Kategorie-Archiv: Bürokratie

Das Dritte Reich und die DDR waren Wertegemeinschaften – wir sollen uns tunlichst davon fernhalten

Von Giuseppe Gracia. Politiker reden im Moment gern von „Wertegemeinschaft“ oder „Leitkultur“. Als wolle man uns in bewegten Zeiten mit harmonisierenden Werten und Ansichten beglücken. Was bedeutet der Versuch, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln?

 

Von Giuseppe Gracia.

Im Klassiker „L’etranger“ von Albert Camus (1942) wird der Fremde, eine Figur von verstörender Ehrlichkeit, hingerichtet: letztlich nicht deshalb, weil er auf jemanden schiesst, sondern weil er an der Beerdigung seiner Mutter nicht weint und sich auch sonst weigert, mehrheitsfähige Gefühle und Ansichten an den Tag zu legen. Er verstösst gegen die moralische Konformität, das wird ihm zum Verhängnis.

Wie sieht es heute aus mit dem Zwang zur moralischen Konformität? Kürzlich sprach die Publizistin Cora Stephan hier von „Denkverboten statt Debatte„. Sie beschreibt das Phänomen einer sich verengenden Meinungsäusserungsfreiheit in Europa, bei Reizthemen wie Islam, Migrationspolitik oder Gender. Tatsächlich scheinen nicht wenige Leute das Gefühl zu haben, irgendwo da draussen gäbe es eine fürsorgliche Aufklärungs-Gendarmerie, die zwar nicht über totalitäre Strukturen verfügt, doch aber über eine massenmediale Schwarmintelligenz.  Was bedeutet das für unser Selbstverständnis als säkulare Gesellschaft? Säkularismus meint ja nicht nur die Trennung von Staat und Religion, von Gesetzgebung und persönlicher Weltanschauung. Sondern die Erkenntnis, dass eine liberale Gesellschaft allen Mitgliedern eine gedanklich-moralische Sphäre der Freiheit garantieren muss. Das geht nicht ohne Trennung von Macht und Moral.

Und dennoch reden Politiker im Moment gern von „Wertegemeinschaft“ oder „Leitkultur“. Als wolle man uns in bewegten Zeiten mit harmonisierenden Werten und Ansichten beglücken. Der Mitte-Links-Block tut dies gewöhnlich mit einem merkwürdig missionarischen Relativismus, der zwar nichts wissen will von einer zivilisatorischen Überlegenheit des Westens, aber trotzdem danach strebt, möglichst viele in diesen Westen hinein zu erziehen. Im bürgerlichen Mitte-Block dominiert ein geglätteter Pragmatismus zwecks Machterhalt, verkauft als angebliche Vernunft der Mehrheit. Während man im rechten Block von der Wiedergeburt einer patriotischen Gesinnungsgemeinschaft träumt – von einer Gemeinschaft, die auch als gedanklicher Grenzzaun gegen fremdländische Identitätsverwirrungen taugt.

Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft – wir sollten uns davon fernhalten

Was ist davon zu halten? Was bedeutet der Versuch, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln? Dazu der Philosoph Robert Spaemann 2001: „Es ist gefährlich, vom Staat als ‚Wertegemeinschaft‘ zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zu Gunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben. Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft. Die Werte – Nation, Rasse, Gesundheit – hatten dem Gesetz gegenüber immer den Vorrang. Das Europa von heute sollte sich von diesem gefährlichen Weg fernhalten.“

Und wie sieht es mit unseren Medien aus? Gewiss ist die Rede von der „Lügenpresse“ übertrieben und führt in den Nebel der Verschwörungstheorien. Trotzdem darf man feststellen, dass einige Medienschaffende, sei es beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder in der Presse, . Statt für Meinungsfreiheit kämpfen sie lieber gegen die „Hetze“ politischer Gegner. Statt einen Pluralismus der Anschauungen zuzulassen schüchtern sie lieber mit der Diskriminierungs-Keule ein – Seite an Seite mit Politikern und ausgewählten Sozialingenieuren. Das Ziel ist offenbar nicht mehr die Vermittlung umstrittener Sachverhalte, sondern die Formung eines moralisch erwünschten Volkskörpers.

Nur folgerichtig, wenn es dann zur journalistisch verpackten Propaganda für gesinnungsverwandte Regierungsprogramme kommt, wie eine aktuelle Studie der Hamburg Media School zeigt. Die Auswertung von 34 000 Pressebeiträgen zwischen 2009 und 2015 zum Thema Flüchtlinge ergab: 82 Prozent der Beiträge waren positiv, nur 6 Prozent hinterfragten kritisch die Flüchtlingspolitik der Regierung. Leider gibt es keinen Grund zur Annahme, dass eine solche Regierungsnähe nur in deutschen Medien oder nur beim Thema Migration vorkommt. So wenig wie die Verfolgung des sogennaten „Hate speech“ nur bei Facebook stattfindet.

Die Kirchen dienen sich dem Staat als Moralinspender an

Dazu erklärt die Amerikanische Anwaltskammer sinngemäss: Äussert sich jemand heutzutage über eine Gruppe von Menschen, die sich deswegen beleidigt fühlt, ist das bereits „Hate Speech“. Mit anderen Worten: es werden Gefühle und Anschauungen kriminalisiert und aus der Öffentlichkeit verbannt, mit Regierungsbeteiligung. Ein Beispiel aus Deutschland ist Bundesjustizminister Heiko Maas: dieser arbeitet seit 2015 mit Facebook und anderen Organisationen an „Vorschlägen für den nachhaltigen und effektiven Umgang mit Hasskriminalität“. Das geht in Richtung einer Mind Police, die ihre Einsatzwagen bestimmt nicht nur durch die sozialen Medien fahren lassen wird.

Dass diese Probleme zur Zeit durch einen anti-säkularen Islam verschärft werden, ist bekannt. Aber wie verhalten sich eigentlich die christlichen Kirchen? Im Moment empfehlen sie sich der Gesellschaft weniger durch den Anspruch, den geoffenbarten Willen Gottes kundzutun und die Auferstehung von den Toten zu bezeugen, als durch das Angebot, die Gesellschaft durch Wertevermittlung zu stabilisieren. Also auch hier eine Liebschaft zwischen Macht und Moral? Es sieht leider danach aus, wenn man sich dem Staat als zivilreligiöser Moralinspender anbietet.

Und dann gibt es ja auch bei den Christen das Lager der Fundamentalisten, die den Säkularismus überhaupt ablehnen und die Moderne dämonisieren. Das ist eine tragische Entwicklung. Nicht nur deshalb, weil damit der freiheitliche Staat ohne genuin christliche Verteidigung bleibt. Sondern auch deshalb, weil Jesus selbst die Unterscheidung zwischen Gott und Kaiser gemacht hat, zwischen weltlicher Macht und persönlicher Weltanschauung.

