Kategorie-Archiv: Tugendterror

Die hässliche Fratze der Emanzipation – Evidenz-basierte Ansichten


Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt. 

Seinfeld

Bislang kannte ich Ronja von Rönne noch nicht, aber jetzt, da die keifende Meute sie bekannt gemacht hat, habe ich angefangen, ihre Texte zu lesen. Sie schreibt witzig, intelligent, geistreich, erfrischend. Nachdem sie den Artikel „Warum mich der Feminismus anekelt“ in der Welt veröffentlicht hatte, ging der Shitstorm gegen sie bis zur verklausulierten Morddrohung. Tatsächlich verspricht dieser Titel einen bissigeren Text als den, der dann tatsächlich folgt. Aber klar: Der gemeine Twitterhetzer liest ja höchstens Titel. Das könnte man Ronja vorhalten: Der Titel ist eine Einladung zum Shitstorm. Er ist wie ein „zu kurzer Rock“, wie eine „Mohammed-Karikatur“. „Selbst Schuld, Ronja!“ Wer so titelt, muss sich über den Shitstorm nicht wundern.

Ihre Feminismus-Kritik hätte durchaus Kritik verdient, aber unflätig hingerotzte Tweets, die sich jemand nur leistet, weil ihn keiner kennt, zählen nicht als Kritik, sie zählen so viel wie eine Lache Erbrochenes auf dem Bahnhofsklo.

In einem weiteren Text kommentiert Ronja von Rönne den Tugendfuror gegen die Kolumnistin Barbara Eggert vom „Westfalen-Blatt“. Frau Eggert hatte einem Leser beigepflichtet, der es problematisch fand, seine beiden unaufgeklärten Töchter (6 und 8) zur Schwulenhochzeit seines Bruders mitzunehmen.

eggert
Westfalen-Blatt, 17.5.2015

Es ging nicht darum, dass sie diese Hochzeit kritisierte, auch nicht darum, dass sie das Recht Homosexueller zu heiraten in Frage stellte. Es ging nur um die Frage, ob es Kinder verwirren oder verstören könnte, wenn sie noch nie etwas über Homosexualität gehört haben und dann sehen, wie zwei Männer einander heiraten. Ronja von Rönne bezeichnet Eggerts Ratschlag als „altbacken“, „sehr konservativ, vielleicht etwas ignorant“. Vielleicht, aber sind wir sicher, dass es junge Kinder nicht verwirrt, wenn bei einer Hochzeit keine Braut auftaucht?! Haben wir Daten darüber? Ist diese Frage nicht legitim? Darf sie nicht erörtert werden?

Aber im Grunde geht es hier nicht um die Auswirkung von Homo-Ehen auf Kinder. Es geht um die „Gesinnung“ der Frau Eggert. Sie hat eine politisch inkorrekte Antwort gegeben. Sie hat sich nicht ohne Wenn und Aber hinter der Regenbogenfahne eingereiht. Sie hat eine abweichende Meinung aufscheinen lassen. Sie wurde gefeuert. Das Westfalen-Blatt ist hier vor dem geifernden Twitter-Pöbel eingeknickt und hat sich einen Dreck um das Recht seiner Kolumnistin geschert, ihre Meinung frei äußern zu dürfen.

Zwei Stellungnahmen hat das Westfalen-Blatt veröffentlicht. Die erste versucht, die Wogen zu glätten, zeigt Verständnis für die Antwort der Kolumnistin, leckt aber bereits eifrig den Speichel des Mobs.

Sehr selbstkritisch müssen wir einräumen, dass in der Kolumne so formuliert wird, dass der Text Kritik geradezu herausfordert. Das ist unzweifelhaft eine gravierende journalistische Fehlleistung.

So? Ist es das? Vielleicht ist das der Grund, warum ich vorher noch nie etwas von einem „Westfalen-Blatt“ gehört hatte. Einen wirbellosen Schnarchjournalismus braucht niemand. Aber merkt Ihr was? Kaum „leistet“ eine Kolumnistin „gravierend fehl“, bemerken Euch auch Nicht-Westfalen! Leider habt Ihr Euren kurzen Moment des Ruhms nur dazu genutzt, der ganzen Republik zu zeigen, dass sie nichts verpasst, wenn sie das Westfalen-Blatt auch weiterhin ignoriert.

Schauen wir uns im direkten Vergleich dazu an, was der Ressortleiter Feuilleton der „Welt“ über Ronja von Rönne schreibt:

Wir haben sie nicht in unser Feuilleton geholt, um aus ihr eine normale Journalistin zu machen, eine, die normale Texte schreibt, bei denen das Nicken des Lesers werkseitig eingebaut ist. Wir verstehen unser Feuilleton als ein Experimentierfeld, auf dem wir versuchen, ungewöhnliche Dinge mit Wörtern zu machen. Wenn das nicht geht, dann kann man es gleich lassen.

Das ist der Grund, warum ich lieber „Die Welt“ lese als ein „Westfalen-Blatt“.

In der zweiten Stellungnahme zeigt dann der Redaktionsleiter der johlenden Menge den Kopf von Barbara Eggert:

Frau Eggert wird fortan nicht mehr für uns schreiben, wir werden ihre Kolumne beenden.

louisxvi

Die Emanzipation der Frauen wie auch der Homosexuellen war in den letzten Jahrzehnten (in der westlichen Welt) auf beispiellose Weise erfolgreich. Die Kießling-Affäre ist keine 300, sondern gerade mal 30 Jahre her. Inzwischen ist Schwulsein in der Politik „gut so“. Vor wenigen Jahrzehnten tobte die Debatte noch darum, ob und wie hart Homosexualität zu bestrafen sei. Jetzt hat das erzkatholische Irland gerade die Homo-Ehe beschlossen. Das sind unglaubliche, gewaltige Erfolge. Brendan O’Neill macht vor allem das atemberaubende Tempo misstrauisch, mit dem sich diese „neue Orthodoxie“ durchgesetzt hat:

Die plötzliche Verwandlung der Homo-Ehe von einer bloßen Idee in die neue „gute Sache“ der politischen Eliten der westlichen Welt hat wenig mit einer Ausweitung der Toleranz zu tun, sondern ist Zeugnis des direkt gegenteiligen Phänomens: des Aufkommens neuer Formen der Intoleranz, die nichts weniger als moralischen Gehorsam und verpflichtende Begeisterung von jedem fordern.

Gibt es jetzt angesichts einer solch atemberaubenden Entwicklung keinerlei Bedarf mehr für Diskussion und Kritik? Ist jede kritische Frage gleich eine „homophobe“, „reaktionäre“ oder „faschistoide“ Entgleisung? Gibt es für alle Einwände nur noch das virtuelle Schafott?

Es ist offenbar eine inhärente Gefahr für Emanzipationsbewegungen, sich bei einem solchen Erfolg in eine hässliche Fratze zu verwandeln. War man noch vor wenigen Jahrzehnten in einer Position, Tabus brechen zu müssen, so ist man jetzt emsig dabei, selbst Tabumauern zu errichten und Tabubrecher zu vernichten.

Hier ist ein solcher von Tabus eingemauerter Gedanke: Wir können ohne Einschränkung für die volle Gleichberechtigung Homosexueller eintreten, aber dennoch zugestehen, dass es legitime Gründe dafür gibt, Homosexualität bei sich oder seinen Kindern zu bedauern:

Wir haben uns angewöhnt zu glauben, dass ein solches Bedauern ein illegitimes, zutiefst reaktionäres Gefühl sei, ein Ausdruck von „Homophobie“, also einer krankhaften Störung, höchstwahrscheinlich religiös konditioniert. Es gibt jedoch einen Aspekt der Homosexualität, unter dem Homosexuelle durchaus leiden können: ungewollte Kinderlosigkeit. Kinderlosigkeit bei sich selbst oder auch bei den eigenen Kindern zu bedauern, erscheint evolutionär ohne weiteres nachvollziehbar.

Die politisch korrekte Einstellung gegenüber Homosexualität ist heute die emphatische Bejahung, zumindest aber ein „Not that there is anything wrong with that“. (Wobei offen bleibt, ob die legendäre Seinfeld-Folge heute nicht ebenfalls einen Shitstorm ernten würde.)

Die heute beinahe obligatorische Haltung von Eltern gegenüber dem Coming-Out ihrer Kinder lautet „Das ist gut so!“, zumindest aber: „Hauptsache, Du wirst glücklich!“, aber diese Haltung kann wohl kaum eine evolutionäre Grundlage haben. Wenn Eltern das persönliche Glück ihrer Kinder so hoch gewichten, dass sie dafür in Kauf nehmen, keine Enkel zu bekommen, so ist das eine rein zivilisatorische Entwicklung, die wir vielleicht begrüßen sollten. Aber sie steht im Konflikt mit mächtigen intuitiven Präferenzen, und ich kann nicht sehen, warum diese Präferenzen nicht legitim sein sollten. Warum sollte es Eltern mit Freude erfüllen, wenn sie erfahren, dass sie keine Enkel haben werden? Warum sollten alle Eltern das Gefühl teilen: „Hauptsache, Du wirst glücklich“? Das hier gemeinte Glück des Kindes führt normalerweise zu leiblichen Enkeln, bei Homosexualität nicht. Eltern wollen glückliche Kinder, aber viele wollen auch Enkel. Es ist nicht illegitim, diesen Zielkonflikt als solchen zu empfinden. – Ihn zu benennen kann einen abhängig beschäftigten Journalisten heutzutage allerdings den Job kosten.

Liebe hauptberufliche, angestellte Journalisten: Bringt dieses oder ein ähnliches Argument mal in einem Eurer Artikel und schaut, was passiert. Ich bin freischaffender und unbezahlter Blogger. Ich kann deswegen weder gefeuert werden noch drohen mir Einkommenseinbußen. Ich habe an vielen Stellen in diesem Blog für die Gleichberechtigung von Homosexuellen und für sexuelle Selbstbestimmung plädiert und argumentiert. Aber wenn diese Emanzipation immer häufiger ihre hässliche Fratze zeigt und der politisch korrekte Mob immer unnachgiebiger versucht, Kritiker und Abweichler zu vernichten, ist es vielleicht an der Zeit, kritische und abweichende Positionen zu thematisieren.

In der erwähnten Seinfeld-Folge reagieren die Eltern von Jerry und George übrigens eher verhalten auf das vermeintliche Coming-Out ihrer Söhne. Nein, ich glaube nicht, dass diese Folge heute noch mal einen GLAAD Award gewinnen würde.

https://evidentist.wordpress.com/2015/06/03/die-hassliche-fratze-der-emanzipation

Längst ist der Opferstatus zu einer sozialen Währung geworden. Einer Währung, die so wertvoll ist, dass einige ihre Opfer-Identität sogar frei erfinden.


Warum sind junge Menschen heute so überempfindlich? Ein neues Buch von Claire Fox beschäftigt sich mit den Ursprüngen der „Generation Schneeflocke“.

Das Buch „I Find That Offensive“ von Claire Fox ist ein Aufruf an die „Generation Schneeflocke“. Die Direktorin des britischen Think-Tanks Institute of Ideas will junge Menschen ermutigen, ihren Schutzpanzer abzuwerfen und die Herausforderung des Erwachsenseins anzunehmen.

Dabei lässt Fox sich nicht einfach über die Verstiegenheiten der jüngeren Generation aus (etwa die Besessenheit vieler Studenten von sogenannten „Mikroaggressionen“). Stattdessen fragt sie nach dem Warum. Warum nehmen junge Menschen an so vielen Dingen Anstoß? Warum verbannen sie Andersdenkende von ihrem Campus? Warum fühlen sie sich von Meinungen, die ihren eigenen widersprechen, so schnell provoziert? Um diese Fragen zu beantworten, geht Fox der Verletzlichkeit der Jugend auf den Grund und erkundet die umfassende Kultur des „Opferseins“.

Zunächst beobachtet Fox, wie junge Menschen sich einen „Status der Unterdrückung“ aneignen und dadurch eine perverse Form von Autorität gewinnen. Selbst die leiseste Kritik an ihren Vorstellungen wird sofort als Hassrede abgestempelt; die eigenen Überzeugungen werden praktisch unangreifbar. Wer keine überzeugende Opferrolle einnehmen kann, zeigt überschweifende Empathie mit benachteiligten Gruppen und hofft, dass die moralische Überlegenheit der Benachteiligten auf ihn abfärbt.

Längst ist der Opferstatus zu einer sozialen Währung geworden. Einer Währung, die so wertvoll ist, dass einige ihre Opfer-Identität sogar frei erfinden. Fox führt als Beispiel den Fall des prominenten Black-Lives-Matter-Aktivisten Shaun King an. Diese Geißel sogenannter „weißen Privilegien“ bezeichnete sich selbst als schwarz. Er fiel in Ungnade, nachdem seine eigenen Unterstützer einräumten, dass seine Geburtsurkunde ihn als Weißen ausweist. Ebenso bizarr ist die Geschichte von Rachel Dolezal: Sie baute sich eine Karriere als afroamerikanische Bürgerrechtsaktivistin auf … trotz ihrer europäischen Herkunft.

„Wer also ist verantwortlich für ‚Generation Schneeflocke‘? Fox zeigt mit dem Finger auf uns, die Elterngeneration.“

Wer also ist verantwortlich für „Generation Schneeflocke“ und deren Opfermentalität? Fox zeigt mit dem Finger auf uns, die Elterngeneration. Wir haben die Jugend in einem Kokon des Wohlbefindens und der Sicherheit aufgezogen, in einer Welt, in der wir die Herausforderungen des Lebens wie Katastrophen behandeln, weil wir auf Gesundheitsrisiken und den Schutz unserer Kinder fixiert sind. Fox portraitiert eine ängstliche, risikoscheue Gesellschaft, die überall Gefahren und Missbrauch vermutet. Dadurch, so Fox, sei die Grenze zwischen physischen und psychologischen Schäden immer mehr verschwommen.

Es ist nicht lange her, da folgten Liberale noch John Stuart Mills Definition vom „psychischen Schaden“. Darunter fällt alles, was die individuelle Entwicklung behindert – beispielsweise Kindern eine Ausbildung vorzuenthalten. Mill verstand Schaden auch als etwas, das gegen unseren Willen geschieht. Folglich können beleidigende oder anstößige Worte auch keinen „psychischen Schaden“ anrichten. Wenn wir uns etwa von jemanden gestört fühlen, können wir den Kontakt mit dieser Person meiden und unser Leben unbehindert weiterführen. Heute glauben viele Menschen, dass schon die Existenz von Lebensstilen, die sie persönlich missbilligen, ihnen schade. Was für ein Unterschied zu Mill, für den „Schaden“ darin bestand, inhaftiert, körperlich angegriffen oder von Verbrechern getäuscht zu werden. Fox fordert die Leser auf, zu diesem engeren Schadensverständnis zurückzukehren – einer Definition, die Raum lässt für legitime elterliche Strenge und angemessenen akademischen Druck.

„Kinderhilfsorganisationen und andere NGOs erweitern ständig die Definitionen von Missbrauch.“

Aber es gibt beachtliche Widerstände, die eine Rückkehr zu Mills Schadensprinzip verhindern. Kinderhilfsorganisationen und andere NGOs erweitern ständig die Definitionen von Missbrauch. Kinder werden ermutigt, sich als Missbrauchsopfer anzusehen, wenn sie Leistungsdruck ausgesetzt oder ihre Entscheidungen von Erwachsenen „manipuliert“ werden. Der Mobbing-Begriff wird stetig ausgeweitet, das „Verbreiten von Gerüchten“ fällt heute ebenso darunter wie „einfach ignoriert zu werden“. In einem solchen Umfeld werden Kinder regelrecht entmutigt, Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Stattdessen lehren wir sie, psychologische „Unterstützung“ zu suchen, sobald sie sich irgendeiner Herausforderung oder Kritik ausgesetzt sehen.

