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„Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Am 25. März 1950[1] führte Gottfried Benn eine Radio-Debatte mit dem jüdischen Remigranten Peter de Mendelssohn, in der er sein wenig rühmliches Verhalten von 1933/34 zu rechtfertigen suchte. Zustande kam der Dialog mit dem als britischer Presseoffizier zurückgekehrten Publizisten auf Vorschlag des Moderators, des 29-jährigen Thilo Koch. Der Leiter der Abteilung Kulturelles beim Nordwestdeutschen Rundfunk Berlin wählte als Titel der Sendung „Der Schriftsteller und die Emigration“, den Gesprächsanlass lieferte Benns wenige Monate zuvor erschienene Autobiographie „Doppelleben“, Ort des Aufeinandertreffens war das Studio des NWDR am Heidelberger Platz. Wenn im Folgenden dieses erste und einzige öffentliche Streitgespräch zwischen einem in Nazi-Deutschland gebliebenen Autor und einem geflohenen beleuchtet wird, so hat das seinen Grund eben in der Rarität ‒ aber auch in einer Forschungslücke, die überraschen mag. Schließlich sollte man meinen, zu Benns pro-nazistischen Tönen kurz nach der Machtübernahme der NSDAP sei alles gesagt.

Die einschlägigen Arbeiten von Klaus Theweleit, Helmut Lethen und Wolfgang Emmerich haben Ursachen und Verlauf des Temporärfaschismus in hoher Dichte und so unumwunden erhellt, dass einige der unschönen, wenn auch nicht die unschönsten Benn-Zitate von 1933 heute zum Wikipedia-Wissen zählen. Die Nachkriegspositionierungen des Autors hat die (Post-)68er-Forschung ebenfalls thematisiert. Vertraut ist dank ihr die Grundlinie von „Doppelleben“, Benns Stilisierung der eigenen Vita, der allein die Kunst das Maß gegeben habe, gegen die die Niederungen des sonstigen, etwa des politischen Lebens nur hätten abfallen können. Auf den Schultern dieser jüngeren Studien steht mein Beitrag auch, da sie die Befangenheit des späten Benn gegenüber den zurückkehrenden oder das Nachkriegsdeutschland demonstrativ meidenden Exilanten bereits ansprechen.

Und doch, mit den Kapiteln zu Benns Selbstdarstellung nach 1945 wird man nicht ganz glücklich, denn sie befinden sich eher neben den Abschnitten zu 1933, als dass sie sich wirklich auf diese rückbezögen. Dabei liegt hier ein Nervenpunkt. In welchem Verhältnis steht die Selbstbeschreibung des Autors nach Kriegsende zum Realverhalten im Nationalsozialismus? Selbst die wertungsfreudigen Bücher von Theweleit und Lethen streifen den relationalen Aspekt nur, obwohl er einer Gretchenfrage gleicht ‒ in Benns Fall wie in dem der deutschen Nachkriegsliteratur generell.

Das Verhalten von Schriftstellern im NS selbst zu sichten, ihre kleineren oder größeren Kompromittiertheiten oder auch nur Kompromisse, war und ist ein Verdienst kritischer Germanistik, doch spannende Eröffnungen wie etwa die von Jörg Döring zu Alfred Anderschs produktionsorientiertem Egoismus als Jungautor haben mittlerweile Seltenheitswert. Was auch daran liegt, dass viele Fakten zur hier in Rede stehenden Autorengruppe bereits seit 2000 nachlesbar sind, im konkurrenzlos informativen und musterhaft sachlichen Lexikon von Hans Sarkowicz und Alf Mentzer zur „Literatur in Nazi-Deutschland“, das 2011 noch einmal deutlich erweitert unter dem Titel „Schriftsteller im Nationalsozialismus“ erschien.

Im Übrigen pflegen nachträgliche Moralisierungen den Einwand von Antifaschismus auf W3 hervorzurufen und die rhetorische Frage, wie integer man denn selbst in einer Diktatur gehandelt hätte. Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass man schon unterscheiden muss, wozu Autoren im NS gezwungen waren und wozu nicht (wofür der Benn von 1933 ein gutes Beispiel ist). Aber natürlich tun Nachgeborene gut daran, sich des Anpassungsdrucks während der Nazi-Herrschaft, dem sie selbst nie ausgesetzt waren, bewusst zu bleiben. Nur heißt das auch zu betonen, dass sich unter postdiktatorischen Bedingungen die Selbstverantwortung von Autoren maximiert.

Gründe genug, weniger die Äußerungen von Schriftstellern im NS zu beleuchten als ihre Retrospektiven darauf: Wie gingen sie im Nachhinein mit denjenigen ihrer Stellungnahmen um, die sie nun selbst als anstößig empfanden oder für andere skandalisierbar wussten? Mit welchen Techniken immunisierten sie sich gegen erwartbare Kritik und mit welchen Retuschen kamen sie warum durch?

Auch wenn dem Ansatz ein unfeiner, erinnerungskriminalistischer Touch anhaftet, dürfte es an der Zeit sein, derlei Fragen an Benns Radio-Auftritt von 1950 zu stellen. „‒ der Nationalsozialismus ist heute eine feststehende geschichtliche Erscheinung; seine Fundamente sind eingelassen in den glanz- und opfergetränkten Boden Europas. […] Er wird die Fluten seiner ahnenschweren Vitalität durch abgelebte europäische Flächen ergießen“: Sätze wie diese aus dem Vorwort von „Kunst und Macht“, veröffentlicht 1934, machen sich nach dem 8. Mai 1945 nicht mehr gut. Für Befremden noch Jahrzehnte später sorgten und sorgen freilich nicht die Nazi-Schwärmereien allein ‒ schwülstige Ergebenheitsadressen gab es nach dem 30. Januar 1933 von vielen. Ausschlaggebend ist, dass diese von einem der bedeutendsten literarischen Modernisten des 20. Jahrhunderts stammen, keinem völkischen Wald-und-Wiesen-Literaten.

Bei Hitlers Machtübernahme rekrutierte sich die Masse pro-faschistischer Schriftsteller bekanntlich aus den im literarischen Feld der Weimarer Republik zu kurz Gekommenen. Sie bedurften der politischen Außenverstärkung durch die NSDAP, um ihrer untergeordneten Feldstellung zu entkommen. Zur Regel von 1933, dem großen Pfeifenaufrücken, bildet Benn die markante Ausnahme. An Reputation unter seinesgleichen, feldinterner Anerkennung, hatte es ihm vorm NS beileibe nicht gefehlt, selbst der literarischen Welt Frankreichs war sein Name um 1930 ein Begriff. Die von Klaus Mann bis Theweleit auch deshalb kopfschüttelnd gestellte Frage, wie ein literarisches Schwergewicht sich mit Kretins einlassen konnte, wird im Folgenden etwas variiert: Was lässt sich ein Autor von Rang später einfallen, um seinen Fehltritt zu erklären? Mein Eindruck ist, These eins lautet: eine besonders gründliche Selbstverklärung. „Nichtreumütig“ hat Lethen Benns Rückschau auf die pro-nazistische Phase so zutreffend wie summarisch genannt. Umso erinnernswerter sind die konkreten Verfahren des Nichtreumütigen, von denen hier einige am Beispiel von Gesprächsausschnitten vorgestellt seien.

Auf die Rundfunk-Debatte lässt sich Benn nur widerwillig ein. Erst auf Drängen seines Verlegers Niemeyer, der „Doppelleben“ im Radio beworben haben will, und aus finanziellen Gründen („1 Stunde ist viel Geld ‒ Prostitution überall, allons enfants!“) sagt er Koch zu. Die zunächst ablehnende Reaktion („Ich bin kein Matador“) nimmt nicht wunder. In einer Debatte mit einem Remigranten muss Benn mit Vorhaltungen rechnen. Seine Beihilfe zur ,Säuberung‘ der Preußischen Akademie der Künste von Juden und Republikanern ist den betroffenen Kollegen der Sektion Dichtkunst noch in bester, will heißen schlechtester Erinnerung. Und die öffentliche Antwort auf den Brief Klaus Manns, der ihm im April 1933 den Verbleib in der gleichgeschalteten Institution zum Vorwurf gemacht hatte, bestand berüchtigterweise darin, die Exilanten als „Amateure der Zivilisation“ madig zu machen, die es sich am Mittelmeer gemütlich machten.

Noch ungünstiger, dass Benn seine Rechtfertigung der Vertreibung kritischer Intellektueller wie auch die schwadronierende Unterstützung der NS-Eugenik seinerzeit nicht nur in Papierform zum Besten gab. Drei der später inkriminierbaren Texte verbreitete er 1933 massenmedial, „Der neue Staat und die Intellektuellen“, „Antwort an die literarischen Emigranten“ und „Zucht und Zukunft“ waren zunächst Radio-Ansprachen. Insofern schließt sich 1950 der Kreis. Ein erfahrener Rundfunk-Autor steht vor der Aufgabe, mit seinem Radio-Comeback eine Hypothek abzutragen, die er sich 17 Jahre zuvor im gleichen Medium einhandelte.

Dennoch, mit der halben, populärwissenschaftlichen Ausnahme von Gunnar Deckers Benn-Biographie (2006), von der noch zu sprechen ist, hat die Forschung dem Gespräch mit de Mendelssohn kaum Aufmerksamkeit geschenkt, woran das kürzlich erschienene Benn-Handbuch wenig ändert. Der betreffende Artikel zu Gesprächen und Interviews nennt den Nachkriegsdialog „berühmt“, geht aber nur knapp darauf ein. Ist die Zurückhaltung hier noch  mit Platzmangel erklärbar, so dürfte sie in den eingangs genannten Studien damit zu tun haben, dass Benn in der Sendung längere Passagen aus „Doppelleben“ vorliest. Es hat den Anschein, dass er im Radio nur gesprächsförmig wiederholt, was er zuvor schrieb. Sollte der Eindruck entstanden sein, täuscht er jedenfalls.

Der Einsatz vorm Mikro, so These zwei, steht in einem steigernden Verhältnis zur Autobiographie. Die Selbstbeschönigungen, mit denen „Schatten der Vergangenheit“ aufwartet, das vom Jahr 1933 handelnde Kapitel in „Doppelleben“, werden im Radio verdichtet, einem ungleich größeren Publikum dargeboten und mit einer Überrumpelungstechnik verbunden. Seinen Kontrahenten, den merklich konsternierten de Mendelssohn, weiß Benn für eine Aufwertung der Inneren Emigration zu instrumentalisieren. Das ist der kühnste Zug in der Strategie, den realiter verspäteten, erst Ende 1934 begonnenen Rückzug im NS zu kaschieren, sich als Innerer Emigrant der ersten Stunde zu präsentieren, der dem und den Remigranten auf ,moralischer Augenhöhe‘ begegnen darf.

Drittens: Da in einer Radio-Debatte kein Intervall zwischen Rede und Gegenrede liegt, scheint die Chance postwendender Korrektur von Falschinformation hoch, doch glückt Benn das Gegenteil, eine unwidersprochene Vernebelung und Verniedlichung des Selbstanschlusses im frühen NS. Und viertens: So nötig es ist, seiner Selbstbeschreibung blinde Flecken nachzuweisen, es reicht nicht aus, um die Eigenlogik massenmedialer Kampfformen zu verstehen. Zu achten ist auch auf das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung, die Nonchalance, mit der ein Radio-Artist die für ihn vorteilhafteste Vergangenheitsdefinition durchsetzt, wie zum Beweis, dass die schnelle und schön formulierte Information nicht auch noch wahr sein muss.

 „Hierbleiben war keine Bejahung des neuen Regimes“. Der Doktor als Fehlbesetzung

Eine erste Schieflage der Debatte verdankt sich den Einstellungen aller drei Beteiligten. Als de Mendelssohn das Studio betritt, ist ihm geläufig, dass Benn „uns Emigranten nicht sonderlich mag“, und zur Vorbereitung hat er, wie einem Reporter des „Spiegel“ verraten, das Vorwort von „Kunst und Macht“ gelesen. In der Sendung selbst aber wird er darauf verzichten, dem Gegenüber die Nazi-Panegyrik vorzuhalten. Werbung für die Emigranten ist de Mendelssohn wichtiger als Geißelung eines Daheimgebliebenen; eine strategische Vorentscheidung, in die der Respekt eines 42-jährigen Autors vor der literarischen Lebensleistung des gut 20 Jahre älteren, noch dazu anwesenden Kollegen hineinspielen mag. Koch wiederum bemerkt in seinen Erinnerungen treuherzig, Benn habe den Controllern der Besatzungsmächte „zunächst als halber Nazi“ gegolten ‒ später also nicht mehr? ‒; darüber hinaus beschreibt er den erklärtermaßen verehrten Dichter als Opfer kommunistischer Diffamierung. Dass der Remigrant die Kompromittiertheit nicht thematisieren mag und der Moderator sie lieber nicht näher kennen will, hat zwei Effekte.

Der mittelbare ist, dass de Mendelssohn erst nach der Debatte, durch ihren Verlauf provoziert, die belastenden Texte Benns intensiver studiert und daraufhin auf erweiterter Materialbasis eine zweite, halbstündige Sendung im RIAS machen möchte. Gegen sie aber droht Benn 1952 mit Klage, worauf der Sender sie absetzt. Weil de Mendelssohn der Weg über den Äther versperrt bleibt, entschließt er sich, in Buchform mit den Glättungen von „Doppelleben“ abzurechnen. Das heißt, „Der Geist in der Despotie“, sein Langessay von 1953, hat seine indirekte Ursache in der Entrüstung über Benns Selbstzufriedenheit im NWDR. Stoßrichtung und Rezeption der Streitschrift von de Mendelssohn, der erst 2004 von dem Historiker Nicolas Berg angemessen gewürdigten, wären ein eigenes Thema (dazu unten nur ein Kurzkommentar). Bleiben wir hier beim unmittelbaren Effekt, der Voraussetzung der Debatte von 1950.

Da allenfalls vage informiert, weist Moderator Koch Benn die Rolle eines legitimen Sprechers der in Deutschland gebliebenen Autoren zu, ohne dass de Mendelssohn widerspräche. Und der Doktor übernimmt seinen Part klug. Von Anfang bis Ende erweckt er den Eindruck, dass er, was 1933 betrifft, nur seinen Verbleib in Deutschland zu erklären hat; als gäbe es nicht ganz andere Dinge zu rechtfertigen.

Benn: „…ich werde Ihnen im Lauf unserer Unterhaltung es vielleicht noch deutlicher machen können, daß das Hierbleiben zunächst nicht unmoralisch war und auch keine ‒ vorn vornherein eine Bejahung des neuen Regimes.“

De Mendelssohn: „Ich habe das nicht einen Moment angenommen, Herr Doktor, auch nicht unterstellt, um Gottes Willen, nein, nein, nein.“

Das Richtige ‒ der bloße Verbleib in Deutschland war noch nichts Verwerfliches ‒ darf vom Falschen vertreten werden, bei dem Bleiben und Regimebejahung durchaus eins waren, wenn auch nur vorübergehend. Als Stimme in Deutschland gebliebener und doch Nazi-ferner Autoren ist Benn eher eine Fehlbesetzung; besser gepasst hätte er in die Sendung „Der Schriftsteller und die Kollaboration“, nur wäre er der wohl ferngeblieben. Im Übrigen ist die Unbekümmertheit von Kochs Casting zeittypisch. Bis auf wenige Remigranten und Linke interessiert es 1950 niemanden, wie es um die Glaubwürdigkeit vermeintlich unbelasteter Schriftsteller bestellt ist. Hauptsache, sie wenden sich gegen Thomas Manns Urteil, der gesamten Literatur des Dritten Reiches hafte „ein Geruch von Blut und Schande“ an.

Den Ansporn für Kochs Veranstaltung bildet diese Behauptung einer literarischen Kollektivschuld, mit der der Nobelpreisträger die Reserve gegenüber der Inneren Emigration überdehnt hat. Die Pauschalschelte ist nur dazu angetan, die Daheimgebliebenen, so unterschiedlich ihre Vergangenheiten sind, zusammenzuschweißen. Benn profitiert von der Kohäsion, während de Mendelssohn gewissermaßen händeringend versichern muss, keinerlei kollektive Verdächtigung im Sinn zu haben („nicht einem Moment angenommen“).

Tatsächlich enthält sich der Mitbegründer des Berliner „Tagesspiegel“ über die vollen 50 Minuten jeder pauschalisierenden oder individualisierenden Spitze. Er ist nur gekommen, um den deutschen Hörern zu erklären, dass das Fortgehen im Jahr 1933 für jemanden wie ihn „durchaus erlaubt war“, eine „moralische Berechtigung“, weil „Nötigung“ zur Emigration bestand und die meisten deutschen Schriftsteller in der Fremde, so wie er selbst, an der Schreibmaschine verarmten. Man achte nur einmal auf das „erlaubt“: Dass ein jüdischer Rückkehrer an herbe Fakten selbstlegitimatorisch erinnern zu müssen glaubt, sich überhaupt der Vorsicht befleißigt („um Gottes willen, nein, nein, nein“), sagt über das von Mitläufern dominierte Nachkriegsklima alles Wesentliche.

Anders der Sound von Benn. Wenn er auf der Würde der Daheimgebliebenen besteht, fällt zunächst ein obsessives Moment auf. Er antizipiert einen Vorwurf, den sein Gesprächspartner gar nicht erheben will ‒ mehr, von Thomas Manns Suggestion einer Pflicht zum Fortgehen hatte sich de Mendelssohn wenige Sekunden zuvor distanziert. Doch steckt in Benns Bemerkung mehr als übereifriges Verteidigen; ihr Unterton ist offensiv, weist dem Rückkehrer die Position des Unterweisungsbedürftigen zu: „werde Ihnen […] vielleicht noch deutlicher machen können“. Das passt zum Zungenschlag des Autobiographen, der beklagt, dass die Exilanten „so sehr auf uns herabsehen“, um selbst die Herablassung auf die Spitze zu treiben. Nennt Benn seine 1935 begonnene Tätigkeit als Oberstabsarzt in der Reichswehr (später Wehrmacht) eine „aristokratische Form der Emigration“, ist das ein Schlag ins Gesicht der wirklich Geflüchteten, die implizit die plebejische Variante bescheinigt bekommen.

Vorwärtsverteidigung

Bereits die unscheinbare Spitze im Gespräch und die prominente Provokation im Buch verweisen darauf, dass es Benn im NWDR noch um etwas anderes geht als das Thema, das Kochs Eingangsstatement setzt beziehungsweise behauptet: „Endlich ist es wieder soweit, dass ein hiergebliebener und ein fortgegangener Schriftsteller wieder miteinander reden können, wenn sie vielleicht auch in entscheidenden Punkten uneins bleiben werden.“ Läge Benn tatsächlich nur daran, einem Gegangenen die Motive eines Gebliebenen zu erläutern, könnte er sachlich argumentieren. So, wie er es in einer einzigen Gesprächssituation tut ‒ als er feststellt, dass de Mendelssohn sich aufgrund seiner Auslandserfahrung und Mehrsprachigkeit mit dem Fortgehen leichter tat als er sich selbst getan hätte, „der in Deutschland Beruf, Stellung und Wohnung und alles hatte.“ Die hatten auch die jüdischen Deutschen, was der Doktor geflissentlich ,vergisst‘. Aber seine Äußerung enthält schon einen plausiblen Punkt: Wer den Gang ins Ausland und die damit verbundene Unbill vermeiden konnte, blieb legitimerweise. Beschränkte sich Benn auf diese Position, kein Nachgeborener könnte ihm ernstlich widersprechen. Am wenigsten denkt de Mendelssohn daran, er behandelt das Bleiben schon deshalb als verständlich, um das „unsagbare Elend der Emigration“ zu unterstreichen.

Bei Benn aber bleibt nüchterne Selbstauskunft die Ausnahme, da er eine zweite, eine hidden agenda verfolgt. Im Unterschied zu den unbefangeneren der gebliebenen Autoren hat er verdeckt seinen Temporärfaschismus zu verteidigen. Bemerkbar macht sich das in zweifelhafter Selbstdarstellung bei beiläufigem Herabsetzen der Geflohenen, im blitzartigen Umschalten von Abwehr auf Angriff, frühem Jürgen Klopp sozusagen. Die Fertigkeit zeichnet schon des Altmeisters ersten Einsatz in der Sendung aus, die erste Kurzlesung aus „Doppelleben“ (alle Hervorhebungen im Folgenden von MJ).

Ich blieb also 1933 in Deutschland, und zwar zunächst in Berlin. Sofern das Verbleiben in Deutschland einer Begründung bedarf ‒ hier sind einige Begründungen. 1. Den Begriff der Emigration gab es damals in Deutschland nicht. Man wusste, Marx, Engels hatten sich zu ihrer Zeit nach London begeben, um ihre Stunde abzuwarten. In neuerer Zeit waren einige Spanier nach Paris gereist, um den politischen Verhältnissen in ihrer Heimat zu entgehen. Man kannte politische Flüchtlinge, aber den massiven, ethisch untermauerten Begriff der Emigration, wie er nach 1933 bei uns gang und gäbe wurde, kannte man nicht. Man kannte natürlich auch die russischen Emigranten, aber bei denen lag Flucht vor gegenüber Ermordetwerden, das war eine vitale Reaktion, kein gesinnungshafter Protest gegen eine andere Gesinnung ‒ und wer war 1933 fähig und bereit, den 30. Januar in Berlin mit dem 8. November 1917 in Petersburg zu vergleichen? Wenn nun also Angehörige meiner Generation und meines Gedankenkreises Deutschland verließen, emigrierten sie noch nicht in dem späteren polemischen Sinne, sondern sie zogen es vor, persönlichen Fährnissen aus dem Wege zu gehen, die Dauer und die Intensität dieses Vorgehens sah wohl keiner von ihnen genau voraus. […] Wobei mir übrigens einfällt, daß die meisten, die Deutschland damals verließen, keineswegs sich als Kameraden der russischen Emigranten fühlten, vielmehr im Gegenteil als Kameraden derer, vor denen jene flohen. Ich persönlich hatte keine Veranlassung, Berlin zu verlassen, ich lebte von meiner ärztlichen Praxis und hatte mit politischen Dingen nichts zu tun.

Verblüffend ist zunächst die Behauptung eines in Deutschland fehlenden Emigrationsbegriffs. Selbst als de Mendelssohn in seiner Replik auf die Amerika-Auswanderer von 1848 hinweist, bleibt sein Widersacher dabei: „Ich gebe Ihnen vollkommen zu, daß natürlich eine Emigration bekannt war, für Deutschland allerdings nicht.“ Wie erklärt sich dann die mythische Figur des reichen Onkels aus Amerika, an der sich in Deutschland über Generationen die Phantasie von Migrationskandidaten entzündete?

Konzediert man Benn, dass die Figur zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr mit individueller Glückssuche als mit politischem Exil konnotiert war, irritiert eine weitere Ausblendung. Von einer deutschen Emigration aus politischen Gründen wussten keineswegs nur Kenner von Marx und Engels. Der berühmteste Streit der deutschen Literaturgeschichte entbrannte zwischen zwei Exilanten im Paris des Bürgerkönigtums, Heinrich Heine und Ludwig Börne. Kommentiert hat ihn auch Gottfried Benn, welcher 1931 an Heine den Ästheten schätzte, der in Paris Abstand zu den republikanischen Landsleuten hält, den „Tabaksqualm der Volksversammlungen scheut und den Schweißgeruch der Subskriptionslisten.“ Der Benn des Rundfunkvortrags „Die neue literarische Saison“ erinnerte sich der deutschen Exilantengemeinde recht plastisch, während sich der des NWDR-Studios so gar nicht mehr an sie erinnern kann. Es liegt wohl daran, dass Massenmedien „auf schnelles Erinnern und Vergessen“ eingestellt sind (Luhmann).

Im Ernst, der fehlende deutsche Emigrationsbegriff ist natürlich eine Schutzbehauptung. Benn hat die ihm wohlbekannte Möglichkeit der Emigration 1933 aus dem einfachsten aller Gründe verworfen: weil er dabei sein wollte beim ,historischen Aufbruch‘. Warum auch ins Ausland gehen, wenn sich die ahnenschwere Vitalität des Nationalsozialismus bald durch abgelebte europäische Flächen ergießen wird?

Gleichwohl mag man sich fragen, ob die Nebelwerferei zu bekritteln 67 Jahre später nicht ein bisschen billig ist. Wir wissen, dass Benn sich in den Briefen an F. W. Oelze seit November 1934 deutlich von den Nazis distanzierte, ihnen „die Fresse von Caesaren und das Hirn von Troglodyten“ nachsagte und er Oelze schließlich „unendliche Scham über meinen Abstieg“ gestand. Ferner, dass er in dem 1941 einstweilen für die Schublade verfassten, 1949 dann veröffentlichten Text „Kunst und Drittes Reich“ eine Verachtung für die Nazi-Führung und ihre Günstlinge an den Tag legte, die der von Thomas Manns BBC-Ansprachen in nichts nachstand. Kostprobe: „Die großen Wagen genügen ihnen nicht, die wisentumröhrten Waldschlösser, die ergaunerte Insel im Wannsee ‒, kulturell soll Europa sie bestaunen! Haben wir nicht Talente unter uns von der Klangfülle einer Gießkanne […]?“ Famos formuliert. Und 1949 hat Benn die Übereinstimmung mit Thomas Mann selbst herausgestellt.

Wenn er nun nach dem Krieg von einem inexistenten deutschen Emigrationsbegriff fabuliert, könnte man das begreiflicher Frustration zuschreiben. Er sieht sich in der Distanzierung vom Nationalsozialismus eigentlich gleichauf mit dem Bürgerkünstler, hat sich durch den Verbleib in Deutschland jedoch die Möglichkeit genommen, die Kritik des NS noch während desselben öffentlich zu machen. Und ist durch die vierjährige Verspätung leider, dem symbolischen Kapital nach, in Rückstand geraten, in noch größeren als schon durch den Hauptmakel, die zeitweilige Kollaboration. Ist Benn nicht umso mehr versucht, sich einzureden, die Option Exil habe 1933 außerhalb des eigenen Blickfelds gelegen? Zeichnen sich die Unkosten von Lebensentscheidungen ab, suchen Menschen gern nach dem mildernden Umstand Alternativlosigkeit; das kennen wir von uns selbst.

Doch ganz so günstig, im Menschlich-Allzumenschlichen auflösbar, liegen die Dinge beim Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht. Weit entfernt, im drohenden Ansehensverlust den Preis seines Bleibens zu sehen, verteidigt er dieses auch privat im Vorwärtsgang. „Es hat nur Wert in der geistigen Welt, was man wirklich erlebt hat. […] Ich würde auch heute wieder hierbleiben […] wollen“, heißt es in einem Brief von 1949, „und ich spreche den Emigranten das Recht ab, sich als die alleinigen Repräsentanten des geistigen Deutschland zu gerieren.“ Frustration besteht schon, doch gilt sie nicht eigenen Entscheidungen, sie gilt dem Prestige und der Selbstgewissheit der gegangenen Kollegen. Und: Mag Benn die 1933 angeblich unbekannte Emigrationsoption auch aus Selbstschutz erfinden, er führt 1950 keine Selbstgespräche. Seine Geschichtsfiktion wiegt auch die deutschen Hörer in behaglicher Unwahrheit. Ein Schriftsteller, der seit seinen Debüt-Gedichten aus der Pathologie (1912) die Rezipienten erstaunte, verstörte oder empörte, jedenfalls stets forderte, versucht sich mit Anfang sechzig in einer ihm neuen Gattung, im Märchen.

