb stehen. Sie blieb stehen. Sie umarmten sich. Er musste sich für die Umarmung stark vorbeugen wegen ihrem großen Bauch.
Das Kind verband sie, war aber gleichzeitig zwischen ihnen. Immer öfter drängte es, endlich das Licht der Welt zu erblicken. Es boxte und trat. Es würde süß aussehen, aber gleichzeitig egoistisch sein. Es würde schreien – auch in der Nacht. Ohne Rücksicht auf die Eltern. Mindestens sechzehn Jahre würde es nun die Gedanken der Eltern steuern, würde diesen schlaflose Nächte bereiten und ihnen gleichzeitig sehr glückliche Momente bescheren. „Welchen Charakter wird es haben?“, dachte sie.
Tausend weitere Gedanken schossen den beiden jungen Eltern während des Spaziergangs durch den Kopf. Sie schauten sich an und erinnerten sich daran, wie sie sich das erste Mal geküsst hatten. Beide hatten Tränen in den Augen. „Wir schaffen das“, sagte er. Sie schluckte.
Eigentlich dachte er immer, der Stärkere von beiden zu sein. Aber in den letzten Monaten hatte sich das geändert. Oft wunderte er sich, wie stark sie war und wie stark sie wirkte. Sie würde eine gute Mutter sein. Er zweifelte, ob er ein guter Vater sein würde. Wieder hatte er Angst. Vielleicht würde sich alles ändern, wenn das Kind da war. Er hoffte.
Sie dachte daran, dass eigentlich alles vorbereitet sei. Das Kinderbett war aufgebaut, der Kinderwagen stand bereit und die Freundinnen und Eltern hatten ihr bereits Kleidungsstücke für das Baby geschenkt. Viele rosafarbene Dinge. Alles sehr kitschig. Sie wünschte sich jetzt nichts sehnlicher, als endlich ihre Tochter in den Armen zu halten.
Hand in Hand gingen sie weiter den Weg entlang. Sie liefen noch lange in den Wald hinein. Die meiste Zeit schweigend.
Nach dem Rückweg, kurz vor dem Auto, spürte sie ein starkes Ziehen im Bauch. Fast hätte sie sich übergeben vor Schmerzen. Sofort wusste sie, dass es jetzt nur noch wenige Stunden bis zur Geburt sein konnten. Sie sagte nichts. Sie hatte Angst, dass er zu nervös werden würde. Ruhig stieg sie ins Auto und ließ sich nichts anmerken. Ihr Körper entwickelte ungeahnte Kräfte. Sie spürte, dass das Kind unruhig wurde und raus wollte in die Welt. Um das Leben kennenzulernen.
Erst als sie wieder in der Stadt waren sagte sie mit ruhiger und gefasster Stimme zu ihm: „Lass uns direkt in die Klinik fahren. Meine Sachen kannst du später bringen.“ Er schaute sie mit großen Augen an und wurde blass.
Als sie im Krankenhaus ankamen, ging alles sehr schnell. Danach war alles anders. Zu Dritt. 

S.Y. Agnon: The Great Genius of Jewish Literature

The Bridal Canopy

by S.Y. Agnon, translated from the Hebrew by I.M. Lask

444 pp., $19.95 (paper)

To This Day

by S.Y. Agnon, translated from the Hebrew by Hillel Halkin

186 pp., $24.95; $14.95 (paper)

A Simple Story

by S.Y. Agnon, translated from the Hebrew by Hillel Halkin

259 pp., $16.95 (paper)

Shira

by S.Y. Agnon, translated from the Hebrew by Zeva Shapiro

811 pp., $19.95

Agnon HouseS.Y. Agnon, 1908

S.Y. Agnon (1888–1970), who was awarded the Nobel Prize for Literature in 1966, is the one modern master among writers of Hebrew fiction. Jeffrey Saks has undertaken a heroic task in assembling the Agnon Library, using existing translations, which generally have been revised, and commissioning English versions of previously untranslated books. It is not quite a complete works because some books could not be included for reasons of copyright or on other grounds. The most unfortunate omission is Agnon’s modernist masterpiece, Only Yesterday (1945), a wrenching and richly inventive novel about a naive young Zionist’s failed attempt to take root in the land, which unfolds in Jaffa and Jerusalem in the early years of the twentieth century.

Shmuel Yosef Agnon (his original family name was Czaczkes) was born in Buczacz, a town of about 15,000, over half of whom were Jews, that at one time belonged to Poland, was part of the Austro-Hungarian Empire from the late eighteenth century until the end of World War I, and is now in western Ukraine. In an Orthodox home, under the supervision of his learned father, he was given a thorough education in the classic Jewish texts, from the Bible with its medieval Hebrew exegetes to the Talmud, and he would draw on this background extensively throughout his career. But his family also engaged a German tutor for him, and he read Goethe, Schiller, and other German writers with his mother. The adolescent Agnon was drawn to Zionism, a movement then less than ten years old, and in 1908, when he was nineteen, he immigrated to Palestine.

Like most of the young Zionists of that era, he proceeded to abandon the religious practice of his childhood. The Hebrew stories he began to publish in Palestine quickly attracted attention, the first being Agunot (“Abandoned Women”), a story of unhappy lovers written as if it were a folktale, from which he took his rather somber new name.

In 1913, for reasons that remain obscure, he moved to Germany. Whether or not he intended a long stay, he was caught there by World War I, and he did not return to Palestine until 1924, married and with two children. He settled permanently in Jerusalem and returned to Orthodox observance. He appears to have used his German years to immerse himself in European culture while continuing to write Hebrew fiction. He also did some teaching at Franz Rosenzweig’s Frankfurt Lehrhaus, collaborated with Martin Buber in collecting Hasidic tales, and began a lifelong friendship with Gershom Scholem, the great historian of Jewish mysticism.

Agnon is in some respects an anomalous modernist. Early on, he had an affinity for European gothic writers, and gothic motifs such as the Dance of Death, ghostly brides, and revenants occur in many of his stories. He might, one conjectures, have been drawn to Thomas Mann’s recurrent theme of the conflict between eros and the calling of the artist and to Mann’s use of narrative leitmotifs. The dreamlike surrealist stories Agnon began to write in the 1930s are in some ways reminiscent of Kafka, though in one interview he vehemently denied any connection, saying that he had only one or two books by Kafka on his shelves and that the main thing for him as a writer was what the Holy One inspired in his heart. With characteristic slyness, he added that his wife, on the other hand, owned Kafka’s collected works.

In a 1916 letter to Salman Schocken, the department store magnate and, later, publisher who became his patron, he expressed his profound admiration for Flaubert, whom he would have read in German translation. This was a writer, he said, “who mortified himself in the tent of art,” pointedly substituting “art” for “Torah” in a well-known rabbinic idiom. Flaubert was his model for the painstaking devotion to the writer’s craft—Agnon assiduously revised much of his work, and in the years immediately after World War I he transformed some of the effusive stories of his first decade of writing into beautifully disciplined prose. I suspect that he also learned from Flaubert the narrative technique of free indirect discourse, in which a character speaks through the voice of the narrator, which he frequently used as an instrument of psychological characterization.

Despite all this, Agnon often wrote as a traditional teller of Hebrew tales for whom the corpus of European literature was remote. In one of his stories he refers to “Homer, the master [rav] of the poets of the Gentiles,” using paytan as the word for “poet,” a term that usually designates a composer of liturgical verse. The stylistic pretense here is that Homer belongs to an unfamiliar realm, though in Agnon’s haunting novella Betrothed he has an important part in the protagonist’s fateful passion for the sea and the Mediterranean world of origins. Scholem, in an interview on Israeli television a few years after Agnon’s death, was asked by the critic Dan Miron what he made of Agnon’s Orthodoxy. Scholem shrewdly responded that for Agnon art was the crucial consideration and that he was religious because it served his purposes as an artist.

His religious identity is clearly inseparable from the unique path he chose as a Hebrew stylist, and that in turn poses a constant challenge for translating his work. “My language,” he writes, “is a simple language, the language of all the generations that preceded and of all the generations to come.” His Hebrew is essentially the Hebrew of the early rabbis, which means the Hebrew of the Mishnah and the Midrash compiled early in the Common Era, with at some moments a trace of Yiddish inflections and occasional limited concessions to the modern language. His hyperbolic invocation of “the language of all the generations” reflects his classicizing bent: for him, rabbinic Hebrew is as living and subtly expressive a vehicle as it was eighteen hundred years ago, and by using it he means his works to be similarly long-lasting.

It is scarcely the language of the most recent generation of Hebrew speakers. When I taught a graduate seminar on Agnon’s novellas at Berkeley a few years ago, several of the students were young Israelis with whom I had to spend some time in class explaining rabbinic terms and idioms and identifying the allusions to biblical and later texts. Agnon’s Hebrew, of course, is wonderfully apt for all the stories and novellas that use the device of a traditional teller of tales—who often proves to be ironic or subversive beneath the mask of tradition. In the novels and stories that deal with people in modern settings, the prose often has the effect of generating pervasive ironies because of the cultivated discrepancy between the Late Antique coloration of the Hebrew and the world of the characters, often characterized by secular values, the ambiguities of sexual freedom, and the ravages of modern war.

In view of the distinctive charm and force and the literary echoes of this writing, I sometimes have suspected that Agnon may be one of those writers, like Pushkin, who are absolutely brilliant in the original and don’t come across very well in translation. But this could not be altogether true. Walter Benjamin, reading Agnon in the German translations of his early work in the 1920s, was convinced that he was a great writer. Edmund Wilson, the first American critic to draw attention to him, came to the same conclusion in an essay for The New Yorker in the late 1950s.

The many translators Jeffrey Saks has gathered for his series by and large respond creditably to the challenge, though there is, understandably, some unevenness. Even a single ill-considered word-choice can throw a translation out of kilter. In one story, when a ragged stranger appears at a synagogue in Buczacz, we realize before long that he must be the Elijah of Jewish folklore. Again and again in this English version, he is called “the vagrant,” but the Hebrew heilekh means no such thing. A heilekh is a wayfarer, a traveler on foot, with none of the negative connotations of vagrancy, which would scarcely suit the harbinger of the messiah. Elsewhere, translations are at points marred by errors in English idiom or grammar (even “like” for “as,” or “who” for “whom.”) This is unfortunate because Agnon’s Hebrew is meticulously correct and exhibits perfect pitch in the rabbinic idiomatic usage it has adopted. These are, however, no more than small flaws.

The anomaly of Agnon as a modernist is manifested in the two quite different aspects of his fiction. Many of the novels and stories with a modern setting have a mastery of form that shows Agnon as a peer of Mann, Hermann Broch, and modernists such as Faulkner and Joyce whom he may or may not have read. (When I visited him as a student at his home in 1960, there was a copy on his desk of A Portrait of the Artist as a Young Man, just then translated into Hebrew.) But there are also works, including one important novel, A Guest for a Night (1941), that seem loosely associative, anecdotal, episodic. In texts written by some writers of the Jewish Diaspora, the critic Benjamin Harshav writes,

each detailed observation is treated for its autonomous value. Every detail is taken out of its narrative chain and observed close up; it does not lose the reader’s interest, for it belongs to one total universe, which endows each detail with rich meaning and depth.

Harshav links this kind of discourse with traditional methods of Talmud study as they have been “folklorized” in Yiddish-speaking culture, and he finds its aftermath in the writings of Freud, Kafka, Saul Bellow, and others.

In some cases, Agnon uses such episodic discourse to good artistic effect, as in A Guest for the Night, which doesn’t have much of a plot but nevertheless creates a powerful portrayal of the devastation wreaked by World War I on the narrator’s hometown, to which he has come from Jerusalem for an extended stay and where he finds a world of maimed bodies and people with the bleakest prospect for any collective future. He calls the town, here and elsewhere, Szybusz, an obvious substitute for Buczacz, which sounds like a Polish name but in Hebrew means “breakdown” or “distortion.” In other instances, the cultivation of Jewish discourse seems a little self-indulgent and can be annoying to the reader, as in his posthumously published novel, In Mr. Lublin’s Store, set in Leipzig during World War I.

Much of his longer fiction, however, follows the patterns of the European art novel, as do his exquisitely wrought novellas—And the Crooked Shall Be Made Straight (admired by Walter Benjamin), Hill of Sand, In the Prime of Her Life, Betrothed, and Edo and Enam. The most striking example of Agnon as a “European” writer is the novel A Simple Story (1935), set in Szybusz at the beginning of the twentieth century. Like many of Agnon’s stories and novels, it is a tale of doomed love. Hirshl, the passive protagonist, is hopelessly in love with his poor cousin Bluma Nacht—“night flower” in both German and Yiddish—who has come to work as a servant in his parents’ house. As prosperous bourgeois shopkeepers, however, the parents arrange a marriage for him with the daughter of an affluent farmer. After the wedding, Hirshl’s obsession with Bluma continues to grow and his mind deteriorates until he has a psychotic breakdown, brilliantly rendered by Agnon. In the end, he returns to sanity and reconciles with the wife his parents have chosen for him, but it is a reconciliation suffused with bitter irony, for it entails succumbing to their world of coin-counting, social conventionality, and complacent materialism.

A Simple Story is the most Flaubertian of Agnon’s novels, and in keeping with its French model, it is the most perfectly constructed. He often draws on Flaubert’s technique of free indirect discourse to represent Hirshl’s consciousness and his habitual failure to recognize the real nature of his own desires. Also Flaubertian is the reiteration of motifs—roosters, geese, cigarettes, coins, and much else—that have their own fraught presence and help pull the novel tightly together. And Agnon surely would have sympathized with Flaubert’s animus against the bourgeoisie. All the bourgeois figures in the novel are Jews, but they are also preeminently European, and this is a thoroughly European novel. Written between the two world wars, it feels rather like a nineteenth-century European novel. By this time, Agnon had already begun writing experimental fiction, but his major modernist novels and novellas still lay ahead.

Readers who make their way through Jeffrey Saks’s series will see that Agnon is often deeply immersed in the ancestral world of piety. He sincerely loved the sacred books that were its foundation, and he shows genuine reverence for his forebears’ devotion to God and Torah. Nevertheless, the pious impulse in his writing is not always what meets the eye, and it is well to keep in mind Scholem’s observation that the religiosity ultimately served Agnon’s aims as an artist.

S. Y. Agnon
S. Y. Agnon; drawing by David Levine

A case in point is the large cycle of stories A City in Its Fullness, edited by Agnon’s daughter after his death. The stories, some folkloric, many realistic, all take place in a Buczacz of centuries past. Agnon wrote them relatively late in life, brooding over the fate of his hometown, where almost the entire Jewish population was slaughtered on a single day by the Nazis. Though the stories are from time to time punctuated by angry denunciations of the killers, one must agree with the American scholar Alan Mintz that for Agnon “the truest response to the Holocaust is to create literarily the fullness of Jewish life before that dark shadow was cast.” Several of the early stories in the cycle are virtually hagiographic, celebrating prodigies of devotion to Torah scholarship and to the scrupulous observance of all the minute details of rabbinic law.

