Kategorie-Archiv: kritische Theorie

Über Kreativität in der Wissenschaft

Vorweg bitte ich den Leser dieses Texts um Nachsicht, daß ich nicht nur irgendwo bereits Vorhandenes wiedergebe, sondern daß ich immerwieder meine eigenen Gedanken herbeispiele. Denn mein Gehirn ist zwar eine Art von Schwämmchen, es gibt aber nicht nur, was es als Schwämmchen aufgesaugt hat, sondern gibt wieder manches gänzlich Neues, dessen Ursprung unbekannt. „Ebensowenig wie man den physischen Zeugungsprozeß je ergründen wird, ebensowenig wird der Schleier von dem künstlerischen Zeugungsprozeß je fallen.“[1] Das gilt auch für mein Denken und meine wissenschaftliche, psychoanalytische Arbeit. Ich habe wegen dieses Phänomens Spezialisten aufgesucht, die jedoch keine Abhilfe verschaffen konnten. Es bleibt rätselhaft, woher in meinem Geiste Sachen vorkommen, die ich nicht erfahren habe. Jemand bot eine Vermutung an, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption[2] das Mehr anliefert, was in meinem Kopf zu dem bereits Wahrgenommenen kommt. „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“[3] Wie auch immer, es ist so, wie beschrieben und ich kann nichts dafür, das mache ich nicht absichtlich. Es denkt mich, würde mancher dazu sagen. Die Folgen sind für mich katastrophal, meine Berichte für Psychotherapie werden durch Gutachter-Barone der Psychotherpierichtlinien der Krankenkassen als nicht unterwürfig, nicht devot, also unerhört ungehört, herabgesetzt, abgelehnt. Es tut mir leid, ich bin außerstande Gesinnungsdeklamationen abzuliefern[4], wie die universitäre Anstalt es heute einfordert[5]. Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat, soll Albert Einstein gesagt haben. Lassen wir also darauf ankommen.[6]

Wissenschaft, Psychoanalyse ist kein mechanisches Spiel eines Methoden-Leierkastens, sondern eine lebendige, kreative Musik einer Violine.

 

[1] Liebermann, M. (1983). Die Phantasie in der Malerei. Berlin, Deutschland: Verlag Der Morgen. S.26

[2] „Die transzendentale oder reine Apperzeption ist das rein formale, ursprüngliche, stets identische Selbstbewußtsein, das alles Vorstellen und alle Begriffe begleitende und bedingende Bewußtsein des „Ich denke“, die Beziehung alles Vorstellbaren auf ein es befassendes, sich stets gleich bleibendes Bewußtsein (s. d.). Die „transzendentale Einheit“ der Apperzeption (im Unterschiede von der empirisch-subjektiven, psychologischen Einheit der Apperzeption) ist objektiv; sie ist die Urbedingung aller Erkenntnis, aller Beziehung von Arten auf Objekte, aller Synthese (s. d.), von Daten zur Einheit objektiver Erkenntnis, alles einheitlichen Zusammenhanges in einer Erfahrung überhaupt, aller „Natur“ (s. d.) und der allgemeinen Gesetze (s. d.) derselben.“ Eisler, R. Kant – Lexikon. Abgerufen 30. Dezember, 2016, von http://www.textlog.de/32210.html

[3] Hegel, G. W. F. (o.D.). Phänomenologie des Geistes. Abgerufen 30. Dezember, 2016, von https://www.marxists.org/deutsch/philosophie/hegel/phaenom/vorrede.htm

[4] Scruton, R. (o.D.). 1 Free Speech and Universities. Abgerufen 03. Januar, 2017, von http://www.roger-scruton.com/images/Free_Speech_and_Universities_2.pdf

[5]     Scruton, R. (2016, 11. Juni). Close-up of face with tape over mouth and cross drawn on it Universities‘ war against truth. Abgerufen 03. Januar, 2017, von http://life.spectator.co.uk/2016/06/universities-war-against-truth/

[6] Co&lumbus. (o.D.). LOGBÜCHER KREATIVITÄTSTRAINING. Abgerufen 30. Dezember, 2016, von http://www.coundlumbus.de/board-blog/36-kreativitaet/297-kreativitaet-ist-intelligenz-die-spass-hat-sagte-albert-einstein-kreativitaet-intelligenz-albert-einstein.html

Was ist kritisch an kritischer Wissenschaft? – Grundsatzprogramm

Kritische Wissenschaft – ein Grundsatzprogramm

Inhalt

Kritik
Kritisches Denken
Kritische Wissenschaft
Literatur

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Was ist „kritisch“ an kritischer Wissenschaft?