Anstatt der Jugend zu helfen, unangenehme Erfahrungen richtig einzuordnen, haben wir sie zur Überreaktion erzogen und ihnen beigebracht, dass schon die kleinste Kränkung traumatisierend wirkt. Und so darf es uns nicht wundern, dass heutige Studenten vom Gedanken an ihr geistiges Wohlbefinden beherrscht sind und sich selbst als äußerst verletzlich begreifen. Wir haben grundlege Erfahrungen des Studentenlebens pathologisiert – vom Pleitesein bis zum nächtelangen Arbeiten an Hausarbeiten. Enttäuschung, Stress und Frustration gelten heute nicht mehr als normaler Teil des Erwachsenwerdens, sie werden zunehmend als Quelle psychischer Störungen und Krankheiten gesehen.

Zudem hat sich ein heimtückischer Paternalismus in das Alltagsleben der jüngeren Generation gefressen. Selbst informelle Aktivitäten der Kinder werden heute organisiert und betreut. „Freizeit“ wird akribisch geplant und überwacht. „Helikoptereltern“ ermutigen ihre Kinder, sich von Dritten abhängig zu machen. Der Raum, in dem Jugendliche ihre Unabhängigkeit entwickeln können, wird immer kleiner. Stattdessen lässt man sie glauben, dass Unterstützung von Behörden und Institutionen sie stärker mache. Ihr geringes Bewusstsein für Eigenverantwortung macht die jungen Menschen von äußeren Autoritäten abhängig. Nicht nur ihre Freiheit wird so untergraben, sondern auch ihre Fähigkeit, selbständig zu leben.

„Der Raum, in dem Jugendliche ihre Unabhängigkeit entwickeln können, wird immer kleiner.“

Fox kritisiert in ihrem Buch auch das veränderte Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Dem Selbstbewusstsein der Schüler wird eine überhöhte Bedeutung zugemessen. Lehrern wird eingeschärft, dass Unterrichtsinhalte „relevant“ sein müssen, damit die Schüler bei der Stange bleiben. Die Meinungen der Schüler werden mit unbedingtem Respekt behandelt, ihre Ansichten dürfen nicht hinterfragt werden. Laut Fox vernichtet diese Einstellung die Pflicht der Erwachsenen, jungen Menschen Wissen weiterzugeben und ihnen Grenzen zu setzen. Die notwendigerweise ungleiche Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, also zwischen Wissenden und Lernenden, sei zerstört worden. Dadurch lernten Schüler und Studenten nie, mit Enttäuschung umzugehen oder Kritik zu akzeptieren.

Fox beendet ihr Buch mit deutlichen Worten an die „Generation Schneeflocke“: Ihr rebellisches Selbstbild sei illusorisch. Echte Rebellen bräuchten jene Art von moralischer Autonomie, die erst durch die Teilnahme an ernsthaften intellektuellen Debatten entstehen kann. Junge Menschen greifen den Mainstream nicht an, so Fox. Sie biedern sich dem Zeitgeist an und spielen perfekt die Rolle des verletzlichen Opfers, das Eingriffe und Unterstützung von außerhalb benötigt.

Was ist also zu tun? Die Jungen werden Mut brauchen, um Widerstand gegen diejenigen zu leisten, die Sicherheit über Handlungs- und Redefreiheit stellen. Sie müssen endlich ein Rückgrat entwickeln. Und vor allem müssen sie eines tun: erwachsen werden.


Dieser Artikel ist zuerst beim Novo-Partnermagazin Spiked erschienen. Aus dem Englischen übersetzt von Fabian Lauterbach.

Terri Murray ist Studienleiterin des Fine Arts College Hampstead und Autorin von Feminist Film Studies: A Teacher’s Guide (2007, Auteur Publishing)

https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/generation-schneeflocke-opferstatus-als-soziale-waehrung/

 

Denunziation als Mittel zur sozialen Ausgrenzung


Am 19. Mai versucht die „identitäre Bewegung“ vor dem Bundesministerium für Justiz eine Demonstration gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von Heiko Maas. Alexander Wallasch hat auf TE schon auf die Hysterie schürenden Artikel in den Leitmedien verwiesen. Hatte man Die ZEIT (wo blieb die Wirkung der di-Lorenzo-Selbstkritik?) und las man die WELT oder andere Medien, musste man den Eindruck bekommen, gerade einem Staatsstreich von Neonazis entronnen zu sein.

Ein gutes Bild kann sich aber jeder selbst machen, wenn er das Video von der Aktion sieht. Waren, wie von vielen Medien nahegelegt, gewalttätige Horden kurz davor die Demokratie lahmzulegen? Zwar hatte der Fahrer des Transporters der Identitären bei der Anfahrt fast einen Verkehrsunfall verursacht und wird deshalb gesucht, das heißt aber nicht, wie von ZON und Welt-Online nahegelegt, dass eine Horde Schwerverbrecher im Anmarsch waren.

Die Protestler hatten ihre Aktion durch das Tragen von NVA-Uniformen und die deutlich erkennbaren „DDR“-Fahnen klar als Satire erkennbar gemacht. Es ging ihnen offensichtlich um den Protest gegen das Maas´sche Internet-Kontroll-Gesetz (NetzDG), die Autoren von Leitmedien wollten Anderes interpretieren.

In den 60er Jahren nannte man solche Aktionen Sit-ins. Die Protest-Akteure waren damals wie heute junge Leute. Damals wie heute wird von der Qualitätspresse in gleicher Weise darüber berichtet.

ZON (Zeit Online) geht nun einen wesentlichen Schritt weiter

Neben der Darstellung, als ob ein gewalttätiger Staatstreich von „rechts“ kurz bevorstehe, nennen die ZON-Autoren explizit die Namen aller Teilnehmer der Protestaktion, deren sie namhaft werden konnten. Statt einer Anzeige und dem dann folgenden rechtsstaatlichen Verfahren ist Denunziation angesagt. Ein medialer Pranger im Dienste des „Guten“.

Was sagen diese Zeit-Kollegen dazu – „Interpretieren Sie wohlwollend“? Wie verträgt sich das mit der Selbstkritik des Chefredakteurs von der nötigen „Deutungsdemut„? Wie mit dieser Zeit-Aktion?: „Wann haben Sie das letzte Mal ausführlich mit jemandem gesprochen, der ganz andere politische Ansichten hatte?“

Was folgt als nächstes? Die Veröffentlichung der Adresse? Des Arbeitsplatzes? Eine Aufforderung an die Antifa, das Recht in die eigene Hand zu nehmen? Ach, das ist gar nicht mehr nötig …?

Denunziation als Mittel zur sozialen Ausgrenzung

Denunziation ist immer auch eine indirekte Aufforderung zur sozialen Ausgrenzung. Unausgesprochen werden in dem Artikel Sanktionen gegen die Betroffenen erwartet. Insofern ist Denunziation ein Mittel der sozialen Kontrolle, um ungewollte Opposition zu unterdrücken.

Wenn das aber bei ZON inzwischen so üblich sein sollte, kann man dann schon auf Namenspräsentation der „Antifa“-Teilnehmer bei der nächsten 1. Mai-Demo gespannt sein. Da geht es dann wirklich um Gewalt gegen Polizisten und nicht um gewaltfreie Demonstrationen.

Der Unterschied zwischen „Identitären“ und „Antifa“ ist: Die „Identitären“ protestieren mit offenem Gesicht und bisher gewaltfrei, die „Antifa“ vermummt und sehr oft gewalttätig. Das Gewaltlose stört die „Störungsmelder“ auf ZON, das Gewalttätige weniger, sonst würde sie darüber berichten.

Was ist nun das Problem der Denunziation?

Der Denunziant meint, das Gute zu tun. In seiner Gesinnungsethik geht es ihm nur darum, dass sich seine Ideologie durchsetzt, dazu greift er auch zur Denunziation. Das ist das Problem der beiden ZON-Autoren. Aber die Werte der Demokratie und des Rechtsstaates gelten für alle, auch für Vertreter anderer Meinungen und Ideologien.

Und das Problem eines ehemals renommierten Nachrichtenportals von großer Reichweite ist, dass es inzwischen nicht mehr davor zurückschreckt, Denunziation zu veröffentlichen, um ihr nicht genehme oppositionelle Proteste anzuschwärzen. Sie praktiziert also genau das, was sie ihren Gegnern vorwirft.

Das erinnert an dunkle Zeiten.

Aufforderungen zum Denunziantentum am Arbeitsplatz von Verdi tun ein Übriges, um ein politisch verklemmtes Klima zu schaffen. Wer hätte gedacht, dass die Hoffmann von Fallersleben zugeschriebenen Worte nach den Niederungen des 19. und des 20. Jahrhunderts auch im 21. Jahrhundert noch eine Rolle spielen:

Der größte Lump im ganzen Land,
das ist und bleibt der Denunziant.

Ging es im 20. Jahrhundert darum, erst die Kommunisten und dann die Antikommunisten aufzuspüren, sollen nun die „Rassisten“ aufgespürt und ausgegrenzt werden. Natürlich sieht Verdi und Andere im Dienst einer „guten Sache“, aber das hat noch jede Ideologie getan. Der Feind steht immer da, wo sich die herrschende Leitkultur in Frage gestellt fühlt.

Beim Kampf gegen rechts erinnert einiges an die McCarthy-Ära in den USA. Viel Ähnliches passiert, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Wurde damals in den USA auf alles Jagd gemacht, was „links“ war, ist heute der Kampf gegen „rechts“ das Motto der Zeit. Hysterische Ängste in der Bevölkerung werden geschürt, um Andersdenkende auszugrenzen und mundtot zu machen. („Wehret den Anfängen!“) Und wie damals, sind auch heute im Dienste „des Guten“ fast alle Mittel recht.

Was bewirkt das Mobbing durch die herrschenden Elite?

Wer sich als Normalo oder „rechts“ Denkender von p. c. Intellektuellen in die Ecke getrieben fühlt, der greift in der von ihm gefühlten Ohnmacht im Internet manchmal leider auch in die unterste Schublade („links“ nicht weniger häufig). Natürlich sind gepöbelte Morddrohungen jenseits der Meinungsfreiheit. Aber das ist eine Sache des Staatsanwalts und nicht der Selbstjustiz.

Bei vielen Menschen ist heute die Angst vor Denunziation und die Einschüchterung groß. Das schürt Hass. Der Anpassungsdruck geht so weit, dass sich viele selbst bei anonymen Umfragen mitunter nicht getrauen, sich zur FDP, CSU oder AfD zu bekennen. Von den Medien wird das achselzuckend akzeptiert, dient es doch der „richtigen“ Gesinnung. Man stelle sich einmal vor, das beträfe die Grünen.

Deutschland im Sog des rot-grünen Tugendterrors


Am Donnerstag hat der Teufel im Landtag von Baden-Württemberg die Gestalt von AfD-Mann Rainer Podeswa angenommen und die Verbrennung von Frauen für die Klimarettung gefordert. Fast alle Qualitätsmedien hielten es für so wahrscheinlich, dass dieser Fake wahr sein könnte, dass sie umgehend eine News daraus gemacht haben. Mit allen Zeichen rasender Empörung unterrichteten von Welt über Focus bis Stern ihre schwindende Leserschaft über die satanische Rede des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der AfD.

Am nächsten Tag mussten alle den Schwanz einziehen und sich korrigieren, weil Podeswa natürlich nichts dergleichen gesagt hatte. Allein die Tatsache, dass unsere Qualitätsmedien glauben und ihren Lesern weismachen wollten, dass die dpa-Meldung über den angeblichen menschenverachtenden Skandal wahr ist, dass keiner auf den Gedanken kam, eine so haarsträubende Geschichte nachzuprüfen, wirft ein Schlaglicht auf die Verkommenheit der veröffentlichten Meinung. Übertroffen wird die Perfidie höchstens von „Richtigstellungen“, wie sie von T-Online veröffentlicht wurden:

Gestern betitelten wir einen Artikel: „AfD-Mann empfiehlt Frauenverbrennung gegen den Klimawandel“. Diese Schlagzeile und die damit verbundene Interpretation der Absichten des AfD- Abgeordneten Rainer Podeswa waren falsch. Wir haben uns bei der Arbeit ausschließlich auf eine Meldung der Deutschen Presse Agentur (dpa) verlassen und Inhalt und Richtigkeit nicht angemessen geprüft. Dabei haben wir unsere eigenen Ansprüche nicht erfüllt.“ Entschuldigung? Fehlanzeige! im Gegenteil: „Man kann Podeswa also vorwerfen, er habe einen unangemessenen und extrem provokanten Vergleich zwischen den Ansichten der Grünen zum Klimawandel und den Handlungsweisen im Mittelalter gezogen.“ Rechthaberei statt Reue über das eigene Fehlverhalten. Die nächste auf Fake-News beruhende Kampagne ist vorprogrammiert.

Podeswa wurde einen Tag lang wie die berühmte Sau durchs Mediendorf getrieben. Keinem der Qualitätsjournalisten kommt es offenbar in den Sinn, wie sehr ihr Verhalten dem ihrer Kollegen in totalitären Systemen gleicht, wenn sie auf angebliche Feinde gehetzt wurden. In beiden deutschen Diktaturen bekamen die Journalisten noch Anleitungen und Befehle, heute wird im eigenen politisch-korrekten Auftrag gehandelt, ungeachtet aller Folgen.

Der verbalen Dämonisierung der AfD folgen auf der Straße die Kämpfer von der Antifa und ihre Gesinnungsgenossen mit Zaunlatten, Steinen, Flaschen, Blendgranaten. Wer sich offen zur AfD bekennt, riskiert beschimpft, bespuckt oder verhöhnt zu werden. Die Bilder, wie beispielsweise der Ex-Sozialdemokrat und AfD-Landtagskandidat Guido Reil auf der Demo zum 1. Mai von finster blickenden Gewerkschaftern bedrängt wird, sind auf YouTube zu sehen.

In Berlin wurde aktuell die Chefredakteurin der Lokalzeitung „Kiez und Kneipe“ bedroht mit „Pass auf, dass dir nicht mal was beim Radfahren passiert“, weil sie in einer Reihe zur Bundestagswahl eben auch den Kandidaten der AfD zu Wort kommen lassen wollte.

In ganz Schleswig-Holstein soll es nur noch zwei Wirte geben, die es wagen, der AfD einen Raum zu vermieten. Einer davon will demnächst aufgeben. Wie es Hotels ergeht, die einen AfD-Parteitag bei sich abhalten lassen, hat man unlängst in Köln erlebt. Die Hotelkette hat schon bekundet, dass sie ihre Räume nicht mehr zur Verfügung stellen will.

Charakteristisch für die Stimmungsmache ist die Aktion einiger Jusos in der Innenstadt von Neuss, die ein fröhliches Dosenwerfen auf „Nazis“ veranstaltet haben. Die Nazis waren neben Donald Trump, Marine Le Pen und Frauke Petry noch andere AfD-Politiker. Dem Jungvolk ist anscheinend nicht bewusst, dass es sich benimmt wie seine lieben Großeltern oder vielleicht Urgroßeltern, die sich seinerzeit auch einen Riesenspaß daraus gemacht haben, Menschen zu bewerfen.

In Deutschland 2017 findet täglich Menschenjagd statt, ausgeübt von Leuten, die beteuern, sie schämten sich in Grund und Boden für das, was in Deutschland mal möglich war. Sie wiederholen aber die Haltungen und Handlungen derer, die sie zu ächten vorgeben und können sich der klammheimlichen Freude ihrer Gesinnungsgenossen sicher sein. Unsere Qualitätsjournalisten gießen mit Kampagnen wie der gegen Podeswa noch Öl ins Feuer, statt Alarm zu schlagen, weil unser demokratisches Haus an allen vier Ecken brennt.