As the book progresses, however, we begin to encounter shocking tales of vindictiveness, greed, gluttony, and the heartless exploitation of the helpless poor. Even a story that ostensibly extols an extreme act of piety, about a man who dies of hunger in the forest, though he has food, because he refuses to eat in the absence of water for the ritual washing of hands, makes piety look like craziness. A City in Its Fullness, at first glance a loving commemoration of the ancestors whose descendants were murdered, turns out to have a subversive undercurrent, as in much of Agnon. As an artist he was too deeply committed to an unblinking vision of things as they are to sustain an aura of reverence.

“In the Forest and in the Town,” a story first published in 1938 and not yet included in the Agnon Library (it should be translated in one of the two remaining volumes), offers an instructive clue to Agnon’s larger enterprise. The first-person narrator, an adolescent, has abandoned his Talmud studies to go wandering every day in the forest outside his town, presumably Buczacz. He takes with him a copy of the Hebrew Bible but informs us that he is reading the Prophets and the Writings, possible sources of poems and stories, and not the Torah, the compendium of laws and the primary point of departure for the Talmud. He is the artist as a young man.

There is an obvious antithesis between the town, where people constantly worry about making a living, and the forest, which is represented as both edenic and wild. (The use of opposites is also suggested in the Hebrew words for “forest” and “town,” which are anagrams of each other.) In this forest, however, there lurks an escaped multiple murderer called Franciszek. That the killer bears the same name as the gentle saint who spoke to the birds is one of several reversals of received notions in the story.

The narrator’s parents are, of course, alarmed that their son should insist on continuing his visits to a dangerous place, but he is not in the least frightened by the prospect of encountering the murderer, which as readers we sense will occur. First, however, he meets an enigmatic old man who decides to tell him—their conversation would have to be in Polish—what happens in the initial chapters of Genesis, concluding with “Abel rose up and killed Cain. Of course, Cain could have killed Abel, but he who must die, dies.” The narrator makes no comment on this startling switch of killer and victim, though it will be recalled at the end of the story.

When the narrator finally comes upon Franciszek, the two speak amicably, and the escaped murderer offers the young man a swig of schnapps from the flask fastened to his belt. The narrator accepts, but before he drinks, because he is, after all, an observant Jew, he pronounces in Hebrew the requisite blessing, which ends with the words “for everything comes about through His word.” Franciszek asks him to translate and then has him repeat the words in Hebrew, shehakol nihyeh bidvaro. He ponders what the young man has told him the words mean, repeatedly muttering, “Maybe it’s so.” Then he tries to parrot the Hebrew, managing only a mangled version of the first word—tchokl. The narrator goes home, careful to reveal nothing of his meeting in the forest.

After a time, Franciszek is captured and subsequently led out for a public execution with much of the town’s population present. The townspeople show mixed feelings toward the condemned man, some wanting to see him killed, others finding themselves strangely sympathetic toward him. “But since man’s imagination,” the narrator strategically remarks, “cannot match the attribute of cruelty he possesses, they accepted despite themselves the verdict of the judges.” The narrator ends up standing close to the gallows, and as the noose is about to tighten around Franciszek’s neck, he is heard to utter a single word, tchokl. The other bystanders are perplexed, but the narrator thinks he understands: when the killer first heard the declaration “for all comes about through His word,” he wondered whether it was true; now, at the moment of death, he accepts his fate, affirming that even the cycle of violent crime and inexorable punishment is part of a divine plan.

The story turns conventional ideas upside down. The serial killer is a kind of rude philosopher; everyone, as the narrator observes elsewhere in the story, has the potential to be a killer; Abel was fated to murder Cain, though it could have been the other way around. In the forest, the narrator, manifestly Agnon’s surrogate, performs a ritual gesture prescribed by religious law in reciting the blessing, but it is the killer rather than the young Jew who thinks hard about the meaning of the words. In the wild beyond the town, a secret pact is sealed between the future artist and the criminal.

That, I would contend, is the underlying paradox of Agnon’s multifaceted project as a writer. He often presented himself to his readers and to the public eye as a modern avatar of Jewish tradition, writing in the very Hebrew in which it had been fashioned, expressing reverence for its sages and saints. But he also had a sense that there was a kinship between the artist and the outlaw. Agnon certainly cherished the knowledge that could be attained from sacred texts, and also, as an autodidact and the friend of modern scholars, he evinced some admiration for secular scholarship as an instrument of knowledge.

Yet he conceived art—as becomes clear in Shira, his posthumously published novel about eros and art, art and disease—to be the vehicle of a more profound, more perilous and painful order of knowledge than could be attained through any institution of learning, pious or secular. Endorsed by a community, whether in a yeshiva or a research library, such learning could lead one only so far. It is, finally, in his view, the artist who is prepared to take the dangerous last step into the forest where ultimate contradictions must be confronted, where he must put himself beyond the pale of received values, like his secret brother, the outlaw.

 http://www.nybooks.com/articles/2017/04/06/sy-agnon-great-genius-jewish-literature/

Literarischer Antisemitismus als ein fester Bestandteil einer ganzen Kultur

Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur

In „Das Stereotyp als Metapher“ beleuchtet Paula Wojcik sechs Romane

Von Olaf Kistenmacher

Unter dem Stichwort „literarischer Antisemitismus“ wird seit rund 20 Jahren untersucht, inwieweit die Belletristik mit daran beteiligt war, dass die moderne Judenfeindschaft zu einem „kulturellen Code“ wurde. Die Historikerin Shulamit Volkov schrieb in ihrem berühmten Essay Antisemitismus als kultureller Code, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts judenfeindliche Vorstellungen zu einem festen „Bestandteil einer ganzen Kultur“ geworden waren und so selbstverständlich schienen, dass „sogar Menschen jüdischer Herkunft“ sie übernahmen. Romane spielten bei dieser Entwicklung eine besondere Rolle, da sich die jeweiligen Erzählerinnen und Erzähler häufig aufgeklärt und vorurteilsfrei gaben und die zeitgenössische antisemitische Gewalt verurteilten. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger hat in dem Sammelband Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz diesen Mechanismus am Beispiel von Wilhelm Raabes 1864 erschienenem Roman Der Hungerpastor nachgezeichnet: Zunächst distanzierte sich der Erzähler von den Hepp-Hepp-Krawallen und, wie es bei Raabe heißt, von der „Mißachtung der Juden, die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet“. Im weiteren Verlauf stellt der Erzähler selbst die jüdische Familie Freudenstein in einer Weise dar, die, so Klüger, herablassend und verächtlich sei. Gerade indem sich der Erzähler zunächst „als toleranter Mensch legitimiert“ habe, diente laut Klüger die Kritik des gewalttätigen Antisemitismus dazu, die „negativen Eigenschaften von Raabes erfundenen jüdischen Figuren zu beglaubigen“.

Ähnliches lässt sich über Gustav Freytags Roman Soll und Haben sagen, der bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Bestseller war und in dem, wie Christine Achinger in Gespaltene Moderne. Gustav Freytags Soll und Haben schreibt, die jüdischen Figuren zwar nicht rundweg als negativ dargestellt werden, aber die abzulehnenden Aspekte der modernen Gesellschaft verkörpern: Es mangele ihnen in Freytags Roman, so Achinger, „keineswegs an Fleiß und Disziplin, sondern spezifischer am Sinn für die Arbeit in der deutschen Weise, am Sinn für Arbeit als moralischer Imperativ statt als Mittel zum Erwerb“.

Danach ließe sich fragen, ob nicht die schöne Literatur zugleich ein geeigneter Austragungsort wäre, diese Vorstellungen des modernen Antisemitismus zu unterlaufen und zu analisieren. Immerhin war die moderne Judenfeindschaft in der Literatur schon lange Thema, etwa in Klassikern des 20. Jahrhunderts wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder James Joyce’ Ulysses. 1882 veröffentlichte Fritz Mauthner den Roman Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin, um, wie er im Vorwort schreibt, dem „Pöbel höherer und niederer Stände, der sein Gift gegen den jüdischen Stamm verschwendet“, etwas entgegenzusetzen.

Paula Wojcik analysiert in ihrer anregenden Untersuchung Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur sechs Romane, die im 21. Jahrhundert erschienen sind und die judenfeindliche Vorstellungen auf der Ebene der Metaphern unterlaufen. Zu den bekannten gehören Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union und Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated, andere Titel – wie Mariusz Sieniewicz’ Żydòwek nie absługujemy (Jüdinnen werden nicht bedient) – liegen bislang nicht auf Deutsch vor. Zwar richtet Wojcik ihren Fokus auf die Post-Shoah-Literatur, doch es geht ihr explizit nicht um die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschsprachigen Literatur, weswegen sie Romane aus den USA, aus Polen und der Schweiz hinzunimmt. Mit Chabons Die Vereinigung jüdischer Polizisten oder Thomas Hürlimanns Fräulein Stark hat sie sich allerdings eine schwere Bürde aufgeladen, denn beiden Texten wurde kurz nach dem Erscheinen vorgeworfen, selbst antisemitische Vorstellungen zu schüren. Dass gerade die Schriftsteller, die im Deutschunterricht wegen ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelesen werden, selbst nicht frei sind von antisemitischen Vorstellungen, hat 2010 nicht nur der Fall Günter Grass gezeigt. Wojcik geht am Ende in ihrer Studie auf Bernhard Schlink ein, in dessen Erzählung Die Beschneidung der nichtjüdische Protagonist zum Opfer seiner jüdischen Freundin und ihrer Familie wird, indem er „für etwas angegriffen [wird], für das er nichts kann: für seine Herkunft“.

Wojciks anspruchsvolle Analysen versuchen, der Tiefenstruktur des modernen Antisemitismus, des „kulturellen Codes“, gerecht zu werden. So reiche es nicht, lediglich eine positive Darstellung von Jüdinnen und Juden zu geben, was sich als Motiv bereits im 18. Jahrhundert finde. Die antisemitischen Vorstellung müssten selbst demontiert werden. Als „eines der ersten Beispiele einer positiven Hauptfigur“ nennt Wojcik Lessings Stück Die Juden (1754), das sie dem bekannten „mustergültige[n] Toleranzstück“ Nathan der Weise dem Vorzug gibt, weil in Die Juden das stereotype Denken selbst im Fokus der Kritik stehe. Wojcik warnt vor zu großem Optimismus: Selbst eine literarische Dekonstruktion im Sinne einer Sichtbarmachung des Herstellungsprozesses sei allein nicht ausreichend, weil „auch das dekonstruierende Zitieren der Stereotype zu ihrem Fortbestehen“ beitragen könne.

Trotzdem böten Romane, Theaterstücke, Erzählungen ein Potential, denn so wie die Literatur seit mehr als zwei Jahrhunderten einerseits das Denken beeinflusse und mitgeholfen habe, Judenfeindschaft salonfähig zu machen, könnte die Belletristik andererseits das Spiel umkehren. Dabei seien Metaphern „aktiv an der Verarbeitung von Erfahrungen sowie an der Erkenntnisgewinnung“ beteiligt. Zu den grundlegenden Metaphern der Moderne gehört die Vorstellung, menschliche Gesellschaften seien wie ein menschlicher Körper und Menschen wie Pflanzen. Gesellschaftliche Probleme und Krisen erschienen demnach als Krankheiten, Personen, die die Störung tatsächlich verursachten oder nur für sie verantwortlich gemacht werden, werden als Krankheitserreger imaginiert. In Jan Koneffkes Roman Paul Schatz im Uhrenkasten gibt sich ein antisemitischer Arzt, der sich nicht als „Judenfeind“ versteht, zuversichtlich, dass er sich seine Finger „nicht an einem Juden schmutzig machen [müsse]. Das erledigt sich von alleine.“ Die Hauptfigur stellt diese Vorstellung infrage, indem sie sie wörtlich nimmt: „Was hieß das? Mußten alle Juden an einem bestimmten Tag sterben? Fielen sie einfach um wie Eintagsfliegen?“

Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet, so Wojcik, führe „jegliche Vorstellungen von territorial gebundener Identität ad absurdum“. Zu Beginn des Romans heißt es über das Schtetl, aus dem die Familie der Hauptfigur stammt, dass nicht nur die „Grenzlinie“ ständig verschoben wurde, sondern im 18. Jahrhundert „Räder an die Gebäude [angebracht wurden], um beim ständigen Hin und Her des Schtetls zwischen jüdischem und menschlichem Leben weniger Kraft zu vergeuden“. Zugleich rekonstruiert der Protagonist, der wie sein Autor den Namen Jonathan Safran Foer trägt, den Stammbaum seiner Familie. Allerdings, schreibt Wojcik, ist es am Schluss von Alles ist erleuchtet kein Spezifikum von Jüdinnen und Juden, nicht mit einem Ort verwurzelt zu sein, sondern das Schicksal aller Menschen. Sein ukrainischer Reiseführer Alex schreibt Jonathan später, dass er er sei, „und du bist du, und dass ich du bin, und du bist ich“. „Wir sprechen jetzt zusammen, Jonathan, zusammen und nicht getrennt. Wir schreiben zusammen und schreiben an derselben Geschichte […]“.

Michael Chabons Roman Die Vereinigung jüdischer Polizisten erzählt eine kontrafaktische Geschichte, nach der Alaska zum Zufluchtsort und die neue Heimat der von den Nazis verfolgten Jüdinnen und Juden geworden ist und in der auch die Frage aufgeworfen wird, was wäre, wenn „all die Gerüchte von einer jüdischen Verschwörung wahr wären“. Die bei Chabon dargestellten Jüdinnen und Juden sind alles andere als sympathische Figuren, sie erinnern vielmehr an Kriminalromane Raymond Chandlers. Die vermeintlich „jüdische“ Intrige entpuppt sich im Lauf des Romans allerdings „als eine Farce“, die „tatsächlichen Übeltäter“ stammen aus einer „christliche[n] Vereinigung“.