Wir kommen auf die Genreerweiterung zurück; in der soeben zitierten Passage bildet sie nicht einmal das Hauptproblem. Das entsteht erst mit dem Wechsel in den Angriffsmodus, dem Unwillen, sich und andere Daheimgebliebene in Schutz zu nehmen, ohne beiläufig die Exilanten zu verleumden. Ihnen gilt es den moralischen Triumph zu vergällen: Erst erwähnt Benn russische Exilanten auf der Flucht vor Trotzkis Bataillonen, dem „Ermordetwerden“. Wenige Sätze später heißt es von den deutschen Emigranten des Jahres 1933, „die meisten“ von ihnen hätten „übrigens“ auf der Seite der russischen Verfolger gestanden. Ein Syllogismus auf Abstand, doch mit eindeutigem Schluss: Die meisten deutschen Flüchtlinge von 1933 waren Kameraden von Mördern, weil Kommunisten.

Die elegant gebaute Lüge entspricht dem Aggressionspegel von Benns Notizen und Briefen seit 1945. Dort sagt er den Exilanten „hündische Feigheit“ nach, da sie die Werte der Besatzungsmächte teilten, hält ihnen „ihr Rechthaben u(nd) Ihr in drei Weltteilen vertretenes Besserwissen“ vor, spricht ihnen moralische Überlegenheit ab, in einer grellen, wenn auch bibelfesten Metapher: „Sie haben sicher viel gelitten, aber am Kreuz hingen wir, und der Essig war in unserem Schlunde.“ Im Licht des privat durchbrechenden Ressentiments wird das Motiv der Kommunistenpointe im veröffentlichten Text verstehbar. Da spürt einer ob seiner Vergangenheit die Gefahr, gegenüber Heinrich und Thomas Mann sowie Alfred Döblin für immer ins Hintertreffen zu geraten, was literarpolitisches Ansehen betrifft. Wo aber die Gefahr wächst, wächst das Denunziationstalent auch.

Merkwürdig im Übrigen, zwischen einer Flucht aus Furcht vor „persönlichen Fährnissen“ und einer „polemischen“ Emigration zu unterscheiden. Woran sich schon de Mendelssohn stößt und wogegen er einwendet, dass „Emigration in jedem Fall immer Flucht ist vor Fährnissen. […] Man flieht vor Menschen oder vor Ideen oder vor Menschen, die Ideen repräsentieren.“ Und umgekehrt: „Für mich gibt es keine nichtpolemische Emigration.“ In der Tat, hätten z. B. die beiden Manns, die nur aus niederen Motiven gegangen sein sollen, aus „gesinnungshafte(m) Protest gegen eine andere Gesinnung“ ‒ womit der Unterschied zwischen demokratischer und faschistischer schon mal eingeebnet ist ‒, hätten solchen Autoren in Nazi-Deutschland keine „Fährnisse“ gedroht?

Und wie hat man sich den Ortswechsel von Benns jüdischer Lebensfreundin vorzustellen? Als Else Lasker-Schüler im April 1933 tätlich angegriffen wird und nach Zürich flieht, verlässt sie da Berlin unpolemisch, also ohne dem Adolf jetzt böse zu sein? Benn dürfte es eher nicht angenommen haben. Lasker-Schüler, die er 1952 als die „größte Lyrikerin“ würdigen wird, „die Deutschland je hatte“, fand er 1934 ja unangenehm gestimmt: „fanatisch antideutsch u.[nd] lügt wie alle so hysterischen Menschen.“

Vielleicht will der Radio-Veteran mit seinem Eingangsstatement nur den Bildungsauftrag von Kochs Nachtprogramm erfüllen, hier: dem ein oder anderen Antisemiten vorm Rundfunkgerät beibringen, dass Chuzpe nichts spezifisch Jüdisches ist. Dafür spricht zumindest die Coda: „Ich persönlich hatte keine Veranlassung, Berlin zu verlassen, ich lebte von meiner ärztlichen Praxis und hatte mit politischen Dingen nichts zu tun.“ Unpolitisch ist also der Mediziner, der im September 1933 ganz sachlich von der „Ausschaltung des unerwünschten“ und „Erhöhung der Fruchtbarkeit des erwünschten Lebensmaterials“ schreibt, davon, dass die „Reinigung des Volkskörpers nicht nur aus Gründen der Rasseertüchtigung, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen erfolgen muss“. Unpolitisch ist es, im April ’33 die „Tatsache eines vollkommenen, geschichtlich logischen, von echten menschlichen Substanzen ernährten Sieges der nationalen Idee“ zu feiern und zu empfehlen, „die öffentliche Meinungsäußerung nur denen zu gestatten, die auch die öffentliche Staatsverantwortung tragen“.

Ebenso unpolitisch ist es, im Mai ’33 via Rundfunk Klaus Mann und mit ihm allen literarischen Emigranten nachzurufen: „Da sitzen Sie also in Ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates, dessen Glaube einzig, dessen Ernst erschütternd, dessen innere und äußere Lage so schwer ist, daß es Iliaden und Äneiden bedürfte, um sein Schicksal zu erzählen.“ Beschreibt der Benn im Radio von 1950 sein Ich von ’33 als unpolitisch, lernen wir, dass das postfaktische Zeitalter lange vor Donald Trump begonnen hat.

„Wovor sollte man emigrieren?“

So deutlich die Widersprüche zwischen Selbstbeschreibung und Realverhalten ausfallen, beachtenswert ist das Geschick des Sprechenden und ein Moment von Überzeugtheit. Im Gebrauch der Vokabel „Badeorte“, mit der sich die Geflohenen 1933 als Urlauber im Politgewand abgestempelt sehen, steckt eine zählebige Missgunst. Ausweislich der Biographie von Holger Hof („Der Mann ohne Gedächtnis“, 2011) waren für Benn zwei mehrwöchige Südfrankreich-Reisen, unternommen 1928 und 29 auf Einladung des Kunsthändlers Zatzenstein, der Höhepunkt seines touristischen Vergnügens. Woraus wir schließen dürfen, dass er Klaus Mann, als der ihm im 1933 seinen offenen Beschwerdebrief ausgerechnet aus Sanary sur Mer schickt, tatsächlich als privilegiert empfindet, wie dessen ganze Familie. Man selbst kommt viel zu selten raus aus Kreuzberg!

Nach 1945 ist die Vorstellung vom komfortablen Exilantenleben unter den geschlagenen Deutschen virulent. Frank Thiess etwa, der Lauteste der Inneren Emigranten, sagt Thomas Mann eine „weichgepolsterte Existenz in Florida“ nach, im Eifer des Gefechts Pacific Palisades an den Atlantik verlegend. Benn weiß auf derselben Klaviatur dezenter zu spielen. De Mendelssohn bescheinigt er nicht allein größere Auslandserfahrung. „Sie waren zu Hause in Paris und in New York und in London, nicht wahr“ klingt ein wenig so, als habe jener beim Fortgang 1933 kein großes Opfer bringen müssen. Es klingt vor allem dann so, wenn man vorher in frecher Süffisanz fragt: „Herr von Mendelssohn, würden Sie die Güte haben, mal zu sagen: Wovor sollte man emigrieren?“ Als verstünde sich das bei einem Deutschen jüdischer Herkunft nicht von selbst, als hätte der sich damals mutwillig verabschiedet, um auf Grand Tour zu gehen. Und kaum hat der Widerpart von einem Leid der Emigration gesprochen, kommt Benn mit der nächsten Aufgabe: „Erlauben Sie, diese Frage wollte ich ihnen vorlegen: was eigentlich war das Bitterste an der Emigration? Das möchte ich wissen.“

Dabei ist ihm das Los jener Geflohenen, die nicht Thomas Mann heißen, durch seinen alten Verlegerfreund bekannt, den sich in New York durchschlagenden Erich Reiss: „Ihre Odyssee, die Sie schildern, bis Sie im jetzigen Appartment gelandet sind, rührt mich sehr“, schreibt er 1947. „Ich habe mir oft vorgestellt, wie ungeheuer schwierig es drüben ist, Fuß zu fassen und Geld zu verdienen.“ Zu Recht nennt es Decker, dem wir den Hinweis auf diesen Briefwechsel verdanken, seltsam, wie wenig Verständnis Benn dann im Rundfunkgespräch für die Exilanten zeigt. Er stellt sich dumm. Doch hat das schon seinen Sinn. Abgesehen davon, dass Benn den seit Längerem zum Dunstkreis der Familie Mann zählenden de Mendelssohn als einen der beneideten Luxusmigranten wahrnehmen dürfte, abgesehen von kleinbürgerlichen Reflexen ist es Strategie, wenn er den Antipoden mit einer Frage nach der anderen eindeckt. „Würden Sie die Güte haben?“, „erlauben Sie“ ‒ mit jeder suggeriert er, der Rückkehrer habe sich zu erklären, nicht etwa umgekehrt. Mit jeder kommt er Fragen nach seinem eigenen Verhalten zuvor. Ein verbales Gegenpressing.

Dessen ungeachtet bietet Benn zwei offene Flanken, wenn er retrospektiv politisches Desinteresse behauptet. Zum einen schreibt er sich damit eine Haltung zu, die ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt als eine im Jahr 1933 unzulässige Apathie kritisierbar ist. Wie sichert er sich vor der naheliegenden Vorhaltung? Zum anderen fährt er mit der kontrafaktischen Selbstdarstellung einen riskanten Kurs. In der Interaktion mit einem jüdischen Gegenüber vor offenem Mikrofon kann er nicht ausschließen, bloßgestellt zu werden; er weiß ja nicht, was de Mendelssohn über seine Auftritte vor 17 Jahren weiß. Als Vertrauter der Manns wohl eher mehr als weniger. Wie also mögliche und womöglich bissige Hinweise auf die alten Texte neutralisieren?

„Das Judenproblem“

Was die Rechtfertigung von Passivität betrifft, ist die dafür zentrale Passage der zweite Abschnitt aus „Schatten der Vergangenheit“, wie der erste von Benn vorgelesen. Soeben hat er erwähnt, dass ihm 1933 ein „üble[r] antisemitische[r]“ Programmpunkt der NSDAP geläufig war. Aber:

Es gab, glaube ich, zweiundzwanzig Parteien, also ebensoviel Parteiprogramme, alle beschimpften sich untereinander und gegeneinander, sehr fein war keines, und wie sich dann später zeigte, das Senecasche Qui potest mori, non potest cogi ‒ galt für keines. Daß die Parteiprogramme verwirklicht würden, das konnte man nach den Erfahrungen mit den politischen Verhältnissen überhaupt auf keinen Fall erwarten. Zum Beispiel enthielt das nationalsozialistische Parteiprogramm auch jenen Punkt: ,Brechung der Zinsknechtschaft‘ – und die Zinsen spielten dann doch eine größere Rolle als je, und die Kapitalien und Investitionen wurden reichlich verteilt […], und was gebrochen wurde, war etwas ganz anderes, aber nicht der Zins ‒ also wörtlich konnte man diese Parteiproklamationen doch wirklich zunächst nicht nehmen, zunächst ‒ dann allerdings, als sie ihre Rassentheoreme praktizierten, schauerten einem die Knochen, aber das war noch nicht 1933.

Die Erinnerung zeugt zwar von schlechtem Gedächtnis ‒ mit Rassentheoremen hantierte der Hobby-Eugeniker 1933 selbst. Auch enthält der historische Abriss hanebüchene Elemente. Seit dem 30. Januar 1933 war die NSDAP nun einmal mehr als eine von 22 Parteien, sie regierte, und ihre Entschlossenheit zur Verwirklichung des Programm hat sie wenig später demonstriert; es sei denn, man hält das im März ’33 in der Krolloper durchgepeitschte Ermächtigungsgesetz für Theaterdonner. Auch wird man fragen dürfen, warum die frühe Ausschaltung des ,linken‘, des Strasser-Flügels in der NSDAP etwas an der Bedrohlichkeit des antisemitischen Programmpunkts hätte ändern sollen. Wie ernst er der Partei war, konnte einem in der Belle-Alliance-Straße kaum entgehen. Goebbels’ Hetzkampagne gegen den jüdischen Polizeivizepräsidenten, Bernhard Weiß, war seit Ende der 1920er Jahre Berliner Stadtgespräch, und 1933 erging gegen Weiß Haftbefehl.

Wahrheitsfixierte Gegenreden wie diese lassen allerdings außer Acht, dass die Leitdifferenz von Massenmedien nicht wahr/falsch ist, sondern Information/Nicht-Information. So gering der Wahrheitswert der Realitätskonstruktion ist, allemal gegeben ist die den Informationswert ausmachende Neuheit. Auf die Idee, Hitlers Scheinsozialismus sei als Entwarnung in Sachen Antisemitismus lesbar gewesen, ist nur Benn gekommen, soweit ich sehe. Und er entwirft eine Geschichtsfiktion, in der sich die bildungsbürgerliche Klientel der Koch’schen Kulturstunde gern wiedererkannt haben dürfte: Ja, auch ich war ein Unpolitischer, über der Parteien Gunst und Hader, und die Gefährlichkeit der NSDAP war nicht absehbar. Beruhigende Botschaften, wie sie sich für eine zwischen 23 und 0 Uhr ausgestrahlte Sendung gehören.

Subjektiv ermöglicht werden die Beschönigungen durch Wahrheitsanteile. Was den unpolitischen Autor angeht, so war der Benn von 1933/34 zwar das Gegenteil; zuvor und danach jedoch war er es seinem Selbstverständnis nach ja tatsächlich. In den 1920er Jahren kultivierte er eine apolitisch-elitäre posture und sah sich dafür vom Journalistensozialisten Kisch als widerlicher Aristokrat beschimpft; seit Oktober 1933 ging man ihn von ganz rechts für seine expressionistischen ,Sünden‘ an, was sein öffentliches Verstummen seit Ende ’34 beförderte. Mit anderen Worten: Das „ich […] hatte mit politischen Dingen nichts zu tun“ ist nicht aus der Luft gegriffen, es lässt die politisierte Phase der eigenen Person einfach aus ‒ eine Extremselektion.

Glaubhaft ist, dass Benn den gleißenden Antisemitismus der NSDAP ablehnte. Lasker-Schüler, Carl Einstein und Carl Sternheim, jüdische Verleger wie Reiss und besagter Kunsthändler zählten über Jahrzehnte zu seinen Freunden. Und was sich 1933 tatsächlich nicht voraussagen ließ, bekanntermaßen selbst für die Betroffenen unvorstellbar blieb, war der Holocaust. Heikel allerdings ist Benns Selbstdarstellung als einer, der über antisemitische Impulse zu jedem Zeitpunkt völlig erhaben gewesen wäre, wie es die Kombination der Formulierungen „übel“ und „schauderten einem die Knochen“ nahelegt.

In „Doppelleben“ folgt darauf noch eine tiefe Verbeugung vor dem „jüdischen Anteil der Bevölkerung. Die überströmende Fülle von Anregungen, von artistischen, wissenschaftlichen, geschäftlichen Improvisationen, die von 1918-1933 Berlin neben Paris rückten, entstammten zum großen Teil der Begabung dieses Bevölkerungsanteils, seinen internationalen Beziehungen, seiner sensitiven Unruhe und vor allem seinem todsicheren Instinkt für Qualität.“ Ja, Stil, Klasse, Format! Graf Gottfried weiß es zu schätzen. Nur hörte sich das im Brief vom 23. September 1933 an Gertrud Zenzes in San Francisco etwas anders an: „Was nun das Judenproblem angeht, […] so sehen Sie das sicher auch ganz falsch. Denken Sie einmal, unter den Berliner Ärzten waren 85 % Juden, den Rechtsanwälten 75 %. […] Es ist doch vollkommen selbstverständlich, daß dieser Zustand eines Tages als unmöglich angesehen wurde.“

Das letzte Zitat überführt die beiden vorherigen nicht unbedingt der Heuchelei. Aber es zeigt, dass sich in Benns Verhältnis zu Juden der Respekt des Künstlers und der Sozialneid des unzufriedenen Freiberuflers neutralisierten. So fiel 1933 Anti-Antisemitismus als ein Korrektiv der vielfach konstatierten anti-demokratischen Züge seines Denkens aus.

Vereinnahmungskunst

Bleibt die Frage, wie sich der Debattant von 1950 dagegen rüstet, dass ihm frühere Entgleisungen unter die Nase gerieben werden, etwa das radioverstärkte (und -befeuerte!) Lob des Nazismus „als eine der großartigsten Realisationen des Weltgeistes überhaupt“. Zu berücksichtigen ist dabei eine für den Nachkriegs-Benn erkennbare und günstige Entwicklung. Faktisch ist den aus Nazi-Deutschland geflohenen Autoren nur eine der angebräunten Reden und Essays im Gedächtnis geblieben. Die Replik auf Klaus Mann, auf die enttäuschten Worte eines gewesenen Bewunderers, war eben sein einziges Bekenntnis zum Nationalsozialismus, das sich direkt an die Exilanten richtete. Zumal auch eine aktuelle Kritik des Remigranten Hermann Kesten an „Doppelleben“ausschließlich die „Antwort an die literarischen Emigranten“ angesprochen hat, konzentriert sich Benn im Studio darauf, diesen einen Ballast zu entsorgen. Sein erster Rekurs fällt kess aus.

Benn: „Herr von Mendelssohn, es freut mich sehr, dass wir uns darüber unterhalten. Ich habe Ihre Bücher zum Teil gelesen und bin da in einem Buch von Ihnen, einem Roman: ,Das zweite Leben‘, auf seltsame Sätze gestoßen, die eigentlich meinen Standpunkt vertreten. Darf ich Ihnen mal einige vorlesen?“

De Mendelssohn: „Ja, ich glaube, mich zu erinnern, was Sie meinen, obwohl ‒.“

Benn:Also hören Sie mal, das sind Sätze, die wörtlich ich geschrieben haben könnte, 33, in der Antwort auf Klaus Mann. ,Ja, der Geistliche hat vollkommen recht, es hat keinen Sinn, das Land zu verlassen. Man kann von außen her nichts tun, ich habe über diesen Punkt viel nachgedacht, und jetzt sehe ich vielleicht klarer darin. Die Stimme von draußen ist die Stimme eines Toten. Sie tönt nicht über die Grenze, sie kann das Herz des Volkes nicht mehr erreichen. Bist du einmal draußen, dann bist du ein toter Mann.‘ Und eine andere Stelle dicht hinterher: „Also, ob ich mich mit Politik befasse oder nicht, von draußen wäre ich nicht imstande, mich vom Schicksal meines Landes und meines Volkes loszusagen.‘ Also eigentlich ist das ja eine Behauptung, wie ich sie hier vertreten müßte. Es sind sehr schöne Sätze, und ich habe sie mit Bewunderung gelesen. Was sagen Sie dazu jetzt, zu Ihren Sätzen?“

De Mendelssohn: „Bitte, ich sage dazu, daß es nicht meine Sätze sind, denn diese Worte stammen, wenn ich mich recht erinnere, aus einem Gespräch zwischen dem Herrn Lendning, dem ‒.“

Benn: „Lendning, der aber eine Ihrer Hauptfiguren ist ‒.“

De Mendelssohn: „Ja, richtig, Herr Doktor, das Buch ist in der Ich-Form geschrieben, der Erzähler ist derjenige, der emigriert. Sein Gegenspieler, sein Freund, Memling, dem ich mit Absicht einen alten deutschen Namen gegeben habe, ist derjenige, der diese Worte spricht und der ja auch nicht emigriert, sondern bleibt. Er, der Memling, ist der damals noch gar nicht sehr bekannte Typ des Untergrundkämpfers, nicht wahr. Was Sie vorgelesen haben, ist die Scheidung der Geister. Ich persönlich teile den Standpunkt von Memling nicht. Ich hab ihn aber dargestellt, weil er existierte und weil er ‒.“

Benn: „Eben, dass Sie überhaupt erst darauf gekommen sind, zeigt ja doch, wie außerordentlich ernst Sie diese Dinge durchdacht haben und wie Sie auch der Gegenseite gerecht werden wollen eigentlich.“

Was passiert hier? Erstens, Sie haben es bemerkt, setzt der Dichter die Stimme einer Romanfigur mit dem Standpunkt der Autorperson gleich. Ein grober Verstoß gegen gute literaturwissenschaftliche Sitten; leistet man sich so etwas in einem Seminar von Jürgen Joachimsthaler, fällt man in Ungnade. Einfach verwechselt hat Benn Figurenrede und Autor natürlich nicht. Bewusst unterschiebt er die eine dem anderen, um de Mendelssohn als Kronzeugen zu vereinnahmen, der die Meinungen der „Antwort“ teile. Staunenswert am Verfahren ist nicht nur die Identifikation von Protagonist und Autorperson; bizarrer noch mutet Aussage zwei an, die Memling-Figur vertrete das Gleiche wie der Benn von 1933.

Zum Vergleich: Der fiktive Untergrundkämpfer weigert sich, Deutschland zu verlassen, da sich von außen die Bevölkerung nicht zum Sturz der Nazi-Führung bewegen lasse. Etwas anders Rundfunkredner Benn nach der Machtergreifung. Er sagte der Emigration ab, weil er am Nazi-Staat mitarbeiten wollte ‒ ein unorthodoxer Untergrundkampf. Des Doktors ,Erinnerung‘ behandelt entgegengesetzte Motive fürs Bleiben in Deutschland wie identische. Aber die Kühnheit ist noch steigerungsfähig.

Benn: „Und wenn Sie jetzt sagen, er [Memling] ist ein Vertreter der Untergrundbewegung, könnte ich sagen, jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung. Er mußte auch ausstehen und mußte auch ‒.“

De Mendelssohn: „Das möchte ich Ihnen nicht einen Moment abhandeln wollen. Aber ich muss mich doch dagegen verwahren, daß mir das als mein persönlicher Standpunkt unterschoben wird.“

Benn: „Es war nur lobendund erfreut und anerkennend.“

De Mendelssohn: „Ja, und ich schätze das. Es ist aber nicht meine Ansicht. Es ist nicht meine Auffassung.“

Vollendet ist die Volte erst mit diesem dritten Schritt. Die Bemerkung „jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung“ wirft Benn ein, direkt nachdem er Memlings und seine eigene Rede in eins gesetzt hat. Durch die Abfolge evoziert er nicht nur einen ominösen Massenwiderstand, er manövriert sich in dessen Nähe.

Welche Faktoren begünstigen eine Selbst- und Fremdverklärung von respektablem Ausmaß? Im NWDR weiß sich ein Medienintellektueller im abwertenden Sinne Bourdieus zu betätigen: ein fast-thinker. In hohem Tempo setzt Benn Behauptungen in die Welt, die fragwürdig, aber situativ wirksam sind, konterkarierbar erst durch längere Begründungen, die im Medium selbst vorzubringen wenig Zeit bleibt. De Mendelssohn etwa, verständlich perplex, hat genug damit zu tun, sich gegen die Gleichsetzung von Figur und Autor zu wehren. Schon dies, nicht allein seine generöse Grundlinie, hindert ihn nachzuhaken, worin denn die suggerierte Opposition der Vielen im NS bestanden haben soll.

Doch auch rein deskriptiv kann Benn als früher Medienintellektueller gelten, in Radio-Debatten versiert. „Was sagen Sie dazu jetzt, zu Ihren Sätzen?“: Die so triumphierend gestellte Frage ist ein Glied der Fragekette, mit der Benn de Mendelssohn durchgehend in die Defensive zu treiben sucht. Zugleich insinuiert er, der Widersacher bestätige Benn‘sche Positionen unfreiwillig. Weder die Kette noch die Strategie düpierenden Umarmens dürften Eingebung gewesen sein, wie einem neueren Aufsatz von Torsten Hoffmann zu Schriftstellergesprächen im Rundfunk um 1930 entnehmbar ist.[2] Beide Techniken konnte der Hörer Benn am 2. Februar 1930 vom Debattierstil Ernst Tollers in der Funk-Stunde Berlin lernen. Vier Wochen später, in einem Streitgespräch mit Johannes R. Becher am gleichen Ort, wählte Benn selbst die Rolle des permanenten Fragestellers. Zwei Jahrzehnte später, in der Emigrantendebatte, kommt er auch deshalb gut über die Runden, weil er an beide Elemente der Methode Toller anknüpft, sie der Linken entwendet.

Indem Benn die Lesung aus der Autobiographie durch gut einstudierte Einschnürungstechniken ergänzt, macht er wett, was Koch später als seine Unterlegenheit beschreiben wird: Mit freiem Sprechen tat sich Benn schwer, anders als der darin viel gewandtere de Mendelssohn. Was der Moderator sieht, das Am-Blatt-Kleben, ist für die Hörer ohnehin nur erahn-, allenfalls vorm inneren Auge sichtbar. Im Radio lässt sich mit etwas Geschick ausgleichen, was in der Telekratie hölzerne Performanz wäre.

Aber wie gesagt, am meisten profitiert der Doktor von der Konzilianz seines Kontrahenten, der den Temporarfaschisten nicht bloßstellt ‒ und sich dafür bestraft sieht. De Mendelssohn muss erleben, wie Benn ihn einzuspannen, ja vorzuführen sucht („es war nur lobend“). Wobei seine langfristige Reaktion verdeutlicht, warum Medienschelte à la Bourdieu hier zu kurz greift. Nachdem de Mendelssohn einen überfallartig agierenden, auch herrischen Gesprächspartner kennengelernt hat („also hören Sie mal“), kommt er zum oben erwähnten Entschluss, mit Benn fortan schonungslos umzugehen. So gesehen stiftete erst das Radio, der von Koch hergestellte Kontakt und dessen Ergebnis, eine Anschlusskommunikation notwendig kritischerer Art. Im Übrigen brachte das Mikro am deutlichsten an den Tag, dass von Benns Scham, der Mitte der Dreißiger bekundeten, einer eindrucksvollen Gemütsregung, wie ich finde, wenig übrig geblieben ist.

Eigenwillige Romantik

In planer Täuschung der Öffentlichkeit geht des Doktors Auftritt nicht auf. Andere Register zeigt der zweite Rückbezug auf die „Antwort“: sich in bestimmten Ideologemen bestätigt sehen oder einen Fehler in der Vergangenheit andeuten, um ihm die noch vorteilhafteste Deutung angedeihen zu lassen.