Zensur- und Prüderie-Rollback


Wann, frage ich mich manchmal, ist mir zum ersten Mal der orwelleske Begriff „politisch korrekt“ begegnet? Vielleicht war es 1993, in einem „Zeit“-Aufsatz von Dieter E. Zimmer. Der langjährige Redakteur der Wochenschrift, auch mal ihr Feuilletonchef, beschrieb darin als freier Autor eine „neue Tugenddiktatur“, die sich an amerikanischen Universitäten ausbreitete, wie ihm ein kalifornischer Literaturwissenschaftler berichtet hatte. Politically correct sei es, „überall Rassismus und Sexismus zu wittern und mit Beschwerden, Klagen, Demos, Redeverboten, Denkverboten dagegen einzuschreiten“. Das Gespräch, so Zimmer, sei ungefähr vier Jahre her; es muss demnach anno 1989 stattgefunden haben.

Sein Essay „PC oder: Da hört die Gemütlichkeit auf“ war vielleicht der erste ahnungsvolle Versuch einer Sondierung, ob und wie weit der „moralische Furor“ aus Amerika, „der Wind politischer Rechtschaffenheit“ (Zimmer), auch Deutschland erfasst habe. Sein Urteil fiel eindeutig aus: „Das ist so etwas wie ein starker, steter Wind aus politischen Grundsatzgefühlen, der ursprünglich von links kommt, aber längst die ganze Landschaft bestreicht. Daß eine bestimmte Brise bläst, merkt natürlich nie, wer sich mit ihr bewegt.“

Zimmers Stück war glänzend geschrieben und voller hübscher Seitenhiebe, ein echter Lesegenuss. Aber abkaufen mochte ich ihm seine Kernthese denn doch nicht so recht. Dass man in den USA (an manchen ihrer besonders abgehobenen Plätze jedenfalls) Dumme in „Andersfähige“ umgetauft hatte und Kleingewachsene „vertically challenged“ nannte, waren für mich nur die üblichen Sumpfblüten einer Campuskultur, welche sich an Amerikas Ost- und Westküste noch stickiger anfühlt als anderswo. Doch wohl ein Witz, das Ganze? So durchgeknallt konnten Europäer niemals sein, nicht mal ihre Studis – oder?

Ein früher Anflug von politischem Korrektheitsgetue war in Deutschland kläglich gescheitert. Der wohl in den 1970ern gestartete Versuch, Putzfrauen zu „Raumpflegerinnen“ zu adeln, hatte sich im Volksmund nie durchgesetzt, außer als wohlfeiler Joke. So, wie Knöllchenverteiler schlicht und einfach Knöllchenverteiler bleiben, auch wenn auf ihren Jacken neuerdings „Parkraummanagement“ steht. So, wie Hausmeister Krause mit dem Werkzeugkasten nicht zum „facility manager“ wird, bloß weil das nun in der Stellenausschreibung steht.

„The Times They Are A-Changin‘“ – es bewegte sich was

Okay, die etwas Älteren unter uns wussten natürlich aus Erfahrung: Vieles, ja fast alles, was in Amerika Furore macht, schwappt früher oder später über den Teich – Gutes ebenso wie Strunzblödes. Jazz und Soul; Elvis und Dylan und die Doors; Fastfood und Scientology; Hollywoodfilme, die für Dekaden Standards setzen und Sitcom-Infantilismus mit Lachern vom Band. Der Boom der Psychoklempner mit ihren Ratgeberschwarten und den herbeifabulierten Lebenszäsuren („Midlife crisis“) kam in den 1970ern aus Amerika zu uns – woher sonst? Ebenso die Esoterikwelle und der Mother-Nature-Schamanismus. Und wir? Sind den Schrott leider nie mehr losgeworden.

Eigentlich gibt es nur etwas Allamerikanisches, das es nicht nennenswert in hiesige Märkte geschafft hat: Autos made in USA. Was aber belanglos ist, angesichts der Dominanz von Apple, Google, Microsoft, Amazon & Co..

Warum ich vor 24 Jahren trotzdem nicht glauben wollte, dass Dieter E. Zimmers dystopischer Essay Realität werden könnte? Weil ich ein Siebenundsechziger bin. 1967 war ich 20 Jahre alt, gerade als Student eingeschrieben. Es war ein, nun ja, lehrreiches Jahr für mich. Wie jeder, der damals Augen und Ohren aufsperrte, konnte ich spüren, dass Dylans „The Times They Are A-Changin‘“ viel mehr war als nur ein schrammeliger Folksong. Es bewegte sich was. And keep your eyes wide, the chance won’t come again.

In Kalifornien feierten die Hippies den Summer of Love. Oswalt Kolle begann seinen lukrativen, von ihm aber auch mit echtem Sendungsbewusstsein geführten Aufklärungsfeldzug in der „Neuen Revue“, dem Sturmgeschütz des plebejischen Orgasmus (weithin unterschätzt in seiner Wirkung, der Mann!). In der Bonner „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ schoben sie Sonderschichten. Und Studenten der Hamburger Uni schritten ihren in vollem Wichs angetretenen Ordinarien mit einem Transparent voran, auf dem die bald geflügelte Parole stand: Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren.

Knut Nevermann, geboren 1944, Sohn eines Hamburger SPD-Bürgermeisters, AStA-Vorsitzender an der FU Berlin und für eine kleine Weile Mitstreiter von Rudi Dutschke (aber sozialdemokratisch grundiert und deutlich moderater als „der Rudi“), hat in einem Zeit-Interview begründet, warum seiner Meinung nach das Jahr 1967  – und schon das Jahr davor – viel wichtiger war als das berühmt-berüchtigte „68“.

Ein Putsch, ein Rollback, eine Restauration

Für ihn war 1968 „das Jahr des Scheiterns, nicht des Aufbruchs“. Der Aufstand Pariser Studenten war gefloppt, der Prager Frühling niedergewalzt, die deutsche Studentenbewegung zerstritten, die Apo zersplittert. Die Politisierung eines Teils der deutschen Studentenschaft, deren Nachwehen die Republik verändern sollten, sie hatte ihren Ursprung laut Nevermann bereits viel früher .

Eher kleine Konflikte, wie das Verbot des Rektors der FU, einen Uniraum für studentische Vietnam-Diskussionen zu nutzen, hätten die Verhältnisse peu à peu zum Tanzen gebracht. Als Nevermann 1966 auf der Immatrikulationsfeier im Namen des AStA Raumverbote und geplante Zwangsexmatrikulationen kritisierte, wurde seine Rede mit großem Beifall seitens der Studenten bedacht. Nevermann: „Das war neu; bis dahin galt der Beifall immer dem Rektor.“

Befragt, was für ihn das Vermächtnis der Studentenbewegung sei, gab der Kurzzeitrebell Nevermann vor Jahresfrist zu Protokoll: „Dass Autoritäten hinterfragt werden. Dass viele auch vor Fürstenthronen Mut zeigen.“

Das ist, mit Verlaub, genau derselbe Bullshit, an den auch ich lange geglaubt habe. Daran nämlich, dass die herrliche Aufmüpfigkeit jener Jahre, die permanente Dekonstruktion der herrschenden Verhältnisse, die Lust am Grillen aufgeblasener Polithäuptlinge, Oberbescheidwisser, Kulturkardinäle und Moralapostel sich gleichsam genetisch an folgende Generationen vererben würde. Nichts von all dem ist eingetreten, im Gegenteil.

Ein halbes Jahrhundert nach 1967 ist praktisch eine Konterrevolte passiert. Ein Putsch, ein Rollback, eine Restauration, wie keiner sie für möglich gehalten hätte, der die Jahre 1966/67/68 politisch erlebt hat. Es regiert die größtmögliche Koalition. Praktisch in allen Parlamenten herrscht eine Allparteienregierung, wenn man von der AfD absieht, die ganz überwiegend aus Gefühlen von Wut und Ohnmacht gewählt wird, nicht aus Überzeugung oder gar Sympathie. In keiner der wirklichen Zukunftsfragen – Migration, Integration, Euro, Energiewende – gibt es einen echten Dissens zwischen jenen Parteien, die schon länger hier sind.

Freie Rede, bei ungezählten Teach-ins, Sit-ins, Go-ins ausprobiert

Regt sich dagegen breiter Widerstand? Mitnichten. Vor 50 Jahren dagegen war es auch die bleierne Bräsigkeit der damaligen GroKo, welche ein folgenreiches Tänzchen provozierte.

In puncto Sex sind wir wieder im Prüderiemodus des Adolf Süsterhenn angekommen. Der Mitinitiator der „Aktion saubere Leinwand“ und CDU-Streiter für „die allgemeine sittliche Ordnung“ aus Adenauer-Tagen steht ideell Pate, wenn sich irgendwo eine Medientasse trübt und etwa die Werbung eines österreichischen Unterklamottenfabrikanten als „sexistisch“ geißelt. Die drallen, geilen, sexuell schwer emanzipierten Weibsbilder aus der Feder des unnachahmlichen Comiczeichners Robert Crumb („Fritz the cat„), sie würden heutzutage wohl kaum gedruckt. Irgendein Schneeflöckchen fände sich garantiert in seiner Frauenehre gekränkt und würde flugs ein Klagerecht ergattern. Kurz, wir waren schon mal weiter.

Am gravierendsten erscheint der Rückschritt auf einem Feld, das Studenten anno 67/68 gerade mühsam besetzt hatten. Es handelte sich um das Recht auf freie Rede, bei ungezählten Teach-ins, Sit-ins, Go-ins ausprobiert. Und zwar nicht selten bis zum Umfallen; in rauchgeschwängerten Foren, Plenen und Diskutierzirkeln gern auch bis in die späte Nacht. Noch die frühen Grünen, Miterben der Studentenbewegung, hielten kaum etwas so hoch wie freedom of speech. Muss man sich heute mal vorstellen!

Heute ist das intellektuelle Klima mutmaßlich regressiver und repressiver als in den verdrucksten Jahren der Republik, den Fünfzigern und Anfangssechzigern. Ludwig Erhards schaurige Vision einer formierten Gesellschaft , in der alle freudig an einem Strang ziehen, sie ist beinahe schon Wirklichkeit.

Ein generös gesponsertes Blockwart-, Anschwärzer- und Verpfeiferwesen

Heute heißt das: Alle Mann gegen rechts, und alle Frau erst recht. Angesichts des aus staatlichen Trögen, von regierungsaffinen Medienkonzernen und ausgewiesenen Menschenfreunden à la George Soros generös gesponserten Blockwart-, Anschwärzer- und Verpfeiferwesens muss man durchaus keine DDR-Dissidentenmacke aufweisen, um unwiderstehlich an Ulrich Mühe erinnert zu werden. In der Rolle seines Lebens, als Mann mit den großen Kopfhörern.

Überflüssig, hier das Ausmaß der Zensierwut und des Gesinnungsschnüffelwahns zu referieren. Auf der Achse des Guten, Tichys Einblick und anderen Portalen finden sich fast jeden Tag neue, stupende Beispiele. Nur ein frischer Zugang in der Kategorie „McCarthys Schoß“ sei kommentarlos aufgeführt. Also, das PEN-Zentrum sowie der „Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ wollen ihr Mitglied Olaf Kappelt ausschließen. Kappelt, der zu DDR-Zeiten wegen eines „Braunbuchs“ über Nazis im Arbeiter- und Bauerstaat von dem Staatssicherheitsminister Erich Mielke zum Staatsfeind erklärt wurde, ist bekennendes Mitglied der AfD. In einer Presseerklärung erklären die Verbände, die Abgrenzung zur AfD erfolge zwecks Schutz von „Pluralität und Meinungsfreiheit“.

Um auf den eingangs erwähnten Text von Dieter E. Zimmer zurückzukommen: Fast unheimlich, wie exakt seine Analyse von 1993 ins Jahr 2017 passt. Leseprobe:

Früher reichte es, der dissidenten Äußerung das Etikett ‚bürgerlich‘ anzuhängen, um sie von vorneherein vor aller Augen zu disqualifizieren. Es ist außer Gebrauch gekommen, wahrscheinlich weil kein Mensch mehr wußte, was ‚bürgerlich‘ eigentlich ist, und somit das abgrundtief Falsche und Böse daran auch nicht allgemein in die Augen sprang. Heute verwendet man zur Stigmatisierung statt dessen das Etikett ‚menschenverachtend‘. Der Komparativ von ‚menschenverachtend‘ aber heißt ‚rechts‘.

Ein solches Stück fände heute, aktualisiert um Tags wie „Amadeu Antonio-Stiftung“, „Ex-Stasi-IM Kahane“ „Heiko Maas“ und „Bundesfamilienministerium“, gewiss nicht mehr leicht den Weg in ein Mainstream-Medium. Heute hängt ja so vieles mit vielem zusammen! Schauen Sie sich nur mal die gegenwärtigen Zeit-Läufe an.

Intellektuelle, Halb- und Einviertelintellektuelle als Sturmabteilungen von Merkels Konsens-Republik

achgut.com

 

Intellektuelle, Halb- und Einviertelintellektuelle als Sturmabteilungen von Merkels Konsens-Republik

Von Klaus D. Leciejewski

Es gibt Ereignisse, die im Nachhinein als Bruch historischer Entwicklungslinien erkannt werden. Beispielsweise ist das Münchner Abkommen von 1938 ein solcher Bruch, mit dem Frankreich und Großbritannien die Tschechoslowakei Hitler auslieferten und später auch wehrlos der Eroberung Polens und der baltischen Staaten gegenüberstanden. Allerdings wird dabei häufig vergessen, dass auch dieser Kniefall vor einem Diktator eine Vorgeschichte hatte. Er kam nicht völlig unerwartet, er hatte seine Vorbereitung. Bis heute ist dies für die unterworfenen Länder ein Trauma, während die Erinnerung daran in der aktuellen Politik Frankreichs, Großbritanniens und der Bundesrepublik weitgehend zurückgedrängt ist. Vor allem die damit verbundene Selbsterniedrigung der Intellektuellen dieser Staaten hat sich in ihrem heutigen Bewusstsein nicht verankert.

Ein derartiger Bruch lässt sich auch an einem Ereignis in der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik festmachen. Die Kanzlerin Angela Merkel hatte verkündet, dass das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin „nicht hilfreich sei“. Danach betrieb sie aktiv auch seine Entlassung als Staatsangestellter. Obgleich hunderttausende Menschen dieses Buch kauften, gab es keinen Aufschrei der deutschen Intellektuellen gegen diesen staatlich betriebenen Rufmord. Soweit die bekannte Geschichte. Mit diesem Ereignis veränderte sich jedoch endgültig und gravierend die intellektuelle Landschaft in unserem Land.

Quasi ex cathedra wurde über einen Autor und eine Diskussion ein Verdammnis ausgesprochen. Forthin gab es keine geistigen Auseinandersetzungen mehr zu Weichenstellungen in der deutschen Politik, die politische Auswirkungen hatten. Selbst der Protest von über 270 staatlich bezahlten Wirtschaftswissenschaftlern gegen die „Griechenlandrettung“ hatte keinerlei politische Folgen, ja im Gegenteil sogar, denn wiederum konnte ein maßgeblicher Politiker, Wolfgang Schäuble, die Autoren – einfach ausgedrückt – als ‚verantwortungslose Dummschwätzer‘ verunglimpfen.

Die Austauschbarkeit der Feuilletons von Zeit, SZ und FAZ

Bis zu diesem Ereignis herrschte in Deutschland ein Konsens, dass über unterschiedliche Auffassungen zu Entwicklungen unseres Landes offen gestritten werden konnte. So wie der „Spiegel“ massiv für einen Ausgleich mit den  osteuropäischen Staaten eintreten konnte und später die „FAZ“ für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stritt. Völlig unabhängig davon, ob man die Auffassungen von Sarrazin weitgehend oder aber nur teilweise oder auch überhaupt nicht teilt, zeigte die Publikumswirksamkeit dieses Buches, dass sein Autor offensichtlich ein Thema laut angesprochen hatte, welches breite Schichten unseres Landes bewegte. Nur die Intellektuellen bewegte es nicht, von Ausnahmen abgesehen.

