Wolf Schneider ist Schriftsteller; er lebt in Starnberg (D).
Proletarische Kultur und proletarische Kunst?
Jede herrschende Klasse entwickelt ihre eigene Kultur und folglich auch ihre eigene Kunst. Die Geschichte kennt die Kultur der Sklavenhalter des Ostens und der klassischen Antike, die Feudalkultur des europäischen Mittelalters und die bürgerliche Kultur, die zur Zeit die Welt beherrscht. Daraus folgt anscheinend selbstverständlich, dass das Proletariat seine eigene Kultur und seine eigene Kunst schaffen müsste.
Das Problem ist aber bei weitem nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Gesellschaft, in der die Sklavenhalter herrschten, existierte im Verlaufe von sehr vielen Jahrhunderten. Dasselbe gilt vom Feudalismus. Die bürgerliche Kultur, selbst wenn man sie erst vom Zeitpunkt ihres offenen und stürmischen Auftretens, d. h. von der Renaissancezeit an rechnet, existiert fünf Jahrhunderte, wobei sie ihre volle Blüte erst im 19. Jahrhundert erreichte, eigentlich erst in dessen zweiter Hälfte. Die Bildung einer neuen Kultur um eine herrschende Klasse erfordert, wie die Geschichte zeigt, viel Zeit und erreicht ihren Höhepunkt in einer Epoche, die dem politischen Verfall der Klasse vorausgeht.
Hat denn nun das Proletariat überhaupt genügend Zeit, eine „proletarische“ Kultur zu schaffen? Im Unterschied zum Regime der Sklavenhalter, der Feudalen und der Bourgeoisie betrachtet das Proletariat seine Diktatur als eine kurzfristige Übergangszeit. Wenn wir allzu optimistische Ansichten hinsichtlich des Übergangs zum Sozialismus entlarven wollen, erinnern wir daran, dass die Epoche der sozialen Revolution im Weltmaßstab nicht Monate, sondern Jahre und Jahrzehnte dauern wird – Jahrzehnte, aber nicht Jahrhunderte und schon gar nicht Jahrtausende. Kann denn das Proletariat in dieser Zeit eine neue Kultur entwickeln? Zweifel daran sind um so berechtigter, als die Jahre der sozialen Revolution Jahre eines erbitterten Klassenkampfs sein werden, in denen die Zerstörungen mehr Raum einnehmen werden als der Aufbau einer neuen Kultur. In jedem Falle wird das Proletariat selbst seine Hauptenergie auf die Eroberung der Macht, deren Behauptung, Festigung, deren Anwendung bei der Lösung der allerdringlichsten Daseinsbedürfnisse und auf den weiteren Kampf richten müssen, so dass der Möglichkeit planmäßigen kulturellen Aufbaues sehr enge Grenzen gesetzt sind. Und umgekehrt: Je vollständiger das neue Regime gegen politische und kriegerische Erschütterungen abgesichert sein wird, je günstiger sich die Bedingungen für kulturelles Schaffen gestalten werden, um so mehr wird sich das Proletariat in der sozialistischen Gemeinschaft auflösen, sich von seinen Klassenmerkmalen befreien, das heißt also, nicht mehr Proletariat sein. Mit anderen Worten: In der Epoche der Diktatur kann von der Schaffung einer neuen Kultur, d. h. von einem Aufbau in allergrößtem historischem Maßstab keine Rede sein; und jener mit nichts Früherem vergleichbare kulturelle Aufbau, der einsetzt, wenn die Notwendigkeit der eisernen Klammern der Diktatur entfällt, wird schon keinen Klassencharakter mehr tragen. Hieraus muss man die allgemeine Schlussfolgerung ziehen, dass es eine proletarische Kultur nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben wird; Und es besteht wahrhaftig keinerlei Veranlassung dazu, dies zu bedauern: Das Proletariat hat ja gerade dazu die Macht ergriffen, um ein für allemal der Klassenkultur ein Ende zu setzen und der Menschheitskultur den Weg zu bahnen. Das scheinen wir nicht selten zu vergessen.
Die formlosen Gespräche über die proletarische Kultur in Analogie und Antithese zur bürgerlichen finden ihren Nährboden in der äußerst unkritischen Gleichsetzung des geschichtlichen Schicksals des Proletariats mit dem der Bourgeoisie. Die oberflächliche, rein liberale Methode der formalen historischen Analogien hat mit Marxismus nichts gemein. Es gibt keine materielle Analogie der historischen Bahnen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.
Die Entwicklung der bürgerlichen Kultur setzte einige Jahrhunderte früher ein, bevor die Bourgeoisie mit Hilfe einer Reihe von Revolutionen die Staatsgewalt in ihre Hände nahm. Schon als die Bourgeoisie noch ein halb rechtloser dritter Stand war, spielte sie auf allen Gebieten des kulturellen Aufbaues eine große, ständig wachsende Rolle. Das kann man besonders deutlich am Beispiel der Architektur verfolgen. Die gotischen Kirchen sind nicht plötzlich, nicht in einer schlagartigen religiösen Begeisterung erbaut worden. Der Entwurf zum Kölner Dom, seine Architektur und seine Skulptur stellen die Summe von Bauerfahrungen der Menschen dar, die, beginnend mit den Vorrichtungen des Höhlenbewohners, die Elemente dieser Erfahrungen zu einem neuen Stil zusammenfassten, der die Kultur der Epoche, d. h. letzten Endes ihre soziale Struktur und ihre Technik, zum Ausdruck brachte. Die alte, in Zünften und Gilden organisierte Vorbourgeoisie war die tatsächliche Erbauerin der Gotik. Als sich die Bourgeoisie entwickelt und konsolidiert hatte, d. h. als sie reich geworden war und die Gotik schon bewusst und aktiv durchlaufen hatte, schuf sie sich einen eigenen Architekturstil – aber schon nicht mehr für die Kirchen, sondern für ihre eigenen palastartigen Häuser. Sie stützte sich hierbei auf die Errungenschaften der Gotik, wandte sich der Antike, vorwiegend der römischen Architektur zu, benutzte auch die maurische, unterwarf alles dies den Vorbedingungen und Bedürfnissen der neuen städtischen Gemeinschaft und schuf die Renaissance (in Italien gegen Ende des ersten Viertels des XV. Jahrhunderts). Spezialisten mögen nachrechnen – und sie tun es auch – mit welchen ihrer Elemente die Renaissance der Antike verpflichtet ist und mit welchen der Gotik, sowie welche von diesen das Übergewicht haben. Auf jeden Fall beginnt die Renaissance nicht vor dem Augenblick, in dem die neue Gesellschaftsklasse, kulturell gesättigt sich stark genug fühlt, das Joch des gotischen Bogens abzuschütteln und die Gotik sowie alles, was ihr voraufging, als Material zu betrachten und die technischen Elemente der Vergangenheit frei den eigenen künstlerischen Bauzwecken unterzuordnen. Das bezieht sich auch auf alle anderen Künste mit dem Unterschied, daß die „freien“ Künste infolge ihrer größeren Elastizität, d. h. infolge der geringeren Abhängigkeit vom Verwendungszweck und vom Material, die Dialektik der Überwindung und der Aufeinanderfolge der Stile nicht mit einer derartigen steinernen Überzeugungskraft offenbaren.
Zwischen der Renaissance und der Reformation, die zur Aufgabe hatten, der Bourgeoisie günstigere ideelle und politische Existenzbedingungen innerhalb der feudalistischen Gesellschaft zu verschaffen, und der Revolution, die (in Frankreich) der Bourgeoisie die Macht übertrug, vergingen drei bis vier Jahrhunderte, in denen die materielle und ideelle Macht der Bourgeoisie wuchs. Die Epoche der großen Französischen Revolution und der aus ihr entstandenen Kriege lassen das materielle Kulturniveau vorübergehend sinken. Aber danach setzt sich das kapitalistische Regime als „natürlich“ und „ewig“ fest …
Auf diese Weise wurde der grundlegende Sammlungsprozeß der Elemente der bürgerlichen Kultur und deren Kristallisation zu einem Stil von den sozialen Eigenschaften der Bourgeoisie als der besitzenden Ausbeuterklasse bestimmt: Sie entwickelte sich innerhalb der feudalistischen Gesellschaft nicht nur materiell, war nicht nur mit ihr vielfältig verflochten und zog nicht nur den Reichtum an sich, sondern brachte auch die Intelligenz auf ihre Seite, gründete eigene Kulturstützpunkte (Schulen, Universitäten, Akademien, Zeitungen, Zeitschriften), lange bevor sie sich an der Spitze des dritten Standes offen des Staates bemächtigte. Es genüge, daran zu erinnern, daß die deutsche Bourgeoisie mit ihrer unvergleichlichen technischen, philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur bis zum Jahre 1918 die Macht in den Händen einer feudalbürokratischen Kaste beließ und sich erst dann entschloß, oder richtiger: sich gezwungen sah, die Macht unmittelbar in die eigene Hand zu nehmen, als sich das materielle Gerüst der deutschen Kultur in einen Scherbenhaufen zu verwandeln begann.