Eine These der „Antwort“ lautete, Geschichte verfahre nicht demokratisch, sondern irrational, was die Emigranten in ihrer Vernünftelei nicht begriffen. An seine aufklärungsaversive Position von ’33 schließt Benn im Radio-Dialog an, nunmehr ganze Namenskolonnen auffahrend, um ein „Dilemma der Geschichte“ glauben zu machen. Will heißen: ihre schicksalhafte Gewaltförmigkeit. Wallenstein, Prinz von Homburg, Napoleon-Vergötterung, Alexander der Große, die ostindische Kompanie, Cortez ‒ bloß Attila hat der Reihungskünstler vergessen. Im erhabenen Panoramablick auf die Geschichte schrumpft Hitler zur jüngsten Erscheinungsform der „oft gesetzesverleugnenden, moralumschaffenden Tapferkeit des Mannes ‒ so kam es auf uns.“ Benn gelingt es, die Spezifik des NS in der Soße des Allgemeinen verschwinden zu lassen, und legt dabei eine beachtliche Konsequenz an den Tag: „Jeder Verkehrspolizist ist Gewalt.“

Selbstverleugnung kann man ihm nicht vorwerfen, zu fatalistischem Geschichtsverständnis tendierte er schon seit Ende der 1920er Jahre. Doch der Anschluss an die Position von 1933 fällt selektiv aus. Unhaltbar, weiß er, ist zum Beispiel folgender Satz aus der „Antwort“ zur Erklärung des nationalsozialistischen Triumphs: „Es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert, und ein Volk will sich züchten.“ Wie solch eine Formulierung oder auch die vom Walten des Weltgeistes entsorgen ‒ ohne sie zu zitieren? Auch da gibt es eine schöne Lösung: „Klaus Mann schrieb mit einen außerordentlich wunderbaren Brief, höflich, liebenswürdig, charmant, aus Sanarie in Südfrankreich. Ich antwortete in dem dann bekannt gewordenen Brief an die literarischen Emigranten, den ich ja heute nicht mehr vollkommen aufrecht erhalte, sondern ihn sehr ‒ romantisch finde.“

Das war’s. „Romantisch“ deckt alle wunden Punkte ab. Wer eine biologistische Überhöhung von Gewaltherrschaft romantisch findet, kreiert den Euphemismus des Jahrzehnts, nur dass Benn an seine Selbstdeutung zweifellos glaubte. Sie fungierte als eine Sichtblende, mit der er sich und anderen verdeckte, dass im Wonnemonat Mai des Jahres ’33 weniger ein Romantiker sprach als ein machtbewusstes Akademiemitglied, das die Gelegenheit nutzte, kraft des Rundfunks die linksliberale und großbürgerliche Fraktion im literarischen Feld zu demütigen. Davon zeugte neben der Belehrung für die „Troubadoure des westlichen Fortschritts“, einer „flache[n], leichtsinnige[n], genusssüchtige[n]“ Geschichtsauffassung anzuhängen, vor allem die höhnische Frage an Klaus Mann, den ach so liebenswürdigen: „Meinen Sie, sie [die Geschichte] sei in französischen Badeorten besonders tätig?“

Im Karriereinteresse sowie in habitueller und politischer Abneigung später ein Motiv der eigenen Verirrung zu erkennen, erquickt allerdings wenig. Behaglicher ist es, eine größere Verfehlung, hat man sie erkannt, als romantisch zu verniedlichen. Ein Attribut wie kokettes Achselzucken, es klingt wie „war noch trunken vom Fackelzug“ und fast so charmant wie „Irren ist bennschlich“.

Für und Wider normativer Beschreibung

Selbstmissverständnisse sollen schon mal vorkommen. Und ist Eigennachsicht nicht verständlich? Hat Benn 1950 nicht auch gute Gründe für ein positives Selbstbild? Da sind die heimlich verfassten Schriften, die schon Mitte der Dreißiger, trotz politisch unkorrekten Vokabulars, der NS-Ideologie eindeutig absagten: „Völker, die den Geist nur in den Siegen der Geschichte und im Gelingen von Grenzüberschreitungen erblicken, sind niedere Rasse“ („Weinhaus Wolf“, 1937). Da ist die Verfemung des ehemaligen Expressionisten als entarteter Künstler 1936 und sein Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer zwei Jahre darauf. Wen wundert es, wenn in seiner Selbstwahrnehmung diese längere, verstrickungsfreie Phase schwerer wiegt als die kürzere, ungute zuvor ‒ nicht der kleinste Grund für sein Selbstbewusstsein im Studio.

Die Crux besteht darin, dass Benn nach dem Krieg die Gewichtung der ungleichen Perioden nicht der Öffentlichkeit überlassen will. Was einer Überreaktion geschuldet sein dürfte: Seit die Wochenzeitung „Sonntag“ am 31.12.1947 Auszüge aus Thomas Manns Tagebüchern 1933 und 1934 wiedergegeben hat, die Benn namentlich als einen der Intellektuellen nennen, die „mit unterworfenen und begeisterten Hirnen mitgemacht haben“, steht er unter Zugzwang. Statt nun darauf zu vertrauen, dass mit dem Abdruck von „Kunst und Drittes Reich“ in „Ausdruckswelt“ (1949) das Bild des Inneren Emigranten das des Mitläufertums überlagert, versucht er Letzteres zu bagatellisieren oder ganz zu leugnen. Auch wenn er den Begriff Innere Emigration nicht expressis verbis gebraucht ‒ seinen Verhaltenswechsel in der Diktatur aussparend, weist er schon seiner Haltung von 1933 beide Merkmale zu, die mit dem Terminus im Nachkriegsdiskurs verbunden und untereinander nicht recht kompatibel sind: Politikferne und (zumindest innere) Opposition.

Apolitisch aber war die vom Rundfunkredner 1933 betriebene Ästhetisierung des Politischen nicht. Sie war faschistischer Gleichschaltungspolitik dienstbar, das ignorieren literaturwissenschaftliche Reden von einer „Entpolitisierung des Nationalsozialismus“[3] bis heute. Sich ex post einer Opposition schon im frühen NS zuzurechnen, grenzt an unfreiwillige Komik, wenn man im März ’33 den Akademiekollegen jeden Protest gegen die Regierung Hitler schriftlich hat verbieten wollen. Und so honorig Benns spätere Distanzierungen vom NS sind, sie hatten, weil nicht für die aktuelle Öffentlichkeit bestimmt, mit Untergrund so viel zu tun wie Sigmar Gabriel mit der Weltrevolution. Die Innere Emigration um eineinhalb Jahre rückzuverlegen und zu überhöhen, fällt unzweideutig unter Selbstverklärung ‒ mag der diplomatische Dienst der Benn-Philologie da auch eines der „moralisch-normative[n] Urteile“ wittern, die seriöse Forschung zu „suspendieren“ hat.[4] Artiger ist es natürlich, die Rückverlegung unter den Tisch fallen zu lassen[5] und den Unterschied zwischen privatem und öffentlich erkennbarem Protest durch die Wendung „unverhohlene Gegnerschaft“ abzudunkeln.[6]

Begnügte man sich allerdings mit dem Befund Benn‘scher Faktenentstellungen, würde man nur sein Sündenregister von 1933, das von den 68ern erstellte, um spätere Einträge erweitern. Und ist es so überraschend, dass ein Autor, der eine unrettbare Schaffensperiode zu retten sucht, sich nur neue Blößen gibt? Ein Haken auf Entlarvung zielender Lektüren ist auch, dass gar nicht ausgemacht ist, ob Benn das bad guy-Image noch schadet. Manch einer findet schon die Kombination Moderne-Temporärfaschismus hip; erst vor kurzem adelte Benjamin von Stuckrad-Barre Benn zu einem der „Nazis, die okay waren“ ‒ 1a verrucht, wie Hamsun. Vom Schielen auf Entzauberungsgewinne ist also abzuraten, sie fallen gering aus. Erinnernswert ist die Märchenstunde im Radio vielmehr, weil sie die Leistung von Benns Gegenspieler und das Repräsentanzproblem der Inneren Emigration dimensioniert.

Quertreiber de Mendelssohn

Decker gebührt das Verdienst, als erster und bis heute einziger Benn-Biograph de Mendelssohn ausführlich zu Wort kommen zu lassen (ausführlicher auch, relativ, als mein auf Benns Selbstdarstellung zentrierter Text). Überdies bringt „Genie und Barbar“ auf den Punkt, wie sich ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier gegenüber dem Remigranten aufführte: „wie der letzte Blockwart des Dritten Reiches“. Aber eine allzu „moralische Argumentation“ des Debattanten und dann auch des Essayisten de Mendelssohn kolportieren?

Mir scheint, im Studio verficht der Rückkehrer nur das zivilisatorische Minimum, wenn er das „Dilemma der Geschichte“ als Unabänderlichkeitsgerede kenntlich macht, einfach indem er bezweifelt, „ob es sich um ein wirklich ewiges Gesetz handelt, beziehungsweise ob dieses Gesetz nicht durch Menschenvernunft und Menscheneinsicht abgewandelt werden muss“. Beanstanden könnte man allenfalls zu wenig Moralisieren. Doch de Mendelssohns Verzicht aufs Dekuvrieren der Gegenseite war wohl die Voraussetzung dafür, das Emigrantenschicksal überhaupt schildern zu können. Hätte er Benns Schwachstellen auch nur angetippt, wäre die Diskussion eskaliert, so steht zu vermuten.

Wer dem Essayisten seinen entrüsteten Tonfall ankreidet, übergeht, a) wie faktenfern Benn vorher am Image des unbelasteten Autors gestrickt hat, b) dass de Mendelssohn die Beschönigungen seit dem 25. März 1950 massenmedial popularisiert weiß. „Die Sendung hatte einen Erfolg, wie man es im Zeitalter der Telekratie einer Rundfunksendung nicht mehr zutraut.“ (Koch) Auch fällt die zeitgenössische „Doppelleben“-Rezeption fast ausnahmslos positiv aus. Wenn sie Benns Verhalten von 1933/34 überhaupt anspricht, spielt sie es zum „grandiose(n) Irrtum“ herunter; Wörter wie „Macht“ und „Interesse“ kennt sie nicht. Spätestens mit dem Erhalt des Büchner-Preises von 1952 gleicht der Dichter einem Goethe der Mitläufer. Kurz, eine Kritik war überfällig ‒ aus der Teilnehmerperspektive de Mendelssohns, subjektiver Dringlichkeit. Aber nicht auch aus heutiger Sicht? So überdrüssig viele der Diskussion um frisierte Nachkriegsbiographien sind, vergessen wir nicht: de Mendelssohns Kommentar war damals der einzige, der Benns Problemzone ernsthaft verhandelte, ein Solitär im Entlastungsdiskurs.

„Der Geist in der Despotie“ trifft neuralgische Punkte, über die sich selbst noch das aktuelle Benn-Handbuch (bei allen sonstigen, großen Verdiensten)[7] ausschweigt. „Niemand zwang ihn, Dinge zu schreiben, die er nicht schreiben wollte.“ Heißt: Zu den Berufsschriftstellern, auf die man 1933/34 finanziellen Druck ausüben konnte, zählte Benn nicht. Als Dichterarzt wäre er in der Lage gewesen, den literarischen Laden sofort dicht zu machen und nur von seiner Praxis zu leben. Und wie könnte sich eine jüdische Stimme nicht daran stoßen, dass der Artist versuchte, den Nazis den Expressionismus als rein „arische“ Bewegung anzudienen, die jüdischen Beteiligten, darunter einige seiner Freunde, totschweigend? „Seine öffentliche Liebe zu“ Else Lasker-Schüler „entdeckte Benn erst zwanzig Jahre später wieder“, bemerkt der Beobachter einer On-Off-On-Beziehung in angemessenem Sarkasmus. Dem wir so viel entnehmen können: Die Hymne von 1952 auf Deutschlands größte Lyrikerin verdankte sich auch dem ,Wiedergutmachungs‘-Bedarf.

Im Übrigen hält de Mendelssohn bereits fest, was der eingangs genannte, kritischere Zweig der Benn-Forschung erst Jahrzehnte später beim Namen nennen wird: dass die Nazi-Diktatur für ihren edelsten Lobredner „keine Verwendung hatte und nicht auf ihn angewiesen war“. Ja, es gab es noch einen weiteren Grund für seinen Rückzug: den Schock über die Liquidierung der SA-Spitze und anderer politischer Gegner im Juni 1934 („Röhm-Putsch“) ‒ wie Wolfgang Emmerich herausstellt und was de Mendelssohn entgeht. Doch eskamotieren Teile der Forschung nach wie vor das Faktum, dass Benns Enttäuschung über abweisende Nazis, die seit den Invektiven Börries von Münchhausens erkennbare Aussichtslosigkeit seines Kooperationsangebots, den Kurswechsel mitmotivierte. Solange suggeriert wird, sein Umdenken habe sich am reinen Himmel humaner Selbstbesinnung vollzogen,[8] so lange will einem die Intervention von 1953 vorkommen wie ein segensreiches Gegengewicht zur Apologetik.

Schluss: Ein typischer Innerer Emigrant?

„Jeder, der hier geblieben ist in Opposition zu dem Regime, war auch Untergrundbewegung. Er mußte auch ausstehen“: Das sind Benns Schlüsselsätze zuvorderst, weil sie die einheimischen Rezipienten, zum Beispiel die im literarischen Feld, zum Schulterschluss einladen. Übernimmt dieser Autor aber eine Repräsentantenrolle, verdeckt er die Binnendifferenzen der Literatur in Nazi-Deutschland. Etwa den Unterschied zwischen seiner eigenen, wechselhaften Produktionsgeschichte zu der von Werner Bergengruen oder Ernst Wiechert, die sich dem Regime entweder von Anfang an verweigerten oder ihm offen opponierten, sich deshalb mit größerem Recht einer „Inneren Emigration“ zurechnen lassen.

Die 1945 von Frank Thiess so getaufte Autorengruppe trug, wie oft moniert, einen anfechtbaren Namen, der den Unterschied zwischen buchstäblicher und metaphorischer Flucht marginalisierte. Setzt man aber einmal voraus, dass die Bezeichnung akzeptabel ist bei jener Minderheit von Schriftstellern, die sich im NS tatsächlich zurückzogen oder sonstige Distanzierungssignale zeigten, sticht ein anderes Problem ins Auge. Sie wurden nach 1945 schlecht vertreten: vom temporären Mitläufer Benn und zuvor schon vom Begriffsschöpfer Thiess, dessen Innere Emigration im Verfassen hochdotierter Drehbücher für die UFA und des Wehrmachts-Schmökers „Tsushima“ bestand, nebst frühen Loyalitätsadressen an Adolf Hitler.

Betätigen belastete Literaten sich als Repräsentanten und sprechen sich später ihre Glaubwürdigkeitslücken herum, geraten auch die vermeintlich Repräsentierten in Verruf. Die um 1968 einsetzende Kontaminierung des Begriffs Innere Emigration, nicht ganz gerecht, da zu Lasten von Autoren wie Bergengruen gehend, machte eine Forschung erforderlich, die die abstufungsreiche Skala zwischen Kalligraphie und Verstummen, uneindeutiger/kritischer Anspielung und offenem Widerstand erfasste. Differenzierungen, wie sie Ralf Schnell und Reinhold Grimm vorexerziert haben, scheinen mir auch für die Phase nach dem 8. Mai 1945 angezeigt, denn in ihr verteilen sich die Selbstdarstellungen bezeichnend chiastisch. Regimefernere Autoren wie Bergengruen und Wiechert nehmen keine Heldenrolle für sich in Anspruch, während angreifbare wie Benn und Thiess sich hoch- und die Geflohenen herunterschreiben bzw. -reden. Benns spitzer Ton im Studio gegenüber dem und den Emigranten verlängert, wenn auch dezenter und subtiler, Thiess’ notorisches Giften vom August 1945 („Logen und Parterreplätze des Auslands“).

Überhaupt ist es kurios zu behaupten, „Benns Stellungnahmen zur sogenannten ,Großen Kontroverse‘ des Jahres 1946 zwischen den in Deutschland verbliebenen Autoren und den Exilanten“ ließen „eine größere Nähe zu Letzteren erkennen“.[9] Nun, die ,Nähe‘ ist so groß, dass Benn schon die Idee Walter von Molos, Thomas Mann nach Deutschland einzuladen und damit zu ehren, „gänzlich subaltern“ findet. Realiter befindet sich unser Autor im Kampfmodus, sieht er sich in Legitimationskonkurrenz mit den Geflüchteten. Und die wird nur von jenen offensiv gesucht, deren eigene oppositionelle Rolle zwischen 1933 und 45 zweifelhaft ist. Das Kompensieren verbindet Benn mit dem in etwa gleich alten Thiess (Jg. 1886/90), bei dem nach dem Krieg ebenfalls Selbst- und Fremdverklärung Hand in Hand gehen: Allüberall in Deutschland sieht er „Feinde des Nationalsozialismus“, „gleich mir“.

Doch auch für eine Achse von Alt und Jung sind Benns Schlüsselsätze Symptom. Was sie im Kern auszeichnet: ein diffuser Oppositionsbegriff, das Verwischen der Grenzen zwischen Ausstehen, heimlichem Protest und Widerstand; diese Semantik der Unschärfe begegnet einem schon in „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ (1947/48), dort elaboriert. Der Essay des 34-jährigen Alfred Andersch, nach eigenem Bekunden eine „sorgfältige Betrachtung des wahren Verhaltens des deutschen Geistes in den Jahren der Diktatur“, kennt keinen Fall Benn. Stattdessen versucht der Programmatiker der Gruppe 47 mit Hilfe eines vagen Gegnerschaftsbegriffs gleich die Mehrheit der Autoren im Nationalsozialismus zu Inneren Emigranten zu erheben und sie in die Nähe des Widerstands zu schreiben. Nicht ohne Eifer heißt es, sie hätten „in einem jahrelangen aufreibenden Kleinkrieg mit der offiziellen Propaganda zur inneren Aushöhlung des System beigetragen“. Goebbels am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Auch Anderschs Mythenbildung verdankt sich der Befangenheit. Der vermeintliche Newcomer verschweigt, dass er selbst unter diktatorischen Bedingungen zu publizieren bereit war und sich in Produktion wie Sozialverhalten 1942/43 wenig widerständig zeigte.[10] Zwar sind die Sprechsituationen unterschiedlich: Andersch kompensiert eine konformistische Phase, die der Öffentlichkeit bis 1990 unbekannt bleiben wird (und im Vergleich minder schwer wiegt), während Benn die seine dem ein oder anderen bekannt weiß. Doch ergänzen sich die Stellungnahmen von Alt und Jung diskursiv. Beide wirken an einer Aussagenformation mit, die den zeitgenössischen Lesern und Hörern zu einem erfreulichen Selbstbild verhilft: Nationalsozialismus? Wir waren immer schon dagegen.

Genau deshalb bleibt die Zeit um 1945 ein Gravitationszentrum historischer Erinnerung. Das Problem für die Nachwelt ist nicht so sehr, dass die meisten Autoren im NS keine Helden waren. Die wären wir auch nicht gewesen, ich wette. Sondern dass zu viele nachträglich von Opposition und Widerstand phantasierten.

Vielleicht ist es an der Zeit, die frühen Beiträge zum deutschen „Distanzierungsdiskurs“ (Harald Welzer) von der kryptokomischen Seite zu sehen. Erzählt Benn von Untergrundbewegung, ähnelt er ein wenig Schlemmer, dem Angestellten in Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ (1961), der zum Untergrund im Dritten Reich die U-Bahn-Schaffner zählt. Zu unterhalten weiß auch Andersch, wenn er Benns spätem Brieffreund, Ernst Jünger, hartnäckig eine Heldenrolle im NS anträgt, 25 Jahre lang, bis es dem Idol 1973, in einer Antwort auf eine Festrede Anderschs, reicht: „Im Widerstand bin ich nicht gewesen.“ Womöglich kritisierte ich Benns Radiovorstellung auch nur deshalb, weil sie einen verurteilt, Hauptmann Jüngers Auftritt im Vergleich auszuzeichnen. Ja, sein Verzicht aufs Widerstandsetikett war ehrenwert, so eindrucksvoll wie ein Verzicht Erwin Rommels auf den Friedensnobelpreis.

Anmerkungen

[1] Eine Datierung unter Vorbehalt. Vom 25. März spricht ein Tagebucheintrag Benns, wozu auch ein Brief an Oelze vom 23. März passt, der die Radiounterhaltung für einen Sonnabend ankündigt. Thilo Koch erinnert sich erst 1986 an einen 22. März ‒ der aber fiel auf einen Mittwoch. Nachlesbar ist die Debatte in: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster und Holger Hof, Bd. VII/1, Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 240-259. Zur Datierungsfrage vgl. ebd., S. 644 sowie Thilo Koch: Gottfried Benn und der Rundfunk. In: Kurt Kreiler et al. (Hg.): Gottfried Benn: Das Hörwerk 1928-56. MP3-CD und Begleitbuch. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2004, S. 56.

[2] Torsten Hoffmann: Der Autor im Boxring. Zu den kämpferischen Techniken des Schriftstellergesprächs im Radio um 1930 (Ernst Toller, Johannes R. Becher, Gottfried Benn). In: Torsten Hoffmann, Gerhard Kaiser (Hg.): Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 177-207.

[3] Dirk Kretzschmar: Gottfried Benn: Essays, Lyrik, Briefe (1933-1945). In: Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Berlin, Boston: De Gruyter 2013, S. 236.

[4] Ebd., S. 240.

[5] Indem man einfach schreibt: „Diese Haltung des ,Dageblieben-und-dennoch-Dagegenseins‘ brachte Benn sowohl während der NS-Herrschaft auch nach 1945 in Anschlag gegen die Auslandsemigranten.“ Vgl. ebd., S. 234.

[6] Ebd., S. 235.

[7] Vgl. die Rezension von Markus Joch: Ich-Engrenzung. In: der Freitag, 08.02.2017. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-entgrenzung

[8] Vgl. Kretzschmar (Anm. 3), S. 234, 237.

[9] Ebd., S. 240,

[10] Vgl. zum Zusammenhang zwischen Essay und Vorgeschichte näher: Markus Joch: Erzählen als Kompensieren. Andersch revisited und ein Seitenblick auf die Sebald-Effekte. In: Jörg Döring, Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch ,revisited‘. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin, Boston: De Gruyter 2011, S. 253-296.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, den Markus Joch am 16. November 2016 an der Philipps-Universität Marburg gehalten hat.

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!  (II, 384[1])

Eindrucksvoll mahnend beendet diese wohl berühmteste Strophe Günter Eichs sein Hörspiel Träume. Ihr Inhalt und ihre poetische Wucht erklären, warum Eich „mit seinen moralisch-lakonischen Gedichten […] nach dem Krieg zu einer unüberhörbaren gesellschaftlichen Instanz“ (Kurt Oesterle) werden konnte. 1967 konstatierte Erich Fried: „Es ist kein Zufall, daß heute in Deutschland junge Studenten, die gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Bomben in Hanoi protestieren, in Günter Eichs Versen, die sie zitieren, die Aussprüche eines Verbündeten sehen.“ Insbesondere die Verszeile „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“, die der Autor während des Ostermarsches im Protestjahr 1968 vor den demonstrierenden Studenten selbst rezitierte, war eine „bekannte Parole der Studentenbewegung“ (Florian Vaßen).

Umso größer war der Schock, als Axel Vieregg, Mitherausgeber der bis heute maßgeblichen Eich-Werkausgabe, 1993 öffentlich machte, was bis dahin nur in der in Deutschland kaum rezipierten amerikanischen Dissertation von Glenn R. Cuomo plausibel belegt worden war: Günter Eich war vor 1945 als erfolgreichster und berühmtester Hörspielautor des „Dritten Reichs“ ein Kollaborateur und Profiteur des NS-Regimes (ohne deshalb gleich für dessen schlimmste Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden zu können). Vieregg versuchte, diese Enthüllung in Einklang zu bringen mit dem bis dahin öffentlich herrschenden Bild von Eich. Dieses sei nämlich, so Vieregg, trotz allem berechtigt. Eich habe seine spätere Größe erst und gerade durch die Einsicht in seine Verfehlungen und Verwicklungen gewonnen, habe also einen dunklen biografischen Hintergrund nötig gehabt, um sich von diesem hinweg ins moralisch wie literarisch Bessere fortentwickeln zu können. Letztlich entwirft Vieregg damit eine kontrastreich dramatisierte Bekehrungsgeschichte, die den jungen Saulus-Eich moralisch möglichst tief fallen lassen muss, um den späteren Paulus-Eich umso glänzender hervortreten lassen zu können.

Eich vor 1945

Tatsächlich schrieb Eich 1936 in einem Brief über seine Arbeit als Hörspielautor: „das Verbogene in diesem Lebenszustand hält mich ewig in schlechtem Gewissen, jegliche undichterische Betätigung nehme ich mehr oder weniger nicht ernst.“ Dieses Unbehagen deutet Vieregg als ersten Vorboten von Eichs späterer Einsicht, übersieht dabei aber den Grund des „schlechten Gewissens“: Dieses bezieht sich nämlich rein ästhetisch-artistisch auf die „undichterische Betätigung“, als die Eich seine Hörspielproduktion begreift. Sie erscheint ihm deshalb als Raub an seiner künstlerischen Berufung. Genau besehen setzt Eich in dieser Klage nur fort, was er bereits vor 1933 öffentlich erklärt hatte (IV, 458-461): Der Dichter habe sich allen politischen, ja „nur“ aktuellen Fragen gegenüber abstinent zu verhalten, um sein Werk nicht zu verunreinigen durch nicht Hineingehöriges, Undichterisches, der außerpoetischen Welt des Gewöhnlichen Verfallenes. Diese Absage erteilte er vor 1933 linken Erwartungen, während er ab 1933 sehr wohl bereit dazu war, sich sein Geld auf der nun zur Herrschaft gelangten entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums zu verdienen, freilich auch hier noch mit dem schlechten Gewissen behaftet, dadurch letztlich seinen „eigentlichen“ dichterischen Auftrag zu missachten.

Eichs Hörspiele der NS-Zeit mischen eine antikapitalistische und antiwestliche Haltung mit einer Blut-und-Boden-nahen Agrarromantik (so treten zum Beispiel germanische Sonnwendfeiern an die Stelle des christlichen Weihnachtsfestes). In den Monatsbildern vom Königswusterhäuser Landboten (1933-1940) konnte dies in eine Romantik des deutschen Landlebens (II, 97) eingekleidet werden, die Eich – bis zur Beschwörung der ‚arischen‘ Götterwelt (II, 87f.) – NS-kompatibel zurichtete. Seine nur scheinbar apolitische Haltung und der fortschrittsfeindliche Rückzug in die „deutsche“ Provinz war Grundlage von Eichs doppelter Verwertbarkeit durch Joseph Goebbels ebenso wie durch den Geschäftsmann Eich, der den Dichter Eich so erfolgreich managte und verkaufte. In seinen Hörspielen kommt Eichs ästhetische Politikverweigerung auf ihren politischen und ökonomischen Boden und muss diesem konzedieren, was der Dichter Eich eigentlich keiner Politik hatte konzedieren wollen: ästhetische Hörigkeit.