Warum hatte sich nicht – wie beispielsweise drei Jahrzehnte zuvor im Historikerstreit – ein Leuchtturm früherer Diskussionen wie Jürgen Habermas vehement für Meinungsfreiheit eingesetzt? Dem Verdikt der Kanzlerin beugte sich die intellektuelle Elite Deutschlands, und als die Kanzlerin auch noch die Atomwende durchsetzte, war die freiwillige Unterwerfung unter das Kommunikationsdiktat von Union, SPD und Grünen abgeschlossen. Fortan sollte kein intellektueller Aufschrei mehr die Gleichschaltung zwischen den politischen und den intellektuellen Eliten, und denen die sich dafür halten, stören.

Ein prägnantes Beispiel dafür ist die weitgehende Austauschbarkeit der Feuilletons von Zeit, SZ und FAZ. Während 1990 Spiegel und Zeit noch konsequenzenlos gegen die Wiedervereinigung anschreiben konnten, werden jetzt die wenigen Intellektuellen, die den Mut haben, diese gottgegebene „prästabilisierende Harmonie“ (Leibniz) zu stören, konsequent diffamiert. Allerdings: Wenn bereits gegen Blogs mit begrenztem politischen und intellektuellen Einfluss wie Tichy’s Einblick und Achgut Hetzkampagnen inszeniert werden, dann muss Angst in den sogenannten Eliten umgehen.

Es ist die Angst, ohne die Vernichtung Andersdenkender die eigene Position nicht durchhalten zu können. Ihr Meinungsdiktat ist zwar noch nicht vollständig durchgesetzt, aber es nimmt stetig zu. Die Lust am Streiten, am Diskutieren, am Disput, am dialektischen Widerspruch  ist in Deutschland verschwunden, weil die vereinigten Politiker und ihre intellektuellen Absicherer sich in unserer Konsensrepublik behaglich in ihrem vom Volk sich immer höher abhebendem Raumschiff eingerichtet haben, von dem sie die Bevölkerung unter ihnen mit medialen Laserstrahlen der sog. „political correctnes“ disziplinieren, schikanieren, auf ihre Linie bringen, elektronisch Gedankenzäune, Mauer, Totem und Tabus errichten.

Die Vorgeschichte dafür ist mehr als vier Jahrzehnte lang. Sie beginnt mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt. Über alle folgenden Kanzler hinweg bis zur Eurokrise war es eine glückliche Zeit für Deutschland. Das fast stetige Anwachsen des Wohlstandes führte zu einem höchst eigenartigen Phänomen. Entgegen aller historischen Erfahrung breitete sich das Gefühl aus, diese Prosperität könne nie zu Ende gehen. Die deutsche Außenpolitik wurde zu einer Scheckbuch-Diplomatie, Europa wuchs deutsch zusammen und die deutsche intellektuelle Elite schwelgte in Glückseligkeit. Die dabei gleichfalls stetig steigende Verschuldung wurde als ein notwendiges Übel hingenommen, das ja nicht unmittelbar weh tut.

Abwarten und sich glücklich fühlen

Mit Frau Merkel zog ein anderer Politikstil in Deutschland ein. Der Ausspruch Hannah Arendts, dass das „Handeln das eigentliche Werk der Politik“ sei, galt nicht mehr. Nicht mehr die Aktion bestimmte die deutsche Politik, sondern nur noch die Reaktion. Hannah Arendt meinte dialektisch weiter: „Ein Wesenszug des menschlichen Handelns ist, dass es immer etwas Neues anfängt; … Um Raum für neues Handeln zu gewinnen, muss etwas, das vorher da war, beseitigt oder zerstört werden; der vorherige Zustand der Dinge wird verändert.“ Diese Haltung entsprach nicht mehr der Haltung der deutschen sog. intellektuellen Elite. Das Abwarten, Abknicken und Frau Merkel zujubeln und sich mit der Mächtigen einig und glücklich im erreichten Zustand fühlen, das war ihre Welt. Die neue Politik von Merkel hob die Stimmung unter der sog. intellektuellen Elite. Darum ist der Eindruck, dass Merkel ihre Opponenten weggebissen hatte, unzutreffend. Sie hatte nur erkannt, dass auch diese kaum noch eigenen Willen hatten und sich bereitwillig beiseite schieben bzw. mit ihrem dicken Hintern, unter dem sie sich wohlig warm fühlen, be-setzen ließen. Wer könnte sich schon einen Friedrich Merz als einen Bundeskanzler vorstellen! Ich stand einmal während einer Diskussion mit einem Glas Wasser in der Hand einige Zeit direkt neben ihm. Nach einer halben Stunde waren Eiskristalle in meinem Glas.

Weitgehend widerstandslos lieferten sich die deutschen Intellektuellen der oppositionslosen Politik aus, aber dafür hoffierte diese die selbsternannte intellektuelle Elite, die tatsächlich gar keine Elite, sondern eine Entourage ist. Der CDU-Ministerpräsident von NRW verlieh Jürgen Habermas in einem großen Akt der Nächstenliebe den Staatspreis seines Bundeslandes und Habermas genoss es sichtlich, war gerührt und niemand wollte fragen, wer dabei der Tor war. Die „Intellektuellen“, die eher Intelleltualisten genannt werden sollen, hatten sich endgültig in Selbstgerechtigkeit eingelullt. Die Welt drehte sich nicht mehr um sie, sondern es drehte sich nur noch die Welt in ihnen. Wolf Lepenies stand diesem Prozess als Beobachter bei: „Die Reflexion ist die ursprüngliche Aufgabe der Intellektuellen – die Selbstreflexion ist ihre konstante Bedrohung. Denn das Zurückwenden auf sich selbst birgt die Gefahr in sich, nur noch das eigene Ich, nicht aber mehr die Welt um sich herum wahrzunehmen.“ Das intellektuelle Deutschland will sich seine Pensionsberechtigung sichern, es hat sich weitgehend selbst abgeschafft.

Feindbild Trump als Glücksfall für Europa

Wenn Angela Merkel erklärte, dass ihre Politik alternativlos sei, dann traf dies tatsächlich zu, allerdings in einem anderen Sinne als den von ihr damit gemeinten. Alternativlos nur, weil es keine in einer breiten Öffentlichkeit diskutierten alternativen Politikentwürfe gibt. Damit sind wir intellektuell wehrlos gegen die Gefahren geworden, die unserem Land drohen – hingegen gefallen sich unsere Intellektualisten darin, solche Gefahren konsequent zu leugnen. Die Interessen unserer Nation interessieren sie nicht mehr, schließlich gibt es, wie schon einmal, ja das deutsch geeinte Europa.

Wenn aber dieser deutschen Einigung Europas Ungemach droht, dann werden die Ursachen dafür in anderen Ländern gesucht. Welch ein Glücksfall für diese Haltung, dass ein Donald Trump amerikanischer Präsident wurde! Die deutschen Intellektuellen schulden den amerikanischen Wählern tiefen Dank, dass sie ihnen wieder ein echtes Feindbild geliefert haben. Indessen liefert dieses nur einen kleinen Zeitaufschub, denn die Verdrängung geistiger und politischer Alternativen hat der deutschen intellektululllilalla Elite ihrer Zukunftsfähigkeit beraubt. Die Geschichte hat intellektuelle Leere stets bestraft.

Um die Verkrustungen in unserer Gesellschaft in ihrer erneuten Abgehobenheit der neuen deutschen Überheblichket des neuen deutschen Hochmuts der rotgrünen (rot mit grün ergibt braun) aufzubrechen, benötigen wir einen erneuten „Bruch“, allerdings kann dieser nur aus einem zur Zeit gegenwärtigen moralischen, und dann ökonomischen und politischen Zusammenbruch hervorgehen.  Wer nicht denken will, muß fühlen. Πόλεμος είναι ο πατέρας των πάντων και ο βασιλιάς των πάντων και μερικούς τους έκανε θεούς, άλλους ανθρώπους· μερικούς τους έκανε δούλους, άλλους ελεύθερους. (Ἡράκλειτος, απόσπ. 53)

Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba.

Grünenbonze Simone Peter mit ihrem dürren Veggie-Hintern

Die Kabarettistin Monika GRuber auf Facebook: Ach, ja….und zur GRÜPRI (= Grünen-Pritschn), Simone Peter, möchte ich gern sagen (leider bin ich heiser): Wenn sie die Abkürzung „Nafri“ für „Nordafrikaner“ schon für entmenschlichend hält, dann sollte sie vielleicht mal ein paar Joints weniger rauchen und ihren dürren Veggie-Hintern aus ihrer gepanzerten Dienstlimousine schieben und sich ein bissl in der Welt umschauen, dann würde sie feststellen, dass z.B. wir Bayern vom Rest der Republik als „Seppls“ verspottet und die Österreicher von uns „Schluchtenscheisser“ genannt werden, unsere ostdeutschen Mitbürger sich von „Ossi“ bis „Zonen-Zombie“ alles gefallen lassen müssen, die Engländer uns sauerkrautfressende Deutsche als „Krauts“ und die Franzosen uns als „boche“ (Holzköpfe) oder in guter alter Nazi-Tradition als „Fritz“ bezeichnen…..die Liste liesse sich beliebig lange fortsetzen. Aber wahrscheinlich wäre es Frau Peter lieber gewesen, es wären wieder genauso viele Frauen ausgeraubt und sexuell belästigt worden wie im letzten Jahr, denn offensichtlich haben wir „DEUSCHLA“ (Deutschen Schlampen) ja nichts anderes verdient….wobei ich jetzt nicht ALLE deutschen Schlampen unter Generalverdacht stellen möchte, hüstel. Wo bleibt eigentlich die von solchen Weibern so viel zitierte weibliche Solidarität? Aber I derf mi ned aufregen, das macht Falten und davon hab ich bereits genug! / Link zum Fundstück

https://www.facebook.com/MonikaGruber01/?fref=nf

Realitätsverlust beginnt in den 30ern. Anything goes und unvorstellbare Dinge. Der deutsche Wahn.

Die sich heute für Nachfahren der 68er halten, sind gar keine. Wenn wir jetzt von Realitätsverlust verschiedener Teile der Bevölkerung sprechen, dann sollten wir die Gründe dafür weder in den 80er noch in den 60er, sondern in den 30er Jahren.

Die 68er sind nicht an allem schuld. Wenn wir jetzt von Realitätsverlust verschiedener Teile der Bevölkerung sprechen, dann sollten wir die Gründe dafür in den 30er-Jahren suchen und nicht in den 60ern. Damals, als Hitler Kanzler war und „Der Triumph des Willens“ lief, wurden Mentalitäten geschaffen und Prozesse angestoßen, die das Land heute prägen. In den 30ern begann die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Es begann der Prozess der Entbürgerlichung, wenn Bürgerlichkeit dafür steht, als Citoyen Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen und nicht nur das Eigene und die eigene Gruppe zu protegieren. In den 80ern dann setzte sich der Umbruch zur Entwicklung der narzisstischen Kultur und Mentalität der Gegenwart fort. Der neue Einzelne hatte Solidargemeinschaften scheinbar nicht mehr nötig, weil er sich in der Lage fühlte, wenn auch oft nur aus Selbstüberschätzung, seine Interessen selbst und allein zu vertreten. Die 68er hätten dies als „falsches Bewusstsein“ und „Rückzug ins Private“ geschmäht.

Die 68er hielten nichts von Einzelkämpfertum. Sie waren öffentlichkeits- und gesellschaftsorientiert und propagierten die Notwendigkeit der gemeinsamen Aktion und des Zusammenschlusses. Solidarität war heilig. „Selbstverwirklichung“ war dagegen kein Thema. Diese Idee war bereits eine Reaktion auf die Ordnung und Disziplin der 68er, von denen ein solches Ansinnen als unberechenbares „Chaotentum“ abgeschmettert worden wäre.

Die 68er-Bewegung war bestimmt von strengem Denken. Sie war „kopflastig“ schon aus der Perspektive der 70er, als sich Theorie- und Wissenschaftsfeindlichkeit an den bundesdeutschen Universitäten einnisteten. Zweifellos waren etliche 68er Dogmatiker, ebenso wie der Marxismus die Kriterien einer politischen Religion erfüllte. Die Unterscheidung zwischen „richtigem“ und „falschem Bewusstsein“ entsprach der Unterscheidung der monotheistischen Religionen zwischen Wahrheit und Unwahrheit; „Das Kapital“ war die Heilige Schrift; die Weltrevolution war die Apokalypse und das Jüngste Gericht; die vollendete kommunistische Gesellschaft das ewige Leben. Für diese Parallelen waren die 68er blind, auch wenn es Bestrebungen gab, Jesus zum Kommunisten zu erklären, weil man unterschwellig Entsprechungen spürte.

Anything goes

Der heute herrschende linke Kulturrelativismus ist keine Folge von 68. Für die 68er gab es gar keine Kulturen, es ging nur um Politik und da nur um die eine, richtige Politik. Den Anstoß zum Siegeszug des Relativismus gab das Buch „Against Method“ (dt. „Wider den Methodenzwang“) des Philosophen Paul Feyerabend, das 1975 erschien. Angeblich wünschte er sich später, das Buch nie geschrieben zu haben, was man ihm aus verschiedenen Gründen nachfühlen könnte. Als Essenz des Werks blieb der Slogan „Anything goes“ übrig. Dies war ursprünglich der Titel eines Musicals von Cole Porter, nun bedeutete er aber die Proklamation von Methodenvielfalt in der Wissenschaft. An den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen entstand in der Folgezeit eine Mischung aus einer auf Objektivität festgelegten Theorievermittlung, die jedoch als „zu verkopft“ vielerorts nicht mehr akzeptiert wurde, und einer neuen Subjektivität, die zuweilen intellektuelle Faulheit bewirkte und rechtfertigte. Die 68er hinterließen Berge von Büchern, die Spontis machten dann und wann mal ein Papier.

Zur Kultur der 70er gehörte die Wiederentdeckung der Spiritualität in Form von „Energy“, die bis heute wirkt, aber unmöglich auf die der Ratio verpflichteten 68er zurückgeführt werden kann. Das Erbe von 68 ging bereits in den 70ern sang- und klanglos unter und wurde später durch eine falsche Erinnerung ersetzt, in der die bunte Neo-Romantik von Flower Power, Hippies und Selbstfindungstrips in Aschrams die klassische politphilosophische Zeit überlagerte. Nachhaltige Zerrüttung der historischen Wahrnehmung bewirkte der Terror der Roten Armee Fraktion.

Das Ziel der Frankfurter Schule, die die 68er maßgeblich prägte, war die Vollendung der Moderne. Das Mittel war Kritik, das typische Merkmal der Moderne. Die Wertschätzung der Kritik ließ mehr und mehr nach und ist heute auf einem Tiefpunkt angekommen. Oft wird sie als „Geschimpfe“ bezeichnet, was Auskunft gibt über den erreichten Infantilisierungsgrad der Gesellschaft, oder mit Hetze gleichgesetzt, was um die Zukunft eines bisher hochentwickelten Wissens- und Bildungsstandortes fürchten lässt.

New Age

In den 80ern kam New Age. Die Vorstellung, Wissenschaft und Gesellschaft sei von Himmelskonstellationen beeinflusst („Wassermannzeitalter“), war komplett Nicht-68. Die wissenschaftstheoretischen Höhepunkte des Jahrzehnts waren das Buch „The Turning Point“ (dt. „Wendezeit“) von Fritjof Capra und die von dem Ethnologen Hans-Peter Duerr (nicht zu verwechseln mit dem Physiker Hans-Peter Dürr) herausgegebenen Bände „Der Wissenschaftler und das Irrationale“ im legendären Syndikat-Verlag. Anything goes und die Propagierung der Gleichwertigkeit von Ratio und Irratio waren Vorbereitung auf die Idee der Diversität und der Gleichwertigkeit aller Kulturen.