Wojciks Lektüren sind tiefsinnig und laden zu einer Relektüre der behandelten Romane ein. Über die tatsächliche Wirkung einer „Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur“ ist damit allerdings noch nichts gesagt. Es bleibt grundsätzlich offen, welche Breitenwirkung die besprochenen Romane entfalten, oder etwas konkreter, inwieweit die literarischen Strategien judenfeindliche Vorstellungen innerhalb der „gebildeten Schichten der Bevölkerung“ unterlaufen können. In diesem Zusammenhang ist es beispielsweise bemerkenswert, dass in der Verfilmung von Alles ist erleuchtet der Großvater des Reiseführers Alex am Schluss als jüdisch erkennbar wird – wohingegen der Roman in dieser Frage nicht eindeutig ist. Ob die „Demontage“ gelingt, kann ohnehin nicht allein werkimmanent, sondern müsste durch Rezeptionsanalysen überprüft werden. Die Gefahr der Belletristik könnte gerade in ihrem besonderen Reiz liegen, dass sie vieldeutig ist, sodass missverständliche Deutungen der Romane, auch eine „Fehlinterpretation“, wirkmächtiger sein könnten als die Interpretationen, die Wojcik favorisiert.

Der Untersuchung ist das berühmte Zitat von Shylock aus Shakespeares Der Kaufmann von Venedig vorangestellt: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften?“ Das Zitat wird bis heute als Anklage gegen jede Form von Rassismus gebraucht. Zugleich ist Shylock in Shakespeares Stück keine sympathische Figur, und so überrascht es nicht, dass auch Antisemiten sich durch die Darstellung bestätigt sahen. Dies könnte auch für die Gegenwartsliteratur gelten, und es ist möglich, dass der Reiz und die Gefahr von beispielsweise Chabons Roman Die Vereinigung jüdischer Polizisten darin bestehen, dass er beides zugleich macht – antisemitische Vorstellungen zu kritisieren und sie dennoch zu reproduzieren.

Titelbild

Paula Wojcik: Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
306 Seiten, 33,80 EUR.
ISBN-13: 9783837622461

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Eine neue Erzählung von Evelyn Kremer: Der Ring

Der Ring

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihr die Großeltern den Ring damals geschenkt hatten: Sie feierte ihren zwanzigsten Geburtstag mit der Familie. Schon einige Monate zuvor hatten die Großeltern sie gefragt, was sie sich zum Geburtstag wünschte. Ohne zu zögern sagte sie, dass sie sich über einen Ring freuen würde. Sie zeigte ihren Großeltern mehrere Bilder von Ringen, die ihr gefielen, um sicherzugehen, dass der Ring genau ihren Vorstellungen entsprechen würde. Sie wollte einen Ring haben, den sie zu besonderen Anlässen tragen konnte. Der Ring sollte goldfarben sein und mit schönen, glitzernden, weißen Steinen besetzt sein:  Vielleicht in Form einer Blüte oder eines Sterns. Der Ring sollte nicht zu klein sein, aber dennoch fein wirken. Es sollte ein Ring sein, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, den sie bei Feiern, Festen und Partys tragen könnte. Der Ring sollte außerdem möglichst neutral aussehen, so dass er zu ihren verschiedenen Kleidern passte.
Auch eine ihrer Freundinnen hatte einen solchen Ring und insgeheim hoffte sie, dass ihr Ring noch viel schöner sein würde und sie der Freundin die Schau stehlen würde. Damals maß sie sich ständig mit ihren Freundinnen. Es ging immer wieder darum, wer hübscher, besser geschminkt, beliebter und besser gekleidet war. Eigentlich war ihr Schmuck nie wichtig gewesen, aber das, was ihre Freundinnen hatten, wollte auch sie haben. Es sollte ein „perfekter“ Ring sein, den alle bewunderten. Der Ring sollte genauso perfekt sein, wie sie sich damals – kurz vor ihrem Geburtstag – auch ihr späteres Leben vorstellte: Sie träumte sehr naiv von einer Karriere als Journalistin und davon, während des Studiums ihren Traummann zu treffen. Auch dieser sollte „perfekt“ sein: Charmant, gutaussehend, intelligent, mit einem interessanten Beruf und einem guten Gehalt. Obwohl sie diesen Mann noch nicht kannte, stellte sie sich damals sogar ihre Hochzeit vor. Sie wusste genau, wo und wie sie heiraten wollte, hatte bereits genaue Vorstellungen von ihrem Kleid und dem Hochzeitsstrauß. Nach der Hochzeit wollte sie zwei Kinder haben und keinesfalls ihre erfolgreiche Karriere als Journalistin aufgeben. Sie würde – genau wie ihre Eltern – in einem schönen und gut eingerichteten Altbau am Stadtrand wohnen, ein vorbildliches Familienleben führen und begabte Kinder haben. All das, hatte sie mit Neunzehn genau vor Augen und sie war der festen Überzeugung, dass alles genauso eintreffen würde: Sie hatte von ihrem Leben genauso konkrete Vorstellungen wie von dem Ring, den sie sich von ihren Großeltern wünschte.
Als ihr die Großeltern zum Geburtstag feierlich die kleine Schmuckschatulle überreichten, war sie aufgeregt wie ein kleines Kind. Sie entfernte die blaue Schleife und öffnete vorsichtig und mit voller Erwartung die dunkelrote Schatulle. Bevor sie einen Blick in die Schatulle warf, schaute sie dankbar ihre Großeltern und fröhlich mit glänzenden Augen ihre Eltern an, die ebenfalls neugierig auf das Geschenk waren. Als sie den Blick senkte, um den Ring zu betrachten, schossen ihr Tränen in die Augen: Der Ring war ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war nicht gold- sondern silberfarben, mit einem matten, eckigen und großen Stein in einem tiefen Korallenrot. Zu allem Überfluss sah man außerdem deutlich, dass eine Ecke aus dem Stein gebrochen war. Außerdem verlief in der Mitte des Steins ein Riss. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – so entsetzt war sie. Tausende von Gedanken schossen ihr durch den Kopf und in die Gedanken mischten sich Wut und Traurigkeit. Sie konnte ihre Großeltern unmöglich enttäuschen und so versuchte sie, ihr Entsetzen und ihre Wut zu verbergen und mit einem Lächeln zu überspielen. Sie tat so, als sei sie gerührt und sie umarmte ihre Großeltern zum Dank. Dabei hoffte sie, dass ihr niemand die Enttäuschung ansehen würde. Doch ihr Großvater beobachtete sie ernst und eindringlich, während sie sich den Ring an den Finger steckte und ihn an den schlanken Fingern betrachtete. Ihr Großvater sagte leise zu ihr: „Ich weiß, dass der Ring nicht Deinen ursprünglichen Vorstellungen entspricht und er einen Riss hat sowie eine kleine Ecke herausgebrochen ist. Aber der Ring stammt von meiner Mutter und glaube mir: Irgendwann wirst auch Du ihn schön finden, ihn zu schätzen wissen und ihn mit anderen Augen betrachten.“ Sie wusste nicht, was der Großvater meinte, umarmte ihn und tat weiterhin so, als ob ihr der Ring gefallen würde. Innerlich aber bebte sie und am liebsten hätte sie den Ring direkt vom Finger gerissen und in die Ecke geworfen. Nun aber prangte er wie ein dicker und fieser Käfer noch den ganzen Nachmittag an ihrem Finger.
Als sie am Abend allein in ihrem Zimmer war, betrachtete sie den Ring und war abermals so enttäuscht, dass sie aus Selbstmitleid weinte. Sie konnte nicht begreifen, wie ihr die Großeltern einen so hässlichen und dazu noch kaputten Ring schenken konnten. Sie zog den Ring von ihrem Finger, packte ihn in die kleine Schatulle, öffnete eine Schreibtischschublade, warf die Schatulle abfällig hinein und knallte die Schublade mit lachendem, schadenfrohen Gesicht zu. Dann ging sie ins Bett und träumte die ganze Nacht von dem Ring. Sie träumte, dass sie mit ihren Freundinnen auf einer Feier sei und alle über ihren Ring lachten. Der Ring verwandelte sich ständig in andere widerwärtige Kriechtiere und Insekten, die ihr die Arme hochkrochen und ihre Freunde angeekelt zurückweichen ließen.
Nach einigen Tagen hatte sie den Ring vergessen und die Schatulle in der Schublade verschwand mit der Zeit unter Papieren, Stiften, Radiergummis und allerlei anderen Gegenständen – genauso, wie unangenehme Gedanken und Erlebnisse mit der Zeit verdeckt werden von vielen anderen Gedanken und Geschehnissen.
Es vergingen viele Jahre und ihr Leben entwickelte sich ganz anders, als sie es sich damals vorgestellt hatte: Zwar meisterte sie ihr Studium, aber sie schaffte nicht den Einstieg als Journalistin. Jahrelang hangelte sie sich als Lektorin von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob und auch der richtige Mann ließ auf sich warten. Erst mit Mitte dreißig traf sie einen Mann, mit dem sie sich eine Familie vorstellen konnte – auch wenn er keinesfalls ihren ursprünglichen Vorstellungen entsprach: Er war nicht besonders gutaussehend, hatte nicht studiert und verdiente nur wenig. Irgendwann wurde sie schwanger und bekam eine Tochter. Die Schwangerschaft und Geburt sowie die Jahre der Erziehung danach, machten ihr so zu schaffen, dass sie keine weiteren Kinder haben wollte. Irgendwann beschloss sie sogar, sich von ihrem Mann zu trennen. Nach einigen schweren und unschönen Jahren schaffte sie es, beruflich einen großen Schritt voran zu kommen: Sie war als Journalistin bei einer Tageszeitung tätig. Eine eigene Wohnung, geschweige denn ein eigenes Haus, konnte sie sich nicht leisten. Aber sie war glücklich: Sie genoss die Stunden mit ihrer Tochter, die als Teenager bereits schwanger geworden war; Sie mochte ihren Job und ihre Kollegen; Sie liebte es zu Kochen; Sie genoss die Zeit mit ihrem Enkelkind und mit ihren vielen Freunden; Am glücklichsten jedoch war sie bei der Gartenarbeit in ihrem kleinen Schrebergarten. Hier genoss sie die Sonne, beobachte die Pflanzen im Verlauf der Jahreszeiten, pflanzte, züchtete, erntete und säte. Wenn sie – damals mit Zwanzig – von ihrem späteren Leben erfahren hätte, wäre sie entsetzt gewesen. Alles war ganz anders gekommen als sie es sich damals vorgestellt hatte – aber sie war zufrieden und glücklich.
Als sie eines Tages in einem längeren Urlaub endlich dazu kam, alte Schubladen und Kisten auszumisten, fiel ihr zufällig die Schmuckschatulle ihrer Großeltern in die Hände. Sie betrachtete die Schatulle und öffnete sie ohne große Erwartungen vorsichtig. Zunächst traute sie sich nicht den Blick zu senken, weil sie sich plötzlich sehr genau an das schreckliche Geschenk und die Enttäuschung von damals erinnerte. Doch dann fasste sie Mut und schaute neugierig in die Schatulle: War das der Ring, den sie damals so abschätzig in die Schublade geworfen hatte? Sie konnte es kaum glauben: Der Stein des Rings hatte eine wunderschöne, rote Farbe mit lebendigen und interessanten Musterungen. Der Riss, der durch die Mitte des Steins verlief, hatte einen besonderen Reiz; Die fehlende Ecke im Stein verlieh dem Ring eine ungewöhnliche Note und machte ihn interessant und charmant; Das angelaufene Silber passte zu dem besonderen Muster des Steins und verlieh ihm eine außergewöhnliche Patina. Sie zog den Ring langsam und vorsichtig an. Er schmiegte sich genau passend an ihren rechten Ringfinger. Sie betrachte den Ring an ihrer Hand lange. Der Ring war wunderschön. Ein wohliges und warmes Gefühl durchströmte sie, so dass ihr vor Glück Tränen in die Augen stiegen. Sie erinnerte sich daran, was ihr Großvater damals zu ihr gesagt hatte und erst jetzt verstand sie: Der Ring war ein Symbol für das Leben mit all seinen Rissen und Brüchen. Gerade in dieser Imperfektion konnte sie Schönheit und Glück entdecken. Wie langweilig wäre es gewesen, wenn ihr Leben genauso verlaufen wäre, wie sie es sich damals – kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag – vorgestellt hatte. Ihr Leben wäre eine Kopie ihrer Vorstellungen gewesen und sie hätte nicht gelebt, sondern sich in ein Muster und in eine genaue Vorstellung gepresst. Sie konnte nicht mehr aufhören zu Weinen und beschloss den Ring irgendwann ihrer Enkelin zu schenken. Doch bis dahin würde sie ihn nicht mehr vom Finger nehmen.
In der Nacht träumte sie – genau wie damals – von einer Feier mit Freunden. Die Insekten und Kriechtiere auf ihrer Hand hatten sich in Blüten und Schmetterlinge verwandelt.