Eichs frühe Hörspielproduktion findet ihren Höhepunkt im antikapitalistischen Hörspiel Radium (II, 157-194) von 1937, das 1951 (wenn auch überarbeitet) wiederverwertet wurde. Es thematisiert die Radium-Industrie, die kurz nach Entdeckung der Radioaktivität im Radium ein Allheilmittel gegen den Krebs gefunden zu haben glaubte, nach deren kurzen Scheinheilung durch massive Strahlenbehandlung aber nur den umso schnelleren Tod der Krebspatienten herbeiführte, sodass die rasch aufgeblühte Industrie ebenso rasch wieder einging. Dieser historische Hintergrund wird genutzt zur Darstellung als ausschließlich menschenverachtend pervers erscheinender kapitalistischer Wirtschaftsweisen in den westlichen Demokratien und handlungstechnisch um die persönlichen Konflikte der Hauptfigur, eines an die Radium-Werbung sich verkaufenden Dichters namens Chabanais (argot: „Bordell“) herumkonstruiert. Das fortschrittsgläubige System korrumpiert und prostituiert den zum „Reklamenmann“ (II, 183) gewordenen Dichter, der dadurch wieder zum Dichter wird, dass er, ehe er sich in den Urwald absetzt, die Zerstörungen durch das kapitalistische System in einem apokalyptischen Ton thematisiert, der bereits auf den späteren Eich vorausweist:

Schlecht verwalten wir, was die Erde uns gab,
und geringe ist, denke ich, die Frist vor dem Untergang,
Schon gewahre ich den gleichen apokalyptischen Glanz in vielen Gesichtern,
und werde des himmlischen Zornes inne aus mancherlei Zeichen. (II, 184)

Vieregg will in der Gestalt Chabanais’ eine verdeckte Selbstkritik Eichs erkennen können. Es ist zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, dass Eich mit dieser Gestalt sein eigenes Mittun reflektiert, kann aber nicht überdecken, dass auf der nach außen hin wirksamen Textoberfläche alles Negative einseitig auf die liberalen, kapitalistischen Demokratien des Westens projiziert wird. Auch hat Eich während der NS-Zeit nicht den in Chabanais’ Flucht in die Wälder angedeuteten Rückzug aus dem System angetreten. Um dem Fronteinsatz im Osten zu entgehen, hat er sich schließlich stattdessen mit der Niederschrift des englandfeindlichen Propagandastücks Rebellion in der Goldstadt[2] (nach einer Vorlage aus Hans Grimms Volk ohne Raum) aus eigener Initiative in die letzte, handlungstechnisch peinlich genau befolgte propagandistische Hörspielkampagne Goebbels’ eingebracht.

Eich in der Nachkriegszeit

Am 20. September 1945 klagte Eich in einem Brief über „die Landsleute Chopins, die hier ein Lager bekommen sollen. Prost Mahlzeit.“ Ehemalige polnische Lagerinsassen, die nach dem Krieg als „displaced persons“ in Deutschland geblieben waren, stießen bei ihm auf wenig Sympathie und Mitleid. Der Schriftsteller Eich interessierte sich auch nicht für das Los der Emigranten oder der während der NS-Zeit verfolgten Autoren, sondern für das von solchen literarischen Größen, die während der Besatzungszeit erst einmal wegen ihrer zumindest zeitweisen Nähe zur NS-Ideologie verfemt waren: In einem Aufsatz mit dem Titel Wo bleibt die deutsche Literatur? beklagte er 1948, „daß für so bedeutende Schriftsteller wie Gottfried Benn und Ernst Jünger Publikationsmöglichkeiten nur im Ausland bestehen.“ (IV, 478)

Hintergrund dieser Klage war, dass 1949 zum zweiten Mal Eichs Aufnahme in den PEN-Club abgelehnt worden war, er sich also mit Benn und Jünger in eine Reihe stellen und mit diesen gemeinsam als Opfer der neuen politischen Verhältnisse fühlen konnte. Von auf die NS-Zeit bezogener Schuldreflexion zeugt eine solche Haltung ebenso wenig wie jene Nachkriegspublikationen, mit denen Eich bald zum Star der neuen, der Trümmerliteratur wurde: Abgesehen vom unverändert beibehaltenen idealistischen Kern rasch berühmt gewordener Gedichte wie  Latrine und Inventur wurden in den Gedichtband Abgelegene Gehöfte (I, 19-68) Texte aufgenommen, die deutlich noch der NS-Zeit verpflichtet und oft auch noch in ihr entstanden waren, ohne dass es freilich einen der damaligen oder der späteren Leser verwundert hätte, dass in dieser angeblich mythen- und illusionslos „neuen“ Lyrik Thor und Wotan auftreten (I, 28f.), die „Troglodytenzeit“ (I, 51) beschworen wird oder pfadfinderähnliche Jugendspiele im Wald mythisch überhöht werden bis hin zur emphatischen Aufforderung „Seht die alten Opfer qualmen“ (I, 63). Der politische Systemwechsel wird dort nicht assoziiert mit Entnazifizierung oder Befreiung, sondern mit dem Verlust materieller wie geistiger „deutscher“ Güter: „Daheim verbrannten Kleider und Schuh,/ Nibelungen und Faust“ (I, 30). In nicht aufgenommenen Vorstufen, möglicherweise schon vor 1945 entstanden, war noch von „der Gefallenen Preis“ (I, 438) die Rede.

Erst die Ablehnung seiner PEN-Kandidatur scheint Eich überhaupt zur Beschäftigung mit auf die NS-Zeit bezogener politischer Schuld getrieben zu haben. Frühe, noch sehr diffuse Spuren davon finden sich in der Sammlung Untergrundbahn (I, 69-80) von 1949. Das lyrische Ich dort ist eingekettet in rätselhaft bedrohliche Zusammenhänge, für die insbesondere das Beispiel der Pest („Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben“ − I, 73) herangezogen wird: „Die Klapper des Aussätzigen hörst du immer./ Weil er nicht weggeht, mußt du gehen.“ (I, 75) – die Bedrohung kommt von außen, von „Aussätzigen“, gezeichneten Außenseitern, denen der Bedrohte sich, sobald er angesteckt worden ist, selbst zurechnen muss. Es gibt keine Schuldigen, keine Täter, sondern nur und ausschließlich Opfer, wobei zur Opferrolle schuldloses Schuldigwerden – wie der von der Pest Angesteckte eben ansteckend wird – ohne individuelle Verantwortung gehört: „Auch dein Herzschlag ward nicht verworfen./ Oh sei getrost, eben half er zum Untergang.“ (I, 74) Mit der Allgemeinheit solcher Formulierungen wird die historisch konkrete Schuldfrage unterwandert durch metaphysische Aussagen über den Zustand einer ausweglos verderblichen Welt, jede Möglichkeit einer persönlichen Moralität des Einzelnen wird zurückgewiesen.

Eichs eigentliche Auseinandersetzung mit der Schuldfrage nach 1945 geschah Vieregg zufolge in dem Hörspiel Die gekaufte Prüfung (II, 269-302) von 1950: „worum es Eich in diesem Stück gegangen war: um die verhüllte Beichte dessen, was er als Schuld empfand, nämlich seine Mitarbeit im Rundfunk der NS-Zeit, um die Zweifel, ob er ohne Scham noch einmal vor seine Leser/Hörer treten könne, und um die Bitte um Absolution.“ Dieser Interpretation gegenüber hört sich die in dem Stück tatsächlich verhandelte Schuldfrage merkwürdig harmlos an, geht es dort doch darum, dass ein Lehrer während der Schwarzmarktzeit vor der Währungsreform sich trotz innerer Skrupel bestechen lässt, einem ungeeigneten Schüler zum Abitur zu verhelfen. Explizites Hauptthema ist die moralische Seite des Geschehens, mit einem offenen Schluss ward das Urteil über den Lehrer den Hörern überlassen, der Sprecher bittet sogar explizit um kommentierende Zuschriften. Allein nach der Urausstrahlung im Bereich des Senders Hamburg meldeten sich 5.000 Hörer, die den Lehrer durch dessen moralisches Dilemma (schließlich muss auch er an seine Familie denken) exakt so entschuldigt sahen, wie es Eich mit seinem (doch nur scheinbar) offenen Ende bereits impliziert hatte: Die Situation des Lehrers ist durch die äußeren Umstände so beschaffen, dass er gar nicht anders kann, als irgendeiner Seite gegenüber schuldig zu werden – egal, wie er sich entscheidet. Nun ist diese Art der Schuld freilich eine wesentlich andere und harmlosere als die, die historisch eigentlich zur Debatte hätte stehen müssen.

Dies alles ist verknüpft mit einem zeittypischen Pakt des Beschweigens (Hermann Lübbe), der Eich mit seinen Hörern und Lesern verband: Eich war vor 1945 ja kein Unbekannter mehr, er war der beliebteste und meistgespielte Hörspielautor der NS-Zeit und seine Novelle Katharina (IV, 226-274) erreichte noch 1945 als Feldpostausgabe in 17. Auflage das 32. Tausend. Die Mehrheit von Eichs Hörern und Lesern dürfte sich 1950 daran noch gut erinnert haben und Eich wusste natürlich, dass sein Publikum von seinen früheren Erfolgen wusste. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass nicht nur Eich selbst zeitlebens über seine Tätigkeit während der NS-Zeit in einer Form schweigen sollte, die den Jüngeren erfolgreich vortäuschen konnte, er habe in dieser Zeit irgendwie als völlig Unbekannter überlebt und kaum bis überhaupt nicht publiziert, sondern dass auch vonseiten seiner wohlinformierten Hörer und Leser über einige undeutliche Andeutungen hinaus nichts an die Öffentlichkeit drang. Eich war so kaum ein Symbol für offensive Offenheit im Umgang mit der deutschen Vergangenheit, sondern weit eher eine allgemein bekannte Inkarnation erfolgreichen Verschweigens, ein zur Identifikation durch breite Hörer- und Leserschichten geeignetes Symbol moralischer Selbstentlastung durch Schuldablehnung. Dieser Pakt des Schweigens, das Wissen um das gemeinsame Geheimnis dürfte Autor und Publikum nur noch enger zusammengeschlossen haben und nicht unwesentlich gewesen sein für Eichs doch beachtliche Erfolge.

Eich in der Bundesrepublik

Vor diesem Hintergrund ist eines von Eichs komplexesten Hörspielen zu lesen, das häufig als eine der intensivsten Auseinandersetzungen mit der Schuldfrage in der deutschen Nachkriegsliteratur gedeutet wird. Es handelt sich um die mehrfach überarbeiteten Träume (1950 / 1953 / 1960; II, 349-390), die bereits vor ihrer Ursendung am 19.4.1951 im NWDR durch ausgedehnte PR-Arbeit als für die Zeitgenossen besonders wichtiges Werk durchgesetzt werden konnten: Der „Spiegel“ brachte eine vierspaltige Vorankündigung, zur Urausstrahlung wurde eine Diskussionsrunde angesetzt, die Presse betonte den Sensationswert des Stückes: „Unbedingt: Eichs Hörspiel ist das erregendste und bezüglichste des NWDR, seit man Borcherts Draußen vor der Tür aus der Taufe hob.“

Das Stück besteht aus fünf von Gedichten eingerahmten und dadurch voneinander getrennten Träumen, die von fünf unterschiedlichen Personen in verschiedenen Lebenssituationen geträumt werden. Vom Ende des Hörspiels stammen die eingangs zitierten wirkungsvollen Verse, denen das Stück seinen anhaltenden Ruhm mit verdankt. Zusammen mit dem Eingangsgedicht bilden sie eine aufrüttelnde Klammer, die nach 1945 von nicht am Pakt des Beschweigens Beteiligten kaum anders verstanden werden konnten denn als politisch gemeinte Aufforderung, aus den Lehren der NS-Zeit endlich Konsequenzen zu ziehen:

Ich beneide sie alle, die vergessen können,
die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben.
[…]
Alles, was geschieht, geht dich an. (II, 351)

Zwar ist hier nirgendwo explizit von Auschwitz oder den NS-Verbrechen die Rede, doch welch düsterer Hintergrund könnte von solchen Versen 1950/51 sonst gemeint sein, zumal gleich der erste Traum (II, 352-358) in deutlicher Anspielung erinnern zu wollen scheint, was gerade damals zu vergessen versucht wurde: Eine kleine Gruppe von Menschen unterschiedlicher Generationen befindet sich nach gewalttätiger Verschleppung aus ihrer Wohnung in einem fahrenden Zug und zwar, soviel geht aus ihren Worten hervor, wohl in einer Art bank- und fensterlosen Viehwaggons. Diesem Traum folgt ein Zwischengedicht, das unverkennbar an das Anfangsgedicht anschließt und nun endgültig das Thema Schuld und Verantwortung beim Namen zu nennen scheint:

Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist
und daß er sinnt auf Vernichtung.

[…]

Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen
jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.

Denke daran:
Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini,
aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen,
das sich fern von dir abspielt – (II, 358f.)

Merkwürdig ist nur, dass mit Korea und Bikini Orte genannt werden, die eher mit US-amerikanischen Kriegen und Verbrechen in Verbindung zu setzen sind als mit der damals jüngsten deutschen Vergangenheit. Außerdem werden diese Orte auch noch entkonkretisiert zu einer Art psychisch-moralischer Symbole, die im „Herzen“ des Hörers, also wohl in jedem Menschen gleichermaßen als dessen Mitschuld „an allem Entsetzlichen“ verankert seien, „das sich fern von dir abspielt“. Solche Schuld ist nicht mehr als individuelle zu behandeln, sondern als unausweichliches Gattungsschicksal: „Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist/ und daß er sinnt auf Vernichtung.“ Deshalb ist der einzelne, weil eingebunden in dieses Gattungsschicksal, mitschuldig „an allem Entsetzlichen“ und somit eigentlich nicht mehr wirklich festlegbar auf eine eventuell vorhandene individuelle Einzel- und Teilschuld, wird er durch die gemeinsame Schuld aller an allem doch bereits von jeder persönlichen Verantwortung entlastet.

Sehen wir uns den ersten Traum und seine Versumrahmung deshalb noch einmal etwas genauer an: Von den Rezipienten fast immer übersehen werden Träumer und Traumsituation. Geträumt wird dieser erste Traum nämlich in der Nacht vom 1. zum 2. August 1948 von „Schlossermeister Wilhelm Schulz aus Rügenwalde in Hinterpommern, jetzt Gütersloh in Westfalen“ (II, 351), die Rede ist also in diesem Traum nicht von deportierten Juden, sondern von nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen. Zur Zeit der Träume entstand auch ein von Eich selbst nicht veröffentlichtes, möglicherweise sogar direkt zum Entstehungsprozess der Träume gehörendes Gedicht, in dem Eich klarer als in den Träumen sagt, was genau es ist, was er nicht vergessen lassen will:

während wir alles vergessen haben
und Stalingrad zehn Jahre zurückliegt,
gibt es Gefangene.

Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo es uns wohlgeht.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir unzufrieden sind.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir lachen.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir weinen.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, den wir hinnehmen ohne nachzudenken.

Sie sind gefangen in jedem Augenblick −

Leicht ist es, offen zu sein dem Angenehmen der Welt.
Aber das Dunkle ist nicht weggewischt, indem wirs vergessen.
Die hinter Stacheldraht brauchen unsere Gedanken,
die Kraft aus unserer Ohnmacht –

Aber ich meine auch, wir selber brauchten den Gedanken an sie,
damit nicht Zäune wachsen um uns.
Sind wir frei, solang sie gefangen sind? (I, 273f.)

Dieses Pathos gilt nicht den Opfern deutscher Politik, sondern den Deutschen, die unter den Folgen der von ihnen mitgetragenen NS-Politik leiden.

Geht man von der klassisch gewordenen Lesefassung der Träume zurück auf die ursprüngliche Hörspielfassung, liest sich der Text viel eindeutiger und ganz anders als in der späteren Rezeption: Einleitend unterhalten sich ein Sprecher und eine Sprecherin – die später berühmt gewordene Versumrahmung fehlt noch − über eine Missgeburt in Dortmund und stellen eine ursächliche Beziehung zu Hiroshima, Nagasaki und Bikini her. Der Text ist eine warnende Polemik gegen die Atombombe: „Sprecherin: […] Ächtet deshalb die Atombombe.“ (II, 385) Tatsächlich erklären sich auch die Traumszenen, die über weite Strecken nur als Warnungen vor einer durch Radioaktivität radikal ins Un- und Widermenschliche veränderten Welt Sinn machen, teils als Anti-Atomliteratur, teils als Propaganda gegen die Siegermächte: Was die im ersten Traum Deportierten beim Blick aus dem Zug wahrnehmen, ist zum Beispiel überhaupt keine menschliche Welt mehr, sondern eine postatomare. Insgesamt lesen sich die Träume als ein Text, der, historisch sehr früh, mit politisierend wirkender Polemik gegen die Gefahren von Atombombe und Radioaktivität agitiert, diese politisch-ökologische Sensibilität aber nur erreicht auf der Basis der Verdrängung deutscher Schuld und der Verlagerung aller Verantwortung auf die Siegermächte, die in den Träumen immer noch als das erscheinen, als was sie bereits 1937 im Propagandahörspiel Radium (welches ja bezeichnenderweise 1951 wiederveröffentlicht wurde) dargestellt worden waren: als rücksichtslos kapitalistische Technisierer und Rationalisierer, die den Untergang der Welt für kleine Gewinne in Kauf zu nehmen bereit sind.

Noch deutlicher wird die Tendenz zur Entschuldung in dem zum eigenständigen Hörspiel gewordenen Fortsetzungsstück Der sechste Traum von 1954 (III, 143-150): Ein türkischer Geschäftsreisender, der nach einem außerplanmäßigen Halt seines Zuges in einer ihm unbekannten Stadt zu übernachten gezwungen ist, geht von Lärm geweckt in eines der anderen Hotelzimmer, um sich dort wegen des aus diesem Zimmer kommenden Lärmes zu beschweren, wird dort aber bereits erwartet, zu Champagner eingeladen und darum gebeten, dem Kellner zu klingeln. Da der sich nicht meldet, muss er öfters klingeln, bis er erfährt, dass er mit der Betätigung des Klingelmechanismus gar nicht dem Kellner geklingelt, sondern ein Fallbeil betätigt und Hinrichtungen vorgenommen hat. Er erhält dafür wider Willen Geld und wird als „Herr Scharfrichter“ mit dem Hinweis verabschiedet, am nächsten Tag die Henkersstelle antreten zu müssen. Der „Herr Scharfrichter“ erweist sich als widerwillig und unschuldig Schuldiger, seine Schuld ist gar nicht die seine, sondern macht ihn selbst zum Opfer, sodass genau betrachtet der Henker als Opfer denen zugerechnet werden muss, die er unbeabsichtigt getötet hat. Die werden noch dazu gar nicht gezeigt, sondern aus der Darstellung im wahrsten Sinne des Wortes „verdrängt“, sodass als vordergründige Haupt- und Identifikationsfigur nur der „Herr Scharfrichter“ zum Objekt des Mitleids werden kann.

Zwischen Träume und Der sechste Traum verfasste Eich eine Reihe von Hörspielen, in denen er sich deutlicher als in diesen beiden mit dem Genozid beschäftigte. Insbesondere zu nennen ist hier Die Mädchen aus Viterbo von 1952 (II, 737-771): 1943 versteckt sich eine jüdische Familie mit Großvater und Enkelin „in unserem selbstgewählten [!?] Gefängnis“ (II, 739), der Berliner Wohnung von Frau Winter, einer ‚arischen‘ Bekannten. Der Großvater beginnt in diesem Zustand existentieller Bedrohung – man erwartet voller Furcht die Schritte von SS-Männern – seine Enkelin mit der Geschichte einer Schülerinnengruppe aus dem italienischen Viterbo zu beschäftigen, die sich während einer Schulfahrt mit ihrem Lehrer in den römischen Katakomben verirrt. Die Hörspieltechnik ermöglicht es, das Eingesperrtsein beider Gruppen akustisch und semantisch ineinander überzuführen, warten doch beide Gruppen auf sich nähernde Schritte. Was für die eine jedoch tödlich wäre, bedeutet für die andere die Rettung. Dieses Handlungsgefüge erlaubt Eich außerdem, zwei unterschiedliche Themenbereiche gleichzeitig zu behandeln: Situationsunabhängige, allgemein menschliche Todeserwartung einerseits und andererseits das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, wobei die Handlungsführung den Leser nicht mit den SS-Leuten selbst konfrontiert (die Handlung bricht mit ihrem Eindringen in die Wohnung ab, sie bleiben dadurch ein schemenhaft böses Geräusch ohne menschlich konkrete Stimme), sondern nur mit Frau Winter, die den Juden aus Gründen hilft, die moralisch mitmenschliches Handeln als bloßen Egoismus entlarven sollen.

Eigentliches Thema ist der Tod: Der Großvater lässt seine Enkelin die von ihm begonnene Viterbo-Erzählung zum bitteren Ende, zur langsam erwachenden Todesgewissheit der verirrten Schülerinnen fertigerzählen, um sie so an eine ähnliche Erwartung für sich selbst heranzuführen, die sie dann gleichwohl wiederum in metaphysische Gewissheit hinüberretten soll: „Sieh zu, daß ER dich findet, bevor sie dich finden.“ (II, 769) Das Ziel des vom Großvater geleiteten Fingierens wird so zum Einverständnis mit Gottes Wollen selbst noch im eigenen Untergang. In der Viterbo-Erzählung lässt die Enkelin dann eines der Mädchen sagen: „Ja, Gott, ja, ja, ja!“ (II, 771) Nach dieser Einwilligung nahen schon die Schritte der Nazischergen. Der Genozid erscheint als eine schicksalhaft verhängte Prüfung Gottes, die Frage nach Schuld oder Vermeidbarkeit der NS-Verbrechen wird durch ihre jenseitige Verankerung unterlaufen. Außerdem wird durch die Parallelschaltung zwischen italienischer Schülerinnengruppe und jüdischen Verfolgten das existentielle Todesschicksal zum Allgemeinmenschlichen und der Genozid ein nur zufälliges Anwendungsbeispiel unter vielen anderen, substantiell und systematisch gleichgesetzt mit dem unglücklichen Tod in den Katakomben Verirrter – ein tragischer Unfall einer kleinen Gruppe wird austauschbar mit dem millionenfachen industrialisierten Mord.

Etwa zur gleichen Zeit muss die zu Eichs Lebzeiten nicht veröffentlichte Hörspielszene Gespräch der Schweine (III, 7-12) entstanden sein: Schweine vor einem vollem Trog räsonieren darüber, wohin sie, nachdem sie „abgeholt“ wurden, entschwinden werden, und was das aus dem unbekannten Nebenraum hörbare heftige Grunzen ihrer bereits „abgeholten“ Mitschweine bedeuten mag. Die Abschiedsworte des Schweines Alpha, das schließlich selbst „abgeholt“ wird, lauten so: „Denkt daran, wenn ihr mich schreien hört, daß es das große Entzücken ist, das mir die Kehle frei macht von aller Angst.“ (III, 11) Sein kurz darauf folgender Schrei wird in der Regieanweisung charakterisiert als einer, „der von jedem Wesen der Welt kommen könnte.“ (III, 12) Das Thema der Deportation, des Abgeholtwerdens unschuldiger Opfer beschäftigt Eich also weiter, aber auch hier wird es enthistorisiert und entkonkretisiert zur existentiellen Metapher für die Sterblichkeit aller Kreaturen und bildhaft durchgeführt am Beispiel ausgerechnet von Schweinen im Schlachthof.

Damit freilich hat Eich eines seiner zentralen Thema gefunden: Die Allgegenwärtigkeit von Leid und Tod, das Eingebundensein aller Menschen, ja aller Kreatur in erbsündhaft verhängte Schuldzusammenhänge, die den Einzelnen zum unschuldig Schuldigen werden lassen. Eine systematischere Entlastung von der Schuldfrage ist kaum vorstellbar. Diese Entlastung freilich macht die direkte Thematisierung der NS-Verbrechen als gleichberechtigter Anwendungsbeispiele für das allgegenwärtige Übel in der Welt überhaupt erst möglich:

wer gedenkt noch derer,
die unter den Trümmern starben in Dresden?
Wer gedenkt der Vergasten von Auschwitz?
Und die unter der Erde Rußlands –
vergessen, vergessen. (I, 278)

Zwischen den Bombenopfern von Dresden, den „Vergasten von Auschwitz“ und den in Russland gefallenen deutschen Soldaten besteht kein substantieller Unterschied mehr, was das lyrische Ich davon befreit, sich nach seinen doch wohl unterschiedlichen Verbindungen zu und Verantwortungen gegenüber den genannten Opfergruppen genauer zu befragen. Die scheinbar gegen jede Verdrängung gerichtete Erinnerungspolemik ist so in Wahrheit der Höhepunkt einer systematischen Verleugnung, die systematische Ablehnung von Schuld, wie sie kaum deutlicher als im Titelgedicht der Sammlung Botschaften des Regens von 1955 ausgesprochen sein könnte:

Bestürzt vernehme ich
Die Botschaften der Verzweiflung,
die Botschaften der Armut
und die Botschaften des Vorwurfs.
Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind,
denn ich fühle mich ohne Schuld.

Ich spreche es laut aus,
daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen
und den nicht, der sie mir zuschickte,
daß ich zu guter Stunde
hinausgehen und ihm antworten will. (I, 86)

Dass Eich eigene Schuld – aber eben nur solche seinem künstlerischen Auftrag gegenüber – reflektieren kann, haben wir gesehen. „Schuld“ im Sinne von Verantwortung in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen lehnt er rigoros ab.

Eich über die Bundesrepublik

1950 bekennt Eich in einem Dankesbrief an Armin Mohler, dessen Konservative Revolution „mit höchstem Interesse“ gelesen zu haben. Eichs Überlegungen zur politischen Situation in Deutschland zeigen ihn bereits 1945/46 in deutlich rechtskonservativer Tradition auf der Suche nach einem kollektiv bindenden und deshalb zwangsläufig metaphysisch begründeten autoritär-hierarchischen Gesellschaftsmodell:

Die in der Renaissance und Reformation zuerst deutlich werdende Zerstörung des tragenden Urgrundes unserer Kultur hat Folgen gehabt, die sich ethischer Wertung entziehen: Entwicklung der Wissenschaft, der Technik und des Proletariats. […] Die katholische Kirche will das zerbröckelte alte wieder festigen, neues zu bauen versuchten der Nationalsozialismus und der Bolschewismus. Die evangelische Kirche und die liberale Demokratie sind sich wohl über die Lage nicht klar. Sie meinen auf das tragende Fundament verzichten zu können. Der Freiheitsbegriff, aus dem sie sich nähren, hat keine bindende Kraft, ist er doch seinem Wesen nach auflösend. (IV, 361)

Nun war es freilich gerade die liberale Demokratie, die sich in Westdeutschland (nicht ohne Hilfe der westlichen Siegermächte, insbesondere der von Eich nicht sonderlich geliebten USA) durchsetzen sollte. Eich verweigert sich lange jeder expliziten Stellungnahme dem neuen Staat gegenüber, meint ihn jedoch immer mit, wenn er vor den Folgen einer überrationalisierten und rein zweckorientierten Ökonomisierung und Technisierung warnt. So hält er seine Rede vor den Kriegsblinden 1953 (IV, 609-612) „dem Hohn jener Kommissare und Manager zum Trotz, die emsig bemüht sind, die Erde endgültig in ein Konzentrationslager zu ordnen“ (IV, 610f.), setzt also auch hier die NS-Verbrechen, sie dadurch mindestens relativierend, mit den Folgelasten der – in Eichs Verständnis westlichen − Modernisierung gleich.