Christen, die das ernst nehmen, könnten für die Verteidigung des Rechtsstaates heute sehr wertvoll sein. Sie müssen den Säkularismus nicht als Gegensatz zum Christentum oder als Feind des Glaubens sehen, sondern als Kind aus der gleichen Familie. Dazu erklärt der Oxford-Professor Larry Siedentop im Buch „Die Erfindung des Individuums„, wie das christliche Denken den Weg zum Liberalismus nicht nur geebnet, sondern überhaupt erst ermöglicht hat und warum der Säkularismus aufgrund seiner religiösen Wurzeln gerade von Christen verteidigt werden sollte.

Ein Stein, den wir im Einsatz für die Freiheit immer wieder hochrollen müssen

So scheint die Trennung zwischen Macht und Moral immer weniger Verbündete zu finden. Sei es aufgrund eines Staates, der sich als Wertegemeinschaft versteht, oder aufgrund der Volkstherapeutik einer humanistisch erleuchteten Elite. Aber vielleicht gehört es gerade zum Wesen der individuellen Freiheit, dass ihre Verteidgung so anspruchsvoll ist. Denn der Einsatz für diese Freiheit schliesst stets die Freiheit dessen mitein, der mir Widerstand leistet, der mich ärgert und abstösst. Das bedeutet laufende Toleranzzumutungen und eine Pflicht zur Selbstdisziplinierung.

Natürlich darf man sich in einer Demokratie wünschen, dass die Mehrheit der Menschen, die zum Gesetzesgehorsam verpflichtet sind, die Wertintuitionen teilen, die den Gesetzen zugrunde liegen. Sonst haben auf die Dauer die Gesetze selber keinen Bestand. Aber diese Intuitionen zu teilen, kann nicht selbst wiederum erzwungen oder zur Bürgerpflicht erhoben werden. Denn das wäre ein Verrat an der Freiheit, die es ja gerade zu verteidigen gilt. Eine Verteidigung, die ohne Generallösungen auskommen muss und nie aufhört.

Das bringt uns zu Albert Camus zurück. Im „Mythos von Sysiphos“ (1942) beschreibt er, wie Sysiphos von den Göttern dazu verdammt wurde, auf dem Rücken eines unbesiegbaren Berges auf Ewig einen Stein hochzurollen, nur um ihn jedes Mal wieder hinabrollen zu sehen. Camus sieht darin ein Sinnbild der Existenz: den ebenso absurden wie grossen Kampf um die Freiheit. Camus schlägt vor, dass wir uns Sysiphos als glücklichen Menschen vorstellen, weil er trotz seiner Lage nicht aufgibt und dadurch grösser wird als sein Schicksal. Eine bis heute treffende Parabel. Zumindest dann, wenn wir uns vorstellen, dass unser aktuelles Ringen um die Trennung von Macht und Moral sich so anfühlt wie dieser Stein, den wir im Einsatz für die Freiheit immer wieder hochrollen müssen, auf den Berg menschlicher Schwächen und Bedrohungen.

Giuseppe Gracia ist freier Autor und Infobeauftrager des Bistums Chur

Siehe auch:

Dieses unser Land gehört wieder einmal selbsternannten Eliten, diesmal den neuen Moralisten.

https://psychosputnik.wordpress.com/2016/07/18/dieses-unser-land-gehoert-wieder-einmal-selbsternannten-eliten-diesmal-den-neuen-moralisten/

und

Psychokratie – eine neue Nomenklatura in Deutschland

https://psychosputnik.wordpress.com/2015/06/13/psychokratie-eine-neue-nomenklatura-in-deutschland/

Die stärkste alles beherrschende, selbstakkumulierende Macht ist nicht mehr der Kapitalismus, sondern die Bürokratie, die Rackets der Verwaltung.

Ich habe einem Richter, der mir einen Kindermörder zur Psychotherapie schicken wollte, geschrieben, daß ich bei dem Täter nichts zum Psychotherapieren sehe und daß es Menschen, gibt, die Böses tun, weil sie es tun _wollen_, und daß dann außer dieses Wollens gar keine andere Ursache gibt, und daß diese Täter nicht psychisch krank sind und nicht behandelt, sondern bekämpft, verfolgt und bestraft werden sollen. Und daß er seine Pflicht als Richter erfüllen soll und sich nicht seiner Verantwortung entzieht und den Verbrecher psychologisiert und in den Bereich der Psychiatrie aus dem Bereich der Justiz aussortiert, denn Verstehen ist nicht Exkulpieren. Ich bekam keine Antwort. Diese meine Meinung teilen die meisten meiner „Kollegen“ nicht, denn die Psychokratie ist sehr bemüht, alles und jedes als behandelbar zu erklären, um die Psychoindustrie maximal auszulasten und die ständig wachsende Macht der Psycho-Rackets weiter auszubauen und zu akkumulieren. Nicht der Kapitalismus ist heute die stärkste Macht, sonder die selbstakkumulierende Macht den Menschen verwaltender, ihn verdinglichender, ständig wachsender, alles fressender bürokratischer Krake der Institionen. So war die SU, so ist die EU.

Die stärkste alles beherrschende, selbstakkumulierende Macht ist nicht mehr der Kapitalismus, sondern die Bürokratie, die Rackets der Verwaltung.

Bürokratie, der Krake, der ohne Wasser leben kann (1)

Eines Morgens, es ist schon eine Weile her, weckte mich mein Radiowecker mit folgender Nachricht: Die Inhaberin einer Würstchenbude in München hat vom Finanzamt einen Umsatzsteuerbescheid über gut zwei Milliarden Euro erhalten. Sie meldete den Irrtum natürlich sofort, aber beim Finanzamt war man nicht so schnell bereit, diesen einzugestehen. Also nahm die Steuerschuldnerin anwaltliche Hilfe in Anspruch. Bei einem Streitwert von rund zwei Milliarden Euro hätte diese – laut Radiomeldung – etwa zwei Millionen Euro gekostet. Indes der Anwalt war bescheiden und wollte sich schon mit 600.000 Euro zufrieden geben. Auch das war dem Finanzamt aber zu viel. Also zog man vor Gericht.