Evelyn Kremer: Der Beichtstuhl

Der Beichtstuhl

Ich war im Urlaub, und es war heiß in den Straßen der kleinen Stadt. Ich streunte durch die schmalen Gassen. Als mir die Füße vom vielen Laufen weh taten und ich mich kurz ausruhen wollte, kam ich zufälligerweise an einer Kirche vorbei. Als ich eintrat, war ich die Einzige. Es roch hier nach frischen Blumen und etwas Weihrauch, und es war angenehm kühl und schattig hier. Ich setzte mich auf eine der Bänke in den vorderen Reihen und atmete tief ein und aus. Schön ruhig – und entspannend für meine Füße. Das Sonnenlicht von draußen fiel in bunten Farben durch die Fenster auf den Boden der Kirche und tauchte sie in ein magisches Licht. Die Kirche hatte einen wunderschönen Altar aus weißem Marmor und ich dachte, dass es schön wäre, hier an einem Gottesdienst teilzunehmen.
Plötzlich hörte ich Schritte von hinten. Es waren langsame, schwere Schritte. Ich drehte mich um und erkannte einen Pfarrer in seinem langen Gewand. Er lief an mir vorbei und bog dann rechts ab. Ich hätte gerne selbst mein verwundertes Gesicht gesehen, als der Pfarrer den alten aus Holz geschnitzten Beichtstuhl an der Kirchenwand öffnete, sich hineinsetzte und die mit Ornamenten verzierte Tür hinter sich schloss. Ich überlegte kurze Zeit, wann ich so etwas zuletzt gesehen hatte. Irgendwie hatte ich jahrzehntelang die Existenz eines Beichtstuhls vergessen – der Beichtstuhl schien aus einer anderen Zeit zu stammen und passte so gar nicht mehr in unsere Welt.
Dunkel erinnerte ich mich plötzlich an die Zeit meiner Kommunion. Ich erinnerte mich, dass auch ich damals beichten sollte und ich lange überlegen musste, welche Sünden ich gestehen sollte. Ich war mir als Kind keinerlei Schuld bewusst und ich erinnerte mich, dass ich etwas erfand, um es dem alten und strengen Pfarrer Recht zu machen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich manchmal meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte und bei der Lehrerin dann so tat als hätte ich mein Schulheft vergessen. Das war das Einzige, was mir damals als Sünde einfiel. Trotz des lächerlichen Schuldgeständnisses sprach der Pfarrer: „Deine Sünde sei Dir vergeben. Ich spreche Dich von Deiner Sünde los.“ Erleichtert und beschwingt hatte ich damals den Beichtstuhl verlassen.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich erneut Schritte hörte und eine ältere Frau mit auffällig buntem Kleid und hochgesteckten Haaren die Kirche betrat. Sie bewegte sich langsam und bedächtig auf den Beichtstuhl zu, öffnete die Tür, setzte sich auf die kleine, fast zu enge Bank im Inneren und schloss die Tür behutsam hinter sich. „Was wird sie dem Pfarrer wohl erzählen?“, fragte ich mich. Allerdings sah die Frau nicht so aus, als ob sie große Sünden zu beichten hätte. Vielleicht verteufelte sie manchmal gedanklich ihren Mann oder war von ihrer alten Mutter genervt? Mehr Sünden konnte man ihr keinesfalls zutrauen. „Oder täuscht man sich?“, fragte ich mich. „Vielleicht hat sie einen Liebhaber oder hat im Kaufhaus etwas mitgehen lassen?“ Neugierig versuchte ich, Sprachfetzen des Gesprächs aus dem Beichtstuhl einzufangen. Aber ich hörte nur ein leises und geheimnisvolles Tuscheln. Nach etwa fünf Minuten öffnete sich die Tür und die Frau trat heraus. Irgendwie schien sie fröhlicher und erleichterter zu sein, und mit lockererem und schnellem Schritt verließ sie die Kirche. In der Kabine rumpelte es seltsam – der Pfarrer schien es sich in dem Beichtstuhl bequem zu machen und auf den nächsten Sünder zu warten.
Ich überlegte mir, wie interessant diese Aufgabe des Pfarrers doch war – gerade in früheren Zeiten: Alle Bewohner eines Dorfes vertrauten ihm die geheimsten Geschichten an, und er war der Einzige, der gottesgleich genau wusste, was im Dorf hinter den Kulissen vor sich ging und welche Abgründe menschlicher Taten sich unter der Oberfläche der angeblich frommen Gemeinde verbargen. Der Gedanke ließ mich nicht los und als ich abends wieder im Hotel war, beschloss ich, mich über das Beichten zu informieren.  „Der Beichtstuhl ist der klassische Ort für das persönliche Sündenbekenntnis der Gläubigen, dem die Lossprechung durch den Priester folgt“, hieß es im Internet. Ich überlegte und kam zu dem Schluss, dass der Beichtstuhl sicher auch eine psychologisch reinigende Funktion hatte: Durch das Aussprechen einer „Sünde“ erleichterte man sein Gewissen und konnte anschließend wieder „gereinigt“ einen besseren Weg einschlagen.
„Eigentlich war es seltsam, dass der Beichtstuhl heute kaum noch genutzt wird“, überlegte ich und wurde direkt eines Besseren belehrt, als ich weiter im Internet stöberte: Ich traute meinen Augen kaum, als ich „Onlinebeichtstühle“ entdeckte. Hier konnte man anonym Beichten abgeben, und einige der Online-Beichtstühle veröffentlichten alle Beichten! Neugierig verbrachte ich eine Stunde mit dem Lesen von Beichten und war fasziniert von den verschiedensten Geständnissen, die dort offengelegt wurden. Zum Beispiel schrieb ein Mann: „Ich, männlich, 16, beichte, dass ich heute in der Drogerie das erste Mal Kondome gekauft habe. Weil ich mich so geschämt habe, habe ich extra gewartet, bis die fette Kassiererin an der Kasse war. Vor ihr schien mir der Kauf der Kondome weniger peinlich zu sein.“ Eine andere Beichte lautete: „Ich, weiblich, 46, beichte, dass ich als Kellnerin arbeite und mir zwischendurch immer wieder einen Schluck Vodka gönne, um den Stress zu ertragen.“ Es ging weiter mit diesen zwei Beichten: „Ich, männlich, 19, beichte, dass ich mit einem wunderhübschen Mädchen zusammen bin, sie aber nicht liebe. Ich dachte, dass das Verliebtsein mit der Zeit kommt. Sie ist total verknallt in mich, und ich weiss nicht, was ich machen soll“. „Ich, weiblich, 18, habe ein Poster meines Lieblingsstars an meiner Zimmertür hängen. Ich beichte, dass ich das Poster jedes Mal anfassen und küssen muss, wenn ich das Zimmer verlasse“.
Ich überlegte, was ich selbst auf der Plattform beichten könnte und dann fiel mir eine Sache ein, die ich niemandem erzählen würde – hier aber schien mir ein guter Ort für die Offenlegung zu sein. Ich schrieb den Text der Beichte in das Freitextfeld. Dann sandte ich die Beichte mit einem Klick auf den Sende-Button ab. Kurz darauf erschien „meine Beichte“ mit einem „Bling“ in der Chronik des Online-Beichtstuhls. Eine Computerstimme sagte: „Deine Sünde sei Dir vergeben“. Ich fragte mich, was die Leser der Plattform über meine Beichte denken würden – Gott sei Dank konnte man die Beichten nicht kommentieren. Kurz lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, als mir der Gedanke kam, dass man die Beichte ja vielleicht irgendwie auf meine IP-Adresse zurückführen könnte. Ich beruhigte mich schnell, weil ich zu dem Schluss kam, dass das nicht möglich sei. Dann fühlte ich mich irgendwie erleichtert und besser als vorher. Ich beschloss, den Online-Beichstuhl öfter in Anspruch zu nehmen – nicht nur um selbst zu beichten, sondern – wie ein Pfarrer – zu wissen, welche „Sünden“ Menschen beschäftigen. Irgendwie war das ein faszinierender Gedanke: Meine Beichte und die Beichte von Millionen von anderen Menschen würde nun für immer anonym im Nirvana des Internets verschwinden. Und wer weiss, ob meine Beichte und die Beichten der vielen anderen Menschen noch in hundert Jahren online sein würden? Das Internet als Friedhof der menschlichen Abgründe und Tiefen?
Als ich am nächsten Tag die Zeitung las, stieß ich auf Unglaubliches: In der Zeitung war ein Foto der Frau, die ich gestern in der Kirche gesehen hatte – ich war mir ganz sicher. Ich konnte es kaum glauben und noch weniger zu glauben war, was dort in der Zeitung stand: Das Foto hatte die Überschrift „Frau beichtet Mord in Kirche“. Aufgeregt begann ich zu lesen, und die Zeitung zitterte in meinen Händen. „Suanne M., 64 Jahre alt, hat gestern in der Marienkirche den Mord an ihrem 75jährigen Mann gebeichtet. Nach 35 Jahren Ehe war es immer öfter zu Streits gekommen und so hatte sie schon vor einigen Monaten beschlossen, ihren Mann umzubringen. Sie verabreichte ihm täglich giftige Tabletten, so dass er schließlich an Herzversagen starb. Direkt nach dem Tod des Mannes war Susanne M. in die Kirche gegangen, hatte dem Pfarrer den Mord gebeichtet und ihn darum gebeten, die Polizei zu informieren. Sie sagte aus, dass sie mit ihrer großen Schuld nicht mehr leben wollte. Schockiert von ihrer Beichte und in einer Art Schockstarre, hatte der Pfarrer ihr direkt den Segen Gottes erteilt und ihr die Sünde verziehen. Nachdem er in seinem Beichtstuhl aufgrund der ungewöhnlichen Situation einen Schwächeanfall erlitten hatte, wurde er von seinem Messdiener entdeckt. Als es dem Pfarrer wieder besser ging, informierte er – wie es Susanne M. gewünscht hatte – die Polizei. Susanne M. wurde anschließend weinend in ihrer Wohnung aufgefunden und festgenommen. Der Leichnam ihres Mannes wurde abtransportiert. Auch wenn Susanne M. ihre Tat gestanden – und gebeichtet – hat, droht ihr eine mehrjährige Haftstrafe.“

Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen

Walter Benjamin

Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen

(1916)

 

Jede Äußerung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art der Sprache aufgefaßt werden, und diese Auffassung erschließt nach Art einer wahrhaften Methode überall neue Fragestellungen. Man kann von einer Sprache der Musik und der Plastik reden, von einer Sprache der Justiz, die nichts mit denjenigen, in denen deutsche oder englische Rechtssprüche abgefaßt sind, unmittelbar zu tun hat, von einer Sprache der Technik, die nicht die Fachsprache der Techniker ist. Sprache bedeutet in solchem Zusammenhang das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip in den betreffenden Gegenständen: in Technik, Kunst, Justiz oder Religion. Mit einem Wort: jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur ein besonderer Fall, der der menschlichen, und der ihr zugrunde liegenden oder auf ihr fundierten (Justiz, Poesie), ist. Das Dasein der Sprache erstreckt sich aber nicht nur über alle Gebiete menschlicher Geistesäußerung, der in irgendeinem Sinn immer Sprache innewohnt, sondern es erstreckt sich auf schlechthin alles. Es gibt kein Geschehen .oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen. Eine Metapher aber ist das Wort »Sprache« in solchem Gebrauche durchaus nicht. Denn es ist eine volle inhaltliche Erkenntnis, daß wir uns nichts vorstellen können, das sein geistiges Wesen nicht im Ausdruck mitteilt; der größere oder geringere Bewußtseinsgrad, mit dem solche Mitteilung scheinbar (oder wirklich) verbunden ist, kann daran nichts ändern, daß wir uns völlige Abwesenheit der Sprache in nichts vorstellen können. Ein Dasein, welches ganz ohne Beziehung zur Sprache wäre, ist eine Idee: aber diese Idee läßt sich auch im Bezirk der Ideen, deren Umkreis diejenige Gottes bezeichnet, nicht fruchtbar machen.

Nur soviel ist richtig, daß in dieser Terminologie jeder Ausdruck, sofern er eine Mitteilung geistiger Inhalte ist, der Sprache beigezählt wird Und allerdings ist der Ausdruck seinem ganzen und innersten Wesen nach nur als Sprache zu verstehen; andererseits muß man, um ein sprachliches Wesen zu verstehen, immer fragen, für welches geistige Wesen es denn der unmittelbare Ausdruck: sei. Das heißt: die deutsche Sprache z. B. ist keineswegs der Ausdruck für alles, was wir durch sie – vermeintlich – ausdrücken können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt. Dieses »Sich« ist ein geistiges Wesen. Damit ist es zunächst selbstverständlich, daß das geistige Wesen, das sich in der Sprache mitteilt, nicht die Sprach sondern etwas von ihr zu Unterscheidendes ist. Die Ansicht, daß das geistige Wesen eines Dinges eben in seiner Sprache besteht – diese Ansicht als Hypothesis verstanden, ist der große Abgrund, dem alle Sprachtheorie zu verfallen droht, und über, gerade über ihm sich schwebend zu erhalten ist ihre Aufgabe. Die Unterscheidung zwischen dem geistigen Wesen und dem sprachlichen, in dem es mitteilt, ist die ursprünglichste in einer sprachtheoretischen Untersuchung, und es scheint dieser Unterschied so unzweifelhaft zu sein, daß vielmehr die oft behauptete Identität zwischen dem geistigen und sprachlichen Wesen eine tiefe und unbegreifliche Paradoxie bildet, deren Ausdruck man in dem Doppelsinn des Wortes Logos gefunden hat. Dennoch hat diese Paradoxie als Lösung ihre Stelle im Zentrum der Sprachtheorie, bleibt aber Paradoxie und da unlösbar, wo sie am Anfang steht.

Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wisse n, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. Das geistige Wesen teilt sich in einer Sprache und nicht durch eine Sprache mit – das heißt: es ist nicht von außen gleich dem sprachlichen Wesen: Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das jeweilige sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilbar ist.

Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf die Frage: was teilt die Sprache mit? lautet also: Jede Sprache teilt sich selbst mit. Die Sprache dieser Lampe z. B. teilt nicht die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es mitteilbar ist, ist durchaus nicht die Lampe selbst), sondern: die Sprach-Lampe, die Lampe in der Mitteilung, die Lampe im Ausdruck. Denn in der Sprache verhält es sich so: Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache. Das Verständnis der Sprachtheorie hängt davon ab, diesen Satz zu einer Klarheit zu bringen, die auch jeden Schein einer Tautologie in ihm vernichtet. Dieser Satz ist untautologisch, denn er bedeutet: das, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache. Auf diesem »ist« (gleich »ist unmittelbar«) beruht alles. – Nicht, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, erscheint am klarsten in seiner Sprache, wie noch eben im Übergange gesagt wurde, sondern dieses Mitteilbare ist unmittelbar die Sprache selbst. Oder: die Sprache eines geistigen Wesens ist unmittelbar dasjenige, was an ihm mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, in dem teilt es sich mit; das heißt: jede Sprache teilt sich selbst mit. Oder genauer: jede Sprache teilt sich in selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das »Medium« der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie. Zugleich deutet das Wort von der Magie der Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit. Sie ist durch die Unmittelbarkeit bedingt. Denn gerade, weil durch die Sprache sich nichts mitteilt, kann, was in der Sprache sich mitteilt, nicht von außen beschränkt oder gemessen werden, und darum wohnt jeder Sprache ihre inkommensurable einziggeartete Unendlichkeit inne. Ihr sprachliches Wesen, nicht ihre verbalen Inhalte bezeichnen ihre Grenze.

Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache; dieser Satz auf den Menschen angewandt besagt: Das sprachliche Wesen des Menschen ist seine Sprache. Das heißt: Der Mensch teilt sein eignes geistiges Wesen in seiner Sprache mit. Die Sprache des Menschen spricht aber in Worten. Der Mensch teilt also sein eignes geistiges Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt. Kennen wir aber noch andere Sprachen, welche die Dinge benennen? Man wende nicht ein, wir kennten keine Sprache außer der des Menschen, das ist unwahr. Nur keine benennende Sprache kennen wir außer der menschlichen; mit einer Identifizierung von benennender Sprache mit Sprache überhaupt beraubt sich die Sprachtheorie der tiefsten Einsichten. – Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er die Dinge benennt.

Wozu benennt? Wem teilt der Mensch sich mit? – Aber ist diese Frage beim Menschen eine andere als bei anderen Mitteilungen (Sprachen)? Wem teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der Fuchs? – Hier aber lautet die Antwort: dem Menschen. Das ist kein Anthropomorphismus. Die Wahrheit dieser Antwort erweist sich in der Erkenntnis und vielleicht auch in der Kunst. Zudem: wenn Lampe und Gebirge und der Fuchs sich dem Menschen nicht mitteilen würden, wie sollte er sie dann benennen? Aber er benennt sie; er teilt sich mit, indem er sie benennt. Wem teilt er sich mit?