Im Kampf gegen diese neue Zeit kann derselbe Günter Eich, der sich „zu Beginn der fünfziger Jahre durch regelmäßige monatliche Zahlungen verpflichtet hatte, jährlich vier Hörspieltexte für den Süddeutschen Rundfunk zu schreiben“ (Knut Hickethier), sich also – aus seiner eigenen Sichtweise gesehen − nun ebenso verkaufte wie zuvor schon an das „Dritte Reich“, es 1953 als sein geradezu politisch-agitatorisches Ziel benennen, „jene Kräfte zu stärken, die einmal das große KZ und den großen Friedhof Welt unmöglich machen werden.“ (IV, 612) Das „große KZ“ meint hier die neue Zeit, der Eich abermals seine poetische Freiheit, den für ihn nach wie vor wichtigsten Wert, opfert.

Eigenes Unbehagen und eigene Verstrickung wurden als dessen „Schuld“ auf das „System“ projiziert. Dass Eichs gleichzeitig ästhetizistische und rechtskonservative Antihaltung mit einer „linken“ verwechselt werden konnte, ist zu erklären wohl nur mit dem Traditions- und Rezeptionsbruch, den der Nationalsozialismus und sein katastrophaler Untergang auch für alle rechten Traditionen in Deutschland (und damit auch für die Kenntnis über sie) mit sich brachte; dieser machte blind für die schon von Axel Vieregg benannten „heiklen Kontinuitäten, die es möglich machen, dass der antiwestliche, antimoderne und anti‚kapitalistische‘ Affekt eine das Links-Rechts-Schema bis zur Ununterscheidbarkeit übergreifende Konstante in den Diskussionen um einen deutschen Sonderweg bildet. Dies erlaubt es zahlreichen ehemaligen Rechtskonservativen, sich nach dem Krieg unter den Linken wiederzufinden.“

Vor diesem Hintergrund fällt es Eich leicht, eine in allgemeinen Formulierungen gehaltene Widerstandshaltung zu entwickeln, die bei der erst langsam wachsenden „linken“ Opposition in Deutschland den Eindruck erwecken konnte, er habe für die nachfolgenden Generationen bereits vorformuliert, was diese als Ausdruck ihres eigenen Wollens anfangs nur mehr empfinden als bereits selbst ausdrücken konnten. So wurde Eich zu einem der geistigen „Väter“ der deutschen Protestbewegung („Ich habe meine Hoffnung/ auf Deserteure gesetzt“, I, 149). Der ehemalige NS-Profiteur entwirft nach dem Ende der Faschismen die Vision einer panfaschistischen Welt, vor der er Rettung durch seine Dichtung verspricht.

In der Folge inszenierte Eich sich als Fundamentaloppositioneller. Die Notstandsgesetze nutzte er in den sonst so sinnverweigernden Maulwürfen zur Charakterisierung der Bundesrepublik als potenziell totalitär-faschistoiden Staat (I, 331), das Gesellschaftssystem mit seinen Härten im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf setzte er 1968 kurzerhand mit dem nationalsozialistischen Unterdrückungsregime gleich (I, 334). In den Entwürfen zu den Maulwürfen stellte er „Allgemeine Wehrpflicht, Notstandsgesetze, Todesstrafe“ (I, 406) in eine Reihe. Kein Wunder, dass seine eigentlich von rechts kommende Kritik den sich als „links“ empfindenden bewegten Studenten von 1968 so gefallen konnte. Außerdem war ja auch deren Bewegung von unbewältigten Traditionen der NS-Zeit und der „Konservativen Revolution“ durchdrungen, sodass Eichs Teilnahme am Ostermarsch 1968 von ihm in erster Linie als Teilnahme an einer antibundesrepublikanischen und antidemokratischen Veranstaltung betrachtet worden sein kann, trat doch bei antiautoritären Meetings ähnlichen Stils auch Otto Strasser als Redner auf, um unter Berufung auf seine Erfahrungen aus den Gründungsjahren der NSDAP Anweisungen für Straßenkämpfe zu geben.[3] Den Ostermarsch 1968 selbst nannte „Konkret“ im Titel der Juni-Ausgabe 1968 mit merkwürdiger historischer Assoziationslust „Sturm auf Bonn“. An den politisch tatsächlich linken sozial-, wirtschafts- und gesellschaftsreformerischen Tendenzen von 1968 war Eich, zumindest dann, wenn sie ihn selbst betrafen, jedenfalls nicht interessiert: Im Lektorenstreit im Suhrkamp Verlag stand Eich ganz auf der Seite des Verlegers.

Eichs Fundamentalopposition wandte sich gegen Demokratie, Liberalismus und Moderne und verschmolz diese mit seiner in der Schuldfrage entwickelten Konzeption einer von Grund auf schlechten Welt, sodass sein „Widerstand“ weit über alles nur Politische hinausreichte:

Ich weiß nicht genau, ob ich eine Funktion habe in der Literatur, aber ich habe eine gewisse Absicht, und zwar die Absicht des Anarchischen, denn mit allem, was ich schreibe, wende ich mich im Grunde gegen das Einverständnis mit der Welt, nicht nur mit dem Gesellschaftlichen, sondern auch mit den Dingen der Schöpfung, die ich also ablehne. Ich bin in diesem Sinne auch gegen das Nichtänderbare. (IV, 510)

Soweit es zumindest nicht die Eigentumsverhältnisse der Autoren und des Verlegers im Hause Suhrkamp betraf. 1970 radikalisierte er diese Haltung in einem Interview noch: „Ich bin wütend auf das Establishment, und zwar nicht nur auf das politische, sondern auch auf das Establishment der Schöpfung. Ich bin, wenn Sie wollen, auf alles wütend, auf alles, was von der Schöpfung herkommt.“ (IV, 528) Im Prinzip handelt es sich dabei nicht mehr um Politik, sondern um (negative) Theologie durch systematische Ablehnung der immer pejorativ gebrauchten Begriffe „Schöpfung“ und „Einverständnis“. Eichs politische Haltung war so im Kern eine nach wie vor unpolitische, die politisch wirkte nur in einem Kontext, in dem sie als agitatorischer Aufruf gegen die politischen Einrichtungen der Bundesrepublik erscheinen musste. Dadurch, dass er in der Tradition seines Hörspiels Radium damit gleichzeitig die technokratischen Verwertungsmechanismen einer ökologisch blinden kapitalistischen Wirtschaftsordnung mitzutreffen verstand, hat sein vielgerühmter Widerstandsaufruf zwar eine bis heute gültige humane Dimension, über deren antidemokratische und antimoderne Dimension man sich freilich ebenfalls klar sein muss.

Hinweis: Dieser Text ist die gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes Günter Eich im bundesrepublikanischen Kontext. In: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991. Hrsg. v. Marek Zybura. Dresden: Thelem 2002 (=Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur 9), S. 255-285.

Anmerkungen:

[1] Günter Eich wird im Folgenden zitiert nach Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Bd. I: Die Gedichte. Die Maulwürfe. Hrsg. v. Axel Vieregg. Bd. II: Die Hörspiele 1. Hrsg. v. Karl Karst. Bd. III: Die Hörspiele 2. Hrsg. v. Karl Karst. Bd. IV: Vermischte Schriften. Hrsg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Die römische Ziffer in den Klammern hinter Eich-Zitaten bedeutet immer den Band, die arabische die Seitenzahl.

[2] Günter Eich: Rebellion in der Goldstadt. Tonkassette, Text und Materialien. Frankfurt a. M. 1997 (nicht in der Werkausgabe enthalten). Diese Veröffentlichung versucht, Eich vor seinem eigenen Stück zu retten. Doch unabhängig von der Frage, welche Textstellen möglicherweise gar nicht von Eich selbst stammen, hat er sich aus eigenen Stücken einem groß angelegten Propagandafeldzug angeschlossen, über dessen technische Umsetzung bei seinen intimen Kenntnissen des NS-Rundfunksystems er sich keinen Illusionen hatte hingeben können.

[3] Gerhard Zwerenz: „Der Schock sitzt tiefer“. In: Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Hrsg. v. W. Martin Lüdke. Frankfurt/M. 1979, S. 28-41; S. 33.

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum wir die Vita eines Autors nicht einfach ignorieren können

Es gab einmal eine Zeit, in der Literaturwissenschaftler glaubten, die Beschäftigung mit Schriftsteller-Biographien sei sinnlos. Das hatte mit poststrukturalistischen Ansätzen wie denen von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault zu tun. Die Nestoren der French Theory gingen davon aus, dass ein literarischer Text die Annahme einer wie auch immer gearteten Autorschaft gar nicht benötigt, um gedeutet zu werden.

Jede Theorie hat ihre Verdienste. Auch wenn insbesondere Barthes’ und Derridas Schriften eine dezidierte Unverständlichkeit kultivierten, deren literaturwissenschaftliche Adaption dazu führte, dass die betreffenden Interpretationen oftmals nichts als heiße Luft produzierten, war die Erkenntnis, dass jede Autorposition ein relativierbares Konstrukt ist, für die Literaturwissenschaft wichtig. Mehr noch: Der Dekonstruktivismus kann angesichts der traditionell extrem positivistisch ausgerichteten Arno-Schmidt-Forschung, die in den Diskussionen der Arno-Schmidt-Mailingliste mitunter sogar zum Ressentiment gegenüber der Literaturwissenschaft generell ausartet, mit seiner Konzentration auf das Primat des Textes geradezu befreiend erscheinen. Wo noch das letzte fiktive Detail mit der Brechstange in ‚wirkliche Orte‘ an historischen Schauplätzen übersetzt und die Intertextualität der Werke allein durch nachweisliche Lektüren und intentionale Zitate des Autors Schmidt dechiffriert werden soll, sehnt man sich fast schon wieder nach dem gleichmäßigen Rauschen des Jargons von Derridas „Grammatologie“ (1968) zurück.

Orthodoxe poststrukturalistische Prämissen verloren allerdings nach den 1980er Jahren an den Universitäten relativ schnell an Bedeutung. In der Literaturwissenschaft sprach man von der Rückkehr des Autors. Ganz ohne diese ‚Funktion‘ geht es letztlich wohl doch nicht: Insbesondere beim Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur wäre eine Ausblendung der Biographie der behandelten Autoren sogar ethisch fragwürdig bzw. würde wesentliche Werkkontexte ignorieren, die für deren hermeneutische Erschließung zentral sind. Man denke hier nur an die Debatte, die W. G. Sebald 1993 mit einer Polemik über die Rolle Alfred Anderschs im Nationalsozialismus bzw. deren Verharmlosung in dessen Schriften nach 1945 anstieß.

Wissenschaftler wie Jörg Döring, Markus Joch, Felix Römer und Rolf Seubert griffen Sebalds Kritik in den letzten Jahren wiederholt auf, um der Verantwortung Anderschs als Ehemann einer von der nationalsozialistischen Verfolgung bedrohten jüdischen Frau, als Wehrmachtssoldat und als publizierender Autor im „Dritten Reich“ mittels akribischer biographischer Nachforschungen genauer auf den Grund zu gehen. Dabei ging es nicht etwa um eine selbstgerechte Abkanzelung des behandelten Schriftstellers und seines Gesamtwerks. Viemehr bemühten sich die genannten Forscher um die Klärung des Wahrheitsgehalts einzelner literarisierter Selbstdarstellungen, die von Andersch selbst als faktuale Berichte über Kriegserfahrungen ausgegeben worden waren und wesentlich zu seiner ethischen Positionierung im literarischen Feld nach 1945 beigetragen hatten. Vergleichbar kritische Untersuchungen zu Leben und Werk Arno Schmidts sind allerdings bislang rar.

Wesentliche Vorarbeit zu einer umfassenden Biographie Arno Schmidts

Arno Schmidt selbst, in vielerlei Hinsicht ein ähnlicher Fall wie Andersch, hätte für die literaturwissenschaftliche Dekonstruktion von Autorschaftskonzepten nur Hohn und Spott übriggehabt. Wer vorsätzlich dafür Sorge trage, dass die Vita eines Schriftstellers ein „weißer Fleck“ bleibe, der müsse „bestraft werden“, postulierte Schmidt in dem ihm eigenen barschen Ton. Damit bezog er sich in erster Linie auf seine eigene publizistische Tätigkeit als Biograph: 1958 hatte der Autor eine umfassende Monographie über Leben und Werk Friedrich de la Motte Fouqués vorgelegt und davor viel Lebenszeit darauf verwendet, das dafür nötige Material mühsam aus Archiven zusammenzutragen. In Schmidts Vorstellung musste der Schriftsteller jedoch auch selbst dafür Sorge tragen, dass er seiner Nachwelt möglichst exakte biographische Daten, Materialien und Selbstbeschreibungen überließ. Schmidt versuchte darüber hinaus sogar die Deutung seiner Werke nachhaltig zu beeinflussen. Darin treten nicht zuletzt durchweg Erzähler und Protagonisten auf, die mit einem besonders robusten Selbstbewusstsein ausgestattet sind und permanent den Eindruck erwecken sollen, es handele sich bei ihnen um Alter Egos des Autors. Wie Schmidt dulden auch sie keinerlei Widerspruch und machen sich gerne über Akademiker lustig, um zugleich sehr klare Vorgaben dazu zu machen, wie man generell mit Literatur umzugehen und sie zu verstehen habe. Gemeint waren damit sowohl die Werke der von Schmidts Erzählinstanzen diskutierten Schriftsteller aus der Literaturgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts als auch die eigenen Texte des Autors.

Mit anderen Worten: Kaum ein Autor der deutschen Nachkriegszeit hat soviele Angaben über sein eigenes Leben und dessen erwünschte Deutung hinterlassen wie Arno Schmidt. Paradoxerweise – oder gerade deshalb – liegt bislang immer noch keine ausführliche und umfassende Biographie über ihn vor, sieht man einmal von Wolfgang Martynkewiczs 1992 erschienener Rowohlt-Monographie oder auch Wolfgang Albrechts Metzler-Porträt von 1998 ab, die aber allenfalls als erste Versuche oder Vorstudien für ein solches Projekt gelten können. Die Aufgabe scheint, allein schon aufgrund des Materialreichtums und der Doppelbödigkeit der Schmidt’schen Selbstdokumentationen, auf berufene Wissenschaftler geradezu einschüchternd zu wirken. Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld, seit Jahrzehnten einer der besten Kenner des Lebens und Werks dieses Autors und noch dazu direkt an der Quelle des Bargfelder Nachlass-Archivs, versuchte einige Jahre lang tapfer, die Lücke zu schließen. Er brach das Projekt jedoch letztlich ab. Wie danach zu hören war, soll im Jahr 2015 der erfahrene Autor Sven Hanuschek, der u.a. eine vielbeachtete, 2005 erschienene Darstellung zu Leben und Werk Elias Canettis vorgelegt hat, nunmehr die Aufgabe übernommen haben, eine ausführliche Schmidt-Biographie für den Hanser Verlag zu verfassen.

Bis diese erscheint, können die Leser auf die bereits viel besprochene und gelobte „Bildbiographie“ von Fanny Esterházy zurückgreifen, die Bernd Rauschenbach mit kundigen einführenden Texten zu den Materialien flankiert hat. Der bibliophil gestaltete Band im Format eines Coffee Table Books für die Schöner-Wohnen-Elite hat einige Aufmerksamkeit erregt und scheint sich gut zu verkaufen. Er liegt nur wenige Monate nach seinem Erscheinen bereits in der zweiten Auflage vor. Selbst Denis Scheck berichtete im Ersten Deutschen Fernsehen über die Publikation, indem er vor der Kamera begeistert darin hin- und herblätterte. Scheck fällt seit Jahren als prominenter TV-Literaturkritiker auf, der den Avantgardisten Schmidt vor seinem Massenpublikum gerne als wichtigsten deutschen Nachkriegsautor rühmt, wenn er nicht gerade auf Kosten der deutschen Rundfunkbeitragszahler nach L.A. jettet, um in den Hollywood Hills mit schwäbischem Zungenschlag Werbung für den neuesten Christian-Kracht-Roman zu machen.

So viel Medieninteresse gab es zuletzt zu Schmidts 100. Geburtstag im Jahr 2014. Offensichtlich hat der Autor in den Medien eine Art Kultstatus zurückgewonnen, und zwar nicht nur durch das schillernde Fortspinnen seiner Poetik in vertrackten Werken der Gegenwartsliteratur wie denen Dietmar Daths, Reinhard Jirgls und Georg Kleins. Naserümpfen über halsbrecherische literarische Formexperimente war gestern: In gewissen Kreisen des Feuilleton-Publikums und des Literaturbetriebs gilt es wieder als schick, Schmidt gut zu finden. So zählt z.B. auch der Lifestyle- und Modefachmann Joachim Bessing als Schriftsteller seit vielen Jahren zu den lautstarken Arno-Schmidt-Verfechtern und verkündete im Oktober 2016 in seinem Tagebuch auf Waahr.de, dass er sich die teure „Bildbiographie“ zugelegt habe.

Die Herausgeberin Fanny Esterházy, die bis dato in der Schmidt-Forschung nirgends in Erscheinung getreten war und nun mit ihrem biographischen Meilenstein als Shootingstar am Firmament des Schmidt-Kosmos aufscheint, hatte als Lektorin zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und dem renommierten Setzer der Publikationen der Arno Schmidt Stiftung, Friedrich Forssmann, seit vielen Jahren immer wieder gemeinsam Bücher gemacht. Forssmann, bereits seit Langem ein hoch gehandelter Vertreter seiner Zunft, hat Esterházys Band mit geschickter Hand gesetzt und darüber in einem Werbefilm des Suhrkamp Verlags gemeinsam mit ihr, Bernd Rauschenbach und seiner Stiftungs-Kollegin Susanne Fischer Auskunft gegeben. Fischer rühmt den Band hier eingangs als die „erste größere biographische Arbeit über Arno Schmidt, die überhaupt erscheint in der Welt“, während Forssmann mit dem kryptischen Hinweis, dass das Buchformat DIN A 4 eines sei, „das sich selbst ganz besonders wenig thematisiert“, wie ein gestandener Dekonstruktivist klingt.

Die Herausgeberin weist ihre Publikation im Vorwort ausdrücklich als „wesentliche Vorarbeit zu einer umfassenden Biographie“ aus und betont, dass sich ihr Band jeglicher Wertungen seines Materials enthalte. Tatsächlich bietet dieses umfassende und erlesen gestaltete Buch genau das: Bilder und Textfragmente, die zur Erläuterung von Schmidts Werk dienen können, jedoch nirgends eine weiterführende Kommentierung erfahren. Die „Bildbiographie“ setzt sich mithin aus lauter Dokumenten und Zitaten aus Schmidts Werk zusammen, die neben – teils erstmals zu sehenden – Reproduktionen von Privatfotos stehen. Die textuellen Selbstzeugnisse wurden kenntnisreich aus Schmidts umfangreichem Werk zusammengesucht und mit vielen erhellenden Brief- und Tagebuchformulierungen kombiniert.

Nicht nur kommende Biographen wie Hanuschek, sondern auch alle diejenigen, die sich als Leser näher mit Schmidt und seinem Werk befassen möchten, werden fortan nicht mehr an diesem dicken und gewichtigen Band vorbeikommen. In Sachen Publicity ist der Arno Schmidt Stiftung ein regelrechter Coup gelungen. Nüchtern betrachtet könnte man Schmidts Werk in der opulenten und zugleich übersichtlichen Aufbereitung der „Bildbiographie“ sogar Leserschichten schmackhaft machen, deren Aufmerksamkeitsspanne sonst eher auf Paolo Coelho, Bernhard Schlink und Martin Suter gepolt ist.

Der „Fragebogen“: Ungereimtheiten in Schmidts amtlichen Urkunden

Wie man seit langer Zeit weiß, fälschte Schmidt amtliche Dokumente. Der genaue Grund dafür ist bis heute nicht immer zweifelsfrei geklärt. Nun kann man sich also in der „Bildbiographie“ zum Beispiel auf drei großzügigen DIN-A-4-Seiten jenen berüchtigten Entnazifizierungs-Fragebogen im Farb-Faksimile ansehen, den Deutsche nach 1945 für das „Military Governement of Germany“ auszufüllen hatten, und nachlesen, was Schmidt dort angab. Diese Eigentümlichkeiten sind der Forschung zwar hinlänglich bekannt, ausdiskutiert sind sie aber noch lange nicht: In dem Formular ist von einem – nach wie vor nirgends nachweisbaren – Studium an der Universität Breslau die Rede, das von 1931 bis 1933 gedauert haben soll. Als „Grund für den Wechsel der Position oder die Beendigung des Dienstverhältnisses“ trug Schmidt am 21. Juli 1948 in seinen Fragebogen ein: „Freiwilliger Abbruch des Studiums zur Vermeidung von Komplikationen (Schwester heiratete 1931 einen jüdischen Kaufmann)“. Die Angabe stimmt mit einer fast identischen Formulierung in einer biographischen Skizze Schmidts überein, die Esterházy dem Dokument an die Seite gestellt hat: Er habe „ganz bewußt“ sein Studium abgebrochen, „um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen“.

Wie auch in anderen Dokumenten der Zeit verschwieg Schmidt zudem sein tatsächliches Geburtsdatum (1914) und machte sich in dem Fragebogen durch die Angabe des Geburtsjahres 1910 vier Jahre älter. Warum diese Fälschungen? Die Fiktion des Breslauer Studiums sollte vielleicht, wie in der „Bildbiographie“ angegeben, die sich durch das unrichtige Geburtsdatum ergebende Lücke in Schmidts Lebenslauf wieder schließen. Allerdings wirkt der angebliche Grund für den Studienabbruch dadurch nicht weniger fragwürdig. Wollte sich Schmidt damit nachträglich zu Entlastungszwecken mit Hilfe der verbotenen Heirat seiner Schwester zu einem Opfer des Nationalsozialismus stilisieren, indem er in dem Fragebogen ein Studium erfand, dass er wegen des jüdischen Schwagers habe abbrechen müssen, um nicht weiter aufzufallen? Inwiefern hätte Arno Schmidt in einem solchen Studium und mit dieser Familiengeschichte 1933 überhaupt die erwähnten nebulösen „Komplikationen“ erleben oder gar verursachen können? Was genau war damit gemeint? Vermag es zu überzeugen, dass ein deutscher Student bereits im Jahr der Machtübernahme Adolf Hitlers sofort ein ganzes Studium abbrach, nur weil die Schwester seit 1931 mit einem Deutschen aus jüdischer Familie verheiratet war? Wurden „arische“ Studierende bereits zu diesem Zeitpunkt an deutschen Unis diskriminiert, wenn Verwandte mit Juden in den Bund der Ehe getreten waren? Welche gesicherten historiographischen Erkenntnisse ließen sich zu dieser Frage beibringen? Und wie verhielt sich Schmidt in jenen Jahren eigentlich selbst gegenüber seiner Schwester und ihrem Mann?

Manche autobiographisch grundierte Bemerkung literarischer Figuren aus Schmidts Spätwerk legt jedenfalls die Vermutung nahe, dass der Bruder die Liebesbeziehung der Schwester bereits vor der Heirat nicht ohne Argwohn betrachtete. Nähere Hinweise zu Schmidts nicht immer einfachem Verhältnis zu seiner Schwester und seinem Schwager Rudy Kiesler hat Bernd Rauschenbach bereits 2003 in seinem Beitrag „Schwager Levy“ gegeben. Dies ist nun allerdings auch schon wieder 14 Jahre her und zeigt, wie wenig sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten in der genaueren Erforschung der Biographie Schmidts getan hat – zumindest was derartig heikle Themen betrifft.

Auch Schmidts Soldatenfotos, die in der „Bildbiographie“ abgebildet sind, bleiben in ihrer Ambivalenz auffällig. Was für eine seltsame Art von Humor verbirgt sich hinter diesen bizarren Napoleon-Posen eines Mannes, der sich nach 1945 stets als radikaler Antimilitarist positionierte? Gut möglich, dass Schmidt tatsächlich „immer Nazigegner war“, wie Alice Schmidt 1963 an ihre Mutter schrieb. Mit dieser Behauptung wollte die Ehefrau die seltsame Entscheidung ihres Gatten verteidigen, einen langen Funk-Essay über den Nazi-Dichter Gustav Frenssen zu schreiben, dessen Werk Schmidt trotz allem teilweise schätzte. Doch ähnlich wie der umstrittene Frenssen-Funkessay nach wie vor Fragen aufwirft, vermögen auch die Dokumente aus Schmidts Lebensabschnitt zur Zeit des „Dritten Reiches“ nicht eindeutig zu klären, wie der Autor damals im Einzelnen genau zur NS-Ideologie stand. Bei Lichte besehen ist die Aktenlage dürftig. Die farbigen Faksimile-Präsentationen in Fanny Esterházys „Bildbiographie“ stoßen die Leser nun erneut auf die altbekannten Ungereimtheiten. Es bleibt zu hoffen, dass diese lückenhaften Materialien dazu anregen, derartigen Rätseln in Zukunft genauer auf den Grund zu gehen.

Die Familie Schmidt und die Geschichte deutscher Kolonialherrschaft

Esterházy gibt u.a. auch erstmals Einblick in das chinesische Fotoalbum von Schmidts Vater Friedrich Otto Schmidt, der sich 1907 freiwillig zum Kolonialdienst im Ostasiatischen Detachement der Hafenstadt Tsingtau meldete. Die abgebildete Doppelseite, die in der oben erwähnten Suhrkamp-Dokumentation kurz in Nahaufnahme zu sehen ist, sieht auf den ersten Blick aus wie die eines Urlaubsalbums, mit Bildern von der verfallenen chinesischen Mauer und exotistisch fokussierten chinesischen Gebräuchen und Posen. So harmlos, wie diese Fotografien des Großvaters dem Betrachter zunächst erscheinen mögen, war der Einsatz deutscher Kolonialtruppen in China allerdings nicht.