Doch egal wie der Streit ausgegangen ist: Die viel zitierten Steuerzahler, also wir alle, sind die Dummen, denn wir müssen die Zeche zahlen. Auf die Ursache des Fehlers angesprochen, habe das Finanzamt lediglich versichert, man habe die internen Abläufe verbessert. Ein kluger Kopf beim Rundfunk hat ausgerechnet, dass die Inhaberin der Würstchenbude einen Jahresumsatz von zehn Milliarden Würstchen, mit Brötchen versteht sich, hätte haben müssen, um auf diese Steuerschuld zu kommen. Die 800 Millionen Hungernden dieser Welt hätten es ihr gedankt. Die wahre Schuld betrug übrigens etwas über 100 Euro.

Was lernen wir aus dieser Meldung, die immerhin die segensreiche Funktion hatte, mich sofort hellwach zu machen? Albert Einstein hatte recht mit seiner Bemerkung: „Zwei Dinge sind grenzenlos: Das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir noch nicht sicher.“ Damit hätten wir eine Ursache der Bürokratie ausgemacht. Den Weg zu der zweiten eröffnet uns ein Gedanke des französischen Philosophen und Lyrikers Paul Valéry: „Zwei Dinge bedrohen die Welt: Die Ordnung und die Unordnung“. Fazit: Bürokratie ist unvermeidlich, aus ihren Klauen gibt es kein Entrinnen, nicht für Bürger, nicht für Politiker und schon gar nicht für die Bürokraten selbst.

Was ist eigentlich Bürokratie genau? Was meinen wir, wenn wir über Bürokratie klagen?

„Die Bürokratie ist ein gigantischer Mechanismus, der von Zwergen bedient wird.“ Mit diesem Satz von Honoré de Balzac, dessen ungeheures, unvergleichlich intuitives Wissen kein Geringerer als Stefan Zweig gerühmt hat, ist an sich schon alles gesagt. Nein, dies noch nicht: „Ein Bürokrat ist ein Mensch, der schon als Säugling unter der unendlichen Weite seines Laufstalls gelitten hat“ (Arnulf Rating, Kabarettist).

Das deutsche Wort „Bürokratie“ stammt – wie nicht wenige deutsche Wörter – aus zwei Sprachen: zur Hälfte aus dem Französischen und zur anderen Hälfte aus dem Griechischen. „Bureau“ bezeichnet im Französischen den Schreibtisch, aber auch das Arbeitszimmer, die Amtsstube, eine Gleichsetzung übrigens, die wir auch im Arabischen kennen, dort bedeutet „maktab“ (ﻣﻛﺗﺐ) ebenfalls Schreibtisch und Arbeitszimmer. Bureau leitete sich seinerseits ursprünglich von „bure“ ab, einem groben Wollstoff, mit dem man Schreibtische bezog. Aus dem Bezug wurde dann der Tisch selbst und daraus wiederum, weil er das wesentliche Utensil bildete, der gesamte Arbeitsraum. Den Wortteil „kratie“ kennen wir beispielsweise aus Demokratie, Aristokratie und Theo­kratie; er bedeutet „Herrschaft“ vom griechischen „krateia“. Bürokratie heißt demnach „Herrschaft des Arbeitszimmers oder der Amtsstube“.

Der Begriff „bureaucratie“ wurde von dem französischen Regierungsbeamten (Marineministerium) und Wirtschaftswissenschaftler (ihm wird das Motto zugeschrieben: „Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même“) Vincent de Gournay (1712 – 1759) geprägt, der die Tendenz zu immer mehr Schreibstuben und Kanzleien beobachtete (Werner Bruns, Zeitbombe Bürokratie. So verwalten wir uns zu Tode, S. 29).

Was fangen wir mit diesen Begriffsbestimmungen und Erklärungen an? Und vor allem: Was ist daran so aufregend und bedeutungsvoll, dass der Abbau von Bürokratie zur politischen „Chefsache“ geworden ist, mit der Bundeskanzler, Ministerpräsidenten und Minister, jeweils beiderlei Geschlechts, in Wahlkämpfen Stimmen zu gewinnen versuchen? Und warum ist „Bürokrat“ zum Schimpfwort geworden?

Bürokratie ist keine europäische Erfindung sondern total international

Schauen wir uns zunächst mal an, wie Verwaltungssysteme funktionierten, bevor sie „vom Schreibtisch aus“ betrieben wurden. An dieser Stelle ist es wichtig zu erkennen, dass wir uns von einer eurozentrierten Betrachtungsweise lösen müssen, zu der wir natürlicherweise neigen. Henry Jacoby (Die Bürokratisierung der Welt, Seite 23) weist darauf hin, dass „Bürokratie keine europäische Erfindung ist. Bürokratie hat es überall dort gegeben, wo es Aufgaben für große Gruppen von Menschen in einem großen Raum zentral zu lösen gab.“ Mag der Begriff „Bürokratie“ auch europäischen Ursprungs sein, sein Inhalt ist es keineswegs.

Zwar hat irgendjemand, der den Europäern schmeicheln wollte, mal gesagt, dass in Europa bereits eine Hochkultur herrschte, als die Bewohner Amerikas, womit wohl die Indianer gemeint waren, noch auf Fellen schliefen. Aber er hätte natürlich auch sagen können, dass die heute als rückständig geschmähten Araber über öffentliche Bäder, Krankenhäuser und Bibliotheken verfügten, als in den europäischen Städten noch ein Gestank herrschte, wie ihn Patrick Süskind für Paris in seinem Buch „Das Parfüm“ so anschaulich beschrieben hat. Entsprechendes ließe sich über das Reich der Inka, der alten Perser, Ägypter, Inder oder Chinesen und natürlich der Römer sagen. „Ägypten ist schon im 12. Jahrhundert vor Christus ein wahrer Beamtenstaat mit allen charakteristischen Zügen einer bürokratischen Verwaltung“ (Otto Hintze, Beamtentum und Bürokratie, S. 28).

Der persische König Dariusch I. (522 bis 486 vor Christi Geburt), den wir bezeichnenderweise überwiegend unter seinem griechischen Namen Dareios kennen, herrschte über ein riesiges Reich, das „nur durch eine bewundernswert funktionierende Verwaltung zusammengehalten werden“ konnte, wie Heidemarie Koch in ihrem lesenswerten Buch „Es kündet Dareios der König …“ schreibt. „Befand sich beispielsweise ein Beamter auf Reisen, so führte er mit sich einen gesiegelten Reisepaß. Auf diesem war vermerkt, in wessen Auftrag er reiste, welche Strecke er zurückzulegen hatte und was er an Mehl, Wein und auch Fleisch für seinen persönlichen Unterhalt und gegebenenfalls für den seiner Begleitung und Dienerschaft zu erhalten hatte. Über diese Ausgaben wurden dann gleich wieder Buch geführt.“ Von jedem in Keilschrift auf kleine Tontafeln geritzten Beleg wurden zwei Abschriften gefertigt. „Ein Exemplar verblieb bei der Poststation, eine Abschrift ging an die Intendatur des Verwaltungsbezirks und eine weitere direkt an die Zentrale in Persepolis.“