Wie die Kommentare von Lesern dieses blogs, der seit fast einem Jahr besteht, gezeigt haben, sind die Erwartungen darüber, was ein blog über „kritische Wissenschaft“ Lesern zu bieten hat, durchaus unterschiedlich:

  • Für die einen hat „kritische Wissenschaft“ anscheinend eine ziemlich vage Bedeutung, die im Wesentlichen darin besteht, Position gegen dem Zeitgeist entsprechende Positionen zu beziehen, wobei „Wissenschaft“ allerdings in den Hintergrund zu treten scheint und „kritisch“ mehr oder weniger als dem Mainstream entgegengesetzt aufgefasst wird.
  • Andere fühlen sich mit „kritischer Wissenschaft“ an die sogenannte „Kritische Schule“ der Soziologie, die in den 1960er- und 1970er-Jahren an der Universität Frankfurt etabliert war, erinnert.
  • Und wieder andere assoziieren mit „kritischer Wissenschaft“ eine Kritik an der Wissenschaft, wie sie derzeit in Deutschland in institutionalisierter Form betrieben wird.

Obwohl die Inhalte dieses blogs – von Fall zu Fall verschieden – Verbindungen zu all diesen Auffassungen von „kritischer Wissenschaft“ haben, ist keine von ihnen diejenige, die die Betreiber dieses blogs bei seiner Konzeption zugrunde gelegt haben und die nach wie vor ihre Präsentation des blogs inspiriert. Entsprechend haben wir ein Grundsatzprogramm erstellt, dessen Ziel darin besteht, die Grundlagen kritischer Wissenschaft  zu beschreiben und ihren Nutzen für die Diskussion miteinander ebenso wie den Diskussion über Probleme aufzuzeigen. Da Grundsatzprogramme zumeist die Angewohnheit haben, länger zu werden als man auf einmal lesen möchte, gibt es unser Grundsatzprogramm in Happen (was es auch leichter verdaulich werden lässt). Tatsächlich sind die beiden Merkmale, die den „Geist“ dieses blogs ausmachen:

  • kritisches Denken und
  • methodisches Arbeiten,

die gemeinsam „Wissenschaft“ ausmachen oder ausmachen sollten – zumindest nach dem Verständnis der blog-Betreiber.

Dabei verstehen wir unter „Wissenschaft“

einen systematischen und kontrollierten Forschungsprozess, der darauf abzielt, folgerichtig aufgebaute Hypothesen über Zusammenhänge auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, um auf diese Weise zu (relativ bzw. vorerst) gesichertem Wissen zu kommen.

Vorweg: Was ist „Kritik“ (nicht)?

Wir glauben, dass es sinnvoll ist, zuerst einmal unser Verständnis von „Kritik“ darzustellen. Zu diesem Zweck

  • betrachten wir kurz, wie der Begriff „Kritik“ im Deutschen meistens verwendet wird,
  • geben wir eine kurze Definition von „Kritik“, so, wie wir sie verstehen, und
  • begründen wir, warum wir so verstandene Kritik nützlich und notwendig finden.

„Kritik“ als negativ konnotierter Begriff

Der Begriff „Kritik“ ist im Deutschen gewöhnlich negativ konnotiert, und dementsprechend wird jemand, der eine Kritik äußert, als eher unerfreudlicher Zeitgenosse bewertet und behandelt. Wir unterscheiden drei Varianten dieser negativen Konnotation:

  • Wer kritisiert, ist ein Querulant:
    Wer Kritik übt, dem passt etwas nicht, er mäkelt herum, ist nicht dankbar genug, für den erreichten status quo in der doch besten aller denkbaren Welten. Er stellt sich freiwillig in einen Gegensatz zur nicht-nörgelnden Mehrheit und zeigt dadurch mangelnde Solidarität mit dem Kollektiv, und überhaupt tut er so, als hätte er etwas entdeckt, was den anderen bisher verborgen geblieben ist – sonst würden sie ja auch herummäkeln, d.h. kritisieren; er denkt wohl, er sei ‚was Besseres, kurz: er ist ein Querulant. Er weicht ab, und dies allein genügt vielen, um ihn irgendwie „falsch“ oder „böse“ zu finden.
  • Wer kritisiert, ist ein Misanthrop:
    Übt jemand Kritik an Aussagen oder Überzeugungen einer Person, ist man in Deutschland fast unweigerlich jemand, der denjenigen, der diese Aussagen getätigt hat und diese Überzeugungen hat, nicht „mag“ – mindestens das, oder sogar: der den Kritisierten diskreditieren möchte, ihn ins Unrecht setzen möchte und wer weiß was alles noch (perversen Phantasien sind hier keine Grenzen gesetzt…). Kritik wird als aggressiver Akt gegen eine Person aufgefasst, als Zerstörung der Reputation einer Person, als In-Abrede-Stellen seines schlichten Menschseins.
  • Wer kritisiert, ist ein avantgardistischer Schwätzer:
    „Kritiker“ sind Leute, die mehr oder weniger gut davon leben, anderer Leute Arbeit zu beurteilen – in der Regel negativ. Das Urteil des Literatur- oder Kunstkritikers oder des Gourmet-Testessers oder auch des Wissenschaftlers zeugt von einem (angeblich oder tatsächlich) „höheren“ Verständnis der Dinge, das gerade darin erkennbar wird, dass sonst kein Mensch versteht, warum er so urteilt, wie er urteilt. Dann ist die „Kritik“ im Esoterischen angesiedelt und daher nicht durch Normalsterbliche zu prüfen oder nachzuvollziehen. Damit wiederum ist Kritik zumindest praktisch irrelevant und reserviert für eine selbsternannte „Avantgarde“.