Eine Aussage Lucy Kieslers, die der Abbildung beigefügt ist, belegt, wie wichtig Arno Schmidt dieses Fotoalbum seines Vaters war. Dieser Teil der Schmidt’schen Familiengeschichte muss dringend präziser in den Kontext der lange Zeit verdrängten deutschen Kolonialgeschichte eingeordnet werden. Könnten doch derartige historische Hintergründe neues Licht auf die Chinoiserien werfen, die beispielsweise Schmidts postkolonialen Zukunfstroman „Die Schule der Atheisten“ (1972) prägen.

Wie man dem Ausstellungskatalog „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ entnehmen kann, war das Deutsche Reich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert „eine der großen europäischen Kolonialmächte“. Was das genau bedeutete, ist erst kürzlich wieder in die Schlagzeilen geraten: 1904 bis 1907 begingen die deutschen Kolonisatoren in „Deutsch-Südwest“, dem heutigen Namibia, einen Völkermord an den Herero und Nama. Rebekka Habermas’ Studie „Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft“ erinnert zudem daran, dass auch diese sogenannte Musterkolonie in Westafrika durch willkürliche Gewaltakte geprägt war und infrastrukturell auf der Zwangsarbeit der unterjochten Bevölkerung beruhte. Habermas’ Buch handelt von einem gewissen Geo Schmidt, der 1900 in der togolesischen Stadt Atakpame seinen Dienst als kolonialer Stationsvorsteher antrat und bald darauf aufgrund der Vergewaltigung einer minderjährigen Frau aus der Region in die Kritik geriet. Laut Habermas war dieses Verbrechen allerdings kein ungewöhnlicher Vorfall. Waren doch „mehr oder minder von Gewalt geprägte sexuelle Beziehungen zwischen Europäern und Afrikanerinnen gang und gäbe“.

Die Besetzung Tsingtaus bzw. Qingdaos und der chinesischen Bucht von Jiaozhou, an deren militärischer Erhaltung Arno Schmidts Vater beteiligt war, war 1897 von langer Hand geplant gewesen und sollte Deutschland einen „Platz an der Sonne“ weltweiter Kolonialmacht verschaffen. So rechtfertigte der seinerzeitige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard von Bülow, die gewaltsame Aktion. Wie Togo sollte auch Tsingtau als „Musterkolonie“ die „Leistungsfähigkeit des Kaiserreiches repräsentieren und so die deutsche Vorherrschaft legitimieren“, wie es im zitierten Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums heißt. Die zeitgenössische chinesische Presse schrieb über diese Annexion, die Besetzung sei ein „räuberischer und barbarischer Akt“. Die Deutschen führten in Qingdao eine zonale Rassensegregation ein, und die dennoch unweigerlich entstehenden sexuellen Beziehungen zwischen deutschen Männern und einheimischen Frauen kommentierte man gegenüber der europäischen Heimat gerne mit Scherzpostkarten, die der Spruch „In der Noth frisst der Teufel Fliegen“ zierte.

Die strikte Trennung deutscher und chinesischer Wohnviertel in Tsingtau begründete man mit rassistischen Zuschreibungen und daraus resultierenden hygienischen Notwendigkeiten: Die chinesische Bevölkerung stufte man als Krankheitsursache ein, vor der die deutschen und europäischen Bewohner zu schützen seien. Welche Spuren dieser Kolonialgeschichte, die bereits auf ähnliche Aspekte der späteren nationalsozialistischen Kolonial- und Vernichtungspolitik in Osteuropa vorausdeutet, im China-Album von Arno Schmidts Vater zu finden sein mögen, kann man als Leser der „Bildbiographie“ mangels genauerer Dokumentation oder Kommentierung der Quelle jedoch nicht einschätzen. Denkbar ist allerdings, dass Friedrich Otto Schmidt durch Geschichten wie die Geo Schmidts in Togo, die in der deutschen Presse zu seiner Zeit als veritables Medienereignis präsent waren, nicht nur aus exotistischen, sondern auch geheimen erotischen Vorstellungen heraus nach China aufbrach. Männlichkeit wurde zu seiner Zeit u.a. über rechtmäßige Akte einer kolonialen Eroberung definiert, die keinesfalls nur territorial gedacht wurden, auch wenn die ‚Vermischung‘ mit einheimischen Frauen als ‚Schande‘ galt.

Die augenzwinkernde Verteidigung sexueller ‚Kolonisation‘ kann man ja bereits an dem oben zitierten Postkarten-Spruch gut ablesen, der Verachtung und Gier auf abscheuliche Weise kombiniert. Laut Habermas verbarg sich hinter der deutschen Berichterstattung über Vorfälle wie die in Togo eine auffällige Ambivalenz: Hier ging es um Phantasien, die sich dem Publikum um 1900 „seit einigen Jahren aufgrund der zeitgenössischen Kolonialskandale, aber auch mittels Kolonialromanen, Reiseberichten und Lichtbildvorträgen vielen Männern und Frauen in Deutschland eingeprägt hatten: koloniale Phantasien, die von den Exzessen einiger weniger sex- und machtlüsterner Beamter beflügelt wurden, die angeblich außer Kontrolle geraten waren und sich an den armen, hilflosen Afrikanern und Afrikanerinnen schadlos hielten“.

Selbstvergewisserung durch die Konstruktion von Fremdheit

Soviel ist klar: Schmidts Familie war eine derjenigen, die zu dieser Zeit sogar aktiv mit dem aggressiven Imperialismus des deutschen Kaiserreiches in Berührung gekommen waren und dadurch auf Jahrzehnte geprägt wurden. Was Schmidt daran positiv sah, etwa mit der Erinnerung, seinem Alter Ego A&O aus dem Spätwerk „Abend mit Goldrand“ sei in der Kindheit der Name „Kon=Fu=Tse“ früher geläufig gewesen als Christus – „(war auch gut so)“ –, kann im Sinne weitgehend noch ausstehender postkolonialer Deutungen von Schmidts Werk auch zum Ausgangspunkt skeptischerer Nachforschungen werden. Kolonialistischen und rassistischen Vorstellungen begegnet man in Schmidts Texten bis ins Spätwerk hinein jedenfalls mehrfach. Damit sind Irritationen verbunden, welche die Forschung immer wieder beschäftigt haben, vom Großteil der Leser aber meist als bloße Rollenprosa eingestuft werden.

In diesem Kontext stößt einen die „Bildbiographie“ zudem erneut auf die zur NS-Zeit entstandene Schmidt’sche Privatmythologie der sogenannten Sarotti-Mohren. Der Autor führte diese papierenen Maskottchen sogar als Wehrmachtssoldat mit sich und platzierte sie auf einem Foto bedeutungsvoll neben sich, während er in Uniform auf einem Baumstamm im Wald saß. Giesbert Damaschke ist der regressiven Obsession des Ehepaars mit diesen „Sarotti-Mohren“, die bis in die frühen 1950er Jahre anhielt, schon einmal in einem Beitrag nachgegangen. Das Motiv gehörte demnach „zum festen Typenbestand der frühen Texte Schmidts“, der sogenannten „Juvenilia“, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ entstanden. Wann immer dort seltsame oder exotische Figuren auftreten, „gehören zu ihrem Gefolge Mohren und wo immer Mohren auftreten, sind sie ein Zeichen für die Anwesenheit einer poetischen Gegen- und Fluchtwelt, deren Möglichkeit in den frühen Texten noch problemlos zu gelingen scheint“, wie Damaschke beobachtet hat.

Offenbar sollte die erwähnte fotografische Inszenierung des Soldaten Schmidt mit den „Sarotti-Mohren“ der betrachtenden Adressatin Alice den Fortbestand dieses phantastischen Fluchtpunkts in der Welt der Literatur selbst zu Kriegszeiten versichern. Die Beschwörung des Fetischs der „Mohren“ galt Schmidt womöglich als imaginäre Schutzfunktion gegen die Bedrohung eines möglichen Fronteinsatzes oder die generellen Belästigungen der soldatischen Kasernierung. Man kennt solche Szenen aus unzähligen Kriegsfilmen: So wie der Protagonist Desmond T. Doss (Andrew Garfield) in Mel Gibsons neuestem Werk „Hacksaw Ridge“ (2016) stets das Foto seiner Braut betrachtet, um in Momenten der Verzweiflung Trost und den Glauben an eine friedliche Zukunft zu finden, so ließ sich Schmidt als Wehrmachtssoldat mit seinen „Sarotti-Mohren“ fotografieren, um der Ehefrau daheim zu bedeuten, dass ihm und ihr der gemeinsame Ausweg in ihr privatmythologisch entworfenes Dichter-Elysium der „Juvenilia“ nach wie vor offenstehe. Wie auch mit seinem nicht zur Veröffentlichung gedachten handschriftlichen Frühwerk kannte Schmidt zu diesem Zeitpunkt für seine fotografische Selbstinszenierung nur ein Publikum: seine Frau Alice.

Nun allerdings liegen diese Bilder in Cinemascope vor uns, in einem Layout, das sich „nicht selbst thematisiert“ und die Fotos aus dem Nachlass wie in einer wohldurchdachten filmischen Fokussierung präsentiert. Dabei fallen plötzlich Dinge auf, die bis dato kaum beachtet wurden. Nicht thematisiert hat Damaschke in seinem Beitrag zum Beispiel die Diskursgeschichte der kolonialistischen Konstruktion von niederen und höheren „Rassen“, in die das beliebte Bild des „Sarotti-Mohrs“ eben auch gehörte, und zwar auf besonders massenwirksame Weise. Die Konstruktion rassischer kolonialer Überlegenheit funktionierte nicht nur über die zitierten Projektionen der Bedrohung, des Ekels und der Ansteckungsgefahr, sondern auch über orientalistisch konnotierte Inszenierungen des liebenswert erscheinenden infantilen „Mohrs“.

Kurz: In Kombination mit Schmidts Wehrmachtsuniform auf dem beschriebenen Foto im Wald und eingedenk der China-Erfahrung seines Vaters verdeutlicht die schrullige Sarotti-Privatmythologie die Tradition kolonialer Rassenvorstellungen sogar in Schmidts intimsten Selbstentwürfen. Es handelt sich um eine imaginäre Form der Selbstvergewisserung, die der damals von einer Mehrheit der Deutschen für ‚wahr‘ gehaltenen nationalsozialistischen Weltordnung keineswegs vollkommen entgegensteht. Vielmehr beruht ihre stabilisierende Funktion auf einer positiv gewendeten Fremdheitskonstruktion, die zudem mit der deutsch-nationalen Kolonialideologie des Vaters Friedrich Otto Schmidt vereinbar blieb. Mehr noch: Wie sehr derartige Konstruktionen von Fremdheit letztlich sogar bis heute wirksam sind, verdeutlicht ein Zitat des Postkolonialismus-Theoretikers Achille Mmbebe, das Rebekka Habermas in ihrer Studie zitiert: „Afrika still constitutes one of the metaphors through which the West represents the origin of its own norms, develops a self-image, and integrates this image into the set of signifiers asserting what it supposes to be its identity.“

Doch nicht nur die Fotos künden in der „Bildbiographie“ von der Aushandlung privater Utopien und Selbstentwürfe Schmidts, sondern auch die von Esterházy darin versammelten Zitate. Schmidts Rückzug ins ländliche Nirgendwo der norddeutschen Tiefebene war offenbar nicht immer Ziel aller Sehnsüchte, schon gar nicht für Alice Schmidt. Zeitweise scheinen die Eheleute in der frühen Nachkriegszeit von regelrechtem Fernweh gepackt worden zu sein. In ihrer Zeit in Cordingen in der südwestlichen Lüneburger Heide, also kurz nach dem Krieg, notiert Alice Schmidt, dass die Auswanderung einer benachbarten Flüchtlingsfamilie nach Kanada sie und ihren Mann neidisch gemacht habe. „Mich packt gewaltige Reiselust.“ Sie schreibt weiter: „Südhalbkugel, das wäre das Rechte. Wäre es nur erst soweit!“

Bekanntlich kam es nie dazu. Schmidt reiste bald nur noch mittels längerer Gedankenspiele, die zu literarischen Texten wurden – doch der Zusammenhang dieser Phantasien mit kolonialen Vorstellungen, wie sie seinen Vater beeinflussten, und mit (post-)kolonialen literarischen Texten, die Schmidt gelesen haben mag, um sie als Anregungen für seine Romane zu nutzen, bleibt ein Desiderat. Erste einschlägige Studien wie Monika Albrechts Aufsatz über Schmidts „Gelehrtenrepublik“, Stefan Höppners Dissertation über Schmidts Amerikabild oder auch Klaus Theweleits Monographie „You Give Me Fever“ liegen zwar bereits vor, doch dürfte damit noch lange nicht alles zu dem Thema gesagt sein. Daran erinnert die „Bildbiographie“ auf eindringliche Weise: Sie weckt nicht nur nostalgische Gefühle, sondern für den kritischen Betrachter ist sie voller Fotos, die frappieren und verstören. Der Band sollte also nicht nur als wohlig durchblätterbares Museum Schmidt’scher Skurrilitäten rezipiert werden, sondern als Ausgangspunkt kritischer fotohistorischer und literaturwissenschaftlicher Nachforschungen dienen.

Literatur

Monika Albrecht: „Mir war nie wohl in meiner rosa Haut.“ Arno Schmidt’s ‚Kurzroman‘ „Die Gelehrtenrepublik“ aus postkolonialer Sicht. In: Timm Menke und Robert Weninger (Hrsg.): Der Prosapionier als Letzter Dichter. Acht Vorträge zu Arno Schmidt (­Hefte zur Forschung 6). Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld 2001, S. 5372.

Jörg Döring / Felix Römer / Rolf Seubert: Alfred Andersch desertiert. Literatur und Fahnenflucht (1944-1952). Berlin: Verbrecher 2015.

Jörg Döring / Markus Joch (Hrsg.): Alfred Andersch revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin/Boston: de Gruyter 2011.

Stefan Höppner: Zwischen Utopia und Neuer Welt: Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk. Würzburg: Ergon-Verlag, 2005.

Bernd Rauschenbach: Schwager Levy. In: Robert Weninger (Hrsg.): Wiederholte Spiegelungen. Elf Aufsätze zum Werk Arno Schmidts (Bargfelder Bote, Sonderlieferung). München: edition text & kritik 2003, S. 8–19.

Klaus Theweleit: „You give me fever“. Arno Schmidt. Seelandschaften mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II. Frankfurt am Main: Stroemfeld 1999.

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dichter sind die geborenen Seismographen tragischer Verkettungen.“ Diese Wahrheit gilt in der deutschsprachigen Literatur in besonderem Maße für Thomas Mann und Stefan Zweig. Eindrücklich enthüllt wird dieser wichtige Schnittpunkt zwischen ihnen in der neuen, als 51. Band der Reihe „Thomas-Mann-Studien“ veröffentlichten Edition des Verlags Vittorio Klostermann in Frankfurt am Main. Herausgeber des Bandes sind Katrin Bedenig, Leiterin des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich, und Franz Zeder, ein ausgewiesener Kenner Thomas Manns. Von ihm stammt auch der oben zitierte Satz. Neben der Korrespondenz zwischen Mann und Zweig enthält der vorliegende Band auch eine Fülle an Dokumenten, Materialien und von Franz Zeder verfasste, umfangreiche Analysen „zu den Stationen einer lebenslangen Begegnung“ der beiden Autoren „im Schnittpunkt von Literatur, Politik und Musik.“

Die nicht immer einfache Beziehung zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig entfaltete sich zwischen mehreren persönlichen Begegnungen – der ersten 1920 bei Thomas Mann im Münchener Bogenhausen und der letzten im Jahre 1939 wieder bei Thomas Mann in Princeton. Besuche Thomas Manns auf dem Kapuzinerberg bei Salzburg, in Stefan Zweigs grandiosem Domizil, sind ebenfalls belegt. Der vorliegende Briefwechsel selbst beginnt im Jahre 1911 mit Thomas Manns Brief an Zweig vom 10. November, in dem sich Mann für die Zusendung von Zweigs Novellensammlung „Erstes Erlebnis“ bedankt, und endet mit Manns Brief an Zweigs Ex-Ehefrau Friderike Zweig vom 15. September 1942, in dem er seine Stellung zu Zweigs Selbstmord erläutert. Der letzte hier abgedruckte Brief von Zweig an Mann stammt vom 29. Juli 1940 und wurde in New York geschrieben. Wie Zweig in diesem Brief bekundet, ist Emigration eine „Verschiebung des Gleichgewichts“, eine „Gleichgewichtsstörung“, von der sowohl er selber als auch Thomas Mann betroffen war. So präsentiert sich die Korrespondenz als Geschichte und Dokument dieser Gleichgewichtsstörung, des Umgangs mit ihren Ursachen und Folgen.

Bis zur Emigration spiegelt der Briefwechsel die Geschichte zweier hoch begabter, hoch kultivierter Schriftsteller, für die Literatur nicht zuletzt eine „Gabe“, ein „schönes wertvolles Geschenk“ ist (Thomas Mann) und die durch die Zusendung ihrer literarischer Erzeugnisse einander Respekt zollen und Freude bereiten. Am 9. September 1917 lobt beispielsweise der sonst eher kühlere Thomas Mann überschwänglich Zweigs Drama „Jeremias“:  „Nehmen Sie meinen aufrichtigen und wahrhaft respektvollen Dank für Ihre kühne, großartige Dichtung. Ich stehe noch ganz unter ihrem Eindruck, vorderhand noch ein wenig betäubt von ihrem alttestamentarischen Pathos.“ Voller Elan – auch wenn die Briefe meist kurz und ziemlich förmlich sind – kommentieren die beiden Künstler und Kunstbetrachter ihre eigenen Texte sowie andere literarische und ästhetische Fragen, zum Beispiel die „plastisch-epische“ Welt Lew Tolstois, die sie von der abgründigen Welt Fjodor Dostojewskijs abzugrenzen versuchen (Mann an Zweig am 28. Juli 1920).

Doch immer wieder mischt sich Thomas Manns Unbehagen an der Entpolitisierung der Literatur in den Diskurs ein. Zweig versäumt es auch nicht, schon am 7. Februar 1933 Mann für seine „aufrechte und kühne Haltung“ in einer Zeit, in der „mit Dreck geschmissen wird“, zu loben, war doch Mann unverzüglich nach Hitlers Machtergreifung auf Distanz zu den neuen Machthabern gegangen. Der Verfasser des Dramas „Jeremias“, der nie um eine düstere Vorhersage verlegen war, prophezeite hier: „Sie werden noch viel Unbill zu erdulden haben, weil Sie von Ihrer Überzeugung sich nicht zur Bequemlichkeit oder Conjunctur abdrängen liessen“.

Die damalige politische Lage beschreibt Thomas Mann am 25. Februar 1933 knapp und erbarmungslos: „Deutschland ist in einem unglaubwürdigen Zustand. Viele werden sich nachher doch wohl schämen.“ Aus der viel wortreicheren Feder Zweigs kommt dann am 18. April 1933: „Denn Dementieren gibt es heute nicht mehr, die Lüge spannt frech ihre Flügel und die Wahrheit ist vogelfrei; die Kloaken stehen offen und die Menschen atmen ihren Gestank ein wie einen Wohlgeruch.“ Im Jahre 1936, als Thomas Mann seine deutsche Staatsangehörigkeit verlor, sollte Stefan Zweig seinem deutschen Kollegen mit einem ironischen Seitenhieb gegen die Nazis zur „öffentlichen Ernennung zum Weltbürger bei gleichzeitiger Entziehung des Staatsbürgertums“ gratulieren.

In der Beziehung der beiden „repräsentativen Autoren einer zu Ende gehenden Epoche des Humanismus“ (Franz Zeder) mangelt es jedoch auch nicht an Misstönen. Diese erschließen sich weniger aus der Korrespondenz selbst, in der die gegenseitige Wertschätzung dominiert, als aus den weiterführenden Texten und Materialien im zweiten Teil des Bandes. So vermerkte Mann in seinem Tagebuch über Zweigs Buch „Maria Stuart“, es sei „trivial“ und „schmalzig geschrieben“. Die Hauptkontroverse entwickelte sich aber in der Frage nach der Verantwortung des Schriftstellers, seiner Haltung in einer stürmischen Zeit. Thomas Mann konnte sich vor allem mit Stefan Zweigs Pazifismus nicht anfreunden. Dessen Selbstmord kommentierte er in seinem Brief an Friderike Zweig folgendermaßen: „War er sich keiner Verpflichtung bewusst gegen die Hunderttausende, unter denen sein Name groß war, und auf die seine Abdankung tief deprimierend wirken mußte? Gegen die vielen Schicksalsgenossen in aller Welt, denen das Brot des Exils ungleich härter ist, als es ihm, dem Gefeierten und materiell Sorgenlosen war?“ Bekanntlich sollte Thomas Mann aber sein Urteil über Stefan Zweigs Pazifismus später anlässlich seines zehnten Todestages relativieren: „Aber seitdem wir erfahren haben, wie auch ein guter Krieg nichts als Böses zeitigt, denke ich anders über seine Haltung von damals – oder versuche doch, anders darüber zu denken.“

Der hier vorliegende Briefwechsel ist die erste vollständige Edition der Briefe zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig, wobei mehrere Briefe zum ersten Mal veröffentlicht werden. Die Originalbriefe Thomas Manns aus dem Zeitraum von 1911 bis 1933 sind nach Auskunft der Herausgeber in der National Library of Israel in Jerusalem zu finden, Manns restliche Briefe an Zweig befinden sich im Privatbesitz. Die Originalbriefe Stefan Zweigs wiederum gehören zu den Beständen des Thomas-Mann-Archivs der ETH-Bibliothek in Zürich.

Nach der doch recht schmalen und überschaubaren Korrespondenz erhellen die Analysen, Dokumente und Materialien, die den Großteil der Edition ausmachen, verschiedene Aspekte der Mann-Zweig-Beziehung, die jeweiligen Positionen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Schriftstellern. Es ergibt sich ein ungemein dichtes Netz an Querverbindungen. Ergänzt wird der Band durch mehrere ,Seitenblicke‘ (etwa auf die „beschwerliche Freundschaft“ zwischen Stefan Zweig und Klaus Mann, der in seinem Tagebuch Zweig als „sehr charmant, gesprächig, jedoch durchaus würde- und charakterlos“ bezeichnet hat), durch ein „Zwischenspiel“ über Stefan Zweig im Tagebuch von Thomas Mann sowie ein „Endspiel“ und einige „Nachspiele ab 1945“  im Schnittpunkt von Musik und Literatur.

So sehr der von Franz Feder vorgelegte, überaus wuchtige Materialienteil die eigentliche Korrespondenz zu übertönen droht, erweist er sich als ein tiefgründiger und differenzierter Beitrag zur Forschung sowohl über Thomas Mann als auch über Stefan Zweig. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Zeder die Ablehnung von Zweigs „Maria Stuart“ mit Thomas Manns allgemeiner Ablehnung des Genres des biografischen Romans begründet, oder wenn er zeigt, dass Thomas Manns „indolente Erbarmungslosigkeit“ bei der Verurteilung von Stefan Zweigs Selbstmord „nicht purer Süffizanz entsprang“. Hiermit baut Zeder Brücken zwischen der Mann- und der Zweigforschung. Vermissen lassen sich in dieser sehr detaillierten Auseinandersetzung mit der Beziehung der beiden Autoren hingegen konkretere Informationen und Kommentare über die Geschichte und den Charakter des hier abgedruckten Briefwechsels.

Hauptsächlich chronologisch geordnet, ist dieser souverän zwischen Zweig und Mann balancierende Beitrag Franz Zeders zugleich eine Art Biografie über das Doppelobjekt Mann-Zweig. Die Parallelführung, die Zeder verfolgt und größtenteils erfolgreich durchsetzt, zeigt zunächst den Kontrast zwischen Mann, dem Zweig das „Ethos der Verantwortlichkeit“ bescheinigte, und Zweig, dem viele Zeitgenossen Resignation und Eskapismus attestierten – zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit der Gleichgewichtsstörung „Emigration und Exil“. So gesehen mögen Mann und Zweig als Antagonisten erscheinen. Zeder selbst schließt seine Analysen mit der melancholischen Schlussfolgerung über diese „Freundschaft“, die „nicht existiert hat“: „Thomas Mann und  Stefan Zweig waren zueinander weder ‚Freund‘ noch ‚Feind‘. Die beiden Titanen der Erzählkunst begegneten einander sachlich und distanziert und durchlebten nur einige wenige Phasen des näheren Zueinanderrückens. Man darf diese verhaltene Performanz bedauern als ein Versäumnis der deutschsprachigen Literatur- und Exilgeschichte“.

Zusammen mit den vielen, im Buch minutiös aufgedeckten und erörterten Schnittpunkten, ergeben Briefwechsel und Analysen jedoch ein harmonischeres Bild der Beziehung der beiden „Seismographen tragischer Verkettungen“. Sei es, wenn es um das gemeinsame Interesse am Humanisten Erasmus von Rotterdam oder um den Einsatz für andere Emigranten und die Beteiligung an einer Zahl von Hilfsprojekten ging (hier lautet Zeders Fazit über Zweig: „Diskreter und großzügiger, blieb sein öffentliches Engagement hinter Thomas Manns Initiativen nicht zurück“), es lassen sich viele Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren finden, die nahelegen, dass es wenig Sinn ergibt, sie gegeneinander auszuspielen: Beide waren durch das Band des „Leidens an Deutschland“ und an ihrer Zeit verbunden und aus dem Gleichgewicht gebracht. Am 24. April 1933 schrieb Thomas Mann an Stefan Zweig: „Sie haben auch zu leiden, ich hätte das kaum geglaubt, und es verstärkt die Gefühle des Abscheus gegen die Art von Historie, die wir verdammt sind, zu erleben.“

Bereits am 18. November 1933 hatte Zweig Thomas Mann seine wichtigsten Prioritäten mitgeteilt: „Ob es denkbar ist weiter bei einem deutschen Verleger zu bleiben [sic] wird mir immer zweifelhafter, denn an eine Freiheit des Wortes und des persönlichen Handelns ist dann kaum mehr zu denken.“ Dass diese Werte auch Thomas Mann wichtig waren, steht außer Frage. Als Manns „Lotte in Weimar“ 1939 erschien, wurde das Buch von Zweig in seinem Brief vom 8. Dezember 1939 als „die denkbar edelste Absage an das Deutschland des Dritten Reiches zugunsten des unvergaenglichen“ charakterisiert. Beide – der „Genius der Verantwortlichkeit“ Thomas Mann und der „Genius der Begeisterung“ Stefan Zweig – hatten sich der „Verbreitung des Guten“ (Thomas Mann) in einer „Zeit des Irrwitzes“ (Stefan Zweig) verschrieben, um, „den lebendigen deutschen Geist durch Nacht und Winter hindurch zu führen“ (Thomas Mann).

Damals wie heute: Merkels Neuer Staat 3.0

Intelligenz ist, Zusammenhänge zu erkennen.

Dummheit ist, wenn man nicht weiß, was man wissen könnte.