Ehe diese Frage zu beantworten ist, gilt es noch einmal zu prüfen: Wie teilt der Mensch sich mit? Es ist ein tiefer Unterschied zu machen, eine Alternative zu stellen, vor der mit Sicherheit die wesentlich falsche Meinung von der Sprache sich verrät. Teilt der Mensch sein geistiges Wesen durch die Namen mit, die er den Dingen gibt? Oder in ihnen? In der Paradoxie dieser Fragestellung liegt ihre Beantwortung. Wer da glaubt, der Mensch teile sein geistiges Wesen durch die Namen mit, der kann wiederum nicht annehmen, daß es sein geistiges Wesen sei, das er mitteile, – denn das geschieht nicht durch Namen von Dingen, also durch Worte, durch die er ein Ding bezeichnet. Und er kann wiederum nur annehmen, er teile eine Sache anderen Menschen mit, denn das geschieht durch das Wort, durch das ich ein Ding bezeichne. Diese Ansicht ist die bürgerliche Auffassung der Sprache, deren Unhaltbarkeit und Leere sich mit steigender Deutlichkeit im folgenden ergeben soll. Sie besagt Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch. Dagegen kennt die andere kein Mittel, keinen Gegenstand und keinen Adressaten der Mitteilung. Sie besagt: im Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit.

Der Name hat im Bereich der Sprache einzig diesen Sinn und diese unvergleichlich hohe Bedeutung: daß er das innerste Wesen der Sprache selbst ist. Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache, selbst und absolut sich mit teilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mitteilung die Sprache selbst in ihrer absoluten Ganzheit ist, da allein gibt es den Namen, und da gibt es den Namen allein. Der Name als Erbteil Menschensprache verbürgt also, daß die Sprache schlechthin das geistige Wesen des Menschen ist; und nur darum ist das geistiges Wesen des Menschen allein unter allen Geisteswesen restlos mitteilbar. Das begründet den Unterschied der Menschensprache von der Sprache der Dinge. Weil das geistige Wesen des Menschen aber die Sprache selbst ist, darum kann er sich nicht durch ; sie, sondern nur in ihr mitteilen. Der Inbegriff dieser Intensiven Totalität der Sprache als des geistigen Wesens des Menschen ist er Mensch ist der Nennende daran erkennen wir, daß aus ihm die reine Sprache spricht. Alle Natur, sofern‘ 7 sie sich mitteilt, teilt sich in der Sprache mit, also letzten Endes im Menschen. Darum ist er der Herr der Natur und kann die Dinge benennen. Nur durch das sprachliche Wesen der Dinge gelangt er aus sich selbst zu deren Erkenntnis – im Namen.

Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht. Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen (wenn der Genitiv nicht das Verhältnis des Mittels, sondern des Mediums bezeichnet) und in diesem Sinne ist allerdings, weil er im Namen spricht, der Mensch der Sprecher der Sprache, eben darum auch ihr einziger. In der Bezeichnung des Menschen als des Sprechenden (das ist aber z. B. nach der Bibel offenbar der Namen-Gebende: »wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen«) schließen viele Sprachen diese metaphysische Erkenntnis ein.

Der Name st aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache. Damit erscheint im Namen das Wesensgesetz der Sprache, nach dem sich selbst aussprechen und alles andere ansprechen dasselbe ist. Die Sprache – und in ihr ein geistiges Wesen – spricht sich nur da rein aus, wo sie im Namen spricht, das heißt: in der universellen Benennung. So gipfeln im Namen die intensive Totalität der Sprache als des absolut mitteilbaren geistigen Wesens und die extensive Totalität der Sprache als des universell mitteilenden (benennenden) Wesens. Die Sprache ist ihrem mitteilenden Wesen, ihrer Universalität nach, da unvollkommen, wo das geistige Wesen, das aus ihr spricht, nicht in seiner ganzen Struktur sprachliches, das heißt mitteilbares ist. Der Mensch allein hat die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache.

Angesichts dieser Erkenntnis ist nun ohne Gefahr der Verwirrung eine Frage möglich, die zwar von höchster metaphysischer Wichtigkeit ist, aber an dieser Stelle in aller Klarheit zunächst als eine terminologische vorgebracht werden kann. Ob nämlich das geistige Wesen – nicht nur des Menschen (denn das ist notwendig) – sondern auch der Dinge und somit geistiges Wesen überhaupt in sprachtheoretischer Hinsicht als sprachliches zu bezeichnen ist. Wenn das geistige Wesen mit dem sprachlichen identisch ist, so ist das Ding seinem geistigen Wesen nach Medium der Mitteilung, und was sich in ihm mitteilt, ist – gemäß dem medialen Verhältnis – eben dies Medium (die Sprache) selbst. Sprache ist dann das geistige Wesen der Dinge. Es wird das geistige Wesen also von vornherein als mitteilbar gesetzt, oder vielmehr gerade in die Mitteilbarkeit gesetzt, und die Thesis: das sprachliche Wesen der Dinge ist mit ihrem geistigen, sofern letzteres mitteilbar ist, identisch, wird in ihrem »sofern« zu einer Tautologie. Einen Inhalt der Sprache gibt es nicht; als Mitteilung teilt die Sprache ein geistiges Wesen, d. i. eine Mitteilbarkeit schlechthin mit. Die Unterschiede der Sprachen sind solche von Medien, die sich gleichsam nach ihrer Dichte, also graduell, unterscheiden; und das in der zwiefachen Hinsicht nach der Dichte des Mitteilenden (Benennenden) und des Mitteilbaren (Namen) in der Mitteilung. Diese beiden Sphären, die rein geschieden und doch vereinigt nur in der Namensprache des Menschen, entsprechen sich natürlich ständig.

Für die Metaphysik der Sprache ergibt die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen, welches nur graduelle Unterschiede kennt, eine Abstufung allen geistigen Seins in Gradstufen. Diese Abstufung, die im Inneren des geistigen Wesens selbst stattfindet, läßt sich unter keine obere Kategorie mehr fassen, sie führt daher auf die Abstufung aller geistigen wie sprachlichen Wesen nach Existenzgraden oder nach Seinsgraden, wie sie bezüglich der geistigen schon die Scholastik gewohnt war. Die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen ist aber in sprachtheoretischer Hinsicht von so großer metaphysischer Tragweite, weil sie auf denjenigen Begriff hinführt, der sich immer wieder wie von selbst im Zentrum der Sprachphilosophie erhoben hat und ihre innigste Verbindung mit der Religionsphilosophie ausgemacht hat. Das ist der Begriff der Offenbarung. – Innerhalb aller sprachlichen Gestaltung waltet der Widerstreit des Ausgesprochenen und Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen. In der Betrachtung dieses Widerstreites sieht man in der Perspektive des Unaussprechlichen zugleich das letzte geistige Wesen. Nun ist es klar, daß in der Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen dieses Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zwischen beiden bestritten wird. Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d. h. je existenter und wirklicher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener, wie es denn eben im Sinne dieser Gleichsetzung liegt, die Beziehung zwischen Geist, und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß der sprachlich existentester. d. h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ist. Genau das meint aber der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt. Denn es wird angesprochen im Namen und spricht sich aus als Offenbarung. Hierin aber kündigt sich an, daß allein das höchste geistige Wesen, wie es in der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht, während alle Kunst, die Poesie nicht ausgenommen, nicht auf dem allerletzten Inbegriff des Sprachgeistes, sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in seiner vollendeten Schönheit, beruht. »Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr ? und O«, sagt Hamann.

Die Sprache selbst ist in den Dingen selbst nicht vollkommen ausgesprochen. Dieser Satz hat einen doppelten Sinn nach der übertragenen und der sinnlichen Bedeutung: Die Sprachen der Dinge sind unvollkommen, und sie sind stumm. Den Dingen ist das reine sprachliche Formprinzip – der Laut – versagt. Sie können sich nur durch eine mehr oder minder stoffliche Gemeinschaft einander mitteilen. Diese Gemeinschaft ist unmittelbar und unendlich wie die jeder sprachlichen Mitteilung; sie ist magisch (denn es gibt auch Magie der Materie). Das Unvergleichliche der menschlichen Sprache ist, daß ihre magische Gemeinschaft mit den Dingen immateriell und rein geistig ist, und dafür ist der Laut das Symbol. Dieses symbolische Faktum spricht die Bibel aus, indem sie sagt, daß Gott dem Menschen den Odem einblies: das ist zugleich Leben und Geist und Sprache. – (‚Wenn Wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der ersten Genesiskapitel betrachtet wird, so soll damit weder Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde gelegt werden, sondern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung der Natur der Sprache selbst sich ergibt, soll aufgefunden werden; und die Bibel ist zunächst in dieser Absicht nur darum unersetzlich, weil diese Ausführungen im Prinzipiellen ihr darin folgen, daß in ihnen die Sprache als eine letzte, nur in ihrer Entfaltung zu betrachtende, unerklärliche und mystische Wirklichkeit vorausgesetzt wird. Die Bibel, indem sie sich selbst als Offenbarung betrachtet, muß notwendig die sprachlichen Grundtatsachen entwickeln. – Die zweite Fassung der Schöpfungsgeschichte, die vom Einblasen des Odems erzählt, berichtet zugleich, der Mensch sei aus Erde gemacht worden. Dies ist in der ganzen Schöpfungsgeschichte die einzige Stelle, an der von einem Material des Schöpfers die Rede ist, in welchem dieser seinen Willen, der sonst doch wohl unmittelbar schaffend gedacht ist, ausdrückt. Es ist in dieser zweiten Schöpfungsgeschichte die Erschaffung des Menschen nicht durch das Wort geschehen: Gott sprach – und es geschah –, sondern diesem nicht aus dem Worte geschaffenen Menschen wird nun die Gabe der Sprache beigelegt, und er wird über die Natur erhoben.

Diese eigentümliche Revolution des Schöpfungsaktes, wo er sich auf den Menschen richtet, ist aber nicht minder deutlich in der ersten Schöpfungsgeschichte niedergelegt, und in einem ganz anderen Zusammenhange verbürgt er mit gleicher Bestimmtheit den besonderen Zusammenhang zwischen Mensch und Sprache aus dem Akte der Schöpfung heraus. Die mannigfache Rhythmik der Schöpfungsakte des ersten Kapitels läßt doch eine Art Grundform zu, von der allein der den Menschen erschaffende Akt bedeutsam abweicht. Zwar handelt es sich hier nirgends weder bei Mensch noch Natur um eine ausdrückliche Beziehung auf das Material, aus dem sie geschaffen wurden; und ob jeweils in den Worten: »er machte« an ein Schaffen aus Materie etwa gedacht ist, muß hier dahingestellt bleiben. Aber die Rhythmik, nach der sich die Schöpfung der Natur (nach Genesis 1) vollzieht, ist: Es werde – Er machte (schuf) – Er nannte. – In einzelnen Schöpfungsakten (Genesis 1,3; 1,14) tritt allein das »Es werde« auf. In diesem »Es werde« und in dem »Er nannte« am Anfang und Ende der Akte erscheint jedesmal die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache. Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein, und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also das Schaffende, und das Vollendende, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist er kennen , weil es Name ist. »Und er sah, daß es gut war«, das ist: er hatte es erkannt durch den Namen. Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im innersten mit dem schaffenden Wort identisch ist, das reine Medium der Erkenntnis. Das heißt: Gott machte die Dinge in ihren Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.

In der Schöpfung es Menschen ist die dreifache Rhythmik der Naturschöpfung einer ganz anderen Ordnung gewichen. In ihr hat also die Sprache eine andere Bedeutung; die Dreiheit des Aktes ist auch hier erhalten, aber um so mächtiger bekundet sich eben im Parallelismus der Abstand: in dem dreifachen: »Er schuf« des Verses 1,27. Gott hat den Menschen nicht aus dem Wort geschaffen, und er hat ihn nicht benannt. Er wollte ihn nicht der Sprache unterstellen, sondern im Menschen entließ Gott die Sprache, die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, frei aus sich. Gott ruhte, als er im Menschen sein Schöpferisches sich selbst überließ. Dieses Schöpferische, seiner göttlichen Aktualität entledigt, wurde Erkenntnis. Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist. Gott schuf ihn sich zum Bilde, er schuf den Erkennenden zum Bilde des Schaffenden. Daher bedarf der Satz: Das geistige Wesen des Manschen ist die Sprache, der Erklärung. Sein geistiges Wesen ist die Sprache, in der geschaffen wurde. Im Wort wurde geschaffen, und Gottes sprachliches Wesen ist das Wort. Alle menschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes im Namen. Der Name erreicht so wenig das Wort wie die Erkenntnis die Schaffung. Die Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt immer eingeschränkten und analytischen Wesens im Vergleich mit der absoluten uneingeschränkten und schaffenden Unendlichkeit des Gotteswortes.

Das tiefste Abbild dieses göttlichen Wortes und der Punkt, an dem die Menschensprache den innigsten Anteil an der göttlichen Unendlichkeit des bloßen Wortes erlangt, der Punkt, an dem sie nicht endliches Wort und Erkenntnis nicht werden kann: das ist der menschliche Namen. Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache. Von allen Wesen ist der Mensch das einzige, das seinesgleichen selbst benennt, wie es denn das einzige ist, das Gott nicht benannt hat. Vielleicht ist es kühn, aber kaum unmöglich, den Vers 2,20 in seinem zweiten Teile in diesem Zusammenhang zu nennen: daß der Mensch alle Wesen benannte, »aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre«. Wie denn auch Adam sein Weib, alsobald er es bekommen hat, benennt. (Männin im zweiten Kapitel, Heva im dritten.) Mit der Gebung des Namens weihen die Eltern ihre Kinder Gott; dem Namen, den sie hier geben, entspricht – metaphysisch, nicht etymologisch verstanden – keine Erkenntnis, wie sie die Kinder ja auch neugeboren benennen. Es sollte im strengen Geist auch kein Mensch dem Namen (nach seiner etymologischen Bedeutung) entsprechen, denn der Eigenname ist Wort Gottes in menschlichen Lauten. Mit ihm wird jedem Menschen seine Erschaffung durch Gott verbürgt, und in diesem Sinne ist er selbst schaffend, wie die mythologische Weisheit es in der Anschauung ausspricht (die sich wohl nicht selten findet), daß sein Name des Menschen Schicksal sei. Der Eigenname ist die Gemeinschaft des Menschen mit dem schöpferischen Wort Gottes. (Es ist dies nicht die einzige, und der Mensch kennt noch eine andere Sprachgemeinschaft mit Gottes Wort.) Durch das Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden. Das menschliche Wort ist der Name der Dinge. Damit kann die verbunden. Das nicht mehr aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen. Mißverständlich ist aber auch die Ablehnung der bürgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. Nach ihr nämlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache. Das ist unrichtig, weil die Sache an sich kein Wort hat, geschaffen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach dem Menschenwort. Diese Erkenntnis der Sache ist aber nicht spontane Schöpfung, sie geschieht nicht aus der Sprache absolut uneingeschränkt und unendlich wie diese; sondern es beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie ihm sich mitteilt. Im Namen ist das Wort Gottes nicht schaffend geblieben, es ist an einem Teil empfangend, wenn auch sprachempfangend, geworden. Auf die Sprache der Dinge selbst; aus denen wiederum lautlos und in der stummen Magie der Natur das Wort Gottes hervorstrahlt, ist diese Empfängnis gerichtet.