Dies alles ist wenig konstruktiv und nur dazu geeignet, sich gegen Kritik zu immunisieren oder sich die Bildung eines eigenen Urteils von Fall zu Fall zu ersparen. Es handelt sich u.E. tatsächlich nicht um Auffassungen von „Kritik“ sondern um Strategien, „Kritik“ aus dem Weg zu gehen, was uns zu der Frage führt, was denn ein konstruktives Verständnis von „Kritik“ sein könnte.

Eine kurze Definition von „Kritik“

Für uns ist Kritik die Praxis, eine Aussage unter Würdigung dessen, was für oder gegen sie spricht, zu beurteilen. Ein Urteil, zu dem man kommt, ist ein Ergebnis dieses Prozesses (sonst ist das Urteil strenggenommen keines, sondern eine spontane Äußerung aus einer Laune oder Grille heraus).

So verstandene Kritik ist ein unverzichtbares Mittel, um Fehler aufzuspüren, Verbesserungen durch- und Innovationen herbeizuführen. Kritik ist die einzige Möglichkeit, sich an eine wandelnde Umwelt anzupassen:

Wenn man vernünftige Überzeugungen haben möchte und entsprechend vernünftig handeln können möchte, kommt man also gar nicht umhin, ein „Kritiker“ zu sein, wann immer eine Entscheidung über eine Frage oder eine Handlungsentscheidung zu treffen ist. Die Frage ist, wie man zu einer möglichst zutreffenden Einschätzung darüber kommt, was für oder gegen die in Frage stehende Sache oder eine bestimmte Handlung spricht. Hier hilft das kritische Denken weiter, das wir in Teil 2 unseres kleinen „Grundsatzprogramms“ betrachten.

Warum ist diese Definition von „Kritik“ konstruktiv? Oder: zum Nutzen von Kritik

Aussagen, die allgemein akzeptiert werden oder Überzeugungen, die weithin geteilt oder propagiert werden, erscheinen oft als „Tatsachen“, und man setzt vielleicht voraus, dass sie das Ergebnis von Beurteilungsprozessen sind, so dass sich eine weitere Diskussion über sie erübrigt. Oder man weiß, dass sie tatsächlich das Ergebnis von Beurteilungsprozessen sind, und die Sache ist damit für einen selbst erledigt.

Galileo und der Papst

Nun kann es aber passieren, dass jemandem auffällt, dass für das allgemein Akzeptierte eigentlich sehr wenig spricht, dass es vielleicht nur ein Ergebnis einer Laune ist. Oder jemand macht eine Beobachtung oder hat einen Gedanken, von dem er meint, dass sie oder er im Beurteilungsprozess keine Rolle oder keine hinreichende Rolle gespielt habe, so dass die Aussage überdacht werden muss. Oder die Bedingungen haben sich inzwischen verändert, so dass das allgemein Akzeptierte oder damals Propagierte in einem anderen Licht erscheint. Dies alles führt dazu, dass eine Aussage, Behauptung, Praxis oder ein Zustand hinterfragt wird, oder anders gesagt: sie oder er wird (neu) beurteilt, d.h. kritisiert.

Weil der (Neu-/)Beurteilungsprozess begründet werden muss, man also angeben muss, warum man die Angelegenheit überhaupt (wieder) thematisiert, beginnt dieser Prozess häufig mit einer negativen Kritik. D.h. bekannte Argumente werden als falsch erwiesen oder neue Argumente werden den alten entgegengesetzt, und diese so genannte negative Kritik ist es, die den Kritiker in den Augen derer, die den status quo schätzen, zum Querulanten macht. Diejenigen, die glauben, dass der status quo noch nicht den Idealzustand abbildet, sehen in der negativen Kritik aber die Möglichkeit, diesem näher zu kommen, sich und die Umwelt zu verbessern. Und tatsächlich entstehen Veränderungen oder Neuerung in der Regel aus einer (negativen) Kritik des Vorhergehenden: Eine neue Beobachtung oder ein neuer Gedanke führen nämlich nicht nur dazu, dass der status quo hinterfragt wird, wirkt also nicht nur zerstörerisch, sondern auch konstruktiv bzw. produktiv, weil mit einer neuen Beobachtung immer auch die Frage aufgeworfen wird, was Alternativen zum status quo sind oder sein könnten; insofern ist Kritik immer auch konstruktiv oder positiv. („Positive Kritik“ ist also nicht, wenn ich etwas als „gut“ beurteile oder eine Sache mit sonstigen positiven Adjektiven belege.) Weil die Umwelt sich ständig verändert, sind auch Anpassungsleistungen notwendig, und das bedeutet, dass auch Kritik immer notwendig ist (manchmal nur zu dem Zweck, den status quo zu halten, sich also wenigstens nicht zu verschlechtern). Man kann daher auch sagen, dass, wo Kritik unterbleibt, ein langsamer intellektueller, moralischer und letztlich auch physischer Tod droht.