Tontafeln und Sechsaugen-Prinzip in Persien

„Doch das achämenidische Kontrollsystem“, schreibt Koch weiter, „erschöpfte sich nicht im Sammeln dieser Einzelbelege. Alle zwei Monate mußte eine zusammenfassende Abrechnung aller Einzelposten angefertigt werden. Diese erleichterte auch der Zentrale in Persepolis die Überprüfung.“ Schließlich wurden noch „Jahresendabrechnungen“ erstellt. „In ihnen werden sämtliche Einnahmen und Ausgaben eines Jahres zusammengestellt. Diese Tontafeln müssen natürlich ein viel größeres Format haben. Für die Richtigkeit dieser Gesamtabrechnungen sind drei Beamte verantwortlich.“ Und so weiter und so weiter. Also, Bürokratie schon vor zweieinhalbtausend Jahren. Und wer weiß, wie es Tausend Jahre davor bei den Chinesen ausgesehen hat!

Wir können also durchaus als Zwischenbilanz festhalten, dass das Phänomen „Bürokratie“ wesentlich älter ist als der Begriff, der dieses Phänomen bezeichnet. Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine rationale, systematische, nachvollziehbare und damit kontrollierbare Methode der Verwaltung. Diese stellt sich einfach als notwendig heraus, sobald das zu verwaltende Gebiet und die Zahl der darin lebenden Menschen eine kritische Größe überschreiten, die ohne bürokratische Hilfen nicht mehr beherrschbar ist. In diesem Sinne ist Bürokratie zunächst wertfrei nichts weiter als ein Hilfsmittel oder eine Methode, ein Bündel von Maßnahmen, mit denen das erstrebte Ziel möglichst effektiv erreicht werden kann. So wird „Bürokratie“ auch heute noch nicht selten als Synonym für „Verwaltung“ gebraucht, ohne dass damit von vornherein ein negativer Beigeschmack verbunden ist.

Wer sich über unsere heutige Bürokratie beklagt, tut gut daran, sich einmal die Regelungen aus der „guten alten Zeit“ in den polizeistaatlich geprägten deutschen Staaten anzuschauen, namentlich in Preußen, aber auch in Bayern, Württemberg, Sachsen und im habsburgischen Österreich. Als Polizeistaat bezeichnen wir einen Staat, der in sehr starker, aus heutiger Sicht zu starker, Weise in das Leben seiner Bürger reglementierend eingreift. Das kann in zwei Richtungen gehen: in Richtung „Wohlfahrtsstaat“ und in Richtung „Überwachungsstaat“, schlimmstenfalls in beide. Dabei wurde Polizei im Sinne der klassischen Formulierung in § 10 II 17 ALR, des Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (erst 1931 durch Einführung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes [PVG] abgelöst), verstanden: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Policey.“

Die Polizey des 18. und frühen 19. Jahrhunderts unterschied sich nicht nur in ihrer Schreibweise von der heutigen Polizei. Die Polizey war nicht allein für Überwachung und Bestrafung, sondern auch für Gesetzgebung und die private wie allgemeine „Glückseligkeit“ zuständig. Sie leitete sich vom griechischen „politeia“ – Staat, Verfassung – ab und erhob die öffentliche Sorge für die „Wohlfahrt“ der Einzelnen wie des ganzen Gemeinwesens zu ihrem Anliegen. Die Polizey verkörperte damit die gesamte innere Staatsverwaltung, und ihr Gegenstandsbereich wurde nahezu grenzenlos. So gab es eine „Moralpolizey“ neben der „Kultur- oder Bildungs-Polizey“, es existierte die „medizinische Polizey“ ebenso wie die „Armenpolizey“ oder die „Bevölkerungspolizey“, die „Polizey der Sittlichkeit“, die „Polizey der Erziehung“ und viele mehr. Der ganze Komplex der Erziehung und Bildung, der Religion und des sittlichen Verhaltens war in den Bereich der Polizey mit einbezogen.

Wer mehr wissen möchte lese den informativen Beitrag „Die Polizey und die Mütter“ von Sabine Toppe im Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dem der vorstehende Absatz entnommen ist.

In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Hat Amerika es besser?

Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.

Der alte Goethe stieß einst seinen sprichwörtlichen Seufzer aus „Amerika, du hast es besser“. Aber da kannte er die US-amerikanische Bürokratie noch nicht. Wernher von Braun (1912 – 1977) hat dazu lakonisch festgestellt: „Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Probleme zu lösen: die Schwerkraft und der Papierkrieg. Mit der Schwerkraft wären wir fertig geworden.“  In jedem der 50 Bundesstaaten gibt es mindestens eine kuriose, meist uralte Bestimmung, die aber heute noch gilt. Sehr viele betreffen das Sexualleben, wie das bei den als prüde geltenden Amerikanern (Vorsicht „Generalverdacht“!) nicht anders zu erwarten war.

(1) Alabama. Männer dürfen ihre Ehefrauen nur mit einem Stock prügeln, dessen Durchmesser nicht größer ist als der ihres Daumens. Das erinnert fatal an die Festlegung der Steingröße für die Steinigung im iranischen Strafgesetzbuch.

(2) Alaska. In Fairbanks dürfen es Bewohner nicht zulassen, dass sich Elche auf offener Straße paaren.

(3) Arizona. Rock ist Pflicht. In Tucson dürfen Frauen keine Hosen tragen.

(4) Arkansas. In Little Rock, der Heimatstadt von US-Ex-Präsident Bill Clinton (das war der Mann aus dem „Oral Office“), kann Flirten in der Öffentlichkeit mit 30 Tagen Gefängnis bestraft werden.

(5) Colorado. In Denver ist es verboten, seinen Staubsauger an die Nachbarn auszuleihen.

(6) Connecticut. Der Sonntag gehört Gott allein. In Hartford ist es strengstens verboten, Frauen am Tag des Herrn zu küssen.

(7) Delaware. In Lewes gilt es als illegal, figurbetonte Hosen zu tragen.

(8) Florida. Ledige, geschiedene und verwitwete Frauen dürfen an Sonn- und Feiertagen nicht Fallschirm springen.

(9) Georgia. In Modehäusern ist das Entkleiden von Schaufensterpuppen ohne zugezogene Vorhänge illegal.

(10)  Hawaii. Wer sich in der Öffentlichkeit nur mit einer Badehose zeigt, muss mit Bestrafung rechnen.