Man könnte einwenden: Die Kunst der Sklavenhalter wurde in Jahrtausenden geschaffen, die bürgerliche in Jahrhunderten; warum sollte die proletarische nicht in Jahrzehnten geschaffen werden können? Die technischen Grundlagen des Daseins sind heute ganz andere, und deshalb ist auch das Tempo ein anderes. Dieser scheinbar so überzeugende Einwand geht in Wirklichkeit am Kern der Sache vorbei. Zweifellos tritt in der Entwicklung einer neuen Gesellschaft der Zeitpunkt ein, in dem die Wirtschaft, der kulturelle Aufbau und die Kunst eine äußerst weitgehende Freiheit in ihrer Bewegung nach vorn erhalten. Über das Tempo können wir heute nur Mutmaßungen anstellen. In einer Gesellschaft, die alle beklemmenden und abstumpfenden Sorgen um das tägliche Brot abgeworfen hat, für die in Gemeinschaftsrestaurants gute, bekömmliche, schmackhafte Speisen zubereitet werden in einer alle befriedigenden Auswahl; in der öffentliche Wäschereien gute Wäsche – für alle – gut waschen; in der die Kinder satt, gesund und vergnügt sind – alle Kinder – und die Grundelemente der Wissenschaft verschlingen wie Eiweiß, Luft und Sonnenwärme; in der die Elektrizitätswerke und der Rundfunk nicht mehr so primitiv arbeiten wie heute, sondern wie ein unerschöpflicher Wasserfall zentralisierter Energie, der auf einen Knopfdruck planmäßig reagiert; in der es keine „überflüssigen“ Esser gibt; in der der befreite Egoismus des Menschen – eine gewaltige Kraft! – voll und ganz auf die Erkenntnis, Umgestaltung und Verbesserung des Weltalls gerichtet ist – in einer solchen Gesellschaft wird die Dynamik der kulturellen Entwicklung alles übersteigen, was es in der Vergangenheit gegeben hat. Aber das wird erst nach dem langen und mühseligen Weg zur Paßhöhe eintreten, der noch vor uns liegt. Wir aber sprechen gerade von der Epoche der Paßbezwingung.
Aber ist denn unsere heutige Zeit nicht dynamisch? In höchstem Grade. Aber ihre Dynamik konzentriert sich auf die Politik. Auch Krieg und Revolution sind dynamisch – aber in ungeheurem Umfange auf Kosten der Technik und der Kultur. Zugegeben, der Krieg hat eine große Reihe technischer Erfindungen mit sich gebracht. Aber das Elend, das er verursachte, hat für lange Zeit deren praktische Anwendung in der Revolutionierung des Seins hinausgeschoben. Dies bezieht sich auf das Radio, die Luftfahrt und auf viele chemische Entdeckungen. Die Revolution schafft ihrerseits die Voraussetzungen für die neue Gesellschaft. Aber sie vollzieht dies mit den Methoden der alten Gesellschaft: mit dem Klassenkampf, mit Gewalt, Ausrottung und Zerstörung. Wenn die proletarische Revolution nicht gekommen wäre, wäre die Menschheit an ihren Widersprüchen erstickt. Der Umsturz rettet die Gesellschaft und die Kultur, aber mit den Methoden der grausamsten Chirurgie. Alle aktiven Kräfte konzentrieren sich in der Politik, im revolutiönaren Kampf – alles übrige rückt in den Hintergrund, und alles, was stört, wird mitleidlos niedergetrampelt. In diesem Prozeß gibt es natürlich eigene, private Ebbe- und Fluterscheinungen: Der Kriegskommunismus wird von der NEP abgelöst, die ihrerseits verschiedene Stadien durchläuft. Aber in ihren Grundzügen ist die Diktatur des Proletariats keine Produktions- und Kulturorganisation der neuen Gesellschaft, sondern ein revolutionäres Kampfregime im Kampf für diese Gesellschaft. Das darf man nicht vergessen. Der Historiker der Zukunft wird, so müßte man denken, die Kulmination der alten Gesellschaft auf den zweiten August 1914 zurückführen, als die tobsüchtig gewordene Macht der bürgerlichen Kultur die ganze Welt in Blut und Feuer des imperialistischen Krieges tauchte. Der Anfang der neuen Geschichte der Menschheit wird wahrscheinlich auf den 7. November 1917 zurückgeführt werden. Die grundlegenden Etappen der Menschheitsentwicklung werden vermutlich etwa folgendermaßen festgelegt werden: außergeschichtliche „Geschichte“ des Urmenschen; antike Geschichte, die sich auf der Sklaverei entwickelte; das Mittelalter – mit der Arbeit der Leibeigenen; der Kapitalismus mit der Lohnausbeutung und schließlich die sozialistische Gesellschaft mit ihrem hoffentlich schmerzlosen Übergang zur obrigkeitslosen Kommune. Auf jeden Fall werden die 20, 30 oder 50 Jahre, die die proletarische Weltrevolution dauern wird, in die Geschichte als äußerst schwieriger Übergang von einer Gesellschaftsordnung zur anderen eingehen, auf keinen Fall aber als selbständige Epoche einer proletarischen Kultur.
Jetzt, in den Jahren einer Atempause, können bei uns in der Sowjetrepublik in dieser Hinsicht Illusionen entstehen. Wir haben die Fragen der kulturellen Betriebsamkeit auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn man in Gedanken Linien von unseren heutigen Sorgen auf eine lange Reihe von Jahren hinaus in die Zukunft zieht, dann könnte man sich eine proletarische Kultur zurechtdenken. In Wirklichkeit aber steht unser Kulturbetrieb, so wichtig und lebensnotwendig er ist, immer noch vollkommen im Zeichen der europäischen Revolution und der Weltrevolution. Wir sind nach wie vor Soldaten auf dem Vormarsch. Wir haben nur einen Rasttag. Da muß man sich sein Hemd waschen, die Haare schneiden und kämmen und vor allen Dingen sein Gewehr reinigen und einfetten. Unsere gesamte gegenwärtige wirtschaftlich-kulturelle Arbeit ist nichts anderes als eine Gelegenheit, uns zwischen zwei Schlachten und Feldzügen ein wenig in Ordnung zu bringen. Die Hauptkämpfe stehen uns noch bevor – und sind vielleicht gar nicht mehr so fern. Unsere Epoche ist noch nicht die Epoche einer neuen Kultur, sondern nur ein Vorhof zu ihr. Wir müssen in erster Linie die wichtigsten Elemente der alten Kultur unserem Staat dienstbar machen, und sei es nur, um der neuen den Weg zu bahnen.
Dies wird besonders deutlich, wenn man die Aufgabe, wie es sich auch gehört, in ihrem internationalen Ausmaß betrachtet. Das Proletariat ist die besitzlose Klasse geblieben, die es früher war. Infolgedessen waren die Grenzen für ihren Anschluß an die Elemente der bürgerlichen Kultur, die für immer zum Inventar der Menschheit geworden sind, sehr eng gesetzt. In einem gewissen Sinne kann man zwar sagen, daß auch das Proletariat, mindestens das europäische, seine eigene Epoche der Reformation hatte, vorwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es, ohne schon direkt nach der Staatsmacht zu greifen, sich günstigere rechtliche Voraussetzungen für seine Entwicklung innerhalb des bürgerlichen Regimes erobert hatte. Aber erstens hat die Geschichte der Arbeiterklasse für diese „Reformationszeit“ (des Parlamentarismus und sozialer Reformen), die zum größten Teil mit der Periode der II. Internationale zusammenfiel, etwa so viele Jahrzehnte bewilligt wie der Bourgeoisie Jahrhunderte. Zweitens wurde das Proletariat in dieser Vorbereitungsperiode keinesfalls eine reichere Klasse, und es hat auch keine Macht in seiner Hand konzentriert – im Gegenteil, vom sozialen und kulturellen Standpunkt verelendete es immer mehr. Die Bourgeoisie kam zur Macht, voll ausgerüstet mit den kulturellen Möglichkeiten ihrer Zeit; das Proletariat jedoch kommt an die Macht, voll ausgerüstet mit dem dringenden Bedürfnis, sich der Kultur zu bemächtigen. Die Aufgabe des Proletariats, das die Macht erobert hat, besteht vor allen Dingen darin, den ihm vorher nicht dienstbar gewesenen Kulturapparat – die Industrie, die Schulen, Verlage, die Presse, die Theater u. a. m. in die Hand zu bekommen und sich dadurch den Weg zur Kultur freizumachen.
Bei uns in Rußland wird diese Aufgabe noch erschwert durch die Armut unserer gesamten Kulturtradition und durch die materiell so vernichtenden Ereignisse des letzten Jahrzehnts. Nach der Eroberung der Macht und nach fast sechs Jahren des Kampfes um ihre Erhaltung und Konsolidierung ist unser Proletariat gezwungen, alle seine Kräfte auf die Schaffung der elementarsten materiellen Voraussetzungen für die Existenz und auf die Aneignung des Alphabets im wahren, buchstäblichen Sinn des Wortes zu richten. Nicht umsonst haben wir uns die Aufgabe gestellt, zum zehnjährigen Jubiläum der Sowjetmacht das Analphabetentum zu liquidieren.
Irgend jemand mag vielleicht einwenden, daß ich den Begriff der proletarischen Kultur zu weit fasse. Eine voll entfaltete Kultur des Proletariats wird es tatsächlich nicht geben, aber immerhin wird es der Arbeiterklasse, bevor sie sich in der kommunistischen Gesellschaft auflöst, gelingen, der Kultur ihren Stempel aufzudrücken. Einen derartigen Einwand müßte man in erster Linie als eine schwerwiegende Abweichung von den Positionen der proletarischen Kultur registrieren. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Proletariat während seiner Diktatur der Kultur ihren eigenen Stempel aufdrücken wird. Aber von da bis zur proletarischen Kultur ist es noch sehr weit, wenn man sie als ein entfaltetes und innerlich harmonisiertes System von Kenntnissen und Fertigkeiten auf allen Gebieten des materiellen und geistigen Schaffens auffaßt. Die Tatsache, daß Dutzende Millionen von Menschen zum ersten Male die Kunst des Lesens und Schreibens und die vier Grundrechenarten erlernen, wird allein schon zu einem neuen Kulturfaktor werden, und zwar zu einem ungeheuren. Die neue Kultur wird ja ihrem ganzen Wesen nach keine aristokratische sein, für eine privilegierte Minderheit, sondern eine allgemeine, für die Massen und das Volk bestimmte. Die Quantität wird auch hier in Qualität umschlagen: Zugleich mit der zunehmenden Massenverbreitung der Kultur wird sich ihr Niveau heben und ihr ganzes Aussehen verändern. Aber dieser Prozeß wird sich erst in einer Reihe von historischen Etappen entwickeln. Nach Maßgabe der Erfolge wird die Klassenbindung des Proletariats schwächer werden und folglich auch der Boden für eine proletarische Kultur schwinden.