Für Empfängnis und Spontaneität zugleich, wie sie sich in dieser Einzigartigkeit der Bindung nur im sprachlichen Bereich finden, hat aber die Sprache ihr eigenes Wort, und dieses Wort gilt auch von jener Empfängnis des Namenlosen im Namen. Es ist die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen. Es ist notwendig, den Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen, denn er ist viel zu weittragend und gewaltig, um in irgendeiner Hinsicht nachträglich, wie bisweilen gemeint wird, abgehandelt werden zu können. Seine volle Bedeutung gewinnt er in der Einsicht, daß jede höhere Sprache (mit Ausnahme des Wortes Gottes) als Übersetzung aller anderen betrachtet werden kann. Mit dem erwähnten Verhältnis der Sprachen als dem von Medien verschiedener Dichte ist die Übersetzbarkeit der Sprachen ineinander gegeben. Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt die Übersetzung.

Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen Das ist also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommenere, sie kann nicht anders als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis. Die Objektivität dieser Übersetzung ist aber in Gott verbürgt. Denn Gott hat die Dinge geschaffen, das schaffende Wort in ihnen ist der Keim des erkennenden Namens, wie Gott auch am Ende jedes Ding benannte, nachdem es geschaffen war. Aber offenbar ist diese Benennung nur der Ausdruck der Identität des schaffenden Wortes und des erkennenden Namens in Gott, nicht die vorhergenommene Lösung jener Aufgabe, die Gott ausdrücklich dem Menschen selbst zuschreibt: nämlich die Dinge zu benennen. Indem er die stumme namenlose Sprache der Dinge empfängt und sie in den Namen in Lauten überträgt, löst der Mensch diese Aufgabe. Unlösbar wäre sie, wäre nicht die Namensprache des Menschen und die namenlose der Dinge in Gott verwandt, entlassen aus demselben schaffenden Wort, das in den Dingen Mitteilung der Materie in magischer Gemeinschaft, im Menschen Sprache des Erkennens und Namens in seligem Geiste geworden wäre. Hamann sagt: »Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah … und seine Hände betasteten, war … lebendiges Wort; denn Gott war das Wort. Mit diesem Worte im Mund und im Herzen war der Ursprung der Sprache so natürlich, so nahe und leicht, wie ein Kinderspiel … «. Der Maler Müller in seiner Dichtung »Adams erstes Erwachen und erste selige Nächte« läßt Gott mit diesen Worten den Menschen zur Namengebung aufrufen: »Mann von Erde, tritt nahe, am Anschauen werde vollkommner, vollkommner werde durchs Wort!« In dieser Verbindung von Anschauung und Benennung ist innerlich die mitteilende Stummheit der Dinge (der Tiere) auf die Wortsprache des Menschen zu gemeint, die sie im Namen aufnimmt. In demselben Kapitel der Dichtung spricht aus dem Dichter die Erkenntnis, daß nur das Wort, aus dem die Dinge geschaffen sind, ihre Benennung dem Menschen erlaubt, indem es sich in den mannigfachen Sprachen der Tiere, wenn auch stumm, mitteilt in dem Bild: Gott gibt den Tieren der Reihe nach ein Zeichen, auf das hin sie vor den Menschen zur Benennung treten. Auf eine fast sublime Weise ist so die Sprachgemeinschaft der stummen Schöpfung mit Gott im Bilde des Zeichens gegeben.

Wie das stumme Wort im Dasein der Dinge so unendlich weit unter dem benennenden Wort in der Erkenntnis des Menschen zurückbleibt, wie wiederum dieses wohl unter dem schaffenden Wort Gottes, so ist der Grund für die Vielheit menschlicher Sprachen gegeben. Die Sprache der Dinge kann in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in der Übersetzung eingehen – soviel Übersetzungen, soviel Sprachen, sobald nämlich der Mensch einmal aus dem paradiesischen Zustand, der nur eine Sprache kannte, gefallen ist. (Nach der Bibel stellt diese Folge der Austreibung aus dem Paradiese allerdings erst später sich ein.) Die paradiesische Sprache des Menschen muß die vollkommen erkennende gewesen sein; während später noch einmal alle Erkenntnis in der Mannigfaltigkeit der Sprache sich unendlich differenziert, auf einer niederen Stufe als Schöpfung im Namen überhaupt sich differenzieren mußte. Daß nämlich die Sprache des Paradieses vollkommen erkennend gewesen sei, vermag auch das Dasein des Baumes der Erkenntnis nicht zu verhehlen. Seine Äpfel sollten die Erkenntnis verleihen, was gut und böse sei. Gott aber hatte schon am siebenten Tage mit den Worten der Schöpfung erkannt. Und siehe, es war sehr gut. Die Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist namenlos. Es ist im tiefsten Sinne nichtig, und dieses Wissen eben selbst das einzige Böse, das der paradiesische Zustand kennt. Das Wissen um gut und böse verläßt den Namen, es ist eine Erkenntnis von außen, die unschöpferische Nachahmung des schaffenden Wortes. Der Name tritt aus sich selbst in dieser Erkenntnis heraus: Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaffende Gotteswort, und der Verfall des seligen Sprachgeistes, des adamitischen, der zwischen ihnen steht. Es besteht nämlich in der Tat zwischen dem Worte, welches nach der Verheißung der Schlange das Gute und Böse erkennt, und zwischen dem äußerlich mitteilenden Worte im Grunde Identität. Die Erkenntnis der Dinge beruht im Namen, die des Guten und Bösen ist aber in dem tiefen Sinne, in dem Kierkegaard dieses Wort faßt, »Geschwätz« und kennt nur eine Reinigung und Erhöhung, unter die denn auch der geschwätzige Mensch, der Sündige, gestellt wurde: das Gericht. Dem richtenden Wort ist allerdings die Erkenntnis von gut und böse unmittelbar. Seine Magie ist eine andere als die des Namens, aber gleich sehr Magie. Dieses richtende Wort verstößt die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es exzitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet. Im Sündenfall, da die ewige Reinheit des Namens angetastet wurde, erhob sich die strengere Reinheit des richtenden Wortes, des Urteils. Für den Wesenszusammenhang der Sprache hat der Sündenfall eine dreifache Bedeutung (ohne seine sonstige hier zu erwähnen). Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die Sprache zum Mittel (nämlich einer ihm unangemessenen Erkenntnis), damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen; und das hat später die Mehrheit der Sprachen zur Folge. Die zweite Bedeutung ist, daß nun aus dem Sündenfall als die Restitution der in ihm verletzten Unmittelbarkeit des Namens eine neue, die Magie des Urteils, sich erhebt, die nicht mehr selig in sich selbst ruht. Die dritte Bedeutung, deren Vermutung sich vielleicht wagen läßt, wäre, daß auch der Ursprung der Abstraktion als eines Vermögens des Sprachgeistes im Sündenfall zu suchen sei. Gut und böse nämlich stehen als unbenennbar, als namenlos außerhalb der Namensprache, die der Mensch eben im Abgrund dieser Fragestellung verläßt. Der Name bietet nun aber im Hinblick auf die bestehende Sprache nur den Grund, in dem ihre konkreten Elemente wurzeln. Die abstrakten Sprachelemente aber – so darf vielleicht vermutet werden – wurzeln im richtenden Worte, im Urteil. Die Unmittelbarkeit (das ist aber die sprachliche Wurzel) der Mitteilbarkeit der Abstraktion ist im richterlichen Urteil gelegen. Diese Unmittelbarkeit »in der Mitteilung der Abstraktion stellte sich richtend ein, als im Sündenfall der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen, verließ und in den Abgrund der Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes verfiel, in den Abgrund des Geschwätzes. Denn – noch einmal soll das gesagt werden – Geschwätz war die Frage nach dem Gut und Böse in der Welt nach der Schöpfung. Der Baum der Erkenntnis stand nicht wegen der Aufschlüsse über Gut und Böse, die er zu geben vermocht hätte, im Garten Gottes, sondern als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden. Diese ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechtes.

Nach dem Sündenfall, der in der Mittelbarmachung der Sprache den Grund zu ihrer Vielheit gelegt hatte, konnte es bis zur Sprachverwirrung nur noch ein Schritt sein. Da die Menschen die Reinheit des Namens verletzt hatten, brauchte nur noch die Abkehr von jenem Anschauen der Dinge, in dem deren Sprache dem Menschen eingeht, sich zu vollziehen, um die gemeinsame Grundlage des schon erschütterten Sprachgeistes den Menschen zu rauben. Zeichen müssen sich verwirren, wo sich die Dinge verwickeln. Zur Verknechtung der Sprache im Geschwätz tritt die Verknechtung der Dinge in der Narretei fast als deren unausbleibliche Folge. In dieser Abkehr von den Dingen, die die Verknechtung war, entstand der Plan des Turmbaus und die Sprachverwirrung mit ihm.

Das Leben des Menschen im reinen Sprachgeist war selig. Die Natur aber ist stumm. Es ist zwar im zweiten Kapitel der Genesis deutlich zu fühlen, wie diese vom Menschen benannte Stummheit selbst Seligkeit nur niederen Grades geworden ist. Der Maler Müller läßt Adam von den Tieren, die ihn verlassen, nachdem er sie benannt hat, sagen: »und sah an den Adel, wie sie von mir wegsprangen, darum daß ihnen der Mann einen Namen gab.« Nach dem Sündenfall aber ändert sich mit Gottes Wort, das den Acker verflucht, das Ansehen der Natur im tiefsten. Nun beginnt ihre andere Stummheit, die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen. Es ist eine metaphysische Wahrheit, daß alle Natur zu klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde. (Wobei »Sprache verleihen« allerdings mehr ist als »machen, daß sie sprechen kann«.) Dieser Satz hat einen doppelten Sinn. Er bedeutet zuerst: sie würde über die Sprache selbst klagen. Sprachlosigkeit: das ist das große Leid der Natur (und um ihrer Erlösung willen ist Leben und Sprache des Menschen in der Natur, nicht allein, wie man vermutet, des Dichters). Zweitens sagt dieser Satz: sie würde klagen. Die Klage ist aber der undifferenzierteste, ohnmächtige Ausdruck der Sprache, sie enthält fast nur den sinnlichen Hauch; und wo auch nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit. Weil sie stumm ist, trauert die Natur. Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: die Traurigkeit der Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung. Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkennbaren. Benannt zu sein – selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist – bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer. Wieviel mehr aber benannt zu sein, nicht aus der einen seligen Paradiesessprache der Namen, sondern aus den hunderten Menschensprachen, in denen der Namen schon welkte, und die dennoch nach Gottes Spruch die Dinge erkennen. Die Dinge haben keine Eigennamen außer in Gott. Denn Gott rief im schaffenden Wort freilich bei ihren Eigennamen sie hervor-, In der Sprache der Menschen aber sind sie überbenannt. Im Verhältnis der Menschensprachen zu der der Dinge liegt etwas, was man als »Überbenennung« annähernd bezeichnen kann: Überbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens. Die Überbenennung als sprachliches Wesen des Traurigen deutet auf ein anderes merkwürdiges Verhältnis der Sprache: auf die Überbestimmtheit, die im tragischen Verhältnis zwischen den Sprachen der sprechenden Menschen waltet.

Es gibt eine Sprache der Plastik, der Malerei, der Poesie. So wie die Sprache der Poesie in der Namensprache des Menschen, wenn nicht allein, so doch jedenfalls mit fundiert ist, ebenso ist es sehr wohl denkbar, daß die Sprache der Plastik oder Malerei etwa in gewissen Arten von Dingsprachen fundiert sei, daß in ihnen eine Obersetzung der Sprache der Dinge in eine unendlich viel höhere Sprache, aber doch vielleicht derselben Sphäre, vorliegt. Es handelt sich hier um namenlose, unakustische Sprachen, um Sprachen aus dem Material; dabei ist an die materiale Gemeinsamkeit der Dinge in ihrer Mitteilung zu denken.

Übrigens ist die Mitteilung der Dinge gewiß von einer solchen Art von Gemeinschaftlichkeit, daß sie die Welt überhaupt als ein ungeschiedenes Ganzes befaßt.

Für die Erkenntnis der Kunstformen gilt der Versuch, sie alle als Sprachen aufzufassen und ihren Zusammenhang mit Natursprachen zu suchen. Ein Beispiel, das naheliegt, weil es der akustischen Sphäre angehört, ist die Verwandtschaft des Gesanges mit der Sprache der Vögel. Andererseits ist gewiß, daß die Sprache der Kunst sich nur in tiefster Beziehung zur Lehre von den Zeichen verstehen läßt. Ohne diese bleibt überhaupt jede Sprachphilosophie gänzlich fragmentarisch, weil die Beziehung zwischen Sprache und Zeichen (wofür die zwischen Menschensprache und Schrift nur ein ganz besonderes Beispiel bildet) ursprünglich und fundamental ist.

Dies gibt Gelegenheit, einen anderen Gegensatz zu bezeichnen, der das gesamte Gebiet der Sprache durchwaltet und wichtige Beziehungen zu dem erwähnten von Sprache in engerem Sinne und Zeichen hat, die doch durchaus nicht ohne weiteres mit diesem zusammenfällt. Es ist nämlich Sprache in jedem Falle nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren. Diese symbolische Seite der Sprache hängt mit ihrer Beziehung zum Zeichen zusammen, aber erstreckt sich zum Beispiel in gewisser Beziehung auch über Name und Urteil. Diese haben nicht allein eine mitteilende, sondern höchstwahrscheinlich auch eine mit ihr eng verbundene symbolische Funktion, auf die hier ausdrücklich wenigstens nicht hingewiesen wurde.

Demnach bleibt nach diesen Erwägungen ein gereinigter Begriff von Sprache zurück, wenn der auch noch unvollkommen sein mag. Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt, denn auch die ganze Natur ist von einer namenlosen stummen Sprache durchzogen, dem Residuum des schaffenden Gotteswortes, welches im Menschen als erkennender Name und über dem Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat. Die Sprache der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist die Sprache des Postens selbst. Alle höhere Sprache ist Übersetzung der niederen, bis in der letzten Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die Einheit dieser Sprachbewegung ist.