(11)  Idaho. In Coeur d’Alene steht Sex im Auto unter Strafe; Polizisten, die „Täter“ auf frischer Tat ertappen, müssen vor der Festnahme jedoch hupen und dann drei Minuten warten. Außerehelicher Sex ist seit 1921 verboten.

(12)  Illinois. Wer in Oblong an seinem Hochzeitstag jagen oder fischen geht, muss auf Sex verzichten.

(13) Indiana. In Gary steht es unter Strafe, innerhalb von vier Stunden nach dem Genuss von Knoblauch ins Theater zu gehen.

(14)  Iowa. Mit Fahne läuft nichts. In Aimes dürfen Ehemänner nicht mehr als drei Schluck Bier trinken, bevor sie sich zu ihren Frauen ins Bett legen.

(15)  Kalifornien. In Pasadena dürfen Sekretärinnen nicht mit ihrem Chef allein in einem Zimmer sein.

(16)  Kansas. In Wichita ist die Misshandlung der Schwiegermutter kein Grund für eine Scheidung.

(17)  Kentucky. Frauen dürfen nicht im Badeanzug auf die Straße – es sei denn, sie wiegen weniger als 42 bzw. mehr als 92 Kilo, oder sie sind bewaffnet.

(18)  Louisiana. Gurgeln in der Öffentlichkeit ist verboten.

(19)  Maine. In Portland dürfen Männer Frauen nicht mit einer Feder am Kinn kitzeln.

(20)  Maryland. In Baltimore müssen verliebte Pärchen vorsichtig sein. Es ist illegal, sich länger als eine Sekunde offen zu küssen.

(21)  Massachusetts. In Salem dürfen selbst verheiratete Paare nicht nackt in Mietwohnungen schlafen.

(22)  Michigan. In Detroit ist Geschlechtsverkehr im Auto illegal, außer auf dem eigenen Grundstück. Fluchen in Gegenwart von Kindern ist nach einem Gesetz von 1897 verboten.

(23)  Minnesota. In Alexandria ist Sex zwischen Ehepartnern verboten, wenn der Mann Mundgeruch hat.

(24)  Mississippi. Bärtige Männer müssen sich in Acht nehmen. Das Rasieren auf der Hauptstraße ist verboten.

(25)  Missouri. In Leadwood ist es Piloten verboten, während des Flugs Wassermelone zu essen.

(26)  Montana. In Bozeman steht Sex im eigenen Vorgarten nach Sonnenuntergang unter Strafe.

(27)  Nebraska. In Hastings müssen Ehepartner beim Sex Nachthemden tragen.

(28)  Nevada. In Las Vegas ist es illegal, sein Gebiss zu verpfänden.

(29)  New Hampshire. Wer unter falschem Namen zum Schäferstündchen im Hotel eincheckt, macht sich strafbar.

(30)  New Jersey. Wer in Liberty Corner beim Sex im Auto versehentlich an die Hupe gerät, kann mit Gefängnis bestraft werden.

(31)  New Mexico. In Carrizozo ist es Frauen streng verboten, mit einem Damenbart oder mit unrasierten Beinen in der Öffentlichkeit zu erscheinen.

(32)  New York. In Brooklyn dürfen Esel nicht in Badewannen schlafen.

(33)  North Carolina. Paare dürfen nur dann in einem Hotelzimmer schlafen, wenn die Betten einen Mindestabstand von 60 Zentimetern haben.

(34)  North Dakota. Beim Schlafen Schuhe zu tragen ist verboten.

(35)  Ohio. In Oxford dürfen sich Frauen nicht vor Bildern, die Männer zeigen, ausziehen.

(36)  Oklahoma. In Clinton ist es verboten, anderen beim Sex zuzuschauen und dabei zu masturbieren.

(37)  Oregon. In Willowdale dürfen Ehemänner beim Sex nicht fluchen.

(38)  Pennsylvania. In Harrisburg dürfen Fernfahrer in Kassenhäuschen von Mautstellen keinen Sex haben.

(39)  Rhode Island.In Newport ist Pfeifenrauchen nach Sonnenuntergang verboten.

(40)  South Carolina. Ohne offizielle Erlaubnis darf niemand in Abwasserkanälen schwimmen.

(41)  South Dakota. In den Hotels von Sioux Falls ist Sex auf dem Fußboden illegal.

(42)  Tennessee. In Dyersburg dürfen Frauen Männer nicht zum Rendezvous einladen.

(43)  Texas. In San Antonio ist der Gebrauch von Augen und Händen beim Flirten illegal.

(44)  Utah. In Tremonton ist Sex im Notarztwagen während eines Rettungseinsatzes verboten.

(45)  Vermont. Frauen brauchen für Zahnkronen oder Brücken die schriftliche Genehmigung ihres Ehemanns.

(46)  Virginia. In Lebanon dürfen Männer ihre Ehefrau nicht per Fußtritt aus dem Bett befördern.

(47)  Washington. In Bellingham dürfen Frauen beim Tanzen nicht mehr als drei Schritte rückwärts machen. In Seattle ist Sex mit Jungfrauen vor der Ehe verboten – Hochzeitsnacht eingeschlossen!

(48)  West Virginia. Ärzte dürfen Frauen nur im Beisein einer dritten Person unter Narkose setzen.

(49)  Wisconsin. In Connorsville dürfen Männer nicht ihr Gewehr abfeuern, während ihre Partnerin einen Orgasmus hat.

(50)  Wyoming. Frauen müssen in Bars einen Mindestabstand von 1,50 Meter zum Tresen einhalten.

Und schließlich: Washington D. C. In der US-Hauptstadt ist beim Sex nur die Missionarsstellung erlaubt; alle anderen Positionen stehen unter Strafe.

Da kann man mit Obelix nur sagen „Die spinnen, die Amis“ und so lautete auch der Titel des Berichts im „Focus“ (Nr. 45 vom 8. November 1999), dem ich diese Kuriosa entnommen habe.

Die USA sind übrigens auch das Land, wo Mikrowellen den Warnhinweis enthalten müssen, dass man seine Katze nicht hineinsetzen darf, wenn die Hersteller der Produkthaftung entgehen wollen. Und wo auch schon mal 198 Jahre Freiheitsstrafe verhängt werden. Vor diesem Hintergrund klingt die folgende Geschichte nicht unbedingt überzeugend: „Ein amerikanischer und ein deutscher Brückenbauer wetten, wer schneller bauen könne. Noch einem Monat telegrafiert der Amerikaner: ‚Noch zehn Tage, und wir sind fertig!‘ Der Deutsche kabelt zurück: ‚Noch zehn Formulare, und wir fangen an!'“ (Dieter Lau/Ulrich Fried, Die Herrschaft der Bürokratie, Seite 42). Und wenn man dann noch aus Anlass des Einsturzes einer Brücke am 1. August 2007 im Bundesstaat Minnesota (9 Tote, 60 Verletzte und 20 Vermisste) gelesen hat, dass 40 Prozent aller Brücken allein in diesem Bundesstaat als „strukturell mangelhaft“ eingestuft werden, gerät man doch ins Grübeln, ob Geschwindigkeit tatsächlich immer das Maß aller Dinge ist.