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Kritisches Denken

Wie wir bereits in Teil 1 unseres „Grundsatzprogramms“ berichtet haben, ist für uns „Kritik“ die Praxis, eine Aussage unter Würdigung dessen, was für oder gegen sie spricht, zu beurteilen, oder anders gesagt: ein Verfahren, zu möglichst informierten und der Sache angemessen Urteilen zu kommen. Wir hatten in Teil 1 auch schon die Frage aufgeworfen, wie man am besten zu solchen Urteilen kommt, sie aber nicht beantwortet. In Teil 2 unseres „Grundsatzprogramms“ wollen wir das nachholen. Die Antwort lautet: Durch kritisches Denken.

Unter „kritischem Denken“ verstehen wir mit Robert Ennis (1987: 1/2) zunächst ein folgerichtiges (also: logisches) und vernünftiges Denken und Nachdenken darüber, was man als Tatsache akzeptieren sollte und was nicht, welchen Aussagen man Glauben schenken sollte oder nicht und welche Position man zu einer Frage oder Angelegenheit einnimmt und vernünftigerweise einnehmen sollte. Letztlich geht es beim kritischen Denken also um die Entwicklung von Urteilsvermögen, und das ist es ja gerade, was für die Praxis der Kritik gefragt ist.

Zum kritischen Denken gehören – wieder Ennis folgend – bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie bestimmte Dispositionen oder Grundeinstellungen. Zu den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die kritisches Denken erfordert, gehören vor allem

  • die Identifikation des Punktes oder des Anliegens, um den/das es eigentlich geht;
  • die Einschätzung der Relevanz dieses Punktes oder Anliegens;
  • die Fähigkeit, die Argumente zu identifizieren und zu rekonstruieren, die den Punkt/das Anliegen stützen sollen;
  • die Fähigkeit, die Qualität dieser Argumente zu prüfen, also z.B. daraufhin zu betrachten, ob ihnen bestimmte Tatsachen entgegenstehen oder ob sie Argumentationsfehler (insbesondere Fehlschlüsse) enthalten;
  • klärende Fragen zu stellen;
  • auf ungeklärte Punkte hinzuweisen und
  • ergänzende Argumente, alternative Argumente oder Gegenargumente vorzubringen.

Zu den Dispositionen oder Grundeinstellungen, die kritisches Denken auszeichnen, gehören u.a.