Aber die Spitzen der Klasse? Ihre geistige Avantgarde? Kann man denn nicht sagen, daß sich in dieser, wenn auch dünnen Schicht jetzt schon die Entwicklung einer proletarischen Kultur vollzieht? Haben wir denn nicht eine sozialistische Akademie? Rote Professoren? Mit einer solchen, sehr abstrakten Fragestellung begeht man einen groben Fehler. Man faßt die Sache so auf, als ließe sich die proletarische Kultur im Laboratoriumsverfahren entwickeln. In Wirklichkeit bildet sich das Grundgewebe der Kultur auf der Basis der wechselseitigen Beziehungen und der gegenseitigen Einflußnahme zwischen der Intelligenz der Klasse und der Klasse selbst. Die bürgerliche Kultur – die technische, politische, philosophische und künstlerische – wurde im Zusammenwirken der Bourgeoisie mit ihren Erfindern, Führern, Denkern und Dichtern geschaffen. Der Leser schuf den Schriftsteller und der Schriftsteller – den Leser. In unvergleichlich größerem Umfang muß dies für das Proletariat gelten, weil seine Wirtschaft, Politik und Kultur nur auf der schöpferischen Selbständigkeit der Massen aufgebaut werden kann. Die Hauptaufgabe der proletarischen Intelligenz ist in den nächsten Jahren allerdings nicht eine Abstraktion der neuen Kultur – solange für sie noch nicht einmal das Fundament gelegt ist – sondern eine äußerst konkrete kulturelle Betätigung, d. h. die systematische, planmäßige und, natürlich, kritische Weitergabe der notwendigsten Elemente der Kultur, die schon da ist, an die zurückgebliebenen Massen. Man darf die Kultur einer Klasse nicht hinter ihrem Rücken entwickeln. Um sie aber gemeinsam mit der Klasse – in enger Anpassung an ihren allgemeinen historischen Aufstieg – aufzubauen, ist es notwendig, den Sozialismus zu verwirklichen, wenn auch nur ins Unreine. Auf dem Wege dahin werden die Klassenmerkmale der Gesellschaft nicht verschärft, sondern im Gegenteil – sie werden verschwommener, lösen sich direkt proportional den Erfolgen der Revolution in nichts auf. Der befreiende Sinn der Diktatur des Proletariats besteht ja gerade darin, daß diese nur eine vorübergehende, kurzfristige Erscheinung ist – ein Mittel, den Weg freizumachen, den Grundstein zu legen für eine klassenlose Gesellschaft und die Solidarität der gegründeten Kultur.
Um den Sinn der kulturschaffenden Periode in der Entwicklung der Arbeiterklasse konkreter zu erklären, nehmen wir die historische Reihenfolge nicht der Klassen, sondern der Generationen. Ihre Kontinuität liegt darin, daß jede der Generationen ihren Beitrag zu der bisher von früheren Generationen angesammelten Kultur in ihrer Entwicklung und nicht im Zustand des Verfalles leistet. Doch bevor sie dieses tut, muß die neue Generation durch eine Lehre gehen. Sie erfaßt die vorhandene Kultur und gestaltet sie nach ihrer Art um, die sich mehr oder weniger von der Art der älteren Generation unterscheidet. Diese Aneignung ist noch nichts Schöpferisches, d. h. es werden noch keine neuen kulturellen Werte geschaffen, sondern nur die Voraussetzung dafür. Das Gesagte kann auch – in gewissen Grenzen – auf das Schicksal der sich zu historischem Schöpfertum erhebenden Massen der Werktätigen übertragen werden. Man muß nur hinzufügen, daß das Proletariat, sobald es das Stadium der kulturellen Lehrzeit verläßt, aufhört, Proletariat zu sein. Wollen wir noch einmal daran erinnern, daß die bürgerliche Spitze des dritten Standes ihre kulturelle Lehrzeit unter dem Dach der feudalen Gesellschaft durchgemacht hat; bereits in deren Schoß hat sie die alten herrschenden Stände kulturell überflügelt und ist zu einem Motor der Kultur geworden, bevor sie zur Macht gelangte. Mit dem Proletariat überhaupt, und dem russischen im besonderen, verhält es sich genau umgekehrt: Es ist gezwungen, die Macht zu ergreifen, bevor es sich die Grundelemente der bürgerlichen Kultur angeeignet hat; es ist gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft gerade deshalb mit revolutionärer Gewalt zu stürzen, weil diese ihm keinen Zutritt zur Kultur gewährt. Ihren Staatsapparat sucht die Arbeiterklasse in eine mächtige Pumpe zu verwandeln, um den Durst der Volksmassen nach Kultur zu stillen. Das ist eine Arbeit von immenser historischer Wichtigkeit. Aber das ist, wenn man nicht leichtfertig mit Worten spielt, noch nicht die Schaffung einer besonderen proletarischen Kultur. Unter der Bezeichnung „proletarische Kultur“, „proletarische Kunst“ u. a. m. figurieren bei uns kritiklos in drei von etwa zehn Fällen die Kultur und die Kunst der kommenden kommunistischen Gesellschaft, in zwei Fällen von zehn – die tatsächliche Aneignung einzelner Elemente der vorproletarischen Kultur durch einzelne Gruppen des Proletariats, und schließlich herrscht in fünf von zehn Fällen – eine derartige Verwirrung von Begriffen und Wörtern, daß man sich darin überhaupt nicht mehr zurechtfinden kann.
Nachstehend ein frisches Beispiel – eines von hundert – einer liederlichen, unkritischen und gefährlichen Verwendung des Begriffs „proletarische Kultur“: „Die wirtschaftliche Basis und das entsprechende System des Überbaues“, schreibt Genosse Sisow, „stellen die kulturelle Charakteristik einer Epoche dar (feudal, bürgerlich, proletarisch).“ Auf diese Art und Weise wird die Epoche der proletarischen Kultur in demselben Sinn wie die bürgerliche aufgefaßt. Aber das, was hier als proletarische Epoche bezeichnet wird, ist nur eine kurze Übergangszeit von einer Gesellschaftsform zur anderen: vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Erreichung des bürgerlichen Systems ist ebenfalls eine Übergangsperiode voraufgegangen, aber im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution, die, nicht ohne Erfolg, danach strebte, die Herrschaft der Bourgeoisie zu verewigen, hat die proletarische Revolution zum Ziel, die Existenz des Proletariats als Klasse in einer möglichst kurzen Zeit zu liquidieren.
Die Dauer dieser Zeit hängt unmittelbar von den Erfolgen der Revolution ab. Ist es nicht geradezu ungeheuerlich, diese Tatsache zu vergessen und die proletarische Epoche mit der feudalen und bürgerlichen in eine Reihe zu stellen?
Wenn dem aber so ist, folgt dann daraus, daß wir auch keine proletarische Wissenschaft haben? Können wir denn nicht tatsächlich behaupten, daß die Theorie des historischen Materialismus und die Kritik von Marx an der politischen Ökonomie unschätzbare wissenschaftliche Elemente der proletarischen Kultur sind?
Natürlich ist die Bedeutung des historischen Materialismus und der Mehrwerttheorie unermeßlich groß, sowohl für die klassenmäßige Ausrüstung des Proletariats wie auch für die Wissenschaft überhaupt. Im „Kommunistischen Manifest“ allein schon gibt es mehr echte Wissenschaft als in ganzen Bibliotheken historischer und historisch-philosophischer professoraler Kompilationen, Spekulationen und Falsifikationen. Kann man aber sagen, daß der Marxismus an sich ein Produkt der proletarischen Kultur sei? Und kann man denn behaupten, daß wir uns tatsächlich schon des Marxismus – nicht nur für politische Kampfaufgaben, sondern auch für umfangreiche wissenschaftliche Aufgaben bedienen?
Marx und Engels sind aus der kleinbürgerlichen Demokratie hervorgegangen und sind selbstverständlich in deren Kultur und nicht in einer Kultur des Proletariats erzogen worden. Wenn es nicht die Arbeiterklasse mit ihren Streiks, ihrem Kampf, ihren Leiden und Aufständen gegeben hätte, dann hätte es natürlich auch keinen wissenschaftlichen Kommunismus gegeben, weil dann dazu keine historische Notwendigkeit bestanden hätte. Das zusammenfassende Denken der bourgeoisen Demokratie erhebt sich in Gestalt ihrer kühnsten, ehrlichsten und weitblickendsten Vertreter – getrieben von den kapitalistischen Widersprüchen – bis zur genialen Selbstverleugnung, ausgerüstet mit dem ganzen kritischen Arsenal, das dank der Entwicklung der bourgeoisen Wissenschaft zur Verfügung stand. Das ist die Herkunft des Marxismus.
Das Proletariat fand im Marxismus nicht sofort seine Methode und hat sie bis zum heutigen Tage bei weitem nicht völlig gefunden. Diese Methode dient heute vorwiegend – fast ausschließlich – politischen Zielen. Eine breite erkenntnismäßige Anwendung und methodologische Entwicklung des dialektischen Materialismus liegt noch völlig in der Zukunft. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft wird der Marxismus aus einer einseitigen Waffe des politischen Kampfes zu einer Methode des wissenschaftlichen Schaffens, zum wichtigsten Element und Instrument der geistigen Kultur.