In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Frankreich und Italien – von wegen Gelassenheit

Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.

Nachdem wir in der letzten Folge eine kleine Exkursion in die amerikanische Bürokratie unternommen haben, kehren wir also wieder zurück nach Old Europe und schauen uns hier ein wenig um. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele: Frankreich und Italien.

Frankreich. In seinem Buch „Spätburgunder“ schildert Adolf Ströbele, wie er nach seiner Pensionierung mit seiner Frau sechs Jahre lang in einem Dorf in der Nähe von Cluny gelebt und dabei auch die französische Bürokratie kennen gelernt hat. „Ursprünglich hatten wir vor“, schreibt Ströbele, „in Deutschland alle Brücken abzubrechen und unseren ersten und einzigen Wohnsitz in Frankreich zu nehmen. Ich stellte mir das ziemlich einfach vor, da Deutschland und Frankreich Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind.“

„So gingen wir frohgemut aufs Rathaus unseres neuen Wohnorts in Frankreich. Der Bürgermeister hatte Sprechstunde, aber die Sekretärin war wegen der Sommerferien nicht da. Wir wurden freundlich empfangen. Aber als wir erklärten, dass wir die Aufenthaltsgenehmigung beantragen wollten, die von vielen Einwanderern heißt begehrte ‚carte de séjour‘, verwies er uns erleichtert an die Sekretärin. Das sei ihre Aufgabe und ziemlich kompliziert. In vier Wochen sei sie wieder da. Die Angelegenheit erfordere ja keine besondere Eile.

Mein Versuch ein Auto in Frankreich zuzulassen lief total ins Leere

Dem stimmten wir gerne zu, und beim Hinausgehen empfanden wir den Vorfall als weiteren Beweis dafür, wie locker es in Frankreich zugehe und dass selbst der Bürokratie hierzulande eine gewisse Gemütlichkeit nicht abzusprechen sei.“ Das sollte sich allerdings als schwerwiegender Irrtum herausstellen. „Mein erster Versuch, unserem Auto eine französische Nummer zu verpassen, blieb im Dickicht der französischen Bürokratie stecken.“

Nach dem Verkauf des alten Wagens und der Anschaffung eines neuen, eines Campingwagens, ging es in die zweite Runde. Da in Frankreich ein anderer Gasdruck für Campingfahrzeuge vorgeschrieben sei, müsse der Druckregler ausgetauscht werden, erklärte der zuständige Ingenieur. „Dass man damit Kühlschrank, Herd und Heizung austauschen müsse, die für einen bestimmten Gasdruck gebaut werden, verschwieg er weise.“ Schließlich drückte dem frankophilen Deutschen ein freundlicher junger Mann vier DIN-A4-Seiten über Campingfahrzeuge in die Hand.

Bei der Übertragung des Amtsfranzösischen ins Deutsche und der Lektüre zahlreicher Querverweise verließ den „Spätburgunder“ dann die Kraft und er verzichtete darauf, sein Fahrzeug in Frankreich zuzulassen. Diese Entscheidung setzte allerdings einen ersten Wohnsitz in Deutschland voraus, der schnell bei seiner Tochter in Freiburg gefunden war. „So brauchte ich auch keine Aufenthaltsgenehmigung mehr. Das Haus in Frankreich war damit unser zweiter Wohnsitz.“

Damit aber noch nicht genug. Bei der anstehenden Volkszählung in Frankreich legte der Bürgermeister großen Wert darauf, dass die beiden Zugezogenen mitgezählt wurden, weil die Gemeinde andernfalls für sie beide kein Geld bekäme. Merke also: Das Wort Bürokratie kommt nicht nur aus dem Französischen und wurde von einem Franzosen geprägt, auch das Phänomen ist in Frankreich durchaus bekannt.

Die Italiener und die Kunst des sich arrangierens

Italien. „Es ist vielleicht keine besondere Ehre, aber ein großes Vergnügen, Italiener zu sein. Wie machen sie das bloß, die Italiener? Wenn deutsche Fernsehzuschauer und Leser der Skandalpresse Berichte über die Zustände in der Spaghetti-Republik sehen, kommen sie aus der Verwunderung nicht heraus. Ein Staat, der jährlich fast 180 Milliarden Mark Defizit macht und dessen Gesamtverschuldung auf 1800 Milliarden angewachsen ist, müßte der nicht längst Bankrott erklären? Ineffiziente Verwaltung, häufige Streiks, Chaos – was funktioniert da unten im Süden überhaupt noch? Vielleicht nur – wie böse Zungen behaupten – die Korruption, die (wenigstens bis vor kurzem) buchstäblich wie geschmiert lief? Oder die Mafia? Wer mit Klischeevorstellungen nach Italien reist, bemerkt jedoch erstaunt: Millionen Bürger dort überleben nicht bloß, sondern sie leben sogar sehr gut; eine gar nicht so kleine Schicht kann sich Luxus leisten, auch wenn sie dies vor dem Fiskus geschickt verbirgt. Die ‚italiani‘, kein Zweifel, haben als Volk mehr Ressourcen, als Statistiken auf den ersten Blick ahnen lassen. Und je deutlicher sie die Wirtschaftskrise spüren, umso mehr bewähren sich ihre charakteristischen Fähigkeiten: Flexibilität, Phantasie und die Kunst des ‚arrangiarsi‘, des Sicharrangierens.“

So begann ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung vom 27. November 1993 unter der Überschrift: „Römische Lebenskünstler. Hauptsache durchwursteln oder: Überleben auf italienisch“.

Weiter erfährt man: „Im Blaumachen leisten die Staatsdiener Beachtliches. Beliebt sind Krankmeldungen; wer lange wegbleiben möchte, läßt sich von einem befreundeten Doktor „nervöse Erschöpfung“ bescheinigen. Auch jene Beamten, die morgens durchaus ins Büro kommen, verstehen es glänzend, den Dienst durch ausgedehnte Kaffeepausen und Einkaufsbummel aufzulockern.“ Das Ummelden eines Autos zum Beispiel ist eine enorm zeit- und geldaufwendige Prozedur, von der außerdem nicht von vornherein feststeht, ob sie am Ende von Erfolg gekrönt ist.