Die Suche nach dem Selbst schritt ebenfalls in den 80ern rasant voran durch den starken Einfluss der Psychologie in Form einer vulgarisierten Ich-Psychologie. Die Psychoanalyse dagegen, die von der 68ern breit rezipiert worden war, verschwand in der Versenkung, aus der sie bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Auch der Erfolg des Narzissmus hat die Psychoanalyse verdrängt. Wer ganz authentisch er oder sie selbst im Hier und Jetzt ist, lehnt das Unbewusste ab. Die Theorie des Unbewussten ist kränkend für das kränkungsanfällige narzisstische Individuum und wird deshalb abgewiesen. „Das brauche ich nicht,“ sagt der Narzisst, wenn er Unlustgefühle vermeiden will. Die Psychoanalyse „bedeutet“ ihm – wie so vieles – nichts. Der Narzisst fragt bei allem, was ihm auf dieser Welt begegnet: Was bedeutet das für mich? Er ordnet die Welt nach seinem Gusto. Überflüssig zu sagen, dass sie sich seinen Wünschen nicht fügt. Ereignisse und materielle Gegebenheiten, die der Narzisst ignoriert oder leugnet, weil er sich mit ihnen nicht wohlfühlen kann, sind trotzdem Teil der Realität.

Makro-Konzepte zur Gesellschaftserklärung wie die Sozialwissenschaften, die bei den 68ern Hochkonjunktur hatten, verloren in den 80ern an Einfluss. Theorie und Praxis hießen nun „Ich und Ich“. In dieser Zeit wuchs die Generation Teefläschchen heran, die heute nichts Bitteres mehr mag. Aber auch, wer schon erwachsen war, entkam dem „Individualisierungsschub“ nicht, dessen „Gartenlaube“ die „Psychologie heute“ war.

Narzisstische Neo-Spießigkeit

Die strapazierteste Phrase der 80er lautete: Der Einzelne muss sich abgrenzen. Dies bedeutet übersetzt:  Alles, was dem eigenen Ich fremd ist, muss weg. Der kategorische Imperativ der Ichbezogenheit lautet, nichts zu dulden, was mit dem eigenen idealisierten Ich nicht übereinstimmt. Ich-Zentrierung führt dazu, mögliche gesellschaftliche Entwicklungen als unvorstellbar auszublenden, was Schockzustände und Schuldzuweisungen an jeden, nur nicht an die eigene Person, zur Folge hat, wenn sie doch stattfinden. Der Narzisst glaubt, Probleme lösen zu können, indem die Begriffe dafür in den Köpfen gelöscht werden. Die politisch korrekte Sprache ist solch ein Mittel der Problemlös(ch)ung. Sicheres Denken in Safe-Space lässt das Instrumentarium der Erkenntnisfähigkeit zusätzlich schrumpfen.

Die narzisstische Neo-Spießigkeit lehnt jede Unbequemlichkeit ab, vor allem kritische Reflexion, die die 68er nachdrücklich gefordert hatten. Der Narzisst will in Ruhe gelassen werden. Indem er ruht, verliert er nach und nach die Rechte, die Generationen vor ihm erkämpft haben. Auf einige verzichtet er von selbst. Seine Privatsphäre und Datensouveränität verkauft er für ein App und ein Ei, weil er „nichts zu verbergen hat“ und dies oft tatsächlich glaubt. Wenn er es nicht so recht mehr glaubt, steht er auf verlorenem Posten. Dieses verlorene Terrain, geistig, rechtlich und lokal, weitet sich unter seinen Augen ungesehen aus.

Wenn der Narzisst nicht raucht, trinkt, Fleisch isst oder Pelz trägt, sollen Andere das auch nicht tun, denn dann ist es überflüssig und schädlich. Er braucht auch kein Schweinefleisch. Demonstrativer Verzicht hat demonstrativen Konsum abgelöst. Sehr empfindlich reagiert er auf Meinungen, die er nicht braucht, weil sie nicht wie seine sind. Verbote bestimmter Gesinnungen wären aus seiner Sicht angebracht. Die allgemeine Emotionalisierung auch der Politik hat dazu geführt, dass Meinungen und Einstellungen als natürliche persönliche Eigenschaften erlebt werden und Kritik daran den Kritisierten tief trifft. Solche Erschütterungen müssen dann wie Körperverletzung geahndet werden. „Betroffenheit“ braucht keinen Diskurs.

Als kollektive Entsprechung der Abgrenzung des Einzelnen entstand in den späten 80ern und in den 90ern ein Konzept der Identität, die jede kulturelle Gruppe für sich abstecken konnte. Dieses Recht auf Selbstdefinition wurde bis heute stark ausgebaut. Die Gruppe ist in ihrer Authentizität geschützt und von Verantwortung für andere weitgehend verschont. Sie verlangt von anderen allerdings Respekt. Die Gesellschaft ist in ein paar Dekaden vom „Hinterfragen“ zum „Respektieren“ gelangt. Glückwunsch! Die erforderliche Reife ist erreicht, jetzt kann ein autoritäres Regime ernten!

Die fragmentierte, diversifizierte Gesellschaft grenzt aus

Das Gefühl und die Gewissheit, über Lebensstilpräferenzen hinaus in einem tradierten zivilisatorischen Zusammenhang einander verpflichtet zu sein, geht mehr und mehr verloren. Verflochtenheit, Interdependenz, Gemeinsamkeiten können sich gegen Abschottung, Separatismus, Tribalismus nur noch schwer behaupten. Wir sprechen zu viel über Globalisierung und zu wenig über Fragmentierung. In eine fragmentierte, diversifizierte Gesellschaft kann man sich nicht mehr integrieren, man kann nur eine weitere Facette hinzufügen. Man kann die Diversität „bereichern“, aber nicht mehr die Gesellschaft als Ganzes.

Gruppeninterne Homogenität der Überzeugungen ist nun unerlässlich als Schutz vor den Zumutungen der Wirklichkeit. Man leugnet offensichtliche und sogar erfahrene Verachtung, weil man sich selbst nicht als verächtlich und verachtenswert erleben will. Lieber äußert man Verständnis und sucht die Ursachen auf anderen Feldern, z.B. in sozialer Ungleichheit. Es sind oft Ablenkungsmanöver, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Ebenfalls häufig bei Menschen, denen nur das Eigene gilt, ist die Reaktion: „Das gibt es bei uns doch auch!“ Die Beschwichtigungsformel „Nicht alle sind so …“ ist nichtssagend. Einige sind es eben doch. Nicht alle Menschen werden Verbrecher, aber Gesellschaften treffen umfangreiche Vorkehrungen für die Minderheit, die es wird. Das Gerede von den Einzelfällen ist tückisch, weil es systematisches Denken untergräbt: Man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht. Man kann und darf eins und eins nicht mehr zusammenzählen. Die narzisstische Störung der Missachtung des Augenscheins tritt individuell und kollektiv auf. Individuelle Selbsttäuschung mag dem Überleben nützen, kollektive Selbsttäuschung ist der Anfang vom Ende.

Das Menetekel an der Wand will der Narzisst nicht sehen. Warnungen, sein Verhalten zu reflektieren und die Folgen für eine demokratische Gesellschaft und den Frieden in Europa zu bedenken, tut er als unerwünschte Kassandra-Rufe ab. Dabei wird immer übersehen: Kassandra hatte recht.

Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.

 

Hassreden: Von verbotenen und erlaubten Worten

Freunde umfänglicher Texte kommen in den „Zeit“-Kolumnen des Karlsruher Bundesrichters Thomas Fischer meist auf ihre Kosten. Richter Endlos ist in keiner Hinsicht ein Mann der kleinen Form. Seine Breitseite gegen die Anti-Hate-Speech-Industrie liest sich aber derart erfrischend, dass es schade wäre, wenn Menschen mit schmalem Zeitbudget sie versäumten. Hier steht sie, auf Seite 3 des neuen Fischer-Schriftsatzes (ab Punkt V.).

zeit.de

Hassreden: Von verbotenen und erlaubten Worten

ZEIT ONLINE GmbH, Hamburg, Germany

Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne „Fischer im Recht“ finden Sie hier – und auf seiner Website. Am Freitag, 4. November 2016, ist Thomas Fischer ab ca. 16 Uhr unser Gast bei einer Live-Video-Fragerunde auf Facebook. Schicken Sie uns Ihre Fragen bereits jetzt an fragfischer@zeit.de oder stellen Sie sie live während des Gesprächs am Freitag.

I. Liebes Tagebuch

Also mein Innerstes, Unentdecktestes, gleichwohl Entäußertes! Mein Kernbereich der Menschenwürde! Mein Du im Ich!

Gelegentlich, wenn ich bei Diskussionsveranstaltungen um ein Schlusswort gebeten werde, sage ich, ceterum censeo, einfach mal so, dass in den vergangenen Stunden, wie immer, alle 60 Minuten weltweit ungefähr 1.000 Kinder unter 12 Jahren verhungert sind. Auf jener Welt, die von unserem heute und hier versammelten Willen zur Menschenwürde, unserem stets freudigen Bekenntnis zum unveräußerlichen Wert jedes Individuums, unserem kompromisslosen Willen zum Schutz aller Opfer vor Gewalt geprägt und strukturiert wurde. Vor allem natürlich: begrifflich.

Das ist die angetäuschte große Moralkeule: ein Stan Libuda, der das Unerhörte tut, also durch die Mitte auf die Mitte geht. Wären wir jetzt auf dem monatlichen Kerzenfest des nickenden Negerleins oder beim Wort zum Sonntag, wäre so etwas superpassend, da erwartet. Aber ganz schlecht ist es, wenn man dergleichen unerwartet sagt – zum Beispiel anlässlich einer Diskussion den strafrechtlichen Schutz der deutschen Frau vor unerwünschten Berührungen, oder anlässlich von Feierstunden zur Empörung über die allgegenwärtige Unterdrückung lesbischer Homosexualität in der Bundesrepublik. In solchen Lagen fühlen sich die Menschen von dem kleinen cetero censeo in unangenehm moralistischer Aufdringlichkeit berührt.

Das ist eines meiner kleinen Geheimprojekte. Man steht dann zwar kurz etwas isoliert inmitten des Schweigens, sammelt aber Erfahrungen. Nach 50 Versuchen kann ich berichten: Die Quote irritierten bis aggressiven Unverständnisses liegt bei 90 Prozent. So schön aber wie bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden am 27. Oktober ist es selten. Statt im allerletzten Schlusswort zum zehnten Mal zu sagen, was schon gesagt war zu „Nein ist Nein“, sagte ich das mit dem Hunger. Da wurde die Journalistin, die als sogenannte Moderatorin des öffentlichen Talks auftrat, die außer einem stramm feministischen Glauben aber keine Kenntnisse mitgebracht hatte, richtig böse. „Da machen wir dann vielleicht gelegentlich ’ne Sendung über Philosophie draus“, war, was ihr einfiel. Und eine Ministerialrätin sagte, das sei jetzt aber total unpassend. Man dürfe doch das Grabschen nicht mit dem Verhungern vergleichen.

Doch, darf man. Man darf und sollte sogar alles mit allem vergleichen. Das ist nämlich die einzige Möglichkeit zu vermeiden, dass man alles gleich setzt, gleich wichtig oder gleich schlimm findet. Ich empfehle zum Beispiel, die Verfolgung und Ausgrenzung männlicher Homosexueller oder die anhaltende vollständige Eliminierung (nicht krimineller) Pädophiler aus der bürgerlichen Gesellschaft zu vergleichen mit der (angeblichen) Unterdrückung weiblicher Homosexueller.

So ist das mit dem Vergleichen und Differenzieren: Kaum fängt man an, bröckeln die Glaubenssätze und Sprachregelungen. Der Kolumnist rät an dieser Stelle: Martin Caparrós (Der Hunger, 2015) lesen, und Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut (2016)! Und nebenbei ab und zu ein bisschen Bukowski. Dann ist man nicht so überrascht, wenn er einen aus der ZEIT anspringt, gerade wenn man am wenigsten mit so etwas gerechnet hat. Sein Gedicht Ein Genie geht so:

Heute hab ich im Zug einen
genialen Jungen
kennengelernt.
Er war ungefähr 6 Jahre alt,
saß direkt neben mir
und als der Zug an der Küste
entlangfuhr
sah man das Meer
und wir schauten beide aus dem
Fenster
und sahen das Meer an
und dann drehte er sich
zu mir um
und sagte:
„Das is nich schön.“
Da ging mir das zum
ersten Mal
auf.

II. Entlarvung

Eine kleine, aber selbstgefühlt riesige Gruppe von Journalistinnen und Journalisten regt sich bekanntlich wöchentlich über diese Kolumne auf, weil entweder ihren Mitgliedern selbst oder jemandem, den sie kennen, oder der heiligen richterlichen Zurückhaltung an sich ein Unrecht widerfahren sei. Meistens handelt es sich um irgendein Wort, das die Damen oder Herren nicht auf ihrer Autokorrektur-Funktion hatten oder über das ihnen irgendjemand gesagt hat, es sei verboten. Dann schäumen die Filzstifte auf, und der Kolumnist wird angerufen und gefragt, ob er bereit sei, dem Publikum den Sinn so unbekannter Begriffe wie „Silikonbrüste“ oder „Dummes Zeug“ oder „Nein“ zu erklären. Worte also, die Redaktionen in Aufregung versetzen oder Herausgeber der FAZ nicht schlafen, lassen aus Sorge um Deutschland.

Stefan Winterbauerist ein Journalist, der in dieser Kolumne bislang noch nicht aufgetaucht ist. Das stört ihn wahrscheinlich, was man verstehen kann, denn immerhin ist er „Mitglied der Chefredaktion“ bei Meedia, „dem großen Medien Portal“. Naja – er liest jedenfalls diese Kolumne. Vor zwei Wochen drängte es ihn, dazu Folgendes zu sagen:

Diese Woche habe ich mal wieder die beliebte Aggro-Kolumne ‚Fischer im Recht‘ des schreibenden Bundesrichters Thomas Fischer gelesen. Also: nicht ganz gelesen. Richter Fischer schreibt mittlerweile so viel und so geschraubt, dass mir spätestens nach der Hälfte seiner Texte der Kopf schwirrt. (…) Der Bundesrichter Thomas Fischer … mag ein ganz und gar brillanter Jurist sein. Seine journalistischen Texte haben mittlerweile aber eine fast unlesbare Länge und Geschwollenheit angenommen. Haben die bei der ZEIT denn keinen, der den Mann mal redigiert?“

Diese Woche hat Herr Winterbauer schon wieder die Kolumne angeklickt, und gleich hat er auch wieder etwas dazu gemeint:

Überall Hass: Warum manche … und Richter in Sachen Hate-Speech nicht als Vorbilder taugen. Wen haben Hass-Redner als Vorbilder? Schau’n wir mal: Die Journalistin Carolin Emcke hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gewonnen und dafür eine recht beachtete Dankesrede gehalten. (…) Man muss … nicht gut finden, dass sie diesen Preis bekommen hat. Aber muss man Frau Emcke, nur weil sie in ihrem Auftreten vielleicht ein bisschen sperrig ist, so bösartig verhöhnen, wie es Bundesrichter Thomas ‚der Kolumnist‘ Fischer diese Woche bei ZEIT ONLINE tat? Zitat: (Anm.: Es folgt, ohne jeden Zusammenhang, der unschuldige kleine „Apfelbutzen“-Absatz aus der Kolumne der letzten Woche, den auch andere schon als skandalös herausgefieselt hatten, mitsamt dem schrecklichen Bukowski-Zitat). Ist das noch Meinung oder schon Hate-Speech mit kompliziertem Satzbau? Taugen Richter heutzutage eigentlich noch als Vorbilder?“

Dem Journalisten Winterbauer liegt also die Hate-Speech am Herzen: diese allen Chef-, Leib-, Ober-, Haupt und Super-Redaktionen Übelkeit erzeugende, menschenrechtswidrige, unerhörte, gewaltgleiche, unerträgliche, stigmatisierende, traumatisierende, Brechreiz auslösende Kommunikationsform unserer neuen Zeit. Sie muss selbstverständlich verboten und bestraft werden, egal, was sie eigentlich ist und woran man sie erkennt.