Daß die gesamte Wissenschaft in mehr oder weniger großem Umfang die Tendenzen der herrschenden Klasse wiedergibt, steht fest. Je näher eine Wissenschaft den wirklichen Problemen der Meisterung der Natur (Physik, Chemie, Naturwissenschaften) überhaupt steht, um so größer ist ihr nicht klassenbedingter, allgemein menschlicher Beitrag. Je enger eine Wissenschaft mit der sozialen Mechanik der Ausbeutung (politische Ökonomie) verstrickt ist, oder je abstrakter sie die gesamte menschliche Erfahrung verallgemeinert (Psychologie nicht im experimentellphysiologischen, sondern im sogenannten „philosophischen“ Sinn), um so mehr ist sie dem Klasseneigennutz der Bourgeoisie unterworfen, um so nichtiger ihr Beitrag zur Gesamtsumme des menschlichen Wissens. Auf dem Gebiet der experimentellen Wissenschaften gibt es ebenfalls verschiedene Stufen der wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit und Objektivität, die von der Großzügigkeit der Schlußfolgerungen abhängt. In der Regel richten sich die bürgerlichen Tendenzen am ungezwungensten in den Gipfelsphären der methodologischen Philosophie, der „Weltanschauung“ ein. Deshalb ist eine Säuberung des wissenschaftlichen Gebäudes von unten bis oben oder richtiger von oben bis unten erforderlich, denn man muß in den obersten Etagen anfangen. Aber es wäre naiv anzunehmen, daß das Proletariat, bevor es die von der Bourgeoisie ererbte Wissenschaft für den sozialistischen Aufbau anwendet, diese in ihrer Gesamtheit kritisch überarbeiten müsse. Das ist fast dasselbe, als wenn man mit den Moralisten und Utopisten erklären würde: vor dem Aufbau einer neuen Gesellschaft müsse sich das Proletariat auf die Höhe der kommunistischen Moral erheben. In Wirklichkeit wird das Proletariat die Moral wie auch die Wissenschaft erst dann radikal umbauen, wenn es, und sei es erst im Rohbau, eine neue Gesellschaft aufgebaut hat. Aber geraten wir da nicht in einen Teufelskreis? Wie soll man eine neue Gesellschaft mit Hilfe der alten Wissenschaft und der alten Moral aufbauen? Hier muß man nun schon ein wenig Dialektik zu Hilfe nehmen, dieselbe, die man bei uns so verschwenderisch sowohl in die lyrische Poesie wie in den Kanzleibetrieb in die Kohlsuppe wie in die Buchweizengrütze[i] hineinstopft. Gewisse Stützpunkte und gewisse wissenschaftliche Methoden, welche das Bewußtsein von dem ideellen Joch der Bourgeoisie befreien, braucht die proletarische Avantgarde, um an die Arbeit gehen zu können; sie erkämpft sie sich und hat sie sich teilweise schon erkämpft. Ihre grundlegende Methode hat sie unter verschiedenen Umständen in vielen Kämpfen erprobt. Aber von da bis zur proletarischen Wissenschaft ist es noch sehr weit. Die revolutionäre Klasse wird den Ablauf ihres Kampfes nicht verlangsamen, nur weil ihre Partei noch nicht entschieden hat, ob die Hypothese von den Elektronen und Ionen, die psychoanalytische Theorie Freuds, die Homogenese der Biologen, die neuen mathematischen Relativitätsoffenbarungen u. a. m. zu akzeptieren sind oder nicht. Nach der Eroberung der Macht erhält das Proletariat allerdings bedeutend größere Möglichkeiten, sich der Wissenschaft zu bemächtigen und sie zu revidieren. Aber auch dies ist schneller gesagt als getan. Das Proletariat vertagt keineswegs seinen sozialistischen Aufbau, bis seine neuen Gelehrten, von denen viele noch in kurzen Höschen herumlaufen, alle Instrumente und Kanäle der Erkenntnis überprüft und gereinigt haben werden. Das Proletariat wirft das unverkennbar Unnötige, Falsche und Reaktionäre ab und benutzt auf den verschiedenen Gebieten seines Aufbaus die Methoden und Resultate der gegenwärtigen Wissenschaft, wobei es je nach Notwendigkeit einen gewissen Prozentsatz in ihr enthaltener reaktionärer Klassenligatur mit in Kauf nimmt. Das praktische Ergebnis rechtfertigt sich im großen und ganzen selbst, denn die unter die Kontrolle der sozialistischen Zielsetzung gestellte Praxis wird allmählich die Theorie, ihre Methoden und Ergebnisse kontrollieren und auswählen. Inzwischen werden auch die unter den neuen Verhältnissen erzogenen Gelehrten herangewachsen sein. Auf jeden Fall muß das Proletariat seinen sozialistischen Aufbau bis zu einer recht bedeutenden Höhe führen, d. h. bis zu einer tatsächlichen materiellen Sicherstellung und kulturellen Sättigung der Gesellschaft, bevor eine Generalreinigung der Wissenschaft von oben bis unten durchgeführt werden kann. Damit will ich gar nichts gegen jene marxistische kritische Arbeit sagen, die bereits in Form von Zirkeln oder von Seminaren auf verschiedenen Gebieten durchgeführt wird oder um deren Durchführung man sich bemüht. Diese Arbeit ist notwendig und fruchtbar. Man muß sie in jeder Weise erweitern und vertiefen. Aber man muß auch das marxistische Augenmaß bei der Bewertung des gegenwärtigen spezifischen Gewichts derartiger Experimente und Versuche im Gesamtmaßstab unserer historischen Tätigkeit bewahren.
Schließt denn aber das Gesagte die Möglichkeit aus, daß aus den Reihen des Proletariats hervorragende Gelehrte, Erfinder, Dramaturgen oder Dichter schon in der Periode der revolutionären Diktatur erscheinen können? Keineswegs, es wäre aber äußerst oberflächlich, Leistungen, und wären sie noch so wertvoll, schon als proletarische Kultur zu bezeichnen, weil sie von Personen vollbracht wurden, die aus dem Arbeitermilieu stammen. Man darf den Begriff Kultur nicht in kleine Münzen individueller Alltagsbedürfnisse verzetteln und die Erfolge einer Kultur, einer Klasse, nicht nach den proletarischen Pässen einzelner Erfinder und Dichter beurteilen. Die Kultur ist ein organisches Ganzes von Wissen und Können, die die ganze Gesellschaft oder mindestens deren herrschende Klasse charakterisiert. Sie umfaßt und durchdringt alle Gebiete menschlicher schöpferischer Tätigkeit, indem sie diese in ein einheitliches System bringt. Individuelle Errungenschaften wachsen über dieses Niveau hinaus und heben es nach und nach.
Gibt es diese organische Wechselbeziehung zwischen unserer heutigen proletarischen Dichtkunst und dem kulturellen Schaffen der Arbeiterklasse im ganzen? Es ist vollkommen offensichtlich, daß es sie nicht gibt. Einzelne Arbeiter oder Gruppen wenden sich jener Kunst zu, die von den bürgerlichen Intelligenzlern geschaffen wurde, und benutzen deren Technik vorläufig noch ziemlich eklektisch. Doch wohl dazu, um ihre eigene, innere proletarische Welt auszudrücken? Das ist es eben, daß dem bei weitem nicht so ist. Dem Schaffen proletarischer Dichter fehlt das Organische, das allein durch ein tiefgehendes inneres Zusammenwirken der Kunst und durch den Stand und die Entwicklung der Kultur als Ganzes erreichbar ist. Das sind literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, jedoch keine proletarische Literatur. Aber ist das vielleicht eine ihrer Quellen ?
Selbstverständlich werden sich in der Arbeit heutiger Generationen viele Keime, Triebe und Quellen finden lassen, von denen aus ein ferner geschäftiger Nachfahre Verbindungslinien zu verschiedenen Sektoren der zukünftigen Kultur wird ziehen können, ähnlich wie die heutigen Kunsthistoriker Verbindungslinien von den Kirchenmysterien zum Theater Ibsens oder von der Malerei der Mönche – zum Impressionismus und Kubismus ziehen. Im Haushalt der Kunst wie auch im Haushalt der Natur geht nichts verloren, und alles ist mit allem verbunden.
Aber faktisch, konkret, lebensfähig entwickelt sich das heutige Schaffen der Dichter, die aus dem Proletariat stammen, bei weitem noch nicht auf der Ebene, auf der sich der Prozeß der Vorbereitung der Voraussetzungen für die künftige sozialistische Kultur bewegt: ein Prozeß, der die Massen in Bewegung bringt
Leo Trotzki
[i] Ein uralter Volksspruch: Kohlsuppe und Grütze sind unsere Nahrung
http://de.internationalism.org/leo
Leo Trotzki
Kunst und Revolution
Leserbrief an den New Yorker Partisan Review
(Juli 1939)
Kopiert von der Webseite Linksruck.de, wo der Text nicht mehr zur Verfügung steht.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Sie haben mir liebenswürdigerweise vorgeschlagen, meine Meinung über die aktuelle Situation der Kunst zu äußern. Ich tue das nicht ohne Zögern. Seit meinem Buch Literatur und Revolution (1923) habe ich mich nicht mehr mit den Problemen künstlerischen Schaffens befaßt und habe auch nur gelegentlich die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet verfolgen können. Ich habe daher keineswegs im Sinn, eine erschöpfende Antwort zu geben. Dieser Brief setzt sich das Ziel, die Frage richtig zu stellen.
Ganz allgemein gesagt, drückt der Mensch in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus, d.h. den kostbarsten Gütern, deren ihn die Klassengesellschaft beraubt. Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit, sei er nun bewußt oder unbewußt, aktiv oder passiv, optimistisch oder pessimistisch. jede neue künstlerische Richtung hat mit einer Rebellion eingesetzt. Die bürgerliche Gesellschaft zeigte gerade darin während langer Perioden der Geschichte ihre Stärke, daß sie es durch die Verbindung von Unterdrückung und Ermunterung, von Boykott und Schmeichelei verstand, jede „rebellierende“ künstlerische Bewegung zu kontrollieren, zu assimilieren und auf das Niveau der offiziellen „Anerkennung“ zu heben. Aber jede „Anerkennung dieser Art bedeutete letztlich das Herannahen ihrer Agonie. In diesem Augenblick erhob sich dann vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten, d.h. aus den Reihen einer neuen Generation der schöpferischen Bohème, eine neue rebellierende Bewegung, die dann ihrerseits nach einer beistimmten Zeit die Stufen der Akademie emporstieg.