Auf der anderen Seite: Als Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 starb, rätselte die deutsche Presse, wie die italienischen Ordnungskräfte den Ansturm der rund 3,5 Millionen Pilger am Tag der Beisetzung organisatorisch verkraften würden. Und siehe da: Es klappte ohne nennenswerte Probleme.

In dem erwähnten Bericht der Stuttgarter Zeitung heißt es in bemerkenswerter Vorahnung:

„Ordnungsliebende, pingelige Zeitgenossen von nördlich der Alpen können sich an die italienische Konfusion und den italienischen Hang zur Anarchie nur schwer gewöhnen. Aber es gibt Ausnahmen. Mancher im Südstaat tätige Ausländer gewinnt dem Leben all’italiana schnell positive Seiten ab. Der ein oder andere sieht bella Italia gar als Laboratorium, wo man vorexerziert, was andere Völker dann nolens volens nachmachen. So etwa Victor J. Willi, ein seit langem bei Rom lebender Schweizer Publizist und Soziologe, in seinem Buch ‚Überleben auf italienisch‘. Die Italiener, betont der Autor, haben stichhaltige Gründe, mit dem Chaos auf gutem Fuß zu stehen. Denn sie lernen von der Wiege bis zur Bahre seine geheimen Vorzüge kennen. Das italienische ‚System‘ ist niemals langweilig, bietet ständig Überraschungen und spornt somit die geistige Beweglichkeit an. ‚Heute stellt sich die bange und doch, von Rom her gesehen, hoffnungsvolle Frage, ob die Menschheit sich nicht wohl oder übel nach Italien auszurichten habe, wo die Bürger gelernt haben, mit dem Chaos zu leben und immer wieder etwas Gutes aus dem Wirrwarr zu machen.‘ Da kann man nur sagen: Chaoten aller Länder, auf zur Studienreise gen Rom!“

Als Dritten im Bunde könnte man noch Griechenland anfügen. Doch die armen Helenen werden seit Jahren schon genug gebeutelt, so dass ich ihnen einen Auftritt in diesem Zusammenhang erspare.

In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Deutschland und der Versuch auszumisten

Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.

Mag unsere Bürokratie uns auch manchmal zu „Wutbürgern“ machen – die Auffassung, woanders sei es besser, erweist sich – wie die vorherigen Folgen gezeigt haben, bei näherem Hinsehen schnell als Irrtum. Es ist alles eine Frage der Gewohnheit. Und der Deutsche meckert und jammert offenbar gern, besonders über „die da oben“. Summa summarum sind wir, im internationalen Vergleich, mit unserer Bürokratie nicht schlecht bedient. Das heißt natürlich keineswegs, dass es hier nichts zu verbessern gäbe. Aber es relativiert doch manche Kritik und manchen Ärger.

„Wir wollen und wir können!“ antwortete der seinerzeitige Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel, Rheinland-Pfalz, auf die Frage „Wollen oder können die Politiker den Gordischen Knoten der Überbürokratisierung nicht durchhauen?“

Volker Giersch, bis Ende 2015 Hauptgeschäftsführer der IHK Saarland schrieb dazu vor einigen Jahren:

„Schon viele Bundesregierungen hatten den Bürokratieabbau auf ihre Fahnen geschrieben, ohne nennenswerten Erfolg. Die derzeitige Regierung scheint es aber ernst zu meinen: Bis 2011 sollen die Bürokratiekosten um ein Viertel gesenkt werden. Das wäre immerhin eine Einsparung von rund 20 Milliarden Euro.

Als einen Schritt zu diesem Ziel hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr einen Normenkontrollrat ins Leben gerufen. Das ist ein unabhängiges Kontroll- und Beratungsgremium, das neue Gesetze auf Bürokratiekosten überprüfen soll. Im ersten Jahr seines Bestehens hat dieses Gremium bereits 190 Gesetzes- und Verordnungsentwürfe geprüft, die zusammen 358 Informationspflichten enthalten. Dank seiner Tätigkeit wurden davon 109 Informationspflichten geändert und 51 aufgehoben.

Damit hat der Rat in zum Teil mühsamer Kleinarbeit das Entstehen von noch mehr Bürokratie durch neue Gesetze verhindert oder abgemildert. Die Wirtschaft spart dadurch jährlich fast 800 Millionen Euro an Bürokratiekosten. Hinzu kommt, dass allein schon die Existenz des Rates dazu führt, dass die Ministerien sich bei der Formulierung von Gesetzen bereits darum bemühen, Bürokratie möglichst einzudämmen.“

Jetzt soll man ja die Hoffnung nicht aufgeben und nicht gleich alles madig machen, was nicht in die eigene Erfahrungs- und Vorstellungswelt passt. Und ich will auch keineswegs ausschließen, dass tatsächlich Informationspflichten entfallen sind und dadurch Kosten reduziert wurden. Eine nachhaltige Verbesserung kann aber von keinen Gremium der Welt (was heißt hier schon „unabhängig“?) erwartet werden.

Ein „Nationaler Normenkontrollrat“ als Bürokratiekiller – nicht doch

Allein Name und Organisation des „Nationalen Normenkontrollrats“ (NKR) – so seine offizielle Bezeichnung – sprechen eine beredte Sprache: Auf Vorschlag der Bundeskanzlerin hat der Bundespräsident am 19. September 2006 acht Mitglieder in den Normenkontrollrat berufen. Mittlerweile sind es zehn. Vorsitzender ist Dr. Johannes Ludewig (Jahrgang 1945, CDU, ehemaliger Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Bahn AG, Staatssekretär a. D. im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie). Die Amtszeit der Mitglieder beträgt fünf Jahre. Eine erneute Berufung ist möglich. Der Rat setzt sich aus Vertretern der Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Justiz und Verwaltung zusammen. Die Tätigkeit ist ehrenamtlich. Zu seiner operativen Unterstützung wurde ein Sekretariat mit Sitz im Bundeskanzleramt eingerichtet. Im Sekretariat arbeiten derzeit 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Noch Fragen?

So, jetzt haben wir uns von den alten Ägyptern bis Uncle Sam alle Bürokraten der Vergangenheit und Gegenwart vorgeknöpft. Alle? Und was ist mit der EU? Der Nobelpreisträgerin unter den Bürokraten? Mein Gott, wie konnte ich diesen Superkraken nur übersehen! Den Schrecken aller Bananen- und Gurken-Liebhaber, denen ihr Lieblingsobst und -gemüse je besser mundet, desto krummer es ist, und die deshalb den Megabürokraten aus Brüssel besonders gram waren, weil die ihnen dieses Vergnügen durch ihre Verordnung (EG) Nr. 2257/94 für „Eurobananen“ und die Verordnung Nr. 1677/88/EWG zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken vermiest hatte.