Schauen wir doch einmal, wie Herr Winterbauer das „Haten“ macht:

„Beliebte Aggro-Kolumne“. Das wie zufällig hingetupfte Attribut „beliebt“ zeigt nicht bloß Faktensicherheit, sondern zugleich feinsinnige Ironie, Kenntnis um die Gebrochenheit der medialen und der menschlichen Existenz, mit einem kleinen Schuss Verachtung für die Masse wie für den Gegenstand. Zur Sache: „Schreibender Bundesrichter“. Was könnte den schreibenden Redakteur veranlassen, einen anderen Autor „schreibenden Bundesrichter“ zu nennen? „Bundesrichter“ ist ein Begriff aus der Welt der Erwachsenen. Da kann Herr Winterbauer nichts machen. Das ist wie „Hochspannungsleitung“ oder „Einwegkanüle“. Wäre er der schreibende Elektriker Winterbauer: Er würde es uns gewiss verraten. Das „Schreiben“ ist das Erregende: Ein „schreibender Bundesrichter“ ist etwas, was der frühe Winterbauer im Proseminar nicht gelernt hat. Um Verachtung zu lancieren, aber unschuldig zu tun, so sagt das kleine Brevier für kleine Chefredakteure, verbinde eine attributive Beschreibung mit einer personalen Substantivierung, die möglichst weit entfernt ist und die zu denunzierende Tätigkeit betrifft: Schwülstiger Kanzler, keuchende Redakteurin, fettglänzender Pressesprecher. Große Sprachkunst dieser Art nennt man seit den 1965ern „Augstein-Speech“.

Die Schuster- & Leistentheorie und der Wunsch nach dem Vorbild

Jedoch, es scheint mir, als sei es hier nichts als der eingeübte Beißreflex der Mainstream-Inhaber. Er nennt sich auch hier „Schuster- & Leistentheorie“ und umschreibt den unbedingten Willen, die berechtigte Scham über die eigene Beschränktheit mit dem unberechtigten Stolz auf den eigenen Kleingeist aufzuwiegen. Die Schuster aller Zeitalter haben sich, wie wir wissen, zu unserm Glück an diese Theorie noch nie gehalten. Wenn schon nicht der Journalismus frei ist, sprach Cicero, berüchtigter Lateinlehrer und Chefredakteur, dann doch wenigstens der Schuster: Er baut Siebenmeilenstiefel und fliegende Pantoffel, wo der Journalist gebückt einherschleicht.

Herr Winterbauer ist natürlich nur ein Exemplum. Er folgt der ihm anbefohlenen Spur wie der Gänsegeier dem Aasgeruch und bemerkt vor lauter Geierballett nicht, dass ihm noch das vergammelte Bindegewebe vom letzten Gnu um die Füße hängt. Frau Emcke ist ihm, wie er uns mitteilt, ganz egal. Er ist angeödet von ihren pseudo-philosophischen Traktaten und mit ihnen grad ebenso froh wie ohne sie. So ist die Jugend.

Der schreibende Journalist Winterbauer hätte gern ein „Vorbild“, am besten einen Richter. Das ist erfreulich, aber erstaunlich. Vielleicht meint er es ja auch gar nicht. „Taugen (?) Richter heutzutage (?) eigentlich (?) noch (?) zum Vorbild? Das ist ein derart unterirdischer Satz, dass davon bestenfalls das rührende Bemühen des Autors in Erinnerung bleiben wird, die innige Nähe zwischen seinem „Hate-Mind“ und seiner Resteverwertungs-Speech zu verschleiern.

III. Lückensuchmaschinen

Bundes- und Landesministerien der Justiz sind kleine, aber hocheffektive Einheiten. Sie bekämpfen das Unrecht in Gestalt der sogenannten Strafbarkeitslücke, wo immer eine solche frech ihr Haupt erhebt. Und das ist häufiger, als man glauben mag! Nehmen wir zum Beispiel Autorennen. Eine unerträgliche Vergeudung sozialer und ökologischer Ressourcen, eine den menschlichen Geist verhöhnende Infantilität der Motivation, eine ritualisiert-entmenschlichte Vollzugskultur von Kai Ebel im feuerfesten Schlafanzug bis zum Boxenluder im Babydoll. Entnehmen Sie Näheres bitte Penthouse oder sport auto für den älteren Herrn und dem TV-Magazin Dicke Dinger für den technik-affinen Sportsfreund. So was gehört natürlich verboten. Es sei denn, es ist erlaubt. Höchste Zeit also, die unerlaubten Autorennen zu verbieten, meinte zunächst der Justizminister in NRW, und jetzt fast jeder. Nun könnte man auf die Idee kommen, die unerlaubten Rennen könnten am Ende bereits verboten sein, was sich aus Ihrem Namen auch unzweifelhaft ergebe. Und Straßenverkehrsgefährdung, gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr, Körperverletzungen und fahrlässige Tötungen seien auch bereits strafbar. Das ist aber egal, denn unerlaubte Autorennen gehören nun mal verboten. Es ist schon mal ein Kind dabei ums Leben gekommen. Die 100 Kinder, die ihr Leben bei erlaubten Autorennen zwischen Audi A7 und Porsche Carrera 4S und Mercedes GT auf den Bundesautobahnen verströmen, oder bei Stock-Car-Rennen auf dem Frankfurter Anlagenring zwischen Polo GT und Micra Turbo, sind da mal wieder ein ganz unzulässiger Vergleich.

Eine Auswahl der ZEIT-ONLINE-Kolumnen von Thomas Fischer finden Sie auch in seinem Buch „Im Recht. Einlassungen von Deutschlands bekanntestem Strafrichter“. Es ist im März 2016 bei Droemer erschienen. © Droemer

Oder nehmen wir eine weitere Geißel unserer Zeit: Den Horrorclown. Man könnte sagen: Nötigung ist strafbar, Bedrohung ist strafbar, Körperverletzung ist strafbar; und die Putativnotwehr gegen vermeintliche Angriffe von Geisterspaßvögeln rechtfertigt die etwas proletarischere Methode der Abwehr.

Sie wissen, was ich meine: Keine einzige Woche vergeht ohne neuen Vorschlag, was man irgendwie noch „verbieten“ oder „bestrafen“ könnte. Und jeden einzelnen druckt die Presse nicht nur ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Sondern sie stürzt sich auf die vermeintlichen, bislang unbekannten Missstände, um sie endlich zu enthüllen und in die Wartezimmer-Lesemappen zu bringen und damit einen winzigen Moment von Aufmerksamkeit und Lebensillusion zu erhaschen.

Aus Sicht eines Ministerialbeamten gibt es verschiedene Methoden zur Identifikation von Strafbarkeitslücken. Methode eins (die gute alte analoge Methode): Der Minister fährt im Dienstwagen durch eine Stadt. Das dauert. Links ein Junkie, rechts ein vollgespraytes Haus, vorne eine Mutter mit Zwillings-Fahrradanhänger. Der Minister ärgert sich. Der Tag für Referat III.1 ist gesichert. Es folgt nämlich

  1. Prüfauftrag zur Graffiti-Strafbarkeit;
  2. Prüfauftrag Strafrechtliche Bekämpfung der Verwahrlosung unserer Innenstädte;
  3. Haben wir überhaupt schon ein Thema für die nächste Justizministerkonferenz? Vorschlag: Strafbarkeit der Gefährdung von Kindern in Fahrradanhängern
  4. Anfrage an Innenministerium: Justizminister schlägt Expertenkommission zur Erhöhung der Sicherheit in unseren Innenstädte vor: Gründung gemeinsamer Expertengruppe?
  5. Pressemitteilungen über 1 bis 4; Interview Minister…

Methode zwei (die digitale Methode): Der Minister wird an den Fuß einer Treppe heruntergebeamt. Er fährt sich kurz durch die Haare und erkundigt sich, in welchem Ministerium er gelandet sei. Er spricht in die Kamera. Auch dieser Tag ist für Referat III.1 gesichert:

  1. Pressemitteilungen und Absichtserklärungen des Morgens sammeln
  2. Auswerten, welche unangenehmen Lebenssachverhalte darin vorkommen
  3. Strafbarkeit prüfen für Sachverhalte unter (2)
  4. Wenn noch nicht strafbar: Referentenentwurf vorbereiten; vorab Vermerk und Gutachten an Abteilungsleiter und Staatssekretärin
  5. Pressemitteilungen über Ergebnisse von (2) bis (4) unbedingt vor Redaktionsschluss raushauen.
  6. Pressereaktionen beobachten, ggf. am nächsten Tag mitteilen, die Sache bedürfe noch gründlicher Prüfung, denn der Rechtsstaat müsse die ultima ratio des Strafrechts mit Bedacht und Zurückhaltung einsetzen.

Es gibt selbstverständlich auch noch andere, ebenso routiniert laufende Lückensuchmaschinen. Ohne Unterlass sind die Suchtrupps von Redaktionen und „Formaten“ ununterbrochen unterwegs, um das Versagen von Strukturen, das „Überhandnehmen“ von Gefahren, das „Immer Mehr“ von Verwahrlosung, Verrohung, Kriminalität und Zerfall zu erforschen und notfalls zu erfinden. Irgendein Vorsitzender einer so genannten Polizeigewerkschaft findet sich allemal, der in jede Kamera zu sagen bereit ist, dass „die Justiz versagt“ oder „die Politik“, dass der Rechtsstaat am Ende sei und die „falsch verstandene Liberalität“ sein Untergang. Die Interviews, mit denen tatsächliche oder vermeintliche Fachleute überzogen werden, sind von einer gnadenlosen Tendenziösität, der man sich nur mit großer Mühe entziehen kann. Wenn in Aktuelles vom Tage „bewiesen“ werden soll, dass es „immer schlimmer“ wird mit der Jugendkriminalität unter Ausländern, dann wird das bewiesen – und wenn die befragten Experten etwas anderes sagen, werden sie rausgeschnitten oder als „umstritten“ bezeichnet.

IV. Die Sprech-Lücke

Wenn mich jemand fragen würde – ich hätte zwei Strafbarkeitslücken zu bieten und ungefähr 200 Vollzugslücken. Für die letzteren nenne ich Ihnen drei Beispiele:

  1. Die Resozialisierungslücke: ich halte es für unerträglich und verlogen, dass, wie, in welchem Ausmaß und mit welch merkwürdiger Energie verantwortliche Politiker und Verwaltungen seit vielen Jahren das gesetzlich verankerte Strafvollzugsziel der Resozialisierung missachten und in sein Gegenteil verkehren, um populistischen Stimmungen gerecht zu werden. Der Strafvollzug ist erbärmlich ausgestattet, ineffektiv und reformbedürftig. Stattdessen hat sich der Bund aus der Verantwortung verabschiedet; die Länder machen die Standards, wie sie wollen. Wenn die Resozialisierung „nicht klappt“, werden irgendwelche Strafen erhöht oder notfalls Minister entlassen. Dabei wäre es nach ganz einhelliger Meinung aller Sachverständigen einfach nur erforderlich, die eingesetzten Personalmittel zu verdreifachen. Die gesellschaftlichen Kosten wären wesentlich niedriger als heute, der Nutzen evident.
  2. Die Korruptionslücke: Der Aufwand, der in Deutschland zur Verfolgung von Korruption betrieben wird, macht – wenn es wirklich hoch kommt – allenfalls ein Zehntel aus jenes Aufwandes, der dem Staat zur Verfolgung von illegalen Drogen nötig erscheint. Das ist eine skandalöse Fehlleitung und Fehlinvestition von öffentlicher Aufmerksamkeit und Anstrengung. Unsere Gesellschaft wird nicht von Drogenhändlern ernsthaft untergraben, die mit der unsinnigen Prohibition steinreich werden, sondern durch die Zermürbung von Standards der Anständigkeit und Verantwortlichkeit auf jeder Ebene: In der Politik, der Verwaltung und vor allem auch in der Wirtschaft. Frage: Wie viele verdeckte Ermittler der Polizei sind im Bereich der Betäubungsmittel-, Falschgeld- oder Waffen-Kriminalität in Deutschland unterwegs? Wie viele Taten werden hier von der Polizei provoziert, initiiert, angestoßen, hochgejazzt, überwacht, um anschließend „abschreckende“ Bestrafungen zu ermöglichen oder auch nur „Strukturen zu erforschen“? Und wie viele sind demgegenüber im Bereich der Pharmakorruption oder des Anlagebetrugs oder der illegalen Preisabsprachen unterwegs? Das Verhältnis dürfte, mit Glück, bei 99 zu 1 liegen. Das ist nicht Zufall, sondern Methode. Es zeigt Bedeutungen und Gewichtungen, und spiegelt zugleich Sprachregelungen und Täuschungen.
  3. Die Vernichtungslücke: Klingt dramatisch und ist es auch. Gemessen an den Gefahren und Verbrechen, die durch Umweltzerstörung, Ressourcenvergeudung und Auslagerung von Existenzrisiken auf die Schwächsten begangen und verursacht werden, sind die gesellschaftlichen Zipperlein, wegen derer bei uns eine „Reform“ die nächste jagt, geradezu lächerlich. Leider sieht sich unser Lückenfüllungs-Strafrecht seit 30 Jahren vollkommen außerstande, der Vernichtung des Lebens im Meer, dem dramatischen Artensterben, dem Aussterben blütenbestäubender Insekten (mit der Folge des großflächigen Zusammenbruchs der Nahrungsmittelproduktion, falls nicht auf Hand- oder Maschinenbestäubung umgestellt wird) irgendetwas entgegenzusetzen. Den Umstand, dass die heutige Lebensmittelproduktion der Welt locker für 12 Milliarden Menschen reichen würde, tatsächlich aber 90 Prozent davon für 30 Prozent der Weltbevölkerung reserviert werden, könnte man selbstverständlich straftatbestandsmäßig erfassen: Das wäre nicht schwieriger zu regeln als die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen zu einer möglicherweise geplanten Gewalttat im fernen Ausland. Man bräuchte dazu allerdings ein anderes Strafrecht, und Menschen, die den Sinn des Lebens nicht in der Verfolgung von Grabschern und Sprayern und Kleindealern sehen oder uns solches weismachen.

Am Ende noch die Sprechlücke. Oder der Sprech-Overkill. Minister sind ihrem Tross von Amts wegen stets meilenweit voraus und haben die Mutter aller Lücken immer fest im Blick. Diese hat meist die Umrisse eines demnächst frei werdenden noch schöneren Postens. Derweil muss unten im Maschinenraum das vergiftete Schweröl entsorgt werden.