Diesen Weg gingen Klassizismus, Romantik, Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Expressionismus, Dekadenz. Gleichwohl blieb die Koalition von Kunst und Bourgeoisie nur so lange wenn nicht glücklich, so doch beständig, wie die bürgerliche Gesellschaft im Aufsteigen begriffen war und das politische und moralische Regime der „Demokratie“ aufrechtzuerhalten vermochte. Das gelang ihr, indem sie nicht nur den Künstlern die Zügel locker ließ und sie auf jegliche Weise verwöhnte, sondern auch, indem sie den Spitzen der Arbeiterklasse besondere Privilegien gewährte und die Bürokratie der Gewerkschaften und Arbeiterparteien beschwichtigte und zügelte. Historisch gesehen, liegen alle diese Erscheinungen auf derselben Ebene.
Der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet eine unerträgliche Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche. Sie verwandeln sich zwangsläufig in individuelle Widersprüche und machen dadurch die Forderung nach einer befreienden Kunst noch brennender. Der dahinsiechende Kapitalismus ist jedoch absolut unfähig, den künstlerischen Richtungen, die unserer Epoche irgendwie entsprechen, die minimalsten Voraussetzungen für ihre Entfaltung zu garantieren. Er ist in abergläubischer Furcht vor jedem neuen Wort befangen, denn es stellt sich für ihn nicht die Frage nach einzelnen Korrekturen und Reformen, sondern die Frage nach Leben oder Tod. Die unterdrückten Massen leben ihr eigenes Leben, und die Bohème ist eine zu schmale Basis: deswegen zeigen die neuen künstlerischen Richtungen immer krampfhaftere Züge, zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend. Die künstlerischen Schulen der letzten Jahrzehnte, Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus, lösen einander ab, ohne sich voll zu entfalten. Die Kunst, die den komplexesten, empfindlichsten und verwundbarsten Teil der Kultur darstellt, leidet ganz besonders unter dem Niedergang und Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.
Aus dieser Sackgasse mit den Mitteln der Kunst einen Ausweg zu finden, ist nicht möglich. Die ganze Kultur befindet sich in einer Krise, von der ökonomischen Basis bis zu den höchsten ideologischen Schichten. Die Kunst kann weder der Krise entkommen noch sich von ihr lossagen. Sie kann nicht nur sich selbst retten. Sie wird zwangsläufig verfallen – wie die griechische Kunst unter den Ruinen der Sklavenhalterkultur verfiel –, falls die gegenwärtige Gesellschaft sich nicht zu verändern vermag. Dieses Problem hat einen unbedingt revolutionären Charakter. Aus diesem Grund wird die Funktion der Kunst in unserer Epoche durch ihr Verhältnis zur Revolution bestimmt.
Aber gerade auf diesem Wege hat die Geschichte den Künstlern eine kolossale Falle gestellt. Eine ganze Generation der „linken“ Intelligenz hat während der letzten zehn oder fünfzehn Jahre ihre Augen nach Osten gewandt und ihr Schicksal mehr oder weniger eng, wenn nicht mit dem revolutionären Proletariat, so wenigstens mit der siegreichen Revolution verknüpft. Das ist nicht dasselbe. In der siegreichen Revolution gibt es nicht nur die Revolution, sondern auch jene neue privilegierte Schicht, die sich auf ihren Schultern erhoben hat. In Wirklichkeit hat die „linke“ Intelligenz versucht, ihren Herrn zu wechseln. Hat sie dabei viel gewonnen?
Die Oktoberrevolution hat der sowjetischen Kunst in allen Bereichen einen wunderbaren Aufschwung geschenkt. Die bürokratische Reaktion hat dagegen das künstlerische Schaffen mit ihrer totalitären Hand erstickt. Das ist nicht erstaunlich. Die Kunst ist im Grunde eine Nervenfunktion und verlangt vollständige Aufrichtigkeit. Selbst die höfische Kunst der absoluten Monarchie beruhte auf Idealisierung und nicht auf Verfälschung. Die offizielle Kunst der Sowjetunion – und es gibt dort keine andere – ähnelt der totalitären Justiz, d.h. sie beruht auf Lug und Trug. Ziel der Justiz wie der Kunst ist die Verehrung des „Führers“, die künstliche Erschaffung eines heroischen Mythus. Die Geschichte der Menschheit hat noch nichts gesehen, was dem an Reichweite und Schamlosigkeit gleichkäme. Einige Beispiele werden nicht überflüssig sein.
Der bekannte russische Schriftsteller Vsevolod Iwanow hat 1938 sein Schweigen gebrochen, um begeistert seine Solidarität mit der Justiz Wysinskis zu verkünden. Nach Iwanows Worten erzeugt die totale Ausrottung der alten Bolschewisten, „dieser verfaulten Auswüchse des Kapitalismus, in den Künstlern einen schöpferischen Haß“. Ein vorsichtiger Romantiker, ein von Natur aus besonnener Lyriker, stellt Iwanow in mancher Hinsicht eine Kleinausgabe von Gorki dar. Da er von Natur aus kein Höfling ist, hat er sich lieber, solange es ihm möglich war, in Schweigen gehüllt, aber der Augenblick kam, wo das Schweigen seinen zivilen und vielleicht auch physischen Tod bedeutet hätte. Nicht ein schöpferischer Haß, sondern eine lähmende Angst führte die Hand dieser Schriftsteller.
Alexei Tolstoi, in dem der Höfling den Künstler vollständig verdrängt hat, hat eigens zu dem Zweck einen Roman geschrieben, um die Heldentaten Stalins und Vorosilovs in Zarizyn zu preisen.
In Wirklichkeit bezeugen die Dokumente objektiv, daß die Zarizyn-Armee – eine von den zwei Dutzend Revolutionsarmeen – eine ziemlich klägliche Rolle gespielt hat. Die beiden „Helden“ wurden von ihren Posten abberufen. Wenn der aufrechte Zapaew, einer der wirklichen Helden des Bürgerkriegs, in einem sowjetischen Film verewigt worden ist, so nur, weil er die „Epoche Stalins“ nicht mehr erlebt hat: er wäre als faschistischer Agent erschossen worden. Derselbe Alexei Tolstoi schreibt jetzt ein Stück über das Jahr 1919: Der Feldzug der vierzehn Mächte. Die wichtigsten Helden dieses Stücks sind nach den Worten des Autors Lenin, Stalin und Worosilow. „Ihre [d.h. Stalins und Worosilows] Bilder, umrankt von Ruhm und Heldenmut, werden das ganze Stück durchziehen.“ So ist aus einem begabten Schriftsteller, der den Namen des größten und aufrichtigsten Russischen Realisten trägt, ein Verfasser von Mythen auf Befehl geworden.
Am 27. April 1938 druckte das offizielle Regierungsblatt Iswestia ein Foto von einem neuen Gemälde ab, das Stalin als den Organisator des Tiflis-Streiks vom März 1902 darstellt. Jedoch ist anhand von Dokumenten, die der Öffentlichkeit seit langem bekannt sind, nachweisbar, daß Stalin damals im Gefängnis saß, und zwar nicht in Tiflis, sondern in Batum. Diesmal war die Lüge zu auffällig. Tags darauf mußte sich die Iswestia wegen des bedauerlichen Versehens entschuldigen. Niemand weiß, was aus diesem unglücklichen Gemälde geworden ist, das aus den Mitteln des Staates bezahlt wurde.
Dutzende, Hunderte, Tausende von Büchern, Filmen, Gemälden, Plastiken verewigen und preisen solche „historischen“ Episoden. So zeigen zahlreiche Bilder über die Oktoberrevolution ein revolutionäres „Zentrum“ unter der Leitung Stalins, das niemals existierte. Wir müssen kurz berichten, wie es allmählich zu diesen Fälschungen gekommen ist. Leonid Serebriakow, der später nach dem Pjatakow-Radek-Prozeß erschossen wurde, machte mich 1924 auf die kommentarlose Veröffentlichung der Prawda von Auszügen aus Protokollen des Zentralkomitees von Ende 1917 aufmerksam. Als ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees hatte Serebrjakov zahlreiche Bekannte hinter den Kulissen des Parteiapparats und wußte daher über das Ziel dieser unerwarteten Veröffentlichung Bescheid: dies war der erste noch vorsichtige Schritt auf dem Weg zur Erschaffung eines zentralen Stalinmythos, der heute in der sowjetischen Kunst einen so großen Platz einnimmt.
In historischer Distanz erscheint die Oktobererhebung viel methodischer und monolithischer, als sie es in Wirklichkeit war. In Wirklichkeit fehlten weder Unentschlossenheit und Suche nach Seitenwegen noch spontane Initiativen, die zu nichts führten. So wurde auf der in der Nacht des 16. Oktober improvisierten Sitzung des Zentralkomitees in Abwesenheit der bedeutendsten Mitglieder des Petersburger Sowjets beschlossen, den Stab des Aufstandes durch ein „Hilfszentrum“ der Partei, bestehend aus Swerdlow, Stalin, Bubnow, Urizki und Dserschinski, zu ergänzen.