  • die Akzeptanz der Tatsache, dass es richtige und falsche Behauptungen gibt
    Dabei kann „richtig“ zweierlei bedeuten, nämlich „logisch korrekt“ oder „zutreffend“ im Sinn von „mit der beobachtbaren Realität übereinstimmend“. Falsch ist dann, was nicht logisch korrekt ist oder nicht mit der Realität übereinstimmt.
  • die Auffassung, dass es notwendig ist, Behauptungen zu begründen und durch Tatsachen zu stützen, wenn diese Behauptungen von anderen akzeptiert werden sollen
    Plötzliche Bewusstseinserweiterungen und in diesem Zustand gewonnene subjektive Erkenntnisse können ebenso wie selbst gemachte Erfahrungen von dem, der sie erlebt, als große Bereicherung empfunden werden, aber sie sind nicht mitteilbar und „sprechen“ daher zu niemandem sonst.
  • eine prinzipiell offene Haltung gegenüber Positionen, egal, aus welchem weltanschaulichen „Lager“ sie kommen mögen
    Wenn man Positionen ablehnt, weil sie aus Voraussetzungen abgeleitet sind, die man nicht teil, oder von Personen vorgebracht werden, die man nicht mag (weil sie anders sprechen, aussehen oder eben denken, was sie denken), zeigt dies ziemlich deutlich, dass man die eigene Position als so schwach begründet betrachtet, dass sie ohnehin nur denjenigen mitteilbar bzw. nachvollziehbar ist, die sie schon teilen – und worin, bitte, liegt dann der Wert der Mitteilung dieser Position? Im Rahmen kritischen Denkens besteht der Anspruch, Argumente, auch oder gerade denen mitteilen zu können, die sie nicht ohnehin schon akzeptieren, und zu versuchen, diese Personen in argumentative Schwierigkeiten zu bringen (so dass sie am Ende die Argumente akzeptieren müssen oder wollen).
  • eine Offenheit gegenüber dem, was am Ende eines Diskussions- oder Denkprozesses steht oder stehen kann
    Eine vernünftige Diskussion dient nicht dazu, etwas begründen zu wollen, was man (warum auch immer) schon vorher als „richtig“ festgelegt hat, sondern sie ermöglicht es den Diskutierenden, verschiedenen Argumentationen zu folgen und zu sehen, wohin sie führen, was mit ihnen verbunden ist.
  • die Bereitschaft, Implikationen der zugrunde gelegten Prämissen zu akzeptieren
    (Zu deutsch: zu akzeptieren, dass das, wovon man ausgeht, bestimmte andere Ideen nach sich zieht – bekannt als: „Wer A sagt, muss auch B sagen“ –, bestimmte andere Ideen aber ausschließt.
  • die Bereitschaft, sich mit Argumenten und auch mit Gegenargumenten auseinanderzusetzen, auch dann, wenn sie einem nicht „gefallen“
    – also eine negative emotionale Reaktion auslösen, weil sie „nicht nett“ sind, Formulierungen und Begriffe enthalten, die man selbst nicht benutzt oder die man ablehnt, oder weil sie einfach nur neu (und daher ungewohnt) sind und damit den status quo in Frage zu stellen scheinen oder tatsächlich in Frage stellen.
  • das Streben danach, über die in Frage stehende Sache möglichst gut informiert zu sein, bevor man sich zu ihr äußert
    Das beinhaltet die Fähigkeit, sich einer Beurteilung zu enthalten, wenn man sich nicht wirklich gut informiert hat oder sich nicht hinreichend informiert fühlt, oder eine bereits vorhandene Beurteilung zu verändern, wenn neue Informationen das notwendig machen – nein, es ist keine Schande, aus mangelhaften Informationen die Schlussfolgerungen gezogen zu haben, die man aus ihnen ziehen konnte oder musste! / Aber es ist eine Schande, wenn man sich weigert, nachdem sich eine Schlussfolgerung aufgrund neuer Informationen als falsch erwiesen hat, die Schlussfolgerung zu revidieren;
  • die Bereitschaft, seine eigene Position zu begründen, wenn sie hinterfragt wird
    statt die Tatsache, dass jemand sie hinterfragt, schlicht als „aggressiven Akt“ dieser Person zu bewerten, der diese Person als „Feind“ ausweist, und sich dadurch vor der Notwendigkeit drücken zu wollen, seine eigene Position zu begründen und – wenn möglich – zu verteidigen, ganz egal, wer was dagegen einwendet: Schlechte Nachrichten verschwinden nicht dadurch, dass man den Überbringen der schlechten Nachrichten mit Nichtbeachtung straft oder gar diskreditiert.

Aber warum muss ein Denken, das als kritisch gelten will, nicht nur auf den oben genannten Fähigkeiten beruhen, sondern auch auf den genannten Dispositionen oder Grundeinstellungen?

Ohne diese Grundeinstellungen wird das Denken zu einer egozentrischen Übung oder zu einer bloßen Anpassungsleistung an bereits Vorgegebenes oder zu einem Gewohnheitsakt des Widerspruchs. Wenn diese Grundeinstellungen Bestandteil kritischen Denken sind, dann vermeidet es sowohl Egozentrismus als auch Soziozentrismus im Sinne Piagets, die beide „Resultat fehlgeschlagener Dezentrierung [sind], da man sich oder die eigene Gruppe als Zentrum des Lebens sieht und die eigene Perspektive (‚Ich‘-Perspektive) oder die der eigenen Gruppe (‚Wir‘-Perspektive) für die einzig gültige hält. Dezentrierung bedeutet, dass man den Egozentrismus und den Soziozentrismus übersteigt, indem man die Perspektive des Anderen (‚Du‘) als relevant oder gar korrigierend auffasst“ (van der Ven 1999: 81), aber dies nur im Prinzip, versteht sich: Im praktischen Fall muss geprüft werden, wie gut die Perspektive des Anderen begründet ist, also ob in diesem Fall ich von ihm oder er von mir lernen kann.

Zusammenfassende Definition kritischen Denkens

Als Definition von kritischem Denken, die das oben Genannte zusammenfasst, kann die folgende Definition von Michael Scriven und Richard Paul (1996) gelten:

„Critical thinking is the intellectually disciplined process of actively and skillfully conceptualizing, applying, analyzing, synthesizing, and/or evaluating information gathered from, or generated by, observation, experience, reflection, reasoning, or communication, as a guide to belief and action. In its exemplary form, it is based on universal intellectual values that transcend subject matter divisions: clarity, accuracy, precision, consistency, relevance, sound evidence, good reasons, depth, breadth, and fairness. It entails the examination of those structures or elements of thought implicit in all reasoning: purpose, problem, or question-at-issue, assumptions, concepts, empirical grounding; reasoning leading to conclusions, implications and consequences, objections from alternative viewpoints, and frame of reference.“