Eine leitende (oder sagen wir: leidende) Vertreterin des Bundesministeriums der Justiz teilte anlässlich einer öffentlichen Diskussion des neuen, nach ihrer Ansicht extrem fehlerhaften Lückenfüllungs-Gesetzes (StÄG Sexualdelikte) in der letzten Woche mit, es habe da halt eine feministische Lobby nach der Kölner Silvesternacht „die Gunst der Stunde genutzt, bis sich keiner mehr getraut hat, Widerspruch zu erheben, aus Angst, dass er seine Reputation verliert.“ Ein weißer Bundesjustizritter, der die Referatsleiterin errettete aus diesem Abgrund, für den sie fast gar nichts kann, war auch in Wiesbaden nicht in Sicht. Eine Referentin des federführenden Ministeriums durfte (oder auch nicht) sagen, sie halte einzelne Teile des neuen Rechts für dogmatisch völlig ungeklärt, andere für verfassungsrechtlich zweifelhaft. Da hat sie Recht.

Wo sind die Eliten?

Erinnern Sie sich, Leserinnen und Leser, dass einmal eine Justizministerin – Sabine Leutheusser-Schnarrenberg – aus Protest gegen ein Gesetz zurücktrat, das sie für untragbar hielt und ihr aufgezwungen werden sollte? Das war einmalig und ist lange her. Heute wird während des Laufs eines Gesetzgebungsverfahrens, einige Monate vor der Vorlage des Berichts einer vom BMJV eingesetzten Expertenkommission, auf der Grundlage einer „Tischvorlage“ zum Sexualstrafrecht das alles (!) in die Tonne getreten und ein Machwerk dogmatischer Inkompetenz „einstimmig“ durch den Bundestag gehauen, „weil sich keiner mehr getraut hat zu widersprechen“. Das BMJV findet das „schade“, schweigt und bereitet sich auf die Verfolgung unerlaubter Autorennen in Osterrode/Harz und Gelsenkirchen-Buer vor.

V. Hate-Speech

Wie Sie sicher wissen, ist nicht der Hate-Clown, sondern die Hate-Speech nicht nur eines der vordringlichsten Probleme unserer Gesellschaft, sondern auch eines der vordringlichen Lückenfüllungsprogramme. Wer bisher dachte, Sätze wie „Du dumme Kuh, Du saublöde“ oder „Dir Drecksack sollte man den Saft abdrehen“ seien Emanationen einer jahrtausendealten Sublimations-Maschine, die dem Menschen – der sich von seinem Vieh emanzipiert, also über Verstand und Philosophie bis zur Wettermoderation fortentwickelt hat – gestatte, die Dinge auch einmal ein bisschen gelassener zu betrachten, der irrt. Nichts wird vergeben, nichts wird verziehen, alles bleibt auf ewig erhalten. Und goldene Lücken blitzen überall auf den Tannenspitzen.

Man könnte ja eigentlich sagen: Beleidigung ist strafbar; üble Nachrede und Verleumdung sind strafbar; Volksverhetzung, Bedrohung, Gewaltverherrlichung sind strafbar, Befürwortung von Straftaten ist strafbar: Also wo um Himmels willen soll da jetzt noch eine „Lücke“ sein? Wie viele „Hater“ konnten denn aufgrund des bestehenden Rechts nicht zu Strafe oder Schadensersatz verurteilt werden? Was soll das überhaupt für ein merkwürdiger Tatbestand sein, „Hass“ zu formulieren?

„Hate“ heißt „Hass“. Die Hate-Speech-Debatte hat sich von leibhaftigen Menschlichkeiten, wie sich das fürs Internet gehört, weit entfernt. Von „Hass“ kann unter den Menschen, die sich gegenseitig der Hate-Speech-bezichtigen, gar nicht die Rede sein. Hass, Liebe, Vertrauen, Nähe, Zartheit, Abstoßung, Verachtung, Verbundenheit: Das alles sind doch Emotionen zwischen lebendigen Personen. Bitte versuchen Sie einmal, nacheinander die soeben genannten Emotionen für die Personen X, Y und Z aus A, B und C zu entwickeln. Sie meinen, das geht nicht? Dann wenigstens für den unbekannten Soldaten, oder für den zehntältesten Baum im Berliner Tiergarten. Immer noch schwierig?

Da haben Sie verdammt recht. Wer seine Wirklichkeit auf einem Smartphone lebt, hat zwar die Alternativen „Hate“ und „Love“, also eine extreme Beschränkung der menschlichen kommunikativen Möglichkeiten, als angebliche Konsequenz ihrer extremsten Ausweitung ins Unermessliche und Ewige, also den puren Blödsinn. Jeder Schimpanse im Zoo hat aber zehnmal mehr emotionale Lernmomente als ein Redakteur auf Twitter. Dieser muss doch den „Hass“, den er zu meinen meint, erst einmal neu erfinden: Die zerstörerische, gewalttätige Emotion muss in ein Wort-Bett gebracht werden, das der extrem reduzierten intellektuellen Potenz genügt.

„Der Genscher ist eine armenische Mischung aus marokkanischem Teppichhändler, türkischem Rosinenhändler, griechischem Schiffsmakler und jüdischem Geldverleiher und ein Sachse“, sagte einst (1978)  Herr Strauß über einen amtieren Minister. Und ein Fraktionsvorsitzender sagte zu einem Redner: „Waschen Sie sich erst mal! Sie sehen ungewaschen aus! Sie sind ein Schwein, wissen Sie das?“ Heutzutage wären das natürlich lauter Verbrecher: Hate-Speecher der schlimmsten Sorte, geschäftsmäßig und im besonders schweren Fall. Ganze Kreiskrankenhäuser müssten erbaut werden zur Therapierung ihrer schwer traumatisierten Opfer.

Worüber also sprechen wir? Das Bett heißt „Mainstream“. Es säuselt dahin ein lauwarmer Wind. Niemand will angeblich dazugehören. Alle sind süchtig, aber nur der jeweils andere scheint ihm verfallen. Der Mainstream, den ich meine, ist: Das Ich im Ich. Das Säuseln der Unendlichkeit. Das Klagen und Nichtstun, das Kritisieren der Kritik, das Zitieren des Zitierens. Das Nichts-Wollen, Alles-Haben. Die Unterwerfung der Welt als sprachliche Attitude des Leidens an ihr. Das 50-Kilometer-Gehen mit Amphetamin und Koks, für Geld und Sex und Berühmtheit, für nichts. Für Nichts.

Jedes Selbst ein Bollwerk des Widerstands, und sei es bei der Wahl des richtigen Balsamicos zur Rauke. Jede Frage eine Provokation. Wer war früher am Thema? Wer hat Klicks, von wem auch immer? Worüber setzen wir uns auseinander? Und mit wem? Welche Persönlichkeiten, Unverwechselbarkeiten, Sachlichkeiten gibt es noch?

Wo sind die Eliten? Soll man Ackermann und Middelhoff folgen? Beckenbauer und Blatter? Höneß und Zumwinkel? Gottschalk und Atze Schröder? Gauck oder Käsmann? Frau Käsmann erklärte, wie wir hörten, am 31. Oktober 2016, Martin Luther sei ein bedeutender Denker gewesen; allerdings sei seine Einstellung zu Frauenfragen sehr fragwürdig. Wir sind beeindruckt von dem Bogen der Gleichzeitigkeit, der hier geschlagen wird, und müssen daher feststellen, dass dieser Herr Luther also mal gar keine Chancen auf den Job als Bundespräsident hätte, den Frau Käsmann ja nicht will, Herr Lammert nicht, Herr Voßkuhle nicht und Herr Steinmeier nicht. Es sei denn, dass einer sich opfern müsste. Aber jedenfalls dieser Luther auf keinen Fall! Der könnte in einem unkontrollierten Moment einen Satz raushauen, der entweder die Ludwigshafener Kreuzkröte oder den Vorstand der Bayer AG irgendwie traurig macht.

Der Bürger und die Bürgerin dürfen inzwischen wieder täglich lesen, dass die Wahlentscheidung der Bundesversammlung zwischen den Vorsitzenden nicht rechtfähiger vereine, also den Parteien, deren Mitgliederzahl insgesamt ungefähr ein Prozent (!) der Bevölkerung unseres Landes ausmacht, ausgedealt wird nach Maßgabe der Spekulationen über den Wahlausgang Ende 2017 und die dann mögliche Verteilung von Posten. Ein erbärmliches Trauerspiel, bei dem die größte Herausforderung an die Darsteller ist, ernst und würdevoll auszusehen. Eine Farce, deren Impresarios jede Offenbarung als „Beschädigung des Amtes“ zurückweisen, derweil sie sich heimlich vor Lachen kaum halten können.

Es wäre ja gar nicht schlimm, wenn man nur einmal zugeben würde, was jeder ahnt, und auflösen, was keiner mehr glaubt: Der Kaiser und die Kaiserin haben gar keine Kleider an, und Schloss Bellevue steht in einer Halle auf dem Gelände des Hauptstadtstudios von ARD & Co. Ein paar oberwichtige Partei-Strippenzieher kungeln aus, welchen verdienten Schauspieler sie auf die nächsten paar Jahre protokollarisch grüßen und wessen handschriftliche Ergänzungen der Redenmaschine sie ertragen möchten. Armes Grundgesetz. Arme Bürgerdemokratie. Arme Republik.

VI. Opfer

Damit kommen wir fast zwangsläufig zurück auf die Preisträgerin des Deutschen Buchhandels des Jahres 2016. Zu „einer der bedeutendsten Intellektuellen“ unseres Landes (Süddeutsche Zeitung). Sie hat, so flötet die Presse des Mainstream, eine „bundespräsidentiale“ Dankensrede gehalten, gar die bundespräsidialste aller Zeiten. Sie führte zu „Glücksgefühl“ (Mayer, ZEIT), etwas „Wunderbarem“ (Roll, SZ) und ist „etwas Großes“ (Roll, ebd.). Sie ist: Carolin Emcke.

Nichts ist unmöglich, und kein noch so unverstandenes Wort wird vergessen. Deshalb muss an dieser Schnittstelle zwischen „Friedenspreis“ und „präsidential“ einfach einmal ein klares Wort gesprochen werden.

Viele Internet-Benutzer meinen ja, aus welchem Grund auch immer, der Kolumnist habe Frau Emcke vor einer Woche etwas ganz Böses angetan: Sie irgendwie schrecklich missachtet, also quasi „gehatet“. Journalisten jeden Alters und Zustands stoben aus ihren Nestern der Verzweiflung empor und woben es ein in den Fluss der Infos: Fischer hatet Emcke!

Rene Aguigah (Deutschlandfunk Kultur) hat auch etwas zu sagen:

Überboten hat diese Pointen bislang nur einer. Thomas Fischer, seines Zeichens Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof. Ein Zitat aus seiner jüngsten Kolumne für die Zeit: (… Es folgt, Sie ahnen es, das ‚Apfelbutzen-Stück‘. Mit Bukowski. Und die Mitteilung, der Kolumnist habe den Tatbestand des Hatens „noch nicht ganz“ erfüllt).

Dabei hatte ich nur gesagt, aus einem abgekauten Apfelbutzen könne und solle man nicht zum vierten Mal einen Jahrhundert-Apfelwein keltern. Gern nehmen wir aber auch einen ausgelutschten Teebeutel zum Objekt unserer Teebeutel-Verachtung! Gern hätten wir aber vor allem gewusst, was Herr Aguigah zur Sache selbst zu sagen hat. Das bloße Abschreiben eines unverstandenen Zitats aus den Empörungs-Rülpsern anderer ersetzt ja den eigenen Gedanken nicht. Was also meint wohl der DLF oder die SZ, wenn sie das Apfelbutzen-Zitat abschreiben oder vorlesen? Und was zum Teufel hat dieser Bukowski damit zu tun? Hängt am Ende dessen „Spur von Scheiße“ zusammen mit uns oder der bundespräsidialistischen Dankesrede oder der Hate-Speech oder was ist überhaupt los? Schön ist ja immerhin, dass keiner der feingeistigen Analytiker sich getraut hat, den Bukowski auf die Emcke zu beziehen, oder den Kolumnisten dessen zu beschuldigen. Zugleich regen sie sich auf über den sprachlichen Schrecken der Dessous-Beschreibung. Was für eine Feigheit des Denkens!

„Eine der bedeutenden Intellektuellen unserer Zeit“ hat, so meinte ihre Arbeitgeberin, die Süddeutsche Zeitung, den Preis erhalten. Daher darf, wer immer sich traut, in aller Schüchternheit fragen, wodurch sich eine „intellektuelle Persönlichkeit“ in unseren Zeiten denn auszeichne, und was den Schritt vom Intellektuellen zum „bedeutenden“ Intellektuellen ausmache. Das Œuvre der Preisträgerin, soweit es sich uns über das Internet erschließt, darf man getrost als „schmal“ bezeichnen. Von einer intellektuellen Leitfigur hätte ich mir ein Dutzend Bücher oder Fachaufsätze erwartet, die einen Hauch von Originalität des Denkens verströmen. Insoweit also schon einmal Ebbe. Das Hauptwerk („Hass“) der Intellektuellen erweist sich zugleich als Solitär. Außerdem gibt’s noch ein Traktätchen und dann natürlich die SZ-Kolumne. Ich dachte, sie sei Philosophin, finde aber nichts philosophisch Prononciertes.

Viele finden sie gut, viele finden sie schrecklich. Ich kenne dieses Schicksal, ohne dass ich aber je auf die Idee gekommen wäre, ich hätte es bei den Menschen, die meine Kolumne wöchentlich unerträglich, überflüssig, langweilig, langatmig oder sonst ganz schlecht finden und mir und der Welt das in vielen Hundert Briefen, Mails, Kommentaren oder Kurznachrichten mitteilen, mit (strafwürdigen) Hatern zu tun. Oder als sei es nicht das gute Recht von Lesern, sich gegen das Gelesene zu beschweren. Wer mir schreibt, ich sei ein Dummkopf, der nichts versteht, ist kein Hater, sondern halt ein Dummkopf, der nichts versteht, oder ein Genie, das mich anregt. Um das zu erkennen, brauche ich wahrlich keine Zentralstelle für die Entschädigung von Opfern der Wichtigtuerei.

Ich gestehe offen und freimütig, dass ich, was die Emcke-Kolumne angeht, zur Gruppe der Schrecklich-Finder gehöre. Ich finde sie regelmäßig belanglos, komplett unüberraschend, ideenarm und larmoyant. Die Wahrheiten und Anregungen, die sie enthält, sind zumeist selbstverständlich. Die Sprache ist schwerfällig, gewichtig, bedeutsam, als schreite eine Weise dahin und vermesse die Welt. Der Inhalt folgt dem in der Regel nicht. Aufgeblasene Worte zum Sonntag machen noch keine Weihnachtspredigt.

Sagen wir es einmal so: Der Neusprech fließt, wohin er will: “ So lange der Wind weht, und der Regen fällt …“ (Filmtipp: Mal wieder anschauen Little Big Man, 1970, mit Dustin Hoffman und Dan George: Ein paar alberne Witze, aber eine umwerfende Faye Dunaway).

Das höchste Gut, das die postmoderne, atomisierte Gesellschaft zu vergeben hat, ist Aufmerksamkeit. Wenn das Leben aller einschließlich des eigenen in einen folgenlosen Brei von Worten und Zufällen zerflossen scheint, kann sich die menschliche Einmaligkeit allein in der Aufmerksamkeit der anderen noch finden. Für Augenblicke dieses Rausches, sich lebendig und existent zu fühlen, tun Menschen alles. Man kann das als Täter erreichen oder als Opfer. Grenzen sind fließend. Die Täterrolle ist kurz, flackernd, ungewiss, belastend, also in höchstem Maß prekär. Nur ganz wenige wollen und können dauerhaft Dieter Bohlen oder Charles Manson sein. Die Opferrolle hingegen ist dauerhaft, beruhigend, entlastend, enthemmend. Zugleich mit ihrer millionenfachen Aneignung und Zuschreibung wird sie wieder und wieder skandalisiert: Wie furchtbar, so dröhnt es aus all den Glockentürmen der Verblendung herab, ist es doch, dass es Opfer unter uns gibt. Dieselben Personen aber, die an den Seilen dieser Verkündung sich auf und nieder bewegen mit ihrem ganzen Selbst, sind die Denunzianten der Opfer und die Speichellecker der Täter.