Zum selben Zeitpunkt beschloß der Petersburger Sowjet die Einrichtung eines militärischen Revolutionskomitees, das vom ersten Augenblick an in der Planung des Aufstandes eine so entscheidende Arbeit leistete, daß alle – auch seine Gründer selbst – das am Vortage geschaffene „Zentrum“ vergaßen. Mehr als eine Improvisation dieser Art verschwand im Wirbel dieser Epoche. Stalin wurde niemals Mitglied des militärischen Revolutionskomitees, er erschien nicht im Smolni, d.h. dem Stab der Revolution, er hatte an der praktischen Vorbereitung des Aufstandes keinen Anteil: er saß in der Redaktion der Prawda und schrieb dort massenweise Artikel, die wenig Leser fanden. In den folgenden Jahren erwähnte niemand das „Praktische Zentrum“. In den Erinnerungsberichten derer, die am Aufstand teilgenommen haben – und an solchen Berichten besteht kein Mangel –, wird der Name Stalins nicht einmal erwähnt. In seinem Artikel zum Jahrestag der Oktoberrevolution in der Prawda vom 7. November 1918, in dem er alle mit der Revolution verbundenen Institutionen und Persönlichkeiten aufzählt, weist Stalin selbst mit keinem Wort auf das „Praktische Zentrum“ hin. Nichtsdestoweniger diente das alte Dokument, das 1924 zufällig entdeckt und falsch interpretiert wurde, der bürokratischen Legende als Grundlage. In allen Handbüchern, biographischen Verzeichnissen, selbst in jüngst herausgekommenen Schulbüchern wird das revolutionäre „Zentrum“ mit Stalin an seiner Spitze erwähnt. Dabei hat niemand, und sei es auch nur aus gewissem Anstandsgefühl, zu erklären versucht, wo und wann dieses Zentrum getagt hat, welche Befehle und wem es sie gegeben hat, ob Protokolle aufgenommen worden sind und wo sich diese befinden. Wir haben hier alle Elemente der Moskauer Prozesse.
Mit der für sie charakteristischen Servilität hat die sogenannte sowjetische Kunst diesen bürokratischen Mythus zu einem ihrer Lieblingsthemen für das künstlerische Schaffen gemacht. Swerdlow, Dserschinski, Urizki und Bubnow werden in Farbe oder Ton, um Stalin sitzend oder stehend und seinen Worten mit verzückter Aufmerksamkeit lauschend, dargestellt. Das Gebäude, in dem das „Zentrum“ tagt, hat absichtlich verschwommene Konturen, um der heiklen Frage nach der Adresse aus dem Wege zu gehen. Was kann man von Künstlern erwarten oder verlangen, die gezwungen sind, die groben Spuren einer für sie selbst evidenten historischen Fälschung mit ihrem Pinsel zu verwischen?
Der Stil der offiziellen sowjetischen Malerei von heute heißt „sozialistischer Realismus“. Dieser Name ist ihr offenbar von irgendeinem Leiter irgendeiner Kunstsektion gegeben worden. Dieser Realismus besteht darin, die provinziellen Daguerreotypen des dritten Viertels des letzten Jahrhunderts nachzuäffen; der „sozialistische“ Charakter besteht offensichtlich darin, mit den Mitteln einer verfälschenden Photographie Ereignisse darzustellen, die niemals stattfanden. Es ist nicht möglich, ohne ein Gefühl physischen Ekels und Entsetzens sowjetische Verse oder Romane zu lesen oder Reproduktionen sowjetischer Gemälde und Plastiken zu betrachten: in diesen Werken verewigen mit Feder, Pinsel oder Meißel bewaffnete Funktionäre unter der Aufsicht von Funktionären, die mit Mauserpistolen bewaffnet sind, „große“ und „geniale“ Führer, die in Wirklichkeit nicht einen Funken von Größe oder Genialität besitzen. Die Kunst der Stalinepoche wird als schärfster Ausdruck des tiefsten Niedergangs der proletarischen Revolution in die Geschichte eingehen.
Dieser Tatbestand macht an den Grenzen der UdSSR nicht halt. Unter dem Vorwand einer verspäteten Anerkennung der Oktoberrevolution hat der „Linke“ Flügel der westlichen Intelligenz vor der sowjetischen Bürokratie einen Kniefall gemacht. Im allgemeinen haben sich die charakterstarken und begabten Künstler abseits gehalten. Aber die Versager, Streber und Nullen haben sich um so bissiger in den Vordergrund gedrängt. Da entrollte sich ein breites Band von Zentren und Sektionen, Sekretären beiderlei Geschlechts, unvermeidlichen Briefen von Roman Rolland, subventionierten Editionen, Banketten und Kongressen, auf denen es schwierig war, die Trennungslinie zwischen Kunst und GPU zu bestimmen. Trotz ihrer mächtigen Aktivität erzeugte diese militante Bewegung auch nicht ein Werk, das fähig wäre, seinen Autor oder seine Inspirationen aus dem Kreml zu überleben.
Wird die totalitäre Diktatur das, wovon die Zukunft der Menschheit abhängt, noch lange ersticken, zertreten und beschmutzen? Untrügliche Symptome belehren uns, daß das nicht der Fall sein wird. Der schändliche und jämmerliche Zusammenbruch der feigen, reaktionären Politik der Volksfronten in Spanien und Frankreich einerseits, die Verlogenheit der Moskauer Prozesse andererseits kündigen das Herannahen einer großen Wende sowohl im Bereich der Politik als auch in dem weiteren Bereich der revolutionären Ideologie an. Selbst die unglücklichen „Freunde“ – natürlich nicht das intellektuelle und moralische Gesindel der New Republic und der Nation – werden allmählich des Jochs und der Knute müde. Kunst, Kultur und Politik brauchen eine neue Perspektive. Ohne sie gibt es für die Menschheit keinen Fortschritt. Noch nie waren die Aussichten so bedrohlich und katastrophal wie heute. Aus diesem Grund ist heute die Panik die beherrschende Geisteshaltung der desorientierten Intelligenz. Diejenigen, die dem Moskauer Joch nur eine unverbindliche Skepsis entgegensetzten, wiegen in der Waage der Geschichte nicht schwer. Skepsis ist lediglich eine andere – und keineswegs bessere – Form der Niedergeschlagenheit. Was sich hinter der heute so beliebten gleichmäßigen Distanzierung von der stalinistischen Bürokratie und ihren revolutionären Gegnern verbirgt, ist in neun von zehn Fällen eine jämmerliche Kapitulation vor den Schwierigkeiten und Gefahren der Geschichte. Verbale Ausflüchte und Hinterlist helfen jedoch niemandem. Niemand erhält Aufschub oder Bewährung. Angesichts der herannahenden Periode der Kriege und der Revolutionen gibt es für alle nur eine Antwort: für Philosophen, Dichter, Künstler und für einfache Sterbliche.
In einer Nummer der Partisan Review stieß ich auf einen seltsamen Brief eines mir unbekannten Redakteurs einer Chicagoer Zeitschrift. Er weist – ich hoffe, aus Versehen – auf sein Einverständnis mit Ihrer Zeitschrift hin und schreibt: „Dennoch (?) erhoffe ich nichts von den Trotzkisten und anderen blutarmen Splittergruppen, die keine Basis in der Masse haben.“ Diese arroganten Worte sagen über den Verfasser mehr, als er vielleicht beabsichtigte. Sie zeigen vor allem, daß die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung für ihn ein Buch mit sieben Siegeln sind. Nicht eine einzige fortschrittliche Idee begann mit einer Basis in der Masse, sonst wäre sie eben nicht fortschrittlich gewesen. Erst in ihrer letzten Phase findet eine Idee ihre Massen, vorausgesetzt natürlich, daß sie den Notwendigkeiten der Entwicklung entspricht. Alle großen Bewegungen haben als Splittergruppen älterer Bewegungen begonnen. Das Christentum war anfänglich eine Splittergruppe des Judentums; der Protestantismus eine solche des Katholizismus, d.h. des degenerierten Christentums. Die Marx-Engels-Gruppe entstand als Splittergruppe der linken Hegelianer. Die kommunistische Internationale entstand als Splittergruppe der sozialdemokratischen Internationale. Wenn diese Begründer fähig waren, sich eine Massenbasis zu verschaffen, so nur, weil sie die Isolierung nicht fürchteten. Sie wußten im voraus, daß die Qualität ihrer Ideen sich in eine Quantität umwandeln würde. Diese Splittergruppen litten nicht an Blutarmut, im Gegenteil, sie trugen in sich den Keim der großen historischen Bewegungen von morgen.
In derselben Weise entsteht, wie schon gesagt, in der Kunst eine fortschrittliche Bewegung. Sobald die herrschende Kunstrichtung ihre Energiequelle erschöpft hat, lösen sich von ihr schöpferische Splittergruppen, die die Fähigkeit besitzen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Je kühner die Neuerer in ihren Einfällen und Verfahren sind, desto schärfer stellen sie sich der etablierten Autorität, die sich auf eine konservative Massenbasis stützt, entgegen, und desto eher neigen Gewohnheitsmenschen, Skeptiker und Snobs dazu, in ihnen kraftlose Sonderlinge oder blutarme Splittergruppen zu sehen. Aber letztlich werden die Gewohnheitsmenschen, Skeptiker und Snobs entlarvt – und das Leben schreitet über sie hinweg.
Die Thermidorbürokratie, der man ein fast instinktives Wittern der Gefahr und einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb nicht aberkennen kann, ist keinesfalls geneigt, ihre revolutionären Gegner mit jener großartigen Geringschätzung, die oft mit Leichtsinn und Unbeständigkeit Hand in Hand geht, zu strafen.
In den Moskauer Prozessen setzte Stalin, der von Natur aus kein leichtsinniger Spieler ist, im Kampf gegen den „Trotzkismus“ das Schicksal der Kremloligarchie und sein persönliches Schicksal aufs Spiel. Wie kann man das erklären? Die wütende internationale Kampagne gegen den „Trotzkismus“, zu der man in der Geschichte nur schwer eine Parallele finden wird, wäre absolut unverständlich, wenn die Splittergruppen nicht über eine große Vitalität verfügten. Wer das heute noch nicht sieht, dem werden morgen die Augen geöffnet.