Wir übersetzen diese Definition wie folgt:

Kritisches Denken ist ein auf intellektueller Disziplin basierender Prozess des aktiven und geschickten Konzeptualisierens, Anwendens, Analysierens und Evaluierens von Informationen, die durch Beobachtung, Erfahrung, Reflexion, schlussfolgerndes Denken oder Kommunikation gesammelt oder gewonnen wurden. In seiner beispielhaften Form liegen dem kritischen Denken universalistische intellektuelle Werte zugrunde, die für alle Fach- oder thematischen Gebiete bzw. unabhängig vom Inhalt der Informationen gelten: Klarheit, Genauigkeit, Konsistenz, Relevanz, zuverlässige Belege, gute Gründe, Tiefe und Breite [der Betrachtung] sowie Fairness. Kritisches Denken beinhaltet die Prüfung derjenigen Strukturen oder Elemente, die allem Denken zugrunde liegen, aber meist implizit, d.h. unausgesprochen, bleiben, nämlich von Zwecken, Problemen oder Fragen, Annahmen, Konzepten, empirischen Belegen, Schlussfolgerungen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, Implikationen und Konsequenzen, Einwänden, die aus alternativen Sichtweisen gemacht werden können, und von Bezugsrahmen, die beim Denken verwendet werden.

Ist kritisches Denken erlern- oder trainierbar?

Kritisches Denken ist also eine ehrgeizige Angelegenheit, die einige Selbstdisziplin – oder wie man heute lieber sagt: ein hohes Maß an Selbstregulation – und kognitive Anstrengung erfordert, aber beides ist trainierbar. Vermutlich wird niemand von uns immer und ohne Weiteres den Anforderungen kritischen Denkens gerecht, aber man kann sich die Grundeinstellungen und Fähigkeiten, die mit kritischem Denken verbunden sind, durchaus zu eigen machen (z.B. indem man seine metakognitiven Fähigkeiten stärkt; vgl. hierzu z.B. Halpern 1988: Kuhn 1999). U.E. ist es eine grundlegende Voraussetzung hierfür, dass man sich selbst als Individuum mit einer personalen Identität und nicht oder nur nachgeordnet als Kollektivmensch oder Gruppenzugehöriger mit einer sozialen Identität betrachtet: Wer vor allem Übereinstimmung mit bestimmten Personen und Abgrenzung von bestimmten anderen Personen sucht, der kann sich kritisches Denken nicht leisten: Diskussionen von Menschen mit- und untereinander dienen dann nämlich nur dazu, sich die soziale Identität zu bestätigen oder sie zu stärken, indem die eigene Position bzw.. die der eigenen Gruppe als richtig und die der anderen als falsch „erwiesen“ wird (Stichwort: Soziozentrismus! s.o). Im Rahmen kritischen Denkens dienen Diskussionen aber dem eigenen Lernen, und das bedeutet, dass man sich der Möglichkeit aussetzt, auf Fehler im Argumentieren oder in der angemessenen Grundeinstellung aufmerksam gemacht zu werden und sich selbst sozusagen in Richtung kritischen Denkens korrigieren zu lassen.

Kurse in kritischem Denken in Buchform

Je vernünftiger (d.h. korrekter und nicht: rhetorisch geschickter) man argumentiert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man zu einer angemessenen Beurteilung der in Frage stehenden Sache kommt, und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich korrigieren lassen muss. Die Fähigkeit zum vernünftigen Argumentieren kann man (auch oder besser) außerhalb von konkreten Diskussionssituationen erwerben oder verbessern. So empfiehlt es sich u.E., sich mit der formalen Logik zu beschäftigen, um sicherzustellen, dass man folgerichtig argumentiert. Dazu muss man nicht unbedingt Philosophie studieren oder ein Faible für Formeln haben; man kann formale Logik auch in Form von Einführungen in das kritische Denken erlernen, die das formal-logische korrekte Argumentieren in Anwendungsbezügen trainiert.

Einige solcher Kurse in Buchform, die wir als hilfreich einschätzen oder für uns selbst. d.h. die eigene Argumentationspraxis, hilfreich waren, sind:

Dauer, Frances Watanabe, 1989: Critical Thinking: An Introduction to Reasoning. Oxford: Oxford University Press.

Hughes, William, Lavery, Jonathan & Doran, Katheryn, 2010: Critical Thinking. An Introduction to the Basic Skills. Peterborough: Broadview Press.

Hunter, David A., 2009: Critical Thinking. Deciding What to Do and Believe. Hoboken: John Wiley & Sons.

Kiersky, James H. & Caste, Nichoas J., 1995: Thinking Critically. Techniques for Logical Reasoning. St. Paul: West Publishing.