VII. Schönere Opfer

Ich bin Opfer. Wir sind Opfer. „Opfer“ ist das neue Sprach-Placebo des Mainstream. Wer Opfer ist, hat schon gewonnen. Der Kolumnist fühlt sich, spontan und in allem Ernst, mindestens zehn verschiedenen Opfergruppen zugehörig: Von „Migrant“ bis „Flüchtling“, „misshandelt“ bis „missbraucht“, „adipös“ bis „gemobbt“, „gehatet“ bis „behindert“, „alt“ bis „menschenrechtswidrig kriminalisiert“ (wegen Cannabis-Konsums). Tja, was jetzt, liebe Schiedsrichter?

Was mich an den Emcke-Texten stört, ist ihre penetrante Opfer-Solidarität, die sich, je länger man liest, immerzu nur als Rührung über sich selbst entpuppt. Sogar die Dankesrede zur Preisverleihung hat sie benutzt, um sich als verfolgte Minderheit zu gerieren; das fand ich sehr peinlich.

Unter allen 1.000 definierbaren Minderheiten in diesem Land ist die der studierten Lesben ganz gewiss nicht unter den 50 Unterdrücktesten. Wer anderes behauptet, will Aufmerksamkeit und Interessen durchsetzen, nicht aufklären und befreien. Ich sehe, höre, fühle und erlebe lesbische Feministinnen seit 40 Jahren ihre schreckliche Benachteiligung als Opfer beklagen, vermag eine solche aber in der Wirklichkeit einfach nicht erkennen. Vielleicht habe ich eine Sehschwäche, eine genetische Strafbarkeitslücke also, oder bin einfach unvorstellbar verblendet oder dumm. Jedenfalls denke ich ganz ernsthaft, dass es heute in Deutschland kaum eine weniger diskriminierte Minderheit gibt als die knallharten Netzwerke lesbisch-feministischen Schwestern-Gequatsches, die sich gegenseitig in die Gremien und Bedeutungspositionen und Preiskomittees und Redaktionen und Sachverständigen-Aufträge und Fördervereine und Staatsämter loben und befördern.

Ist Ihnen aus den letzten 20 Jahren ein Fall bekannt, in dem eine bekennende Lesbierin ihrer sexuellen Orientierung wegen in der Öffentlichkeit ernstlich desavouiert, denunziert, beschädigt, missachtet oder zurückgesetzt wurde? Musste jemals eine Ministerin, Chefredakteurin, Staatssekretärin, Moderatorin, Fußballertrainerin, Personalchefin „zurücktreten“, weil sie homosexuell war?

Frau Emcke, die Friedenspreisträgerin, die bundespräsidentiale „bedeutende Intellektuelle“ unseres Landes, hat erhebliche Teile ihres gepriesenen Buches und dann auch noch erhebliche Teile ihrer paulskirchlichen Dankesrede und obendrein verschiedene Interviews jenem Thema gewidmet, das ihr mehr als alles andere am Herzen liegt: Sich selbst. Sie blickte auf sich, und sie blickte in sich, und sie blickte um sich herum. Und überall erblickte sie sich selbst: als Opfer. Ein paar Hungerleider waren auch da. Die sagten: Danke, danke!

Liebe Täterinnen! Hier endet die Geduld des Kolumnisten. Er hat seit 1961 Hunderte von Worten zum Sonntag geduldig ertragen, zugegeben: in Erwartung des Spätfilms. Irgendwann ist es genug, und man kann das ewig gleiche Gesülze einfach nicht mehr ertragen. Man kauft sich die Waalkes-CD mit dem Originalwort und hält die Fernbedienung auf „Mute“, bis der Löwe lacht oder die Sonne brennt im Monument Valley.

Wenn ich hören möchte, dass der Mensch ein moralgesteuertes Wesen, das Gute gut und ein versalzenes Risotto eine Katastrophe ist, kaufe ich mir eine CD und stelle sie auf Dauerlauf. Dazu brauche ich aber keinen weichgespülten Einheitsbrei, der die Legitimation zur Vergeudung von Zeit auch noch daraus herleitet, dass er ein angebliches „Opfer“ und daher besonders beachtenswert sei. Das ist mir, ich bekenne es, einfach zu langweilig. Carolin Emcke ist kein „Opfer“ von irgendwas. Wenn sie ein paar Schwierigkeiten in ihrem persönlichen Leben hatte, ist das, wie bei uns allen, ganz einfach stinknormal. Ich finde gravitätisches Selbstmitleid extrem peinlich. Man muss auch mal den Schnabel halten können, sagte schon bei Fenimore Cooper Die Große Schlange am Tag Ihres Todes. Bei Frauen ist das so eine Sache, sage ich.

Und das alles sage ich, ohne Frau Emcke persönlich zu kennen, ohne sie persönlich zu missachten, in Anerkennung ihrer Anstrengungen um das eigene Fortkommen, die diejenige aller Twitter-Schwätzer jedenfalls um das Tausendfache übertreffen. Und obwohl mir von Süddeutscher bis Spiegel, vom großen Medien Portal bis zum Studenten-Radio wieder sämtliche Apostel der skandalisierten Friedfertigkeit und der erlaubten und verbotenen Sprachregelungen auf den Fersen sind.

Da muss man durch, schon um der Ehre der Geistes willen. Die Meinungen sind so oder so. Ein bedeutender Redakteur der Süddeutschen schrieb letzte Woche: Wenn dereinst gefragt werden sollte, wer „den ganzen Laden in die Luft gesprengt“ hat, dann solle man vor allem auch bei dem Kolumnisten suchen.

Vier Tage später verlieh der I.B.C. e.V., ein bemerkenswerter, wirkkräftiger und hochverdienstvoller Verein von (erfolgreichen) Migranten in Gelsenkirchen, an denselben Kolumnisten den „Integra Award 2016“ – „für seine Verdienste um ein gemeinsames Miteinander“.

Der Kolumnist erträgt die kleingeistige Denunziation als Hater locker und ist sehr geehrt und berührt von der Auszeichnung. Er spricht im Übrigen, was er will und mit wem er will. Das kann und soll und mag in der Sache kritisiert werden. Mit Lügen und Beleidigungen wird man ihn schwerlich erschrecken. Erst recht nicht mit der „Enthüllung“, er halte sich nicht an die Sprachregelungen des Mainstream.

Ein wirklich gravierendes Problem nämlich besteht: Die selbsternannten bedeutenden Intellektuellen in Redaktionen, Parteien und Netzwerken bescheinigen sich gegenseitig so lange die überragende Bedeutung, bis die ganze große Veranstaltung nur noch aus Kaisern ohne Kleider besteht: Mit Attitüden, aber ohne Rückgrat; mit Frisuren, aber ohne Verstand;, mit Selbstberauschung, aber ohne einen Funken Mut. Mit lauter Worten, die die Fratzen der Wirklichkeit zum Horrorclown ihrer eigenen Präsentation machen. Armer kleiner Bundespräsident.

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Ich will nicht enden, ohne Ihnen noch ein Stückchen Bukowski zu empfehlen. Er ist 1994 gestorben (geb. 1920). Ob er zur Gruppe der saufenden Dichter oder der dichtenden Säufer gehörte, war ihm vermutlich gleichgültig, obwohl man seine Schlauheit nicht unterschätzen darf. Lesen Sie, wenn Sie mögen, „Der Große mit dem Säbel“, ein Gedicht aus den 60er Jahren. Ich bin sicher, dass Sie es finden, wenn Sie wollen. Es handelt vom Blick auf die Zärtlichkeit in uns und den wunderbaren Zusammenhang zwischen Unterwäsche und Seele. Ehrlich!

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Unkorrupte Saubermänner und Asketen brachten viel Unheil über die Welt

Von Ralf Ostner.

Man ist für den Weltfrieden und gegen Korruption – damit meinen viele Menschen schon alles Wesentliche zur Weltpolitik gesagt zu haben. Wann immer eine Oppositionsbewegung auftritt, wird diese zumeist von dem running gag begleitet, dass sie erzählt, die jeweilige Regierung wäre korrupt, würde also mehr in die eigene Tasche als für den Volkskörper wirtschaften. Dass der jeweilige Herrscher ein Neofeudalist sei, moralisch versaut und charakterlich vollkommen verkommen. Horrorgeschichten von Prostituierten, Bunga-Bunga-Partys, Villen, Yachten und dergleichen kursieren. Nun stimmt dies sicherlich für einen Teil der Herrschenden, aber selbst der bescheiden auftretende Teil der Herrschenden steht immer noch im Visier des Berufungstitels „zahlender Steuerzahler“ und seines Erbsenzählerverbandes, dem Bund der Steuerzahler oder solch illustrer NGOs wie Transparency International.

Selbst der bescheidene Teil der Herrschenden muss sich jeden Flug, jedes Hummeressen, jede kostspieligere Flasche getrunkenen Weins vorrechnen lassen – zumal „prinzipiell“. Man stößt hier schon auf einen moralischen Rigorismus und Puritanismus, der vielleicht noch mit Mao Zedong vergleichbar ist, der Gleichmacherei und den Lebensstandard des armen Bauerns forderte.

Man fragt sich manchmal polemisch: Wollen diese Leute wirklich unkorrupte Politiker wie es etwa Adolf Hitler war? Hitler war nicht korrupt, es wird auch heute niemals behauptet, dass er sich selbst bereichert habe, dafür war er aber ein fanatischer Nationalist, der alles seinem Ideal von einem reinrassigen Großdeutschen Reich unterordnete und dieses Ideal auch von jedem seiner Untertanen samt einhergehender Opfer einforderte, sowie für seine unkorrupten Ideale einen Weltkrieg mit 60 Millionen Toten und 6 Millionen ermordeten Juden vollzog.

Unkorrupte Saubermänner brachten viel Unheil über die Welt

Die erste Tatsache, die es einmal festzuhalten gilt: Es waren weniger die korrupten Politikertypen, die soviel Unheil über die Welt brachten, sondern solch unkorrupte Saubermänner und asketische Idealisten wie Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot, die die Welt in unkorrumpierten Idealgesellschaften – mal auf Rasse, mal auf Klasse gründend – errichten wollten. Henryk M. Broder hat exakt diesen Sachverhalt mal gut anhand der Hamas illustriert: Wäre die Hamas korrupt, wäre sie vielleicht nicht so fanatisch und könnte man vielleicht sogar mit ihr verhandlen. Eine Bunga- Bunga-Party mit Hamasfunktionären und Prostituierten auf Video festgehalten und der Nahostfriedensprozess wäre eine Stufe weiter.

Aber – so betont Broder: es handelt sich bei den religiösen Fundamentalisten und der Hamas um Idealisten und Asketen und diese kennen bei der Verwirklichung ihrer Ideale keine Verhältnismäßigkeit der Mittel und sind unkorrumpierbar. Der dickliche, angeblich korrupte Arafat ist einer fanatisch-idealistischen Hamas vorzuziehen, die selbst Kinder mit Sprengstoffgürteln ins Feld schickt. Erste These: Korrupte Politiker sind nicht so gefährlich wie idealistische Politiker, da sie zu sogenannten faulen Kompromissen, Interessenausgleich und Realpolitik neigen, man also mit ihnen ins Geschäft kommen kann, wie sie auch eher sich in die Interessen der anderen Seite hineinversetzen können.

Der zweite Kritikpunkt an der Korruption: Sie verhindert das wirtschaftliche Wachstum. Das ist in einem Gutteil der erwiesenen Fälle falsch. Man würde breite Zustimmung erhalten, wenn man behauptete, dass Franz Josef Strauß der korrupteste Politiker Deutschlands gewesen sein soll. Nehmen wir dies einmal an, so muss man doch zugestehen, dass trotz der angeblichen Korruptheit von Strauß sich Bayern dynamisch von einer Agrargesellschaft zu einem Industriestaat entwickelte – mit dem höchsten Lebensstandard in ganz Deutschland. Das Buch eines Straußkritikers beziffert das durch Korruption erlangte Vermögen der Straußfamilie auf etwa 400 Millionen Euro. Nehmen wir einmal diese Zahl als gegeben an, so ist sie doch über Jahrzehnte betrachtet und gerechnet ein vernachlässigender Teil des bayerischen Bruttoinlandsproduktes und seiner Steigerung. Korruption hat sicherlich nicht Bayerns Modernisierung verhindert.

Korruption ist nicht der wesentliche Erklärungsfaktor für wirtschaftliche Unterentwicklung

Nehmen wir Mubarak. Mubarak wird nachgesagt 40 bis 80 Milliarden US-Dollar durch Korruption angehäuft zu haben. Dann muss man aber auch sagen: Über 30 Jahre. Wenn man Ägyptens Bruttoinlandsprodukt von 102, 8 Milliarden US-Dollar pro Jahr nimmt und dies mit Mubaraks Vermögen über die Jahrzehnte verrechnet, kommt man bestenfalls auf 5 Prozent der ägytischen Wirtschaft. Die Abzweigung von 5 Prozent kann jedoch sicherlich nicht die weitgehende Stagnation von 95 Prozent der Wirtschaft erklären.

Nehmen wir die KP China. Sicherlich ist sie eine der korruptesten Parteien der Welt, aber sie erwirtschaftet ein jährliches 10 prozentiges Wirtschaftswachstum, das breite Teile der Bauern aus Hungersnot und Unterernährung befreite und einem rasant steigendem Mittelstand Geld brachte. Zweite These: Korruption ist nicht der wesentliche Erklärungsfaktor für wirtschaftliche Unterentwicklung. Es kommt mehr auf die Wirtschaftspolitik eines Landes an und bei richtiger Wahl kann das Land auch TROTZ Korruption florieren.

Ein schlemmender, fettgefressener Ostjunker, der sich an der Eisenbahnspekulation hemmungslos bereicherte namens Bismarck war mehr auf Satuierung und Interessenausgleich zwischen den europäischen Nationalstaaten aus, als ein unkorrumpierter, finanziell unabhängiger Kaiser Wilhelm II, der meinte, am deutschen Wesen müsse die Welt genesen und für dieses Ideal den ersten Weltkrieg losbrach. Und was war eigentlich mit Konrad Adenauer und dem Kölner Klüngel? Er gilt heute als der wohl beliebteste Nachkriegspolitiker Deutschlands, der das Land ins Wirtschaftswunder führte. Und was ist mit Richard Weizsäcker? Als Berliner Bürgermeister war er vor allem bekannt für die verfilzte und korrupte Berliner CDU – danach wurde er der beliebteste und wohl herausragendste Bundespräsident.

Zudem übersehen Kritiker der Korruption, dass die wirklichen Milliardendefizite nicht durch illegale Vorteilnahme produziert werden, sondern durch das ganz legale, staatlich geschützte Geschäftemachen. Bevor man lauthals Korruption beklagt, sollte man erst mal den ganz normalen gesellschaftlichen Konsens des Washington Consensus kritisieren, der Finanzspekulationen durch Deregulierungen und Privatiisierungen erst möglich machte. These 3: Die Weltgeschichte zeichnet sich eigentlich dadurch aus, dass auf die sogenannt korrupten Politiker, die mehr an Interessensausgleich und Realpolitik interessiert sind, Säuberungsbewegungen gegen Korruption und für einen vermeintlich sauberen Staat aufkommen, die die Welt reinigen und erlösen wollen. Als Paradebeispiel des 20. Jahrhunderts hierfür: Faschismus und Kommunismus. Sie führten die Welt in mehr Unheil als dies die sogenannt korrupten Politiker jemals wollten oder konnten.

Ralf Ostner, 51, Diplompolitologe, Open-Source-Analyst, arbeitet als Übersetzer für Englisch und Chinesisch. Mehr vom Autor finden Sie hier

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