Als wolle er sein Selbstporträt mit einem markanten Strich beenden, gibt der Chicagoer Korrespondent der Partisan Review – welch ein Mut! – das Versprechen, Sie in ein zukünftiges faschistisches oder „kommunistisches“ Konzentrationslager zu begleiten. Kein schlechtes Programm! Bei dem Gedanken an ein Konzentrationslager zu zittern, ist gewiß schlimm. Aber ist es viel besser, für sich und seine Ideen schon im voraus diese unwirtliche Zufluchtsstätte zu bestimmen? Mit dem für uns Bolschewiken charakteristischen „Amoralismus“ gestehen wir gern ein, daß die keineswegs blutarmen Gentlemen, die vor dem Kampf und ohne Kampf kapitulieren, wirklich nichts anderes als das Konzentrationslager verdienen.
Es wäre etwas anderes, wenn der Korrespondent der Partisan Review lediglich gesagt hätte: auf dem Gebiet der Literatur und der Kunst lassen wir eine Bevormundung durch „Trotzkisten“ ebensowenig zu wie eine Bevormundung durch Stalinisten. Diese Forderung besteht in ihrem Wesen unbedingt zu Recht. Man kann bloß antworten, daß, wenn diese Forderung denen vorgehalten wird, die man „Trotzkisten“ nennt, nur offene Türen eingerannt werden. Der ideologische Kampf zwischen der Dritten und der Vierten Internationale beruht nicht allein auf einem scharfen Gegensatz in dem Ziel der Parteien, sondern in der allgemeinen Auffassung vom materiellen und geistigen Leben der Menschheit. Die gegenwärtige Kulturkrise ist vor allem eine Krise der revolutionären Führung. In dieser Krise bedeutet der Stalinismus die stärkste reaktionäre Kraft. Ohne ein neues Banner und ohne ein neues Programm ist es nicht möglich, eine revolutionäre Massenbasis zu errichten, folglich auch nicht, die Gesellschaft aus ihrer Sackgasse zu befreien. Eine wirklich revolutionäre Partei ist weder in der Lage noch willens, die Aufgabe einer Lenkung, noch weniger, die einer Gängelung der Kunst zu übernehmen, weder vor noch nach ihrem Machtantritt. Eine solche Anmaßung existiert nur in dem Kopf einer unwissenden, schamlosen, machttrunkenen Bürokratie, die zur Antithese der proletarischen Revolution geworden ist. Die Kunst und die Wissenschaft suchen nicht nur keine Lenkung, sondern können von ihrem Wesen her keine dulden. Das künstlerische Schaffen gehorcht seinen eigenen Gesetzen selbst dann, wenn es sich bewußt in den Dienst einer sozialen Bewegung stellt. Echtes geistiges Schaffen ist unvereinbar mit Lüge, Heuchelei und Konformismus. Die Kunst kann nur insoweit ein großer Bundesgenosse der Revolution sein, als sie sich selbst treu bleibt. Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker werden selbst ihren Weg und ihre Methode finden, wenn die emanzipatorische Bewegung der unterdrückten Klassen und Völker die Wolken der Skepsis und des Pessimismus verjagt, die heute den Horizont der Menschheit verdunkeln. Die erste Bedingung für ein solche Regenerierung ist die Abschüttelung der erstickenden Vormundschaft der Kremlbürokratie.
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/07/kunst.htm
Helmut Dahmer (Hg.) Leo Trotzki: Sozialismus oder Barbarei! Eine Auswahl aus seinen SchriftenWien: Promedia, 2005, 176 Seiten, 12,90 Euro. Trotzki – Wenn Sozialismus zur Barbarei führtWarum sollten wir heute noch Trotzki lesen? Entwickelte er eine alternative Theorie zum russischen Staatssozialismus, oder war er nur ein „gescheiterter Stalin“, wie ihn der Linkskommunist Willy Huhn nannte? Der russische Revolutionär Trotzki durchlief eine Wandlung vom kriegskommunistischen Scharfmacher während des russischen Bürgerkrieges (1919-1921) zum Apologeten der Sowjetdemokratie und zum Kritiker der Entwicklung der Sowjetunion zum „bürokratisch entarteten Arbeiterstaat“. 1940 wurde Trotzki im mexikanischen Exil von einem Agenten Stalins ermordet. Da seine Schriften ganze Bibliotheken füllen können, hat Helmut Dahmer nun eine kurze Auswahl aus seinen Schriften zur Einführung herausgegeben. Dahmer schreibt in der Einleitung: „Außer ein paar Fachleuten und Sektierern liest niemand mehr Stalins Schriften oder die von Mao Tse-Tsung, keiner will sich mehr dieser Götzen erinnern.“ Trotzki lebe aber weiter im Gedächtnis von vielen Menschen als Mann der „Feder und des Schwertes“ (Dahmer 2005: S.21). Trotzki: Ich bin’s Eine Auswahl aus Trotzkis Schriften ist sicherlich sinnvoll, da viele immer den gleichen Tenor haben: Die stalinsche Führung habe durch ihre falsche Politik in allen revolutionären Situation in allen Ländern die Weltrevolution vergeigt. In Deutschland, Frankreich, China oder Spanien hätte das Proletariat die Macht übernehmen können, wenn an seiner Spitze eine Kaderpartei und ein Führer in der Tradition Lenins gestanden hätten, sprich Leo Trotzki himself. In Schriften wie „Mein Leben“ oder „Die permanente Revolution“ versuchte Trotzki nachzuweisen, dass nur er selbst, der einzig legitime Nachfolger Lenins, von Stalin um sein Erbe gebracht wurde und mit der Theorie der „permanenten Revolution“ die Grundlage für Oktoberrevolution und alle anderen Revolutionen auf der ganzen Welt geliefert hätte. Der „bürokratisch entartete Arbeiterstaat“ könne durch eine neue Revolution in der Sowjetunion oder eine im Westen wieder unter einer neuer Führung, sprich unter Leo Trotzki, wieder zurück auf den richtigen Weg gebracht werden. Trotzkis Werdegang ist jedoch weitaus widersprüchlicher. Willy Huhn wies darauf hin, dass Trotzki schon 1905 die Räte als Anhängsel der Parteiherrschaft betrachtete und auch im Exil das Konzept der leninistischen Kaderpartei trotz der Erfahrungen in der Sowjetunion grundsätzlich nie in Frage stellte. Weiße Flecken in Trotzkis Biographie Dahmer verschont den Leser mit Trotzkis Bewerbungsschreiben zum Generalsekretär der KPdSU. Er hat für seine Broschüre überwiegend kurze Texte Trotzkis ausgewählt und nur einige Seiten aus seinen zentralen theoretischen Schriften. Bei der Auswahl fällt ins Auge, dass Auszüge aus „Terrorismus und Kommunismus“ und anderen Schriften aus der Zeit des Kriegskommunismus fehlen. In dieser Schrift entwirft Trotzki die erschreckenste Version eines Kasernensozialismus, die je entworfen wurde. Die Arbeit soll militarisiert werden und „Deserteure“ in Konzentrationslager eingewiesen werden. In „Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Republik retten“ von 1918 gab Trotzki zu, dass das Rätesystem in der Armee nur einen Sinn mache, um die Kommandogewalt in bürgerlichen Armeen zu brechen, nicht aber in einer sozialistischen Armee weiter bestehen solle (Trotzki 1919: S.22). Trotzki ließ auch den Aufstand von Kronstadt für „Räte ohne Bolschewiki“ 1921 blutig niederschlagen. Ich finde diese Schriften Trotzkis hochspannend, weil die Militarisierung der Arbeit in der Sowjetunion im 2.Weltkrieg und in China 1958 auf dem Land umgesetzt wurde und Trotzki die Grundlagen für den sogenannten „Kriegskommunismus“ gelegt hat. Dahmer möchte diese „weißen Flecken“ im Leben Trotzkis nicht aufarbeiten. In den von ihm herausgegebenen Trotzkis Schriften, die tausende von Seiten umfassen, fehlt bisher noch ein Band über diese Periode. Die permanente Revolution: Ein Programm auf dem Papier Fraglich ist, ob Leser ohne Vorkenntnis Trotzkis Theorie der permanenten Revolution auf Grundlage von Dahmers kurzer Auswahl verstehen können. Trotzki glaubte nicht, dass es eine eigenständige demokratische Etappe der proletarischen Revolution geben könne. Er schrieb schon 1906, dass das Proletariat, wenn es an die Macht kommt, gezwungen sei, zu einem sozialistischen Programm überzugehen und den Klassenkampf auf dem Land zwischen „landwirtschaftlichem Proletariat“ und „ackerbauender Bourgeoisie“ zu entfachen (Dahmer 2005: S.37). Die Rolle der Bauernschaft könne dabei weder selbstständig noch führend sein (ebenda: S.66). Sie würde sich immer nach den stärksten Bataillonen richten. Wirft man einen Blick auf das 20.Jahrhundert, dann wird klar, dass im 20.Jahrhundert keine Revolution auf Boden dieses Programms siegte. Wie die Linkskommunisten schon in den 20er Jahre richtig erkannten, war die russische Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution (Brendel 1958). Ihre wichtigsten Maßnahmen waren der Friedenschluss, die Einführung der Arbeiterkontrolle und die Bodenreform. Durch diese Reform wurde der Boden nationalisiert, den Bauernfamilien übergeben und ganz Russland zur Dorfgemeinde erklärt. Wie heute in jedem guten Buch zur russischen Geschichte steht, überlebte in Russland die Dorfgemeinde und es entwickelte sich nur begrenzt Privateigentum. Der Boden wurde jedes Jahr unter den Familien neu verteilt. Trotzki lehnte wie Lenin jahrlang diese „schwarze Umverteilung“ als Programm der Revolution ab und sah den russischen Bauern nur in den westlichen Kategorien von Landproletariat und Landbürgertum. Anders ausgedrückt: Vor dem Hintergrund der heutigen Forschungsergebnisse