Wer ein wenig tiefer in die formal-logischen Grundlagen guten Argumentierens einsteigen möchte, aber keine Formeln mag und auch kein Inventar (im übrigen sehr nützlicher) antiker und mittelalterlicher Schlussfiguren anlegen möchte, ist, so glauben wir, gut beraten z.B. mit:

Watson, Jamie Carlin & Arp, Robert, 2011: Critical Thinking. An Introduction to Reasoning Well. London: Continuum.

Zwei deutschsprachige Bücher, die philosophisch etwas anspruchsvoller sind und ein wenig Toleranz gegenüber (sehr einfachen) Formeln erfordern, die aber dennoch sehr gut verständlich in die formale Logik einführen, sind:

Hoyningen-Huene, Paul, Formale Logik, 1998: Eine philosophische Einführung. Stuttgart: Reclam.

Salmon, Wesley C., 1983: Logik. Stuttgart: Reclam.

Deutschsprachige Kurse in kritischem Denken, die den oben genannten englischsprachigen vergleichbar sind, haben wir lange (genau gesagt: seit mehr als einem Jahrzehnt) vergeblich gesucht. (Nun, das erklärt vielleicht einiges….) Am nächsten heran reicht u.E.:

Bayer, Klaus, 2007: Argument und Argumentation. Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schließlich noch eine Mahnung zur Vorsicht:

Kritisches Denken hat sehr viel mit formallogisch korrekter Argumentation zu tun, aber nicht mit der trickreichen Anwendung von rhetorischen Mitteln bzw. der Persuasion. Je nachdem, wie man meint, am besten überzeugen zu können, kann die Persuasion argumentationslastig sein, sie kann aber auch an Gefühle appellieren etc., um zu manipulieren, und das ist gerade kein gutes Argumentieren. Seien Sie deshalb vorsichtig – um nicht zu sagen: kritisch – im Umgang mit Kursen, die Argumentieren mit Rhetorik oder der „Überzeugungskunst“ gleichsetzen oder in einem Atemzug nennen.

So hat z.B. das „Trainingsbuch Rhetorik“ von Tim C. Bartsch, Michael Hoppmann, Bernd F. Rex und Markus Vergeest (2005 in Paderborn bei Schöningh erschienen) rein gar nichts mit korrekter Argumentation zu tun. Und wir raten auch zu großer Vorsicht gegenüber dem UTB-Band „Schlüsselkompetenz Argumentation“, der von Markus Herrmann, Michael Hoppmann, Karsten Stölzgen und Jasmin Taraman 2010 veröffentlicht wurde: Hier werden „Argumente“ genannt, die zum großen Teil gerade keine sind, die also formallogisch nicht korrekt sind (z.B. das Autoritätsargument), und daher sind auch Tipps der Autoren dazu, wie man solche „Argumente“ widerlegt, nichts anderes als die üblichen Einwände gegen sie, die sie gemäß der formalen Logik als Fehlschlüsse identifizieren. Warum das so ist, lernt man, wenn man sich mit einem Mindestmaß an formaler Logik beschäftigt, aber nicht im genannten Buch, in dem man u.E. eigentlich gar nichts Substanzielles lernt. Außerdem ist es aus einer Perspektive geschrieben, die mit der Grundeinstellung kritischen Denkens unvereinbar ist: Wenn man z.B. lernt, wie man Argumente widerlegt, suggeriert das, dass es ein Selbstzweck wäre, anderer Leute Argumente zu widerlegen, um Recht zu behalten, statt darum, zu einer möglichst guten Entscheidung hinsichtlich einer Frage zu kommen. Für die Autoren ist das leider tatsächlich so, wie man an einer Vielzahl von Indikatoren erkennen kann. Z.B. sehen die Autoren auch ein „Widerspruchstraining“ vor, bei dem es ganz offensichtlich nicht darum geht, Urteilsvermögen zu entwickeln, sondern um das Debattieren als Solches und darum, sich gegen andere durchzusetzen und die rhetorische Oberhand zu behalten. Das ist kein kritisches Denken, sondern sein Gegenentwurf: der Versuch der Manipulation und Machtausübung; und diesen Versuch finden wir darüber hinaus alles andere als elaboriert; wir finden dieses Buch, ganz ehrlich gesagt, eher abstoßend.

Warum sollte man überhaupt kritisch Denken?

(Wo „Kritik“ im Deutschen doch immer die Konnotation des Dagegen-Seins, des Unfreundlichen, des Nörgelns, des Mangels an Solidarität hat; s.o.)

Kritisches Denken ist kein „Hobby“ und keine Frage des Geschmacks, sondern die Voraussetzung dafür, dass man Probleme rational und effizient lösen kann und zu Fragen vernünftig Stellung nehmen kann, und dies wiederum verbessert die eigene Lebensqualität (Freeley & Steinberg 2009: 2/3: ten Dam & Volman 2004: 359/360). Z.B. ist es für die Beantwortung der Frage, ob es sich lohnt, eine bestimmte Versicherung abzuschließen oder nicht und sein Geld statt dessen anders zu investieren (oder es für andere Dinge auszugeben), sehr hilfreich, wenn man ungefähr weiß, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Schadensfall eintritt, wie sich die Inflation entwickelt und welche alternativen Möglichkeiten der finanziellen Absicherung es gegen die Misslichkeiten des Lebens gibt.