Dabei spielt es keine Rolle, dass die erste Verordnung den Krümmungsgrad der Bananen gar nicht regelt und die Gurkenverordnung seit über sieben Jahren aufgehoben ist. Egal. Es bleiben immer noch rund 12.000 Richtlinien, durch die sich die Briten nach ihrem Brexit während der nächsten zwei Jahre in ihren Verhandlungen mit den EU-Vertretern durchwühlen müssen. Diesen Augias-Stall hat auch Edmund Stoiber in den acht Jahren nicht ausmisten können, in denen er eine Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission zum Abbau der Bürokratie in der EU geleitet hat. Allerdings soll die Arbeit dieser Gruppe dazu beigetragen haben, dass die Unternehmen in Europa jedes Jahr 33 Milliarden Euro an Kosten einsparen.

In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Parkinsons Gesetz und Murphy’s Law

Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.

achgut.com

Bürokratie, der Krake, der ohne Wasser leben kann (5)

Was ist eigentlich  Parkinson und einigen anderen? Richtig, das hätte ich fast vergessen. Wenn man Parkinsons Gesetz liest, ist man hin und her gerissen: Ist das Wahrheit oder Satire? Sie erinnern sich noch an den Umsatzsteuerbescheid über zwei Milliarden Euro für die Würstchenbudenbesitzerin, den ich gleich zu Anfang erwähnt habe. Und jede Verwaltungskollegin und jeder Kollege hat ähnliche Geschichten erlebt. Ihr Unterhaltungswert ist allerdings für die Betroffenen wesentlich geringer als für den unbeteiligten Zuhörer oder Leser.

Deswegen ist die Satire ja so wichtig, um mit dem Frust oder der Wut fertig zu werden. Schmunzeln baut Aggressionen ab, Lachen noch mehr. Ein weiterer Brite liefert übrigens zum Thema Bürokratie ebenfalls eine Satire, nämlich Charles Dickens mit seinem „Umständlichkeitsamt“ oder „Amt für Umschweife“ (Circumlocution Office) in „Little Dorrit (1857). Und einige von Ihnen kennen vielleicht aus Wiederholungen auch Monty Python’s Flying Circus aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre mit dem „Ministry of Silly Walks“. Also ohne Satire geht’s bei diesem Thema nicht.

Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung

So, damit dürften Sie genügend vorbereitet sein auf „Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung“ (rororo). Zu den letzteren gehört eine Abhandlung über das Entwerfen von Fragebögen, einem veralteten Ausdruck für Formulare, die zum Kernbestand jeder Bürokratie gehören. Parkinson bemerkt dazu: „Die Kunst, Fragebögen richtig zu entwerfen, hängt von drei Voraussetzungen ab: Unklarheit, Mangel an Raum und der Androhung schwerer Strafen für falsche Angaben. In der Fragebogen-Entwurfsabteilung eines großen Hauses wird die Forderung nach Unklarheit in der Regel von mehreren Unterabteilungen bearbeitet, welche Spezialisten für zweideutige Ausdrucksweise, für Fragen nach unwesentlichen Dingen und außerdem besondere Jargon-Experten beschäftigen“ (S. 116 f.).

Jetzt übertreibt er aber, denke ich jedes Mal, wenn ich diese Passage lese. Und jedes Mal treffe ich wieder auf ein schlagendes Beispiel gerade für diese These Parkinsons. Wie mag es da dem „Normalbürger“ gehen? Ganz zu schweigen von dem schier unlösbaren Problem, das einst der Kabarettist Dieter Hildebrandt dem verblüfften Fernsehpublikum präsentierte: Es handelte sich um einen Antrag auf Kindergeld, der – wie viele andere Formulare – den Hinweis enthielt, dass alle stark umrandeten Felder nur von der Behörde auszufüllen seien. Soweit, so gut. Aber auch das Feld, in dem der Bürger durch rechtsverbindliche Unterschrift bestätigen sollte, dass er den Antrag nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt habe, war mit einem dicken Rahmen versehen (Dieter Lau/Ulrich Fried, Die Herrschaft der Bürokratie, S. 39 f.).

Murphy’s Law: Der Mensch, das Schicksal und der Hang zum Desaster

Parkinson’s Law wird durch ein anderes Gesetz ergänzt, das besonders in großen Organisationen seinen festen Platz hat, nämlich „Murphy’s Law“. Der Entdecker dieses Gesetzes, Edward A. (Aloysius) Murphy Jr. (1918-1990), ein US-amerikanischer Air Force-Ingenieur, der für die Luftwaffe unfallsichere Pilotensitze konstruieren sollte, hat übrigens dafür posthum (2003) den Nobelpreis erhalten – allerdings nur den Ig-Nobelpreis (von englisch ignoble: unwürdig, schmachvoll, schändlich), gelegentlich als „Anti-Nobelpreis“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine satirische Auszeichnung, die von der Harvard-Universität in Cambridge (USA) für unnütze, unwichtige oder skurrile wissenschaftliche Arbeiten verliehen wird. Die Verleihung fand erstmals 1991 (am MIT) statt.

Die „Dankesrede“ anlässlich der Preisüberreichung darf nicht länger als eine Minute dauern, nach anderer Version nicht mehr als sieben Worte umfassen. Murphys Gesetz besagt, „Wenn etwas schief gehen kann, dann geht es auch (irgendwann mal) schief.“ Das ist allerdings die volkstümliche Formulierung. Richtig lautet das Gesetz: „Wenn es mehr als eine Möglichkeit gibt, eine Sache zu erledigen, und eine der Möglichkeiten endet in einem Desaster, dann findet sich jemand, der diesen Weg einschlägt.“ – „If there’s more than one possible outcome of a job or task, and one of those outcomes will result in disaster or an undesirable consequence, then somebody will do it that way.“

Das ist – jedenfalls in einer bürokratischen Organisation – mitnichten eine unnütze oder unwichtige Erkenntnis, sondern von fundamentaler Bedeutung. Sie ist so alt wie die Menschheit selbst und damit auch so alt wie die Bürokratie. In einem ägyptischen Gedicht („Der Mann, der seines Lebens müde war“) aus dem Jahre 1990 v. Chr. heißt es bereits: „Das Fehlerhafte durchstreift die Erde und kein Ende ist in Sicht.“ Und von Gaius Iulius Caesar stammt der Satz: „Was es Schlechtes geben kann, wird auch geschehen“ (Quod malum posset futurum) .

In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Warumdie  Zahl der Beschäftigten sich ständig vermehrt und zwar unabhängig davon, ob die Arbeit zu- oder abnimmt.

Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.