hatte Trotzki keinen blassen Schimmer von den Agrarverhältnissen in Russland. Der Versuch 1919 den Klassenkampf auf das Dorf zu tragen (sprich die „permanente Revolution“ zu machen) scheiterte kläglich und führte zu Bauernaufständen. Als die Bolschewiki durch Kronstadt und hunderte lokaler Bauernaufstände 1921 gezwungen wurden die NÖP (Neue Ökonomische Wirtschaftspolitik) einzuführen, war dies nichts anderes als die Anerkennung des bürgerlichen Charakters des Oktobers. Die Bauern konnten zumindest vorrübergehend den Kommunisten ihr Programm aufzwingen. Stalin war sich über den bürgerlichen Charakter des Oktobers im Klaren. Später beteiligte er sich jedoch führend daran, die Legende von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in der ganzen Welt zu verbreiten. Die Oktoberrevolution blieb das einzige Beispiel einer siegreichen Revolution unter Führung von Kommunisten, in der das Industrieproletariat eine entscheidende Rolle spielte. In China, Vietnam oder Korea siegten Bauernarmeen unter Führung von kommunistischen Intellektuellen. In keinem dieser Länder hätten die Kommunisten auf dem Boden eines sozialistischen Programms an die Macht kommen können, sondern sie versprachen eine Bodenreform und die nationale Befreiung des Landes. Arbeiterstaat bleibt Arbeiterstaat: Trotzkis Kritik an der Sowjetunion Dahmer wählte einige Artikel Trotzkis aus, um seine Kritik an Stalins Sowjetunion zu untermauern, die dieser kurz vor seinem Tod und während des Hitler-Stalin-Pakts schrieb. Analytisch geben diese Hasstiraden heute nicht mehr viel her. Lesenswert ist daher heute immer noch Trotzkis Schrift von 1936 „Die verratene Revolution“. Darin kritisiert er den „Rollback“ der 30er Jahre: Aufkommen des Nationalismus, Gängelung der Kunst durch einen „Sozialistischen Realismus“, Wiedereinführung der Offiziersränge in der Roten Armee, ein Verteilungssystem zur Kontrolle der Arbeiter, die Propaganda für die „heilige Familie“, die Wiederkehr reaktionärer Erziehungsmethoden oder Volksfrontpolitik, die zur Unterordnung unter Bürgertum oder Sozialdemokratie führte. So richtig diese einzelnen Kritikpunkte waren, so wenig konnte Trotzki über seinen staatssozialistischen Schatten springen. Solange es Staatseigentum gab, musste er die Sowjetunion als Arbeiterstaat bezeichnen, egal wie „entartet“ er ihn fand. Dass Staatseigentum als solches noch lange keine Garantie für gesellschaftliche Emanzipation sein muss, war für Trotzki nicht denkbar (Kritik an Trotzkis Sozialismus-Konzeption siehe Reitter und Pam 2005). Seine scharfe Kritik an Lenins Parteimodell von 1904 „Jakobinismus oder Sozialdemokratie“, das er als einen „Orden von Berufsrevolutionäre“ bezeichnet, der eine Diktatur über das Proletariat errichten wolle, griff er später in dieser Schärfe nicht wieder auf. Trotzki muss schließlich, um seine ganze Argumentation aufrecht halten zu können, zwischen dem guten Lenin und dem bösen Stalin unterscheiden. Zu einer selbstkritischen Reflektion seiner eigenen Rolle an der Macht war Trotzki nicht in der Lage. Faschistische Bewegung als „menschlicher Staub“ Zu den beeindruckenden Texten in Dahmers Auswahl gehören Trotzkis interessante Faschismusanalysen. Im „Porträt des Nationalsozialismus“ von 1933 sah er die Nazis nicht nur als Handlager oder Marionetten des Finanzkapitals, wie es in der Kommunistischen Internationalen üblich wurde. Er benennt durchaus den eigenständigen Charakter der kleinbürgerlichen Bewegung, die auch einige Widersprüche zu den Interessen des großen Kapitals verkörpert. 1933 nimmt Trotzkis das Programm der NSDAP noch nicht ernst, wenn er schreibt, es „erinnert nur zu sehr an die jüdischen Warenhäuser der finsteren Provinz. Was findet man dort nicht alles – zu niedrigem Preis und in noch niedrigerer Qualität“ (Dahmer 2005: S. 99). 1938 warnte er jedoch vor „der Gefahr der Ausrottung des jüdischen Volkes“. Trotzki erkennt zwar den selbstständigen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung und schreibt, dass das alte und neue Kleinbürgertum die Hälfte des deutschen Volkes ausmacht (ebenda: S.94). Die Millionen Anhänger des NSDAP sieht er aber als menschlichen Staub (ebenda: S.86). Obwohl Trotzki klarer als andere Kommunisten der damaligen Zeit erkannte, dass der Nationalsozialismus viel mehr als nur ein Rammbock der Bourgeoisie gegen die Arbeiterbewegung ist, kann er sich nicht aus der Ideologie befreien, dass sich das Kleinbürgertum immer nach den stärksten Bataillonen richtet. Was ist, wenn es selber die stärksten Bataillone stellt? Letztes Endes ist die Frage der Gewinnung der Bauern und des Kleinbürgertums für die Revolution für Trotzki nur eine Frage der Arbeitereinheitsfront. Wenn der Kleinbürger im Arbeiter seinen neuen Herren erblickt, wird er ihm schon folgen, glaubt Trotzki (ebenda: S.84). Zwangsjacken abstreifen! Insgesamt ist in Dahmer Broschüre Trotzkis Theorie etwas zu kurz gekommen und kann Lesern ohne Vorkenntnisse nur einen ersten Einblick vermitteln. Der weiße Fleck, Trotzki als Theoretiker des Kasernensozialismus, und Dahmers selbstgerechtes Vorwort tragen nicht gerade dazu bei, Trotzkis Widersprüchlichkeiten zu thematisieren. Trotzki, Lenin und Stalin sind heute nur für Marxisten interessant, die sich die Revolution als Eroberung der Staatsmacht durch eine Kaderpartei vorstellen. Im 21.Jahrhundert stellen sich die Fragen der Revolution nach dem weltweiten Sieg des Kapitalismus heute völlig anderes. Alle Versuche, eine gesellschaftliche Emanzipation durch die Eroberung der Staatsmacht herbeizuführen, sind gescheitert. Bewegungen, die Staat und Kapital überwinden wollen, können heute nicht mehr in die theoretischen Zwangsjacken des Leninismus gesteckt werden. Danach macht die Partei eine Klassenanalyse (halbfeudal oder kapitalistisch) und bestimmt die richtige Revolutionsetappe (demokratisch oder sozialistisch / im Bündnis mit den Bauern oder nur mit den Arbeitern). Wir wollen nicht mehr bestimmen, welche Bedürfnisse und Forderungen geäußert werden dürfen und welche auf später vertagt werden müssen, oder wer zum Bündnispartner oder Sympathisanten degradiert wird. Revolutionäre Netzwerke könnten alle subversiven Forderungen, Kräfte, Wünsche und Bedürfnisse gegen den Kapitalismus in ihrer Vielfalt und Differenz umschließen. Es wäre zu wünschen, dass sie weder zeitlich, noch thematisch noch territorial begrenzt und hierarchisiert sind. Minimal-, Maximal- oder Übergangsprogramme zur Hierarchisierung des Kampfes und Disziplinierung der Parteimitglieder würden die Revolte und ihre Theorien nur schwächen. Die Dialektik, Diktatur und Gehorsam verstärken zu müssen, um Selbstverwaltung zu schaffen, hat ihr Versprechen nicht eingelöst. Die Infragestellung von Herrschaft und Unterdrückung muss auch für die eigene Bewegung gelten und nicht auf den Tag X nach einer so genannten Machtübernahme vertagt werden. Wenn heute eins von Trotzkis Schriften bleibt, dann ist es die Erkenntnis, dass auch der Sozialismus zur Barbarei führen kann. Nemo Klee Weitere Literatur: Brendel, Cajo (1958): Lenin als Stratege der bürgerlichen Revolution, in: http://www.left-dis.nl/d/brenlenin.htm Brendel, Cajo (1958): Kritik des leninistischen Bolschewismus, in: http://www.left-dis.nl/d/cajogik.htm Huhn, Willy (1973): Trotzki – der gescheiterte Stalin, Karin Kramer Verlag, Berlin (West). Reitter, Karl (2005): Grundeinkommen als Recht in einer nachkapitalistischen Gesellschaft, in: http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/grundrisse13/13karl_reitter.htm Anton Pam (2005): Kriegskommunismus in Russland und China: Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/grundrisse13/13anton_pam.htm Schröder, Alfred (1997): Die russische Oktoberrevolution – Linke Legenden über eine siegreiche proletarische Revolution, in: http://www.kommunistische-debatte.de/geschichte/oktober1997.html Trotzki, Leo (1919): Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Sowjet-Republik retten, Verlag und Gesellschaft für Erziehung, Berlin. Trotzki, Leo (1970): Schriften zur revolutionären Organisation, Rowohlt Verlang, Reinbek bei Hamburg. Trotzki, Leo (1979): Verratene Revolution – Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, intarlit, Dortmund. Weitere Schriften von Trotzki im Internet: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/index.htm Wagner, Kolja (2000): Der Nationalsozialismus: Angriff des Kleinbürgertums auf die Moderne http://www.kommunistische-debatte.de/geschichte/geschichte.html |
ISSN 1814-3164 Key title: Grundrisse (Wien, Online) Impressum Der Inhalt dieser Seite steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation Webmaster: redaktion /at/ grundrisse /punkt/ nethttp://www.grundrisse.net/buchbesprechungen/helmut_dahmer.htm ![]()
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