Wie hat sich Deutschland seit der faktischen Selbstabdankung der Regierung Merkel im Amt und der darauf folgenden Massenzuwanderung geändert? Wie kam es dazu und wie geht es weiter? Wie verändert sich Deutschland?

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Die in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 25. Mai 1933 als Offener Brief von Gottfried Benn publizierte Antwort auf den an in privat gerichteten Brief von Klaus Mann leitet die Redaktion mit den perfiden Worten an: „Gottfried Benn, der Arzt und Dichter, hat von Berufsgenossen, die zu Beginn der deutschen Umwälzung ins Ausland gingen, verschiedene Zuschriften mit Vorwürfen wegen seiner politischen Haltung gegen den neuen deutschen Staat empfangen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei festgestellt, daß es sich um Briefschreiber nichtjüdischer Abstammung handelt. Er hat Mittwoch abend im Rundfunk auf diese Briefe geantwortet: wir geben  hier seine Ausführungen, die er uns zur Verfügung gestellt hat, gerne wieder, da sie uns grundsätzlich wichtig erscheinen.“[1]

„Sie schreiben mir einen Brief aus der Nähe von Marseille. In den kleinen Badeorten am Golf de Lyon, in den Hotels von Zürich, Prag und Paris, schreiben Sie, säßen jetzt als Flüchtlinge die jungen Deutschen, die mich und meine Bücher einst so sehr verehrten. Durch Zeitungsnotizen müßten Sie erfahren, daß ich mich dem neuen Staat zur Verfügung hielte, öffentlich für ihn eintrete, mich als Akademiemitglied seinen kulturellen Plänen nicht entzöge.“

Während Klaus Mann die Entbehrungen des Exils, die Not der mittellosen Emigranten in den „kleinen Hotels“ anspricht, so schreibt Benn scheinheilig von den „kleinen Badeorten am Golf de Lyon“ und vom Leben „in den Hotels von Zürich, Prag und Paris“ – so, als ob die deutschen Flüchtlinge lediglich luxuriöse Ausflüge unternommen hätten. Über die Flüchtlinge schreibt Benn, mit den Flüchtlingen, die ins Ausland reisten, könne man nicht reden.[2]

Immer wieder verfälscht Benn die angeblichen Zitate aus dem Brief von Klaus Mann und wird offen höhnisch und beleidigend:

„In Ihrem Brief lautet die Stelle so: ‚Erst kommt das Bekenntnis zum Irrationalen, dann zur Barbarei, und schon ist man bei Adolf Hitler.‘ Das schreiben Sie in dem Augenblick, wo doch vor aller Augen Ihre opportunistische Fortschrittsauffassung vom Menschen für weiteste Strecken der Erde Bankerott gemacht hat, wo es sich herausstellt, daß es eine flache, leichtsinnige, genußsüchtige [!] Auffassung war, daß nie je in einer der wahrhaft großen Epochen der menschlichen Geschichte das Wesen des Menschen anders gedeutet wurde als irrational, irrational heißt schöpfungsnah und schöpfungsfähig. Verstehen Sie doch endlich dort an Ihrem lateinischen Meer, daß es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt, […] sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert [!] und ein Volk will sich züchten.“

Über die biologische Züchtung des deutschen Volkes und des Neuen (arischen)  Deutschen Menschen veröffentlicht Benn einen ganzen Aufsatz, in dem er u.A. schreibt:

„Welches werden sonst seine (des Neuen Deutschen Menschen) Ziele sein? Halb aus Mutation und halb aus Züchtung hieß im vorigen Abschnitt, und wieviel Geist, mehr Zentaur (halb Stier, halb Mensch)oder mehr aus der Phiole (Reagenzglas), fragen wir uns, und wieder stoßen wir, und zwar in geistigen Reichen, auf das Wort Züchtung, von dem viele meinen, das es den neuen Menschen infolge eines gewissen legislativen (von der Gesetzgebung) von vernherein moralisch belaste und jeder inneren höhe beraube, wir müssen daher zur Verteidigung des neuen Menschen diesen Begriff genau und aus seiner eigenen Geschichte leiten.“[4]

[1] Benn, G. (1933, 25. Mai). Antwort an die literarischen Emigranten. Nr.242 S-1-3, wieder abgedruckt in: Der neue Staat und die Intellektuellen, Stuttgart, Berlin, S.22-34, Deutsche Allgemeine Zeitung, 25. Mai1933,S. 1-2.

[2] Benn, G. (1933, 25. Mai). Deutsche Allgemeine Zeitung, Antwort an die literarischen Emigranten. Nr.242 S-1.

[3] Benn, G. (1933, 25. Mai). Antwort an die literarischen Emigranten. Nr.242 S-1-3, wieder abgedruckt in: Der neue Staat und die Intellektuellen, Stuttgart, Berlin, S.22-34, Deutsche Allgemeine Zeitung, 25. Mai1933,S. 1-2.

[4] Benn, G. (1933). Züchtung. In G. Benn (Hrsg.), Der neue Staat und die Intellektuellen (S. 151-164). Stuttgart, Deutschland: Deutsche Verlagsanstalt. S.158.

Benn Loyalitätserklärung

Gottfried Benn, Profiteur der Nazizeit und überzeugter Nazi, erhält den Georg-Büchner-Preis 1951, den Bundesverdienstkreuz 1953, es erscheint zu seinen Ehren eine Briefmarke der Deutschen Bundespost 1956[1],

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Ein Ehrengrab der Stadt Berlin 1956, während z.B. der politisch unbescholtene Wolfgang Koeppen kaum Absatz für seine Bücher findet. Viele Biographen entschuldigen Benn (und damit sich selbst, ihre Generation und ihrer Väter), daß Benn nur gezwungener Maßen ein Nazi war, weil ihm sonst Armut gedroht hätte.[2] (Wolfgang Koeppen wählte zur selben Zeit den Anstand und die Armut). Oder bringen zu seiner Entschuldigung, daß andere auch nicht besser waren, wie z.B. C.G.Jung.[3]

[1] Biographie zu Gottfried Benn. (2016, 11. August). Abgerufen am 11.08.2016 von http://lernarchiv.bildung.hessen.de/sek/deutsch/literatur/autoren/benn/edu_1276764384.html/show_info_for_tag/?info=Benn&tag=benn2] Dyck, J. (2009). Gottfried Benn. Berlin, Deutschland: De Gruyter. S.88.

[3]Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung verteidigt im Januar-Heft 1934 des in Berlin erscheinenden, gleichgeschalteten Zentralblatts für Psychotherapie sogar „das arische Unbewußte“ gegen „den Juden Freud“, der „die germanische Seele nicht kannte, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten“, und behauptet: „Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische.“ In: Dyck, J. (2009). Gottfried Benn. Berlin, Deutschland: De Gruyter. S.94.

Merkels Neuer Staat 3.0

Am Anfang war das Wort. Das haben wir aus der Schöpfungsgeschichte gelernt. Aber wenn es falsch ist, dieses Wort, vergiftet?

Das falsche Wort I

Irgendwann im Frühjahr 2015 tauchte das Wort „Flüchtling“ auf, verbreitete sich und setze sich fest, erst in den Zeitungen, dann in den Hirnen. Es fühlt sich warm und menschlich an, und ist doch ein vergiftetes Wort, weil es als Propagandainstrument benutzt wird. Denn es überdeckte alle Gründe, warum Menschen den Ort wechseln: Asylbewerber wurden zum Flüchtling, Wirtschaftsflüchtlinge sowieso. Auswanderer, Einwanderer, reisende IS-Terroristen, syrische Bombenopfer und syrische Schergen, Legale, Illegale, Gastarbeiter. Und weil das immer noch nicht reicht, werden Klimaflüchtlinge erfunden und schließlich die Auflösung aller Grenzen propagiert: kein Mensch ist illegal. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, Flüchtlingen zu helfen, Aufnahme zu gewähren, Verfolgte zu unterstützen. Aber die Unterschiedlosigkeit ist das Problem, wenn alle irgendwie zum Flüchtling gemacht werden.

Die intellektuell unredliche unterschiedlose Verwendung des Sammelbegriffs Flüchtlinge für alle Arten von Zuwanderern praktizieren nur die Medien in Deutschland und Österreich; in allen anderen europäischen Ländern von Spanien bis Schweden berichten die Medien von “illegalen Immigranten”. Wer aber Motive und Fluchtursachen begrifflich auflöst, löst jede Differenzierungsmöglichkeit, jede besondere Vorgehensweise, jede spezielle Notwendigkeit, Verpflichtung und Verantwortung in der Salzsäure des Willkürlichen auf.

Das F-Wort ist die Falle, in die immer mehr Medien, Menschen und schließlich die sonst kühl kalkulierende Angela Merkel im Sommer 2015 liefen: Die Unterschiedslosigkeit der Begrifflichkeit führte zur Hilflosigkeit und Aufgabe jeder eigener Handlungsmöglichkeit. Weil alle Flüchtlinge genannt werden und damit alle Anspruch zumindest auf Überprüfung ihres Anspruchs auf Asyl haben, entstand eine Welle von Merkel-Flüchtlingen, der nicht standzuhalten war. Im Sommer 2015 gab Deutschland die Kontrolle über seine Außengrenzen auf, und wer wollte konnte anschließend frei einreisen, sich um Asyl bewerben, untertauchen oder wieder zurückkehren, seine Identität verschleiern und neu erfinden.

Das falsche Wort II

Seither perfektioniert die Regierung Merkel die Verwendung falscher Begriffe, statt durch richtige Benennung die Voraussetzung für Handeln zu schaffen: Monatelang behauptete Merkel, 3.600 Kilometer deutsche Grenze ließen sich nicht kontrollieren. Es ist die offenkundige Unwahrheit; es soll ja Länder geben, die schaffen das 10-fache. Und immer wurde verschwiegen, dass es nur um ein kurzes Stück entlang Österreichs ging; dass Flüchtlinge aus Polen, Tschechien, Holland oder Frankreich und der Schweiz nach Deutschland kommen war ja nicht die Bedrohung für die Grenzschützer. Sind vielleicht 200 Kilometer wirklich unkontrollierbar?

Und dann folgte die Debatte über „Obergrenzen“, die es nicht geben dürfe, könne, solle. Was spricht eigentlich dagegen, eine Grenze des Machbaren zu definieren und dann eben die notwendigen Gesetze und Maßnahmen zu ergreifen? Niemand verlangt eine punktgenau Einhaltung einer politisch definierten Größe. Aber dass Deutschland an seiner Belastungsgrenze angelangt war, ist unstrittig. Warum dann nicht stoppen? Kein Gesetz schreibt vor, dass eine Gesellschaft sich über alle Maßen belasten, über ihre Leistungsfähigkeitsgrenzen verstoßen muss, bis es gar nicht mehr helfen kann. Das Asylgesetz ist änderbar, zumal von einer Großen Koalition mit einer noch nie da gewesenen Parlamentsmehrheit; weit jenseits der verfassungsgemäßen Zwei-Drittel-Grenze. Es sind Wortgirlanden einer Regierung, die Handlungsunwilligkeit vertuschen will.

Andere Begrifflichkeiten wurden abgeschliffen: So forderten und fordern Ungarn und andere Osteuropäische Staaten die „Kontrolle“ über die Person der Flüchtlinge – wer ist und warum kommt diese Person? Erst danach könne über Einreise entschieden werden, so verlangt es auch das Abkommen von Dublin. Kontrolle heißt nicht automatisch „Ablehnung“. Aber im Neusprech der Regierung Merkel und der deutschen Medien wurde genau diese Unterscheidung aufgehoben: Wer nur für Kontrolle nach EU-Recht eintritt, war ein „Ablehner“ und damit inhuman, egoistisch und menschenfeindlich. Dabei widersetzt sich der, der Kontrolle fordert, nur der Auflösung und fordert Differenzierung nach Migrationsursachen. Wären die Begriffe Flüchtlinge und Asylbewerber, Kontrolle und Ablehnung genutzt, wäre die Massenflucht nicht in Gang gesetzt worden.

Wie ein falscher Tweet Europa verändert

Die organisierte Tatenlosigkeit und Begriffsverwirrung einer unfähigen
Regierung gipfelt in dieser fatalen Twittermeldung vom 25. August des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, in der neudeutschen Kleinkindsprache zu „BAMF“ verkürzt: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“

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Das ist der eigentliche Wendepunkt in der Geschichte der Masseneinwanderung: Von dem Tag an weigerten sich Migranten, die in Ungarn und im Bahnhof von Budapest angekommen waren, sich weiterhin kontrollieren und registrieren zu lassen. Ab diesem Tag begann die Große Wegwerfe der Pässe: Seither haben sich Syrer sehr schnell vermehrt. Und wer sich nicht zum Syrer machen konnte oder wollte, tauchte unter im riesigen Treck, der nach Deutschland zog. Mit diesem Tag und diesem Tweet, der sich in kürzester Zeit und den mit Smartphones bewaffneten Zuwanderern ausbreitete, begann der unaufhörliche Strom nach Deutschland – dem sich dann Ungarn und Österreich nicht mehr widersetzten. Warum auch? Das Ziel war Deutschland. Warum sollte sich Victor Orban, Ungarns Ministerpräsident, weiterhin als herzloser Schlächter bezeichnen lassen, wenn doch die Durchreise zu den Ländern, aus denen die Schimpfkanonade kommt, mit Bussen so leicht zu bewerkstelligen ist?

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Hier beginnt die Veränderung Deutschlands und der Riss innerhalb Europas, der zum Brexit beitrug und nicht nur die osteuropäischen Staaten zur Opposition gegen die einsamen Entscheidungen Deutschlands führte. Es ist nicht der 4. September, wie DIE ZEIT jetzt in Nr. 35 meint: „In Budapest stellt Mohammad Zatareih Flüchtlinge in Fünferreihen auf. Sie marschieren los.“ Der Auslöser ist die Erkenntnis der sogenannten Flüchtlinge, dass Deutschland die Grenzen bereits an jenem 25. August per Twitter faktisch geöffnet hat – und nur die ungarische Regierung nicht ebenfalls auf Tweets des BAMFs gehorsam alle europäischen Abkommen aufgibt.

Von der Kontrollaufgabe zum Kontrollverlust

Der BAMF-Tweet ist die Kapitulationsurkunde der Regierung Merkel, die seither nur noch eine amtierende „Regierung Ratlos“ ist; nicht einmal der von bitteren Briten geprägte Begriff von der deutschen „Hippie-Regierung” trifft es noch – es ist die Selbstaufgabe, die Abdankung im Amt: das Über-Bord-Werfen von Rechtsgrundsätzen und Verfahren, dass Kontrollmöglichkeiten gar nicht mehr versucht und die Grenzen geöffnet werden für alle, die sich Syrer nennen und auch für jene, die erkennbar keine sein können. Seither leben Hunderttausende ohne Kontrolle in einem Land, in dem sonst Kehrwoche, Mülltrennung und jedes Knöllchen penibel verfolgt werden.

Der Kontrollaufgabe an den Grenzen folgte der Kontrollverlust im Innern: Das Sex-Silvester von Köln, die Attentate von Würzburg und Ansbach, Übergriffe in vielen Freibädern, explodierende Gewalt und Kriminalität, eine Lawine von Kosten – menschlicher, wirtschaftlicher und politischer – überrollt Deutschland und schwächt in der Mitte Europas das bisherige wirtschaftliche und soziale Kraftwerk des Kontinents. Eigentlich kann man die Menschen, die aus unterschiedlichsten Motiven nach Deutschland kommen, nur mit einem Begriff fassen: Sie sind alle Merkel-Flüchtlinge, die die Scheunentür des falschen Wortes für sich nutzen – und Deutschland und Europa einer großen Umwälzung unterwerfen. Aus Sicht der Zuwanderer ist das verständlich, welche Enttäuschungen auf sie warten, hat ihnen niemand gesagt.

Das Narrenschiff Europas

Aber es wäre falsch, der Regierung Merkel/Gabriel die alleinige Schuld zuzuweisen, auch wenn sie unbestreitbar die Verantwortung trägt. Opposition und Medien verwandelten ein komplettes Land zum Narrenschiff. Statt die Regierung zu kontrollieren, applaudierte die Opposition; unvergessen Katrin Göring-Eckhardt von den Grünen, die davon faselte, wie sie sich über diese Veränderung freue und darüber, dass Deutschland „Menschen geschenkt“ bekomme. Die Eliten des Landes torkelten mit im Rausch, und selbst so kühle Manager wie Daimler-Chef Dieter Zetsche wirkten, als sprächen sie in einem Zustand der kompletten Verkehrsuntüchtigkeit in Fernsehkameras und Mikrophone: Zetsche sah in den weitgehend unausgebildeten, schwer integrierbaren und kaum integrationsbereiten Migranten ein neues Wirtschaftswunder. Forschungsinstitute wie das regierungsnahe DIW rechneten flugs neue Wachstumsraten aus. Die akademische Milchmädchen müssten sich heute schon schämen für ihren bedingungslosen Applaus für eine Regierung, die nicht weniger als ihre Selbstaufgabe vorgeführt hatte. Wie in einem kollektiven Rausch wurde die Grenzenlosigkeit zum Redaktionsprogramm aller wesentlichen Medien und hat an den Fehlentscheidungen und Folgen großen Anteil.

Flüchtlingsmädchen Reem und die Eiskönigin

Der große Rausch der veröffentlichten Meinung und das Flüchtlingsbesäufnis in den Medien begann spätestens mit der manipulierten Berichterstattung über Merkels Gespräch mit dem Flüchtlingsmädchen Reem. Ihm erklärt Merkel noch, dass nicht alle Flüchtlinge bleiben können. Ihre Worte werden von einem Team des NDR aufgezeichnet, geschnitten und gesendet, in einer manipulativen Zusammenfassung. „Über Filmschnitt, Rollenbilder und beflügelte Empörungskultur“, so lautete der Titel einer Analyse, wie die nüchterne Kanzlerin vom NDR zur herzlosen Eiskönigin manipuliert wurde. Dieser Film ist ein historisches Dokument – denn darauf und auf die rechten Pöbeleien in Heidenau reagiert die Kanzlerin mit einer beispielslosen Woge der Emotionalität, die letztlich zur Abdankung im Amt führte.

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Als der Stern den Titel „Eiskönigin“ druckte, war die Krönungsmesse für Merkel als infantile Königin der Herzen schon angelaufen. Seither regiert die Gefallsucht, und der Gefallsucht haben sich die Medien verschrieben; sie gefallen sich in ihrer moralischen Überlegenheit, deren Rechnung andere bezahlen sollen. Wolfgang Herles hat den Begriff in Buchform gefasst; Gefallsucht regiert und redigiert, nicht mehr Recht, Gesetz, oder die Interessen der Bevölkerung. Gefallsüchtig vollführt Merkel ihre 180-Grad-Wende zur bedingungslosen Grenzöffnung und Masseneinwanderung. In der Folgezeit durfte sich die Kanzlerin im medialen Beifall suhlen. Die Medien titelten angesichts der Abdankung ein „Willkommen“ wie die ZEIT, die BILD „Refugees welcome“. Die Verantwortung der Medien ist gewaltig.Die reichweitenstarken Medien hatten sich das Motto der Bundeskanzlerin – „Wir schaffen das“ – unkritisch und wiederum völlig undifferenziert zu eigen gemacht, kritisiert im Sommer 2016 der Medienforscher Michael Haller nach Auswertung von über 34.000 Artikeln und TV-Beiträgen. Die Bürger spürten es schon früher, seither spukt das Wort von der „Lügenpresse“ herum. Haller hat es empirisch bestätigt. Er zitiert dazu beispielgebend DIE ZEIT, die im August 2015 mit „Willkommen!“ titelte; aber zur Ehrenrettung der ZEIT gilt: Es waren praktisch alle daran beteiligt. Und Giovanni di Lorenzo übt Selbstkritik.

Denn 82 % der Berichte in den tonangebenden Medien hätten zunächst „übersehen“, dass die Aufnahme von Zuwanderern in großer Zahl und die Politik der offenen Grenzen die Gesellschaft vor neue Probleme stellen würden, so Haller in der Studie. 82% der Berichterstattung zum Flüchtlingsthema muss man in der Abteilung “Jubelmeldung” ablegen; sachlich oder gar kritisch ging nur der verschwindende Rest damit um. Die Wörter wurden falsch.

Und bekanterweise, gibt es kein richtiges Leben im falschen.

https://psychosputnik.wordpress.com/2016/08/19/damals-wie-heute-merkels-neuer-staat-3-0/

Siehe auch:

Deutsche dienen gern

Auf der CeBIT 2013 erlebte ich den damaligen Bundesumwelt- und heutigen Kanzleramtsminister Peter Altmaier erstmals live. Von seiner Rede ist mir die Passage besonders in Erinnerung geblieben, in der er ausführte, mit der Kernenergie wäre es in Deutschland vorbei, für immer. Wie die dogmatische Attitüde des Vortrags verdeutlichte, wollte er damit nicht einen zu diskutierenden Debattenbeitrag leisten. Nein, Altmaier schien wirklich überzeugt zu sein, eine endgültige Entscheidung zu vertreten, an der niemand mehr rütteln würde, niemals mehr, bis an das Ende der Zeiten. Die Verkündigung bereitete ihm sichtlich Freude und erfüllte wohl auch ein tiefes inneres Bedürfnis.

Warum sonst sollte man dieses Thema mit einem Abstand von zwei Jahren zum Fukushima-Störfall auf einer IT-Messe anchneiden? Der Zustimmung des Saales konnte er sich natürlich sicher sein. Denn Festlegungen mit Ewigkeitscharakter zu treffen und Denkverbote zu definieren, ist nicht nur in Bezug auf die Kernkraft und nicht erst seit der Energiewende ein großer Wunsch der Deutschen an ihre Regierungen. Das Verlangen nach Regulierung und Erziehung durchzieht mit unterschiedlichen Schwerpunkten die gesamte deutsche Geschichte. Die Wurzeln seiner aktuellen, auf den Umwelt- und Naturschutz ausgerichteten Ausprägung liegen in den 1970er Jahren.

Deutsche gehorchen gern

Es war die Zeit, als hierzulande die erste Generation die Früchte des von ihren Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeiteten Wohlstands erntete und daher etwas zu verlieren hatte. Der Wunsch, das Erreichte nicht wieder einzubüßen, induzierte die Suche nach Umständen, unter denen genau dies geschehen würde. Mit der Konstruktion plausibel erscheinender Katastrophenszenarien konnte diese zunächst diffuse Furcht auf bestimmte Themen gelenkt werden. So kehrte mit dem Club of Rome die längst überwunden geglaubte malthusianische Vorstellung von der drohenden Selbstzerstörung der Menschheit durch ihre Expansion zurück. Dessen Impulse die Vernetzung der Ängstlichen zu einer grünen Bewegung beförderten.

Gerade die Kernenergie mit dem ihr innewohnenden Potential, preiswerte Energie in unbegrenzter Menge überall verfügbar zu machen, bot sich den Misanthropen als ideales Ziel an. Denn was wäre schlimmer, als der uneinsichtig auf ihr weiteres Fortkommen bedachten Menschheit eine solche Quelle des Wohlstandes zur Verfügung zu stellen? Dieses Argumentationsmuster wird bis heute in unterschiedlichen Bereichen mit immer größerem Erfolg eingesetzt. Vor einigen Wochen erst titelte der Spiegel mit einer Mücke als „gefährlichstem Tier der Welt“ aufgrund der von ihr verbreiteten Krankheiten (Ausgabe 29/2016). Nimmt man die Auswahl der zu dieser Geschichte gedruckten Zuschriften als repräsentativ, haben die meisten Leser den Artikel deswegen kritisiert, weil der Verfasser den unentschuldbaren Fauxpas beging, nicht den Menschen als gefährlichstes Lebewesen für sich selbst und für den Rest der Biosphäre zu geißeln und die Mücke dadurch zumindest auf den zweiten Platz zurückzustufen.

Auch ich durfte erleben, wie mein Kommentar zur Kritik von Naturschützern an der Windenergie wegen der Aussage heftig kritisiert wurde, der Mensch sei nicht Zerstörer, sondern Gestalter seiner Umwelt. Als jüngst der Club of Rome die Vorstellung

seiner neuesten Ergüsse

 mit der Aussage eines der Autoren würzte, seine Tochter sei wegen ihres Ressourcenbedarfes „das gefährlichste Tier der Welt“, hielt sich der öffentliche Aufschrei in Grenzen. Das „Feindbild Mensch“ ist mittlerweile tief genug in der Gesellschaft verankert, um selbst den direkten Umgang miteinander zu vergiften. Argwöhnisch bewerten viele das Verhalten ihrer Mitmenschen hinsichtlich der Risiken, die sie für sich selbst darin zu erkennen glauben. Raucher wissen, was ich meine.

Instinktiv fahndet der Habende nach Bedrohungen, die seinen Status gefährden, seine Gesundheit, seinen Besitz, sein Lebensglück oder das seiner Nächsten und Nachkommen. Wer mit geeigneten Narrativen diesen Reflex bestätigt und zu einer kollektiven Furcht bündelt, verfügt über ein mächtiges Mobilisierungsinstrument.

Die Krise als Statussymbol

Wenn also der Wähler nach Risiken sucht, bietet man ihm welche an. Die Frage, ob aus einer bestimmten Entwicklung irgendwann einmal schlimme Folgen erwachsen könnten, wird irgendein Träger kompetenzvortäuschender akademischer Titel im Rahmen einer gutbezahlten Studie immer mit einem ausreichend deutlichen „Ja!“ beantworten. Untauglich für die weitere Verwertung sind Szenarien, die zu wenig Bürger betreffen und daher kein ausreichendes Erregungspotential aufweisen, die nicht weit genug in der Zukunft liegen und daher zu schnell nachprüfbar werden, die zu weit in der Zukunft liegen und daher bis auf weiteres keine Maßnahmen erfordern oder die sich nicht in eingängigen Bildern und Geschichten formulieren und daher schlecht vermarkten lassen.

Waldsterben und Eiszeit haben nicht überlebt. Aber Ressourcenknappheit, demographischer Wandel und Klimakatastrophe als die drei wirkmächtigsten „gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen” genügen diesen Kriterien. Sie betreffen uns, wenn überhaupt, erst in Jahrzehnten, bedürfen also keiner sofortigen Lösung, deren Formulierung vielleicht nicht gelingt. Sie ermöglichen stattdessen die Aufstellung langfristiger Pläne, für deren Versagen oder Nutzlosigkeit die Verfasser nicht mehr haftbar gemacht werden können. Sie bieten auch gar kein Kriterium, an dem der Erfolg politischer Maßnahmen beweisbar wäre.