Eine neue Erzählung von Evelyn Kremer: Beim Friseur im Theater

Beim Friseur im Theater

von Evelyn Kremer

Seit einigen Monaten bin ich bei einem neuen Friseur. Eine Freundin hat mich hierher empfohlen. Die Freundin ist immer sehr auf ihr Äußeres bedacht und besitzt eine Reinigung in der die Prominenz der Stadt ein und aus geht. Daher weiß sie, welche Läden in der Stadt angesagt und gut sind. Aus Neugierde wollte nun auch ich diesen Friseur ausprobieren. Der Salon befindet sich in der Seitenstraße einer exklusiven Einkaufsstraße. Von Außen ist der Salon unscheinbar. Von Innen sind Wände und Böden mit marmorähnlichen großen Kacheln bedeckt und auf dem Tresen am Eingang steht immer ein riesiger frischer Blumenstrauß.

Die Inhaberin ist eine geschäftstüchtige Russin. Manchmal wirkt sie eher wie eine Puffmutter. Sie ist sicher um die fünfzig, ist stets sehr elegant gekleidet, hat toupierte Haare und teuren Schmuck um Hals und Gelenke. Sie ist eine zierliche Frau und an ihren energischen Bewegungen merkt man, dass sie sehr ehrgeizig ist. Ihre Mitarbeiter hat sie sorgsam ausgewählt: Sie sind alle zwischen zwanzig und vierzig Jahren, alle sehr freundlich und gleichzeitig sehr gut aussehend und modisch gekleidet. Drei Damen und drei Herren, wobei die Damen oft die männlichen Kunden betreuen und die Herren oft die weiblichen.

Zunächst wird man vor einem großen Spiegel platziert. Über den Spiegel hat man einen guten Blick in den ganzen Salon. Nichts kann entgehen und so gleichen die zwei Stunden, die man hier sitzt, oft einer Theatervorstellung: Zunächst betritt eine kleine, uralte Dame in schickem Chanel-Kostüm den Salon. Sie hat einen kleinen weißen Pudel an der Leine der besser frisiert ist als sie. Die Dame wirkt bescheiden obwohl man an ihren Accessoires sieht, dass entweder sie oder ihr Ehegatte viel verdient oder geerbt haben muss. Seltsam, dass im Gegensatz zu ihr der Pudel viel arroganter und elitärer wirkt. Mit geschwollener Brust und erhobenem Haupt stolziert er wie ein Zuchtpferd mit kleinen Schritten und kritischem Blick in den Salon hinein. Nachdem die Dame platziert wurde, wird dem Pudel direkt eine Schale Wasser und ein Körbchen gebracht. Kritisch beäugt der Pudel die lapidare Wasserschalte und dem ihm angebotenen Platz und setzt sich dann so in den Korb, dass auch er den gesamten Salon im Blick hat. Das Wasser rührt er nicht an. Er ist sicher besseres gewöhnt. Die Dame beugt sich immer wieder zu ihm hinunter um ihn zu streicheln. Man sieht, wie sehr sie ihren Pudel liebt, denn jedes mal, wenn sie ihn streichelt, entspannen sich ihre Gesichtszüge und sie beginnt zu lächeln. Mein Friseur berichtet mir, dass die alte Dame jeden zweiten Tag in den Salon zum Frisieren kommt. Ihr Mann hat in der Stadt hunderte Immobilien und sie ist nun zu alt, um sich selbst die Haare zu machen. Man munkelt aus Scherz im Salon, dass ihr Pudel alles erben wird, weil das Paar keine Kinder hat. „Wenn man genau hinsieht,“ flüstert mein Friseur, „sieht man, dass der kleine Vierbeiner ein Halsband mit Diamanten trägt!“

Während mein Friseur mir Strähnen in die Haare macht, wird meine Aufmerksamkeit abgelenkt von einer Dame, welche die ganze Zeit in der Ecke gesessen und gelesen hat. Sie ist die intellektuellst aussehende hier im Salon. Sie trägt schlichte Kleidung aus gutem Stoffen. Die Farben der Kleidung sind zurückhaltend: Schwarz und beige. Sie scheint sich nicht viel aus ihrem Äußeren zu machen. Ihre Haare sind grau und sicher geht sie nur zum Friseur, weil die lockigen Haare zu lang geworden sind. Ich versuche zu erkennen, was sie liest. Es ist eine Art wissenschaftliche Zeitschrift mit viel Text und wenig Bildern. Die bunten Klatsch- und Tratsch-Zeitschriften, die ihr der Friseur hingelegt hat, hat sie abfällig zur Seite geschoben. Mit konzentriertem Blick liest sie und antwortet nur knapp wenn der Friseur sie etwas fragt. Man merkt, dass sie keine Lust auf  ein Gespräch hat – sicher sind ihr die Gespräche zu lapidar. Er merkt das und fragt sie geschult ab sofort nur das Nötigste. Sicher ist auch er mal froh, seine Kunden nicht unterhalten und Kummerkasten spielen zu müssen. Schließlich gibt es hier immer wieder Kundinnen, die ihm ihre ganze Lebens- und Liebesgeschichte in zwei Stunden erzählen und am Ende des Friseurbesuchs meinen, dass der Friseur ihr bester Freund sei.

Nun betritt eine Frau mittleren Alters den Salon. Sie zieht ihren Pelzmantel aus und ist wie eine Wurst in ein enges und grelles Wollkleid gepresst. Sie hat lange Beine, ausladende Hüften, riesige Brüste, eine blonde, lockige Haarmähne und zahlreiches Klimbim an den Händen. Genauso ausladend wie ihre Hüften und ihre Brüste sind ihre Lippen. Ihr Gesicht gleicht einer geschminkten Maske und sicher hat sie sich operieren, straffen und die ein oder andere Stelle unterspritzen lassen. „Vielleicht ist sie schon viel älter, als sie aussieht?“, frage ich mich. Selbstbewusst steuert sie direkt auf einen freien Platz zu und betrachtet sich selbst im Spiegel. Sie scheint ihre Umwelt kaum wahrzunehmen und ist nur auf sich fixiert. In den Spiegel starrend schüttelt sie ihre Haare, reckt ihren Kopf zu allen Seiten und macht seltsame Posen als würde sie fotografiert werden. Sie schaut sich dabei selbstverliebt an und überlegt sicher, was sie als nächstes optimieren kann. Wieder berichtet mir mein Friseur flüsternd interessante Details: „Die Dame hat einen reichen, älteren Herrn geheiratet, der ihr jeden Wunsch erfüllt.“ Lachend ergänzt mein Friseur: „Wenn der Kleine steht, schweigt der Verstand“. Anschließend berichtet er, dass die Dame denke, dass sie alle anstarrten, weil sie so schön sei. Dabei schauten alle nur, weil sie so schrecklich aufgespritzt aussehe. Die Dame ist nur zum Haarewaschen und Föhnen gekommen. Als sie fertig frisiert ist, macht sie von sich mehrere Selfies, wobei sie ihre Lippen noch weiter aufplustert und eine sexy Pose macht. Dann kommt ihr Mann in den Laden. Ein dünner, alter, grauer Herr, der eigentlich ein intelligentes Gesicht hat. „Sicher erfüllt sie ihm all ihre Träume“, flüstert mir mein Friseur amüsiert ins Ohr. Ich beobachte, wie hörig der Herr seiner „Göttin“ ist. Er macht ihr Komplimente, hilft ihr wie ein Diener in den Mantel, bezahlt für sie an der Kasse und trägt ihr die schwere klimpernde Tasche. Sie stolziert auf ihren überhohen Hacken wie eine Königin aus dem Salon und lässt sich wie selbstverständlich die Tür von ihm aufhalten.

Ich beobachte noch eine Weile einen Herrn, der sehr gestresst in den Laden kommt und ständig sein Handy zückt – wohl um Mails zu lesen. Er wippt während des Haareschneidens ungeduldig mit den Knien. Beim Haare Waschen aber scheint er sich wie ein Baby zu fühlen. Er lässt sich in den bequemen Leder-Sessel vor dem Becken fallen und gibt sich ganz der Kopfmassage der hübschen, lockigen Friseurin hin. Sie scheint ihn schon länger zu kennen und genau zu wissen, wie er es mag. Geduldig und lange massiert sie ihm den Kopf bis sie an einem kurzen Schnarcher merkt, dass er eingeschlafen ist. Erschreckt von seinem eigenen Schnarchen zuckt der Herr zusammen und wird wach. Peinlich berührt, entschuldigt er sich und nimmt wieder gespannte Haltung an um zurück am Frisiertisch direkt wieder seine Mails zu checken.

Auch ich entspanne mich, während das lauwarme Wasser über meinen Kopf rinnt und auch ich eine sanfte Kopfmassage erhalte. Auch ich höre kurz nur noch das Rauschen und dumpfe Stimmen um mich herum, bis mir fest ein Handtuch um den Kopf gewickelt wird. Zurück am Platz werden meine Haare geföhnt und mit verschiedenen Mittelchen bearbeitet. Es duftet nach Ölen und Sprays. Seltsam, dass man sich nach einem Friseurbesuch so frisch fühlt. Nicht nur Äußerlich sondern auch Innerlich. So ein Friseurbesuch hat fast etwas von einem Arztbesuch: Ein anderer Mensch kümmert sich um einen und schenkt Aufmerksamkeit. Als ich bezahle, verschlägt es mir kurz die Stimme und mein Atem stockt. Die Rechnung ist ziemlich hoch. Dennoch gebe ich ein gutes Trinkgeld um hier nicht unangenehm aufzufallen. Ich beruhige mich selbst mit dem Gedanken, dass eine gute Premieren-Theaterkarte mindestens genauso viel gekostet hätte, wie der Besuch dieses Salons. Ich freue mich schon auf die Vorstellung beim nächsten Mal.

Evelyn Kremer – neue vier Erzählungen / Gegenstände der Kindheit / Alltagsgrau / Sonntagskaffee / Herbstmorgen

Gegenstände der Kindheit

von Evelyn Kremer

Wenn sie an ihre Kindheit und Jugend dachte, erinnerte sie sich oft an Dinge und Gegenstände, die es heute gar nicht mehr gab. Zunächst fiel ihr da zum Beispiel das Telefon mit der Wählscheibe ein: Das Telefon selbst war meist dunkelgrün und hatte einen klobigen Körper aus glänzendem Kunststoff. Auf das Telefon war eine durchsichtige Wählscheibe montiert und der schwere Telefonhörer mit Sprech- und Hörmuschel befand sich oberhalb dieser Wählscheibe. Wollte man eine Nummer wählen, wählte man mit dem Zeigefinger zum Beispiel für die Vier das vierte Loch in der Wählscheibe. Dann drehte man die Scheibe bis zum Anschlag. Anschließend folgte die nächste Zahl – sobald die Scheibe sich von selbst zurückgedreht hatte. Wenn man sich verwählte, gab es keine Zurück. Man musste noch einmal den Hörer auflegen und von Vorne anfangen. Einen Vorteil hatte der schwere Hörer am Telefon: Man konnte ihn bei unangenehmen Gesprächen richtig schön „aufknallen“ und damit direkt seine Wut herauslassen.

Meist stand das Telefon an einem zentralen Platz im Haus oder in der Wohnung. Deshalb war es schwierig, ein Telefon-Gespräch zu führen, ohne dass die anderen Familienmitglieder alles mitbekamen. Sie erinnerte sich noch, dass ihre Mutter bei „Erwachsenengesprächen“ oft begann, auf Englisch zu sprechen, damit sie und ihre Geschwister nichts verstanden. Zusätzlich stand das Telefon meist an einem eher ungemütlichen Platz – zum Beispiel im gekachelten Flur. Dort konnte man sich mit kalten Füßen höchstens auf einen kleinen Hocker setzen und sich beim Telefonieren nicht gemütlich auf die Couch legen. Sie erinnerte sich noch an Tage an denen ihre Eltern nicht im Haus waren und sie ungestört stundenlang mit ihren Freundinnen telefonieren konnte – ohne dass die Mutter nervte und ständig zum Beenden des Gesprächs aufforderte.

Dann war da zum Beispiel auch noch der Kassettenrecorder! Schon als Kleinkind hatte sie mit ihren Schwestern viele Kassetten gehört vor dem Einschlafen. Faszinierend war immer das Magnetband: Wenn es sich im Kassettenrecorder festhakte und verhedderte, musste man das Band mühsam per Hand wieder in die Kassette spulen indem man eines der Rädchen innerhalb der Löcher in der Kassette drehte. Mit einem Kassettenrecorder stellte sie sich damals auch ihre eigene erste Musikkassette mit Lieblingssongs zusammen. Stundenlag saß sie dafür nach der Schule vor dem Radio und drückte die Aufnahmefunktion sobald ein guter Song kam. Nach Ende des Songs stoppte  sie die Aufnahme schnell – oft ärgerlich darüber, dass sie schon wieder ein Stück der Sprecherstimme am Ende des Songs mit aufgenommen hatte.

Sie erinnerte sich auch noch gut an den Marzipangeruch der von den Lehrern verteilten Arbeitsblätter für den Schulunterricht. Damals gab es noch keinen Kopierer und man musste die Texte der Arbeitsblätter mit einer unter das Papier gelegten „Matrize“ schreiben. Durch die Matrize erschienen die Texte in Spiegelschrift auf einem anderen Papier. Dieses wurde dann vom Matrizendrucker vervielfältigt. Das Papier roch aufgrund der Matrizen-Tinte nicht nur nach Marzipan; die schöne lilafarbene Tinte war auf ein seidenglattes, spezielles Papier aufgedruckt. Gerne strich sie über die seidige Oberfläche und roch an dem Papier.

Am Abend – wenn sie schon im Bett lag – hörte sie oft das Tippen der Mutter an der Schreibmaschine und das Fluchen, wenn die Mutter einen falschen Buchstaben getippt hatte. Den falschen Buchstaben musste sie mühsam mit weißer Farbe überdecken und die fehlerhafte Stelle dann mit einem neuen Buchstaben überschreiben. Wenn man eine Zeile fertig getippt hatte, musste man den Buchstaben-Zylinder der Schreibmaschine wieder an den Anfang des Papiers schieben. „Wie einfach war es doch, als es endlich die elektronische Schreibmaschine gab“, dachte sie. Doch auch das war kein Vergleich mit den heutigen Computern. Oft fragte sie sich, wie man früher mit Schreibmaschinen und Briefpost – ohne Email – riesige Unternehmen, Heere und Veranstaltungen organisieren und steuern konnte.