Kritisches Denken ist aber nicht nur für den einzelnen vorteilhaft. Vielmehr ist sie eine Bedingung dafür, dass eine Zivilgesellschaft als „a political project bent on enabling a genuinely non-hierarchical plurality of individuals and groups openly and non-violently to express their solidarity with – and opposition to – each other’s ideals and ways of life“ (Keane 2004: 55) existieren kann: Eine solche Gesellschaft muss die Fähigkeit zur Selbstkorrektur haben, wenn sie nicht in Totalitarismus verfallen will, und die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Selbstkorrektur ist letztlich ein Ergebnis der Fähigkeit zur Partizipation und zur Selbst- und gegenseitigen Korrektur ihrer Bürger (vgl. hierzu Bauerkämper 2003 : 12/13 sowie Keane 2009: 867/868).

Weil kritisches Denken eine anspruchsvolle Sache ist und einem nicht einfach so „zufällt“, ist jede Hilfestellung dabei willkommen, und eine der besten Hilfestellungen bietet die wissenschaftliche Arbeitsweise bzw. die methodische Arbeitsweise, wie sie in der Wissenschaft – auch in den und für die Sozialwissenschaften – entwickelt wurde und der (hoffentlich immer noch und auch in Deutschland) üblicherweise Wissenschaftler bei ihrer Arbeit folgen.

Kritik und kritisches Denken wurden in den beiden letzten Posts, in denen wir unser Grundsatzprogramm vorgestellt haben, diskutiert. Beide, Kritik und kritisches Denken sind grundlegende  Bestandteile kritischer Wissenschaft. Kritische Wissenschaft geht aber in einem wichtigen Punkt über Kritik und kritisches Denken hinaus: Sie liefert nämlich diejenigen Informationen, die die Prüfung von Argumenten an der Realität ermöglichen, so dass das kritische Denken Argumente nicht nur daraufhin betrachten kann, ob sie logisch korrekt sind, sondern auch daraufhin, ob sie empirisch korrekte Argumente sind oder nicht.

Kritische Wissenschaft

Zur Erinnerung:

Wir haben Kritik definiert als die Praxis, eine Aussage unter Würdigung dessen, was für oder gegen sie spricht und ohne emotionale Beteiligung oder Voreinstellung zu beurteilen. Ein Urteil ist somit das Ergebnis von Kritik, einer kritischen Bestandsaufnahme, in deren Verlauf eine Aussage auf ihren logischen und ihren „Wahrheitsgehalt“ hin geprüft wurde.

Kritisches Denken haben wir mit Michael Scriven und Richard Paul definiert als einen auf intellektueller Disziplin basierenden Prozess des aktiven und geschickten Konzeptualisierens, Anwendens, Analysierens und Evaluierens von Informationen, die durch Beobachtung, Erfahrung, Reflexion, schlussfolgerndes Denken oder Kommunikation gesammelt oder gewonnen wurden. … Kritisches Denken beinhaltet die Prüfung derjenigen Strukturen oder Elemente, die allem Denken zugrunde liegen, aber meist implizit, d.h. unausgesprochen, bleiben, nämlich von Zwecken, Problemen oder Fragen, Annahmen, Konzepten, empirischen Belegen, Schlussfolgerungen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, Implikationen und Konsequenzen, Einwänden, die aus alternativen Sichtweisen gemacht werden können, und von Bezugsrahmen, die beim Denken verwendet werden.

Kritisches Denken stellt somit eine konkrete Tätigkeit dar, während Kritik einen Modus, eine Vorgehensweise, des Denkens beschreibt. Anders formuliert: Kritik ist die Methode, kritisches Denken seine Anwendung. Beides sind  Bestandteile dessen, was wir als Kritische Wissenschaft bezeichnen. Kritische Wissenschaft fügt aber, wie oben vorweggenommen noch etwas hinzu, nämlich die Prüfung von Aussagen an der Realität:

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Kritische Wissenschaft?

Was ist Wissenschaft?

Wissenschaft dient dem Erkenntnisgewinn, d.h. Wissenschaft macht Aussagen über reale Zusammenhänge in der Natur oder dem sozialen Leben. Wissenschaft bezieht sich also auf die Realität, stellt  Aussagen über das auf, was wirklich ist oder nicht ist, auf. D’Andrade hat Wissenschaft und „wissenschaftliches Arbeiten“ in anschaulicher Weise und wie folgt definiert:

„There is a general agreement that doing science is

(1) trying to find out about the world by making observations,
(2) checking to see if these observations are reliable,
(3) developing a general model or account that explains these observations,
(4) checking this model or account against new observations, and
(5) comparing it to other models