„Nachhaltigkeit“ ist kein erreichbares Ziel. Sondern eine immerwährende Aufgabe.
Politiker beobachten genau, wie Wähler auf gesetzte Reize reagieren. Erweist sich eine apokalyptische Geschichte als erfolgreich, wird sie lauter kommuniziert und deutlicher beschrieben, um den Bindungseffekt zu verstärken. Wohlhabende Gesellschaften sind anfällig für einen solchen rückgekoppelten Kreislauf, durch den schließlich ein Filter die Wahrnehmung der Realität verdeckt, der eine virtuelle Parallelwelt vorgaukelt. Nach wie vor sind sehr viele Menschen hierzulande überzeugt, der Störfall in Fukushima hätte tausende Leben gefordert, und reagieren äußerst verwirrt, ja geradezu verärgert, wenn man sie mit der Wirklichkeit von Null Strahlenopfern konfrontiert, wie mir ein entsprechender Test im privaten wie beruflichen Umfeld jüngst verdeutlichte.

Nicht totzukriegen ist außerdem die Angst vor Altersarmut, noch nicht einmal bei Immobilienerben, obwohl die Produktivität in Deutschland stetig anwächst. Die Schreckensvision vom Ende des Erdöls wird immer noch propagiert, obwohl mittlerweile fast alle glauben, vorher aufgrund des Klimawandels entweder zu ersaufen oder zu verdursten. Tatsächlich konnte man bislang noch für kein einziges Wetterereignis auf diesem Planeten den Nachweis erbringen, außerhalb natürlicher Schwankungen zu liegen und zweifelsfrei auf eine Erderwärmung zurückzugehen.

Gewählt wird, wer mit den gängigsten Emotionen spielt

Nichts in der Politik ergibt Sinn, betrachtet man es nicht vor dem Hintergrund der Erlangung oder Verteidigung von Macht. Es mag Politiker geben, die an die Parallelwelt, in der sich alles zum Schlechteren entwickelt, wirklich glauben. Die daher ernsthaft überzeugt sind, solche Entwicklungen verhindern zu können und zu müssen, koste es, was es wolle. Aber auch diese arbeiten und funktionieren letztendlich in einem System, in dem nur Stimmen zählen. Gewählt wird, wer auf der Klaviatur der Emotionen die eingängigsten Harmonien komponiert. Der Gassenhauer Klimaschutz ist eben für die Seele und nicht für den Verstand. So gelang es der grünen Bewegung, vertreten durch die Parteien CDU, SPD, Grüne und Linke (und ein paar kleinere wie die Piraten), ihren Anteil bei Wahlen auf über 70% zu steigern. Am Ende einer solchen Entwicklung steht dann Peter Altmaier am Rednerpult. Die Wähler haben es so gewollt.

Dabei ruft die Fokussierung auf die Vermeidung potentieller Zukunftsrisiken reale gegenwärtige Gefahren erst hervor. So bedeuten Technologieverbote, wie bei der Kernenergie, bei der Gentechnik oder beim Fracking, vor allem den Verzicht auf Innovationen, auf Wettbewerbsfähigkeit, auf Wertschöpfungsoptionen und damit auf künftigen Wohlstand. Den ungehemmten Zuzug von Migranten als Antwort auf demographische Fragen zu preisen, beinhaltet, die mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen verknüpfte Probleme zu vernachlässigen. Bis hin zur vollständigen Ignoranz gegenüber der Entstehung abgeschotteter Subkulturen, die islamistischen Terroristen Operationsbasen und Rückzugsräume auch hierzulande bieten. Im Namen der Klimakatastrophe schließlich wird unsere Energieversorgung umgestaltet, um Strom und Treibstoffe (und damit auch alles andere) zu teuren und knappen Luxusgütern zu machen. Auf das unsere Widerstandskraft gegen Fluten und Dürren, deren Eintreten auch ohne Klimawandel sicher ist, nur nicht noch weiter steigt.

Wer nun glaubt, aus dieser Misere böte die AfD einen Ausweg, der mag sich täuschen. Sicher, es ist schon bigott, wie diejenigen, die das Schüren und Ausnutzen von Ängsten seit Jahrzehnten als Krönung der Staatskunst begreifen, dies nun ausgerechnet der Alternative vorwerfen. Aber es gibt auch in der AfD eine starke, ökokonservative Strömung, die Gentechnik ebenso ablehnt wie Fracking und (bei der Kommunalwahl in Niedersachsen) gar den weiteren Ausbau der Windenergie durch Repowering befürwortet. Ja, selbst die AfD beginnt, die politische Kraft von Dystopien zu verstehen und zu nutzen. Und nähert sich dadurch den etablierten Kräften an. Die grünen Fesseln zu sprengen bleibt vorerst eine individuell zu verwirklichende Aufgabe.

Wem nützt die grüne Welle?

Man könnte sich die Frage stellen, was die zur Vermeidung von Zukunftsrisiken als notwendig erachteten Maßnahmen tatsächlich für die Menschen bedeuten. Wem hilft es, wenn der Strompreis immer weiter steigt? Wem hilft es, wenn individuelle Mobilität nur noch in teuren und wenig alltagstauglichen Elektromobilen möglich ist? Wem hilft es, wenn Eigentümer zu einer Kreditaufnahme gezwungen werden, um ihre Häuser mit leicht brennbaren Schaumstoffplatten zu verkleiden? Wem bringt all dies etwas ein, jetzt und hier? Ist die Beruhigung eines eingeredeten schlechten Gewissens soviel wert? Zumal die Profiteure, von den Subventionsempfängern in der Energieindustrie bis hin zu den politisch exzellent vernetzten ökologistischen Verbänden und Vereinen, ihre Gewinne völlig ohne Scham einstreichen.

Ohnehin wären Schuldgefühle gegenüber der Zukunft kein guter Ratgeber. Unser Wohlstand ist nicht entstanden, weil wir unseren Nachkommen etwas weggenommen hätten. Das wäre auch schlecht möglich, denn wir kennen die Bedürfnisse künftiger, noch nicht existierender Generationen nicht. Nein, unser Wohlstand ist unsere eigene Leistung, er beruht auf dem, was wir vorfanden und in Werte verwandelt haben. Er basiert auch auf den Möglichkeiten, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben. Hätte man beispielsweise im Mittelalter in Nachhaltigkeitskonzepten gedacht, würden wir heute Lagerräume voller Felle, Holzkohle, Bienenwachs und Waltran finden. Dinge, über die wir ohnehin in großen Mengen verfügen könnten, würden wir sie denn brauchen.

Meine Tochter ist nicht “das gefährlichste Tier der Welt”

Wie aber würden wir leben müssen, hätte sich die Welt im 18. Jahrhundert in einer globalen Anstrengung verpflichtet, durch die Nichtnutzung fossiler Energieträger die industrielle Revolution ausfallen zu lassen? Verantwortlich zu denken, beinhaltet nicht, sich selbst zugunsten der Nachfahren einzuschränken. Verantwortliches Handeln bedeutet, alle eigenen Chancen zur Wohlstandsmehrung zu ergreifen, damit künftige Generationen auf einem noch stabileren Fundament stehen als wir heute schon. Vor allem müssen wir ihnen mehr Optionen verschaffen, sich den dann aktuellen Herausforderungen zu stellen. Wir sollten uns dazu nicht ausmalen, was wir auf welche Weise verlieren könnten. Sondern zu erkennen lernen, was es zu gewinnen gibt. Meine Tochter ist eben nicht “das gefährlichste Tier der Welt”, sondern eine Quelle der Inspiration, der Kreativität und der Innovation. Sie ist, wie alle anderen Kinder auf diesem Globus auch, nicht ein weiterer Sargnagel für die Menschheit, sondern der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Sie sollte in eine Welt hineinwachsen, in der kein Club of Rome nicht mehr wagt, sie als Bedrohung zu verunglimpfen. Sie sollte in eine Welt hineinwachsen, in der kein Politiker mehr Beifall dafür einheimst, gesellschaftliche, ökonomische und technische Fortschritte dogmatisch zu verdammen. Ein kleiner, aber in diesem Zusammenhang hilfreicher Ansatz bestünde darin, über Atomkraft neu nachzudenken. Das lohnt sich – allein schon um des Vergnügens willen, Peter Altmaier zu ärgern.

marcolatur: Das Ende des Nachtlebens | #m8y1 — Andreas Große

Das Ende des Nachtlebens

©Moyan Brenn
Das Ende ist nahe …
Die stillen Zeugen heimlicher Küsse, Beziehungsdramen, neuentstehender Freund- und Liebschaften, Geburtstagsfeiern, kaum sichtbarer oder übertriebenen Tanzbewegungen – sie sterben aus. Teilweise über Jahrzehnte hinweg trotzten Diskotheken allen Widrigkeiten, allen Krisen, allen Katastrophen. Doch die selbsternannte Generation „Party Hard“ schafft es, diesen Legenden den Saft abzudrehen.
Abgesägt sind bereits die Großraumdiscos. Die Gelddruckmaschinen von einst sind heute nicht mehr als eine verfallende Fotokulisse mit ein paar tausend Quadratmetern. Vor zwei Jahren meldeten mehr als 60 dieser Drucktempel Konkurs an. Im Jahr darauf stieg die Zahl noch einmal um über 50% mehr an. Natürlich gibt es noch vereinzelt diese Megaparks, die es mit verschiedenen Areas schaffen, ein breites Publikum zu gewinnen. Sie sind die kleine Widerstandstruppe in einer Welt aus gemauerten Zombies, die in Untoten-Manier – innerlich leer, äußerlich verrottet – stets daran erinnern: du könntest bald einer von uns sein …
Geschäftsmänner, Insider, Herzblut-Betreiber, die über Generationen hinweg ihre Stammkunden jedes Wochenende zum Abfeiern locken konnten, stehen vor dem gesellschaftlichen Nichts. Haus und Hof teilweise längst überschrieben und klammern sich an den noch so kleinsten Cocktail-Strohhalm. Wie? Und warum? Was ist passiert? Im Kampf, die Attraktivität ihrer Lebensgrundlage oben zu halten, bieten sie den Menschen immer mehr an – und schaufeln dabei immer mehr ihr eigenes Grab. Und was die Gäste selber nicht kapieren: sie schaufeln fleißig mit um am Ende selbst mit reinzufallen. Das Nachtleben arbeitet gerade am Nachtsterben.

Respektlos durch die Nacht

In den ländlichen Bereichen ist es schon normal. Das alte Gebäude da drüben? Das war mal ne Disse … Die stets belächelte „Bauerndisco“ konnte freitag- und samstagabends auf die Gäste auf dem eigenen und den umliegenden Kaffs bauen. Sonntags Jugenddisco. Passt. Kohle verdient, Rechnungen bezahlt. Irgendwann aber stieg auch die Mobilität der Führerscheinlosen. Irgendein Papa brachte Kind und Kumpels in die nächste Stadt, der große Bruder wurde 18, Sammeltaxis und Discobusse brachten die Dorfkinder weg vom altbekannten in die Lichter der Kleinstadt. Früher gaben sich auch die Clubs noch entspannter an der Tür. „Du bist erst 16? Kein Problem, aber um Mitternacht biste raus, klar?“ Man wollte ja wieder kommen, also war man auch um zwölf Uhr wieder weg. Man hatte noch Respekt vor Autoritäten. Nicht Angst. Respekt.
Etwas, was jede 15jährige Hühnerbrust heute von alles und jedem einfordert, ohne selbst in der Lage zu sein, davon etwas zu zeigen. Irgendwann wurde es eben Mode, Kinder für jeden Mist zu loben. Die Folge: der Nachwuchs fühlt sich inzwischen schon als Übermensch, weil er fehlerfrei seine Schuhe binden konnte und führt sich dann auf wie sein sagenumwobenes Gangster-Image-Idol. Behandelt sie der Türsteher aber dann ihrem Verhalten entsprechend, laufen sie zum Papa, der den Anwalt einschaltet.

Wie oft haben wir früher Scheiße gebaut? Was haben unsere Eltern gesagt, wenn wir auf die Zwölf bekamen? „Hast es ja wohl dann verdient …“ Stimmt. Liebe Security da draußen. Wenn ihr zu fünft auf einen Betrunkenen einprügelt, weil er – Überraschung – etwas zu viel getrunken hat und seine Grenzen nicht mehr kannte, dann ist das Asi. Wenn ihr einem Teen-Proll, der gerade einmal geradeaus pissen kann, eine anständige Ohrfeige verpasst, nachdem er mit Beleidigungen und Gläsern um sich geworfen hat, weil ihm seine mitgebrachte Billig-Wodkaflasche abgenommen wurde: hey, ich hab nix gesehen. Versprochen.

Der Feind hat einen Namen

Wobei sich das Verhalten und damit das Ansehen der Türsteher im Allgemeinen ja auch zum positiven verändert hat. Sie werden nicht mehr als die einsilbrigen Möchtegern-Navy-Seals angesehen sondern als die Leute, die für Sicherheit sorgen und Frauen zum Auto bringen, wenn ihnen unwohl ist. Natürlich gibt es noch die zahnlosen Ersatzschläger der Marke „CheapSecurity24.de“, die aber ohnehin bald selbst dafür sorgen, dass ihr Auftraggeber verschwindet. Die Website ist übrigens fiktiv. Hoffe ich zumindest.
Doch nun weiter im Text. Natürlich bringen schleichende Preiserhöhungen bei Strom & Co. die Sorgenfalten auf die Betreiberstirn. Aber der Gast zahlt für sein Bier auch problemlos 3,50 Euro statt 3,- Euro. Zumindest die meisten. Beim Rest ist eh Hopfen und Malz verloren. Doch nun kommen wir zu einem Giganten, der – vermutlich ohne es zu wissen – die geschliffene Klinge federführend an den Hals des pulsierenden Nachtlebens gebracht hat. Ladies and Gentlemen, ich präsentiere ihnen den größten Feind des sozialen Lebens: Facebook.
Klingonisch, ist aber so. das Böse hat damit einen Namen und niemand hatte es am Schirm. Doch es ist da. Du zweifelst? Nun … ich hoffe mal, du gehörst zu der Generation, die noch vor 2006 gelernt hat wegzugehen. Erinnere dich mal daran, warum dich damals nichts in den eigenen vier Wänden halten konnte. Du kennst das Gefühl noch: Günni war bis vorgestern in Australien, was er da wohl erlebt hat. Lisa hat sich von ihrem Freund getrennt, jetzt muss ich mich mal ranhalten. Hat sich Tom jetzt dieses Bike gekauft? Ob die Kleine von letzter Woche wieder da ist? Bla bla bla …
Es gab eine große Motivation: sehen und gesehen werden, sich auf den neuesten Stand bringen, Leute kennen lernen, Freunde treffen – kurz und neudeutsch: socialn. Na? An welche Website erinnert dich das? Facebook – und alles was sie aufkaufen – hat uns diese Motivation genommen.
Sehen und gesehen werden? Okay … einloggen.
Auf den neuesten Stand kommen? App öffnen.
Leute kennen lernen? PN schicken.
Freunde treffen? Kommentieren.
Es wurde uns alles genommen. Wir können alles, was uns damals zum Abfeiern als Grundlage diente, 24/7 vom Bahnhofsscheißhaus aus erledigen. Handy raus, App öffnen, liken, schließen, runter spülen.

Die Generation der Schisser?

Und vergesst nicht, ihr sprecht eine Generation an, die für Musik und Filme nichts mehr bezahlen möchte. Wer alle drei Lieder eine Werbeunterbrechung akzeptiert um kostenlos auf Spotify seine Lieder zu hören und Kinofilme in Vierfach-kopierter-VHS-Qualität okay findet … hey … sollen das eure Retter sein?
Wer an meinen Worten zweifelt, für den habe ich ein ganz simples Gedankenspiel: stell dir einfach vor, von heute auf morgen würden alle wichtigen Webserver unwiderruflich abstürzen. Nur mal so als utopische Phantasie. Was glaubst du, wie es nach zwei Wochen in den Clubs aussehen würde? Wir hätten alle Freudentränen in den Augen. Darauf verwette ich alles. Und flirten wird wieder ein Nervenspiel. Nix da, den Kumpel fragen ob er die Kleine an der Theke auf seiner FL hat um sie dann per PN anzuschreiben und im RL etwas auszumachen (Gott, ich hasse diese Abkürzungen). Nein, dann heißt es mal wirklich wieder Eier zeigen und hingehen, ansprechen, antanzen, einen Drink ausgeben, ins Kino verabreden, Körbe einfangen, Schmetterlinge im Bauch haben. Wer kennt das noch im Zeitalter des Addens? In der pursten Form von einst: Face to face.
Aber was machen die Discobetreiber? Kostenloses W-Lan anbieten. Die supergeilen „Partyprofis“ halten ihre verpickelte iFresse ja noch nicht intensiv in ihr iHandy. Da kann ja nur Stimmung aufkommen. „Kennste das Bild da auf Instagram? Voll lustig.“ Wenn ich dir dein Smartphone zwischen die Augenramme, DAS wäre voll lustig.
Der nächste Hirnfick der Eventsucher sind Smart-DJs. Kennste nicht? Sei froh! Per App wird innerhalb des Clubs von den Besuchern entschieden, welcher Song als nächstes aus den Boxen dröhnen darf. Ein Garant für volle Tanzflächen? Vergiss es. Schließlich muss ja auch der nächste Song geil sein. Und der nächste. Mittendrin und nicht dabei. Abgesehen davon, dass der DJ zur Musikbox wird.
Wer sich so etwas in seinen Tanztempel stellt, der hat damals auch Bubble Tea angeboten, oder? Was ging denn da in euren Gehirnen ab? „Hey, ich hab da ein abscheuliches Getränk, mit dem ich alle Besoffenen zusätzlich mit kleinen Kügelchen und Strohhalmen ausstatte. Das KANN ja nur gut ausgehen!“ Irgendwie so muss der Gedankengang gewesen sein …

Alles darf, nix muss

Ihr habt ja lange durchgehalten. Respekt. Nun wollt ihr von mir die ultimative Lösung zur Rettung der nächtlichen Kultur, oder? Tja, wenn das so einfach wäre. Es wäre schon mal ein Anfang, wenn die Gäste eines Clubs mal wieder in ihre Schranken gewiesen werden. Vor allem die, der jüngsten Generation. Ich weiß, ich klinge wie so ein „früher war alles besser“-Spasti, aber früher gab es fast die gleichen Probleme in anderem Gewand. Aktuell sind nur ein-zwei hinzugekommen. #neuland. Aber die Neupartykönige, die sich wie die geilsten fühlen, weil sie ne Flasche Wodka für 15 Euro gekauft haben (Uii!) müssen mal wieder kapieren, dass sie kein RECHT darauf haben, in dem Club zu sein. Sie haben kein Recht darauf, dass der Türsteher den/die Ex rauswirft, sie haben kein Recht darauf als erster bedient zu werden, kein Recht darauf, dass der Chef auch den betrunkenen Kumpel mit rein lässt, kein Recht darauf mit 16 reinzugehen, kein Recht darauf, dass der Barkeeper den Drink stärker macht als sonst, kein Recht darauf, dass der DJ die gleiche scheiß Nummer 20x am Abend spielt. Genau das glauben aber offenbar viele.
Ihr habt die unermessliche Gnade der verantwortlichen Person, wenn ihr etwas bekommt, was nicht alle so bekommen. Mehr nicht. Also verhaltet euch entsprechend. Mit dem Fünfer an der Kasse hast keiner den Laden gekauft. Selbes gilt für die Mitarbeiter. Untereinander, gegenüber den Chef-Ansagen, gegenüber dem Gast. Auch wenn er der Neue deiner Ex ist: der Drink wird genauso gemacht, wie bei den anderen. Auch wenn sie dir fremdgegangen ist: sie darf in den Club, wenn es sonst keine Gründe gibt. Ach ja, liebe DJ. Dezibel machen die Übergänge auch nicht geiler. Die Leute sollen sich noch unterhalten können.

You’ve got the power

Und liebe Nachtschwärmer: die 50 Cent Trinkgeld bringen euch nicht um. Und regt euch nicht über 16jährige auf, wenn ihr selber erst 18 seid. Das ist lächerlich. Gastronomen und Clubbetreiber sitzen stundenlang zusammen um euch etwas zu bieten. Wenn es euch nicht gefällt: okay. Ist ja kein Beinbruch. Wems gefällt, der wird kommen. Aber erspart euch euren geistigen Dünnschiss als Facebook-Kommentar unter den Veranstaltungen. Wenn ihr einen Club nicht mögt, dann ignoriert ihn und macht keine Hetzkampagne. Denn was wäre, wenn das alle machen? Dann steht ihr in einer ausgestorbenen Stadt und müsst aus Mangel an Alternativen das nehmen, was kommt.
Oder glaub ihr echt, ein Stadtrat ist geil darauf, Clubs zu retten? Die deutliche mehrheit der Wähler sind 35+. Wem wird er da wohl in die Hände spielen?
Und zuletzt noch: liebe Clubbetreiber. Wenn es schon 4 Discos mit dem gleichen Stil in einer Kleinstadt gibt, dann werdet nicht der Fünfte. Das funktioniert 1-2 Jahre und dann „ist es eh überall das gleiche“. Und ihr könnt zusehen, wie die Leute in Autos steigen und in anderen Städten das Geld ausgeben.
Ich bin seit bald 20 Jahren im Nachtleben tätig. Und ich glaube fest daran, dass jede Generation ihre Abstürze, ihre Partys, ihre Fehltritte, ihre Dummheiten und ihre gemeinsame Zeit braucht. Und an keinem anderen Ort kann das besser ausgelebt werden, als in den Clubs und Discos.
Seid keine Arschlöcher. Rettet die Nacht.
Wenn es einer kann – dann ihr.
P.S.: Vorglühen ist für Amateure.

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Der I gehört zu D. Zu wem aber gehört D?

Es ist ganz einfach, lieber Roland Tichy. Wenn Sie mal wieder von einem Anfall sadomasochistischer Vergnügungslust gepackt werden, müssen Sie nur wahlweise den Satz „Der I gehört zu D“, beziehungsweise „Der I gehört nicht zu D“ verwenden. Ich mach das mal kurz vor.

I.

Der Dom gehört zum Papst. Der Dom gehört aber auch zu Kölle. Gehört der Papst deshalb zu Kölle oder Kölle gar zum Papst? Unbestreitbar ist der Vatikan ein eigenständiger Staat, kann also schlecht zu Kölle oder D gehören. Interessante Zusatzfrage: Als wir vorübergehend Papst waren, gehörten wir da noch zu D? Die Sache ist verzwickter als man denkt. Wie wäre es mit der simplen Einsicht: Religionen gehören zu gar keinem Staat. (Gotteststaaten wie der Vatikan natürlich ausgenommen) Sehen Sie! Schon machen wir uns unbeliebt.

II.

Eindeutig zu D gehört der Mond. Was täte die deutsche Romantik ohne ihn? Es gäbe sie gar nicht! Er ist nun einmal über D aufgegangen, der Mond, dank Matthias Claudius. Andererseits ist territorial nichts zu wollen. Der Mond weigert sich hartnäckig, dem deutschen Reichsgebiet in den Grenzen von 33 beizutreten. Streng davon zu unterscheiden ist die Frage, ob auch der Mann im Mond zu Deutschland gehört. Es ist ja nicht der Mann, der aufgeht. Immerhin scheint der Mann im Mond integrationswillig und integrationsfähig. Dennoch: Wenn der Mond zu D gehört – kann man es dann dem Halbmond verweigern?

III.

My heart belongs to Daddy, sang Marilyn Monroe. Schön für Daddy. „Der I gehört zu D“ ist nicht ganz so schön. Vielleicht, weil im deutschen „gehört“ ein unüberhörbar autoritärer Ton nistet. Typisch deutsch eben. Es ist nämlich nur noch ein Schrittchen bis zu „Das gehört sich so!“ beziehungsweise „Das gehört sich nicht!“ Was man unmöglich mit „It belongs!“ / „It does not belong“ übersetzen kann.

IV.

Wir diskutieren mittels zweier hammerharter Behauptungssätze immer nur über I, doch fast nie über D. Wir tun so, als wüssten wir ganz genau, was das ist, wenn wir D sagen. Aber inzwischen bin ich mir nicht einmal mehr sicher, was für ein D diejenigen meinen, die dauernd „Der I gehört zu D“ rufen – oder das Gegenteil.

Ist aber auch vertrackt. Für die einen ist D ein Synonym für Nation. Und damit etwas Heiliges. Im Sinne Fichtes: Nationen sind Gedanken Gottes, natürliche Schöpfungen. Andere, mich eingeschlossen, halten das für Blödsinn.

Keine Nation auf der Welt ist etwas Natürliches und schon gar nicht göttlicher Wille. D ist ein Vertragsraum. In ihm gelten Rechte und Pflichten. Wer dazu gehören will, muss sich an seine Verfassung halten. Ein demokratischer Verfassungsstaat stützt sich ganz unsentimental auf den freien Willen freier Bürger, schützt sie vor jeder Art von Diktatur, ob weltlicher oder geistiger Natur. Eine Nation dagegen ist das, was ein ukrainisches Sprichwort unübertrefflich so auf den Punkt bringt: Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete.

V.

So wie wir zwischen der romantischen Idee des Mondes und seiner Materie unterscheiden, sollten wir auch zwischen der romantischen Idee der Nation und dem Verfassungsstaat, aber auch zwischen der gar nicht romantischen Idee des Islams und seiner konkreten Macht über Menschen unterscheiden.

VI.

Das Problem ist mehr der Nationalismus als der Islam. Überall dort, wo der Islam Staatsreligion ist und sich nationalistische Politiker auf die politische Macht des Glaubens berufen, verletzt dieser Glaube die Freiheit. Das Üble an Erdogan ist nicht, dass der Islam zur Türkei gehört (und umgekehrt), sondern dass Erdogan ein Nationalist ist (und ein Feind der Demokratie dazu). Armenier und Kurden können das genau erklären. Erdogan instrumentalisiert den Islam. Nicht nur in der Türkei, sondern auch in D. Weshalb darf Erdogan hier in D nicht bloß Wahlkampf machen, sondern auch Integration oder gar Assimilation ablehnen? Wie blind ist der deutsche Staat, wenn er zulässt, dass tausende von Erdogans Regime entsandte, türkisch predigende Imame zu D gehören? Diese Imame gehören zur Türkei und zu nichts sonst. Nicht wenige von ihnen behaupten inzwischen, Deutschland sei ein muslimisches Land. Das ist auf gut Deutsch wishfull thinking.

VII.

Die Deutschen sind blauäugig und neigen zum Irrsinn. Deshalb gehört der Idealismus (eine Blüte der Romantik) eindeutig zu Deutschland. Gehört auch der Irrsinn zu D? Nach allem, was wir inzwischen wissen: Ja. Der I gehört zu D. Aber müssen wie ihn deshalb als Geschenk in die Arme schließen?

Wetten, lieber Tichy, dass ich gleich aus ganz unterschiedlichen Gründen für irrsinnig erklärt werde? Ich hisse schon mal die weiße Fahne.

Es ist die mit den blauen Rauten. Gehört BY eindeutig zu D? Ich habe Zweifel. Aber das ist jetzt leider auch wishfull thinking.

In diesem Sinn stets
Ihr Wolfgang Herles

Herles_Buch