Irgendwann an Weihnachten kaufte ihr Vater den ersten Computer. Sie kann sich nicht mehr genau an Einzelheiten erinnern, aber das erste Computerspiel hat sie nicht vergessen. Stundenlang spielte sie zusammen mit ihren Schwestern. Sie stritten ständig um den Joystick. der Computer löste für lange Zeit den beliebten Fernseher ab, mit dem man sowieso nur zwei Programme empfangen konnte. Dann irgendwann kam das „Internet“. Zunächst nur an der Uni: Jeder Student bekam ein Passwort und in einem großen Saal stand ein Computer neben dem nächsten – insgesamt mindestens fünfzig. In den ersten Jahren des Internets musste man sich noch übers Modem ins Internet einwählen. Dieses machte ein tutendes, piependes und rauschendes Geräusch für mehre Sekunden. Sie erinnerte sich noch ganz genau daran, wie aufgeregt sie war, als sie das erste mal mit Freunden chattete.

Zuletzt fielen ihr noch die gelben Telefonzellen mit den dicken Telefonbüchern ein. Meist war es in den Zellen etwas dreckig und roch übel. Um zu telefonieren, musste man dreißig Pfennig einwerfen – später konnte man auch mit einer speziellen Telefonkarte bezahlen. Die dicken Telefonbücher mit hunderttausenden von Nummern bestanden aus einem hauchdünnen, grauen, mit Namen und Nummern bedrucktem, Papier. Man brauchte ewig, um die richtige Nummer zu finden – vor allem wenn der Gesuchte einen häufigen Nachnamen wie Müller, Bauer oder Maier hatte. Die Telefonzellen wurden sehr oft zweckentfremdet: Wenn es regnete drängten sich in eine Telefonzelle fünf  Teenager oder ein verliebtes Teenie-Paar. In dem Telefonhäuschen führte auch sie die ersten Telefonate mit Jungs und bei Regen hatte auch sie sich mit ihren Freundinnen ins das Häuschen geflüchtet.

„Wie sehr hat sich die Welt in den letzten Jahren verändert“, dachte sie. Dabei war sie doch erst Mitte Dreißig. Wenn sie an die vielen Dinge dachte, die es heute schon nicht mehr gab – wie würde es dann sein, wenn sie achtzig ist? Sie konnte sich plötzlich vorstellen, dass sich alte Leute irgendwann wie Außerirdische fühlen – leben sie im Alter doch meist in einer ganz anderen Welt als in ihrer Kindheit. „Vielleicht wollen sie dann einfach nicht wieder etwas Neues sehen“, dachte sie. „Sie freuen sich dann einfach mal etwas Ruhe zu haben“.

Alltagsgrau
von Evelyn Kremer

Es gibt Tage an denen ihr einfach alles nur Grau vorkommt. Schon am Morgen hat sie keine Lust aufzustehen. Nichts treibt sie, nichts motiviert sie, nichts zieht sie. Immer dasselbe erwartet sie. Erst immer wieder dasselbe öde Frühstück allein am Tisch, ohne Appetit, nur um satt zu sein und nicht umzukippen. Es ist dann noch dunkel draußen und kalt im Winter. Auch die Luft in der Wohnung ist kalt. Im Bett war es am Schönsten.Dann Duschen, sich fertig machen. Sich bemühen, einigermaßen gut auszusehen, trotzt der fahlen Winterhaut und der wenigen Energie: Erst die Zähne putzen, dann Eincremen, dann Schminken, dann die Haare machen. Immer gleich. Manchmal kann sie sich selbst nicht mehr sehen. Würde gerne einfach für einen Tag jemand anderes sein, anders aussehen, die Welt aus anderen Augen betrachten, in einer anderen Wohnung wohnen, einen anderen Job haben. Einfach etwas Abwechslung.

Der Weg zu Arbeit. Oft überlegt sie, welchen anderen Weg sie noch gehen kann um wenigstens auf dieser kurzen Strecke am Tag etwas anderes zu sehen. Mal mit der Straßenbahn, mal mit der U-Bahn, mal mit dem Fahrrad, mal mit dem Bus. Aber eigentlich ist sie alle Wege schon gefahren. Sie kennt jede Straße und jedes Haus, jedes Geschäft. Alles kommt ihr Trist, langweilig und ohne Leben vor. Vielleicht spiegelt sich im Äußeren nur ihr Inneres? Egal. Das kommt aufs gleiche raus.

Bei der Arbeit angekommen, begegnen ihr immer dieselben Gesichter. Eigentlich sind alle Kollegen nett und sie würde sich gerne mit ihnen unterhalten, um mehr über sie zu erfahren. Aber dafür ist keine Zeit. Der Job ist anstrengend und stressig. Manchmal bleibt ihr kaum Zeit zu essen. Wie soll sie sich da auf die Geschichten der Kollegen einlassen? Sie kommt sich vor wie eine Maschine. Wie ein elektrisches Fahrzeug das während des Tages möglichst gut alle Hindernisse und Hürden meistern muss, um am Ende des Tages erschöpft eine Etappe auf einem nie endenden Weg zu erreichen. Die Räder drehen am Abend durch. Das Benzin ist leer. Wenn sie ihren Job am Abend beendet, ist es schon wieder dunkel.

Müde schleppt sie sich nach Hause und schafft es gerade noch etwas zum Abendessen einzukaufen. Ein lustloses Essen. Zu müde zum Telefonieren. Kein Kontakt außer mit Kollegen gehabt. Nur über Arbeitsprojekte, kein persönliches Wort geredet, 136 E-Mail empfangen, 64 E-Mails geschrieben, ständig zusammenzuckend, wenn eine neue E-Mail aufpoppt. Müde hängt sie auf der Couch. Sie zappt durch die Programme und kann sich nur noch Unsinn anschauen. Der Fernseher flimmert, wirres Gerede und wirre Gesten. Kein wirklicher Inhalt. Sie schläft auf der Couch ein und kann sich um Mitternacht nur noch ins Bett schleppen.

Unruhig schläft sie bist zum nächsten Morgen. Sie träumt von E-Mails, die sie noch beantworten muss. Dann hat sie wilde Träume einer Reise, sie trifft Menschen. Oft erlebt sie im Traum mehr, als im Alltag. Dann um sieben Uhr klingelt der Wecker. Nichts treibt sie, nichts motiviert sie, nichts zieht sie. Immer dasselbe erwartet sie. Erst immer wieder dasselbe öde Frühstück allein am Tisch, ohne Appetit, nur um satt zu sein und nicht umzukippen. Es ist dann noch dunkel draußen und kalt im Winter.

Eigentlich hatte sie gute Laune. Es ist Sonntag und sie hatte sich viel vorgenommen: Sie wollte nach dem Besuch ihrer Eltern noch ins Museum und abends mit Freunden ins Kino. Doch beim Besuch ihrer Eltern nimmt der Tag eine unschöne Wendung. Sie sitzen beim Kaffee. Ihr Bruder ist auch da. Die Mutter beschwert sich, dass sie sich „so lange“ nicht gesehen haben. Sie kann das nicht begreifen. Sie ist nicht zur Belustigung ihrer Mutter da. Die hat ewig Zeit, ist in Rente und springt nur noch von einem Event zum nächsten. Erst vor einer Woche haben sie sich getroffen – zum Abendessen. Ihre Mutter versteht nicht, dass sie einen anstrengenden Job hat und diese Woche über fünfzig Stunden in der Firma war. Sie ist froh, wenn sie am Wochenende ein bisschen Zeit für ihre Eltern hat – und dann muss sie sich diese Vorwürfe anhören.

Die Eltern erzählen von einem Geburtstag, wo sie am Abend zuvor gewesen sind. Es war der siebzigste Geburtstag eines ehemaligen Kollegen des Vaters. Sie waren in ein schickes Hotel eingeladen, zusammen mit zwanzig anderen Gästen. Nun tratschen und lästern ihre Eltern über das Erlebte: Die Tochter der Bekannten sei eine kühle und unattraktive Person, zwei Kinder habe sie und sei schon zwei mal geschieden. Der Sohn sei dick mit Glatze und studiere immer noch. Die Frau des Geburtstagskinds sei bereits dement und die anderen Gäste –  meist Verwandte des Geburtstagskindes – seien dümmlich. Auch die Musik und das Essen waren nicht gut. „Wie kann man so lästern über einen Abend für den der Gastgeber viel Geld ausgegeben hat? Sicher hat er sich viel Mühe für die Vorbereitung der Feier gemacht“, denkt sie und nimmt sich vor, selbst nie wieder eine Party zu geben.

Nachdem die Geburtstagsfeier durch ist, ist sie dran. Die Eltern fragen, was es Neues gibt und der Bruder fragt penetrant, ob es nun endlich einen neuen Mann in ihrem Leben gebe. „Du suchst Dir nie die Richtigen. Such Dir mal einen bodenständigen“, sagt die Mutter und dann ergänzt der Bruder: „Kein Wunder. Du treibst Dich mit den falschen Leuten rum. Deine Freundin ist schrecklich. Eine richtige Schlampe. Außerdem geht man in Deinem Alter nicht mehr auf Parties, um sich von jungen Typen anhimmeln zu lassen“. Der Vater fügt aus Spaß hinzu „das sind wahrscheinlich eher Orgien“. Er wundert sich, dass keiner lacht.

Die Mutter fragt, ob sie noch ein Stück Kuchen haben wolle. Sie sagt, dass ihr der Appetit vergangen sei. Verwundert schauen die Eltern und der Bruder sie an: „Du hast heute wohl schlechte Laune“, sagt die Mutter. „Philipp war bodenständig“ sagt sie, „und immerhin waren wir fünf Jahre zusammen, bevor er sich getrennt hat“. Der Bruder kommentiert „ja, aber eigentlich war er ein Arschloch wie man später festgestellt hat. Sein Vater war auch ein Macho – seltsam, dass Du dass nicht gemerkt hast“.

„Was ist denn eigentlich mit Dir und den Frauen?“, fragt die Mutter den Bruder. „Magst Du nicht auch mal eine kennenlernen? Du hast ja noch die Chance, Kinder zu bekommen mit einer netten Frau“. Die Schwester wird kreidebleich. Sie sagt: „Bei mir siehst Du wohl keine Chance mehr auf ein Kind, oder?“. Die Mutter antwortet „na bei Dir ist der Zug ja wirklich fast abgefahren. Aber das ist ja nicht schlimm.“ Dann fragt die Mutter, wie es ihrer Freundin Nadja geht, die gerade schwanger ist. Ihr Bruder fragt direkt: „Ist der Mann von Nadja ein Deutscher?“. „Nein“ erwidert sie. „Er ist ein sehr netter und intelligenter Türke“. „Wieder eine Deutsche, die sich einen Dunklen nimmt“, sagt der Bruder und macht eine abfällige Geste. „Die Deutschen packen es einfach nicht mehr, Kinder in die Welt zu setzen. Eine verkommene Generation“.

Sie hat inzwischen einen Kloß im Hals und muss die Tränen zurückhalten. Sie versucht, die Contenance zu wahren. Sie hält noch durch, bis die Kaffee-Tafel aufgehoben wird und alle ein frommes Sonntagsgesicht machen. Dann versucht sie, sich schnellstmöglich zu verabschieden. Sie drückt ihren Eltern nur kurz einen Kuss auf die Backe. Die Mutter ist verwundert, dass sie sich so schnell verabschiedet.

Im Auto kommen ihr die Tränen. Sie heult auf der ganzen Rückfahrt und kann sich kaum auf den Verkehr konzentrieren. Am liebsten würde sie einen Unfall bauen. Als sie zu Hause ankommt, ruft ihre Mutter an: „Ich wollte mich erkundigen, was mit Dir los ist? Du hast heute so angespannt gewirkt. Ich glaube Du bist gestresst von der Arbeit und brauchst mal wieder Urlaub. Wollen wir nicht alle zusammen eine Woche weg fahren?“.

Herbstmorgen
von Evelyn Kremer

Plötzlich ist es Herbst. Ich wache auf und es ungewöhnlich dunkel im Zimmer – obwohl die Vorhänge offen sind. Heute Nacht habe ich das erste mal wieder gefroren. Ich habe mir mitten in der Nacht eine Decke aus dem Schrank geholt. Jetzt lausche ich und höre, dass es leicht regnet. Durch das gekippte Fenster dringt eine feuchte und kühle Luft ins Zimmer. Ich ziehe noch einmal die Decke über mich und atme die Luft, die seit Wochen nicht so frisch war wegen der Wärme. Dann schlafe ich noch einmal ein – irgendwie bin ich träge heute. Meine Stimmung ist etwas melancholisch. Ich denke an die letzten Sommertage.

Als ich zum Bäcker gehe, läuten die Glocken der Kirche – ich höre sie, weil es ruhiger ist auf der Straße als in den letzten Wochen. Es nieselt und ich habe den Regenschirm vergessen. Außerdem ist es noch kühler als ich dachte. Die offenen Schuhe kann ich die nächsten Tage nicht mehr anziehen. Meine Füße sind feucht. Ich friere. In der Bäckerei ist es warm und es riecht nach frischen Brötchen. Ich beeile mich, nach Hause zu laufen, um nicht allzu nass zu werden.

Auf dem Weg zurück, rieche ich faule Blätter: Ein schwerer aber beruhigender Geruch. Ein Windstoß weht weitere Blätter vom Baum; Blätter in Rot, Braun, Gelb. Manche Bäume verlieren  nur langsam ihr buntes Laub. Der Himmel ist grau. Es liegt ein leichter Nebel in der Luft. Die Straße wirkt trist. Der Regen hat die Fassaden genässt und sie wirken dunkler als sonst. Ich freue mich auf die Wohnung.

Als ich eintrete, merke ich, dass es auch hier etwas kühl ist. Ich stelle die Heizung an: Das Heizungswasser rauscht in den Rohren und ich lehne mich kurz an die Heizung bis sie warm wird. Eine kleine Spinne sitzt auf der Wand. Auch sie hat sich vor der Kälte ins Haus geflüchtet. Ich krame einen warmen Pullover und einen Schal aus den oberen Fächern des Schrankes und mache mir einen heißen Tee. Ich habe mehr Hunger als an den heißen Sommermorgen. Ich esse drei statt zwei Brötchen mit Marmelade.

Nach dem Frühstück fühle ich eine schwere Müdigkeit über mich kommen. Ich zünde im Wohnzimmer eine Kerze an. Ich lege mich auf die Couch und wickele mich in meine warme Wolldecke.  Eigentlich wollte ich heute Vormittag ins Museum. Aber ich beschließe, ein Buch zu lesen. Endlich kann man sich wieder aufs Lesen konzentrieren und hat nicht den Drang, in die Sonne zu gehen. Nach den ersten Zeilen lausche ich dem leichten Regen, der an die Fenster tropft und den Vögeln, die noch nicht in den Süden gezogen sind. Mich überkommt eine schwere Müdigkeit. Dann schlafe ich ein. Das Buch auf meiner Brust. Ich habe gerade ein Kapitel geschafft.

2016 © by Evelyn Kremer

evelyn.kremer@gmx.de

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