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Helmut Dahmer: Eine neue Völkerwanderung

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Eine neue Völkerwanderung

Helmut Dahmer, Wien

 

„Globalisierung“ heißt die Formel, mit der wir die beschleunigte internationale Verbreitung „westlicher“ Techniken, Wirtschafts- und Lebensformen provisorisch umschreiben. Diese „Verwestlichung“ ist von Anfang an, wie die Geschichte der von Europa seit dem 16. Jahrhundert ausgehenden Kolonialisierung der außereuropäischen Länder zeigt – der die innere Kolonialisierung der europäischen Schrittmacherländer vorausging –, auf Widerstand gestoßen. Der bedeutendste dieser „Widerstände“ war in dem Jahrhundert zwischen der Pariser Kommune (1871) und dem Kollaps der Sowjetunion die sozialistisch-kommunistische, antikapitalistische Weltbewegung, die viele Millionen von Menschen in West und Ost, Süd und Nord erfasste und sie zum Aufstand gegen die soziale Ungleichheit im nationalen und internationalen Maßstab rief. Diese Massenbewegung ist inzwischen Geschichte. Sie war keineswegs antiwestlich orientiert, sondern darauf, den in den „führenden“ Ländern erreichten Fortschritt und den Lebensstandard, den die dort lebende Mehrheit zumindest zwischen den periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen erreicht hatte, zu verallgemeinern. Was wir heute erleben, ist eine fatale Mutation des früheren, säkularen, prowestlich-antiwestlichen Widerstands. Radikale muslimische Sekten (wie der „Islamische Staat“ und sein Ableger „Boko Haram“), die von theokratischen Ölstaaten (wie Saudi-Arabien oder Iran) gesponsert werden und ihr Heil in der militärisch erzwungenen Rückkehr zu prämodernen Lebensverhältnissen suchen, sind die heutigen  „Stellvertreter“ der gescheiterten säkularen Strömungen vom Typus der „nationalen Befreiungsbewegungen“. Die muslimisch-fundamentalistischen Strömungen bedienen sich wie selbstverständlich der (für sie erreichbaren) „westlichen“ Militär- und Kommunikationstechniken, versuchen aber zugleich, der von ihnen beherrschten Bevölkerung eine asketisch-prämoderne Lebensform aufzuzwingen. Sie wollen sowohl die Geschichte vor der Mohammed im 7. Jahrhundert zuteil gewordenen Offenbarung auslöschen (daher die Zerstörung antiker Kulturruinen in Palmyra und anderswo), als auch die Geschichte der westlichen Vorherrschaft und des Niedergangs muslimisch geprägter Länder im vergangenen halben Jahrtausend rückgängig machen. Wie jede erlaubte oder kommandierte Regression ist auch diese für Menschen aller Sozialschichten, die zu den Erniedrigten und Beleidigten gehören oder sich als solche fühlen, attraktiv.

Die heute weltweit vorherrschende, „westliche“ Wirtschafts- und Lebensweise ist das Resultat einer vor Jahrhunderten einsetzenden europäischen Sonderentwicklung. Hier und nur hier entwickelte das wehrhafte Bürgertum der Handwerks- und Handelsstädte seit dem ausgehenden Mittelalter in Gestalt der internationalen Marktwirtschaft eine Alternative zum „Feudalismus“ – der bodenvermittelten, direkten Form gesellschaftlicher Herrschaft. Sie hat sich als die überlegene durchgesetzt und im Verlauf einiger Jahrhunderte die traditionalen Gesellschaften in moderne umgewandelt. Die Warenerzeugung trat an die Stelle der Subsistenzwirtschaft, Bauern wurden zu Städtern, Hörige zu „Selbständigen“, Kleineigentümer zu abhängig Beschäftigten (nämlich Lohnarbeitern). Die Bindung der Individuen an Gemeinschaften (Großfamilien, Sippen, Stände, Schichten, Milieus, Regionen und Nationen) lockerte sich. Als überlebensfähige vereinzelte Einzelne gehörten sie primär den informellen, transnationalen Korporationen sozialer Klassen an. Die moderne, indirekte Vergesellschaftung der vielen isolierten Wirtschaftssubjekte über Marktbeziehungen trat in der (westlichen) Moderne als eigentliche Lebensgrundlage an die Stelle der traditionalen, ethnisch und religiös geeinten, ortsgebundenen Gemeinschaften.

Die in Europa entstandene moderne Wirtschaftsweise, deren Motoren auf Dauer gestellte, gewinnorientierte Unternehmungen (Familienbetriebe oder weltweit operierende Großkonzerne) sind, ist expansiv. Sie hat sich im Laufe der letzten Jahrhunderte global ausgebreitet, sämtliche außereuropäischen Gebiete mit Waffengewalt erobert und die dort vorgefundene Subsistenzwirtschaft samt den ihr entsprechenden gemeinschaftlichen Lebensformen ruiniert. Der Anschluss der Kolonien an den Weltmarkt bedeutete ihre Transformation in Rohstofflieferanten für die Industriestaaten. Die Entwicklung eigener, konkurrenzfähiger Industrien gelang in der „Dritten Welt“ gar nicht oder wurde um viele Jahrzehnte verzögert. Die heutige Welt-Unordnung, die Koexistenz eines Fünftels der Erdbevölkerung, das in irdischen Paradiesen lebt, mit einem anderen Fünftel, das in Hunger und Elend vegetiert, hat ihren Ursprung in der Kolonialpolitik der höchstentwickelten Staaten zwischen 1850 und 1950. Verelendung, Stagnation, eklatante Ungleichheit innerhalb der Nationen und zwischen ihnen setzen sich in Verteilungskämpfe um, die mit barbarischer Härte geführt werden. Dabei sind die euphemistisch „Entwicklungsländer“ genannten, übervölkerten Drittweltstaaten nach wie vor Objekte oder Söldner der Großmächte, deren Ringen um die Erweiterung ihrer Nutzungs- und Einfluss-Sphären sich auch nach den beiden Weltkriegen und nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ungebrochen fortsetzt.

Die Auflösung traditionaler Gemeinschaften und die wachsende Diskrepanz zwischen dem nur allzu sichtbaren Luxus in den Staaten mit der größten Arbeitsproduktivität und den gewaltigsten Kapitalien auf der einen Seite und dem Massenelend in den stagnierenden Schuldnerländern auf der anderen sind die „Ursache“ der gegenwärtig sich abzeichnenden Völkerwanderung von geschätzt 60 Millionen Menschen weltweit, von denen nur ein Bruchteil auch die gelobten Länder West- und Nordeuropas, Amerikas und Australiens erreicht. Diese Abstimmung mit den Füßen besagt, dass die bisherige (profitable) „Entwicklungshilfe“, sofern sie nicht nur den herrschenden Eliten zugute kam, allenfalls eine karitative war. Das Entscheidende aber konnte sie nicht zuwege bringen: ein Aufholen des Entwicklungsrückstands viel zu vieler außereuropäischer Staaten (und damit die Abschaffung des Hungers). Die Politik der „gated communities“, nämlich der Wohlstandsoasen in der Weltwüste, ist eine der Aus- und Abgrenzung. Sie kann sich einstweilen der Zustimmung nicht nur der politischen Rechten, sondern auch der Billigung der schweigenden Mehrheit sicher sein, die von der bestehenden Verteilung des Weltreichtums profitiert. An der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze wie an den „Schengen“-Grenzen werden immer neue technische und rechtliche Barrieren hochgezogen, um die Elends- und Kriegsflüchtlinge nach Möglichkeit draußen zu halten oder vom Treck in die Länder, in denen Milch und Honig fließt, abzuschrecken. Tausende von Verzweifelten aus afrikanischen und vorderasiatischen Krisenregionen sind in den vergangenen Jahren im Mittelmeer ertrunken. Aber erst, als die ersten Lastwagen mit Erstickten auch an der Grenze Österreichs eintrafen, hat eine wache (und gut gestellte) Minderheit offenbar verstanden, dass ihr Paradies auf tönernen Füßen steht. Sie weiß noch nicht, ob sie das Heer der Flüchtlinge, das jetzt vor der nationalen Türe steht, als die Wirkung weit entfernter (unbekannter) Ursachen oder als einen Umschlag von (bereits bekannter) Quantität in (eine neue) Qualität verstehen soll. Richtiger wäre es, von einem Bumerang-Effekt zu sprechen.

Für die ein, zwei Millionen Flüchtlinge, die in diesem Jahr versuchen, ihre europäischen Sehnsuchtsländer zu erreichen, sind die bestehenden nationalen Grenzen ihrer Herkunftsländer wie diejenigen ihrer Zufluchtsländer irrelevant. Deren Regierungen aber versuchen, sich an das wacklige Gerüst der Schengen- und Dublin-Regelungen zu klammern, in dem sie sich verheddert haben. Bald machen sie die Schlagbäume auf, bald wieder zu. Ihr ratloser Zickzackkurs signalisiert das seit langem sich abzeichnende Ende der Nationalstaaten, die für Menschen, Technik und Wirtschaft längst zu eng geworden sind und in deren Rahmen es überhaupt keine „Lösung“ für die Probleme gibt, die die neue Völkerwanderung aufwirft. Auch wenn Tausende von „Schleppern“ verhaftet und Hunderte ihrer Boote versenkt werden, auch wenn ganze Armeen an den Grenzen aufmarschieren: Die Elendsflüchtlinge werden sich nicht aufhalten lassen; und der Versuch, nur eine Minderheit von ihnen durch die Hintertür des längst eingeschränkten Asylrechts schlüpfen zu lassen, ist zum Scheitern verurteilt.

Die Flüchtlinge aus den Kriegs- und Armutsländern stellen uns vor die folgende Alternative: Entweder wird Europa als eine privilegierte Festung mit allen Mitteln gegen die Verzweifelten aus den ökonomisch stagnierenden „failed states“ verteidigt und investiert zugleich Milliarden in Kriege, die „westliche“ Einflusszonen sichern oder erweitern sollen und als „Kollateralschaden“ das Elend der betroffenen Bevölkerungen vermehren. Oder aber Europa rüstet sich, zum einen (wie nach 1945) Millionen von Flüchtlingen mit Kurs auf einen neuen „melting pot“ (der Ethnien und Religionen) aufzunehmen, und zum andern den Reichtum der Entwicklungszentren umzuverteilen, d. h. das Massenelend mit einer Entwicklungshilfe zu bekämpfen, die diesen Namen verdient – bei der es also nicht mehr um ein paar Promille des Sozialprodukts geht, sondern um 5 oder 10 Prozent davon, und das auf 50 oder 100 Jahre…

(17. 9. 2015)

Ein „kommunistisches“ Pendant zum syrisch-irakischen „Kalifat“ bildete, vor 40 Jahren, Pol Pots Schreckensregime in Kambodscha.

Das erklärt nicht nur den Zulauf zur Hitlerbewegung in Deutschland vor und nach 1933, sondern auch den Aufbruch Tausender Djihad-Unterstützer und heiliger Krieger aus westlichen Ländern ins „Kalifat“.

18.000 Menschen haben sich vor einigen Wochen einer Wiener Demonstration angeschlossen, die sich gegen die derzeit geltenden, unsinnigen „Regelungen“ der Flüchtlingspolitik richtete.

Reinhard Merkel macht ergänzend auf die langfristig zu erwartende, massenhafte Migration von Klimaflüchtlingen aufmerksam, die die von Unterentwicklung und Erderwärmung gleichermaßen betroffenen Zonen verlassen und sich in die Verursacher-Staaten retten werden: „Ist der blanke Zufall der Geburt in Syrien, Eritrea oder Somalia ein plausibler Grund, den Menschen dort ihr Lebensschicksal vom Ort ihrer Herkunft aufzwingen zu lassen, statt es ihrer Selbstbestimmung anheimzugeben? Ein besserer Grund als der Zufall der Geburt in Polen, Rumänien oder Deutschland? Und begründet die schwer bestreitbare Hauptzuständigkeit der reichen Industriestaaten für die Ursachen des Klimawandels nicht eine Art Garantenpflicht; den davon zur Migration Genötigten ein Recht auf Einlass zu geben?“ Merkel, R. (2015): „Das Leben der anderen – armselig und kurz.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 9. 2015, S. 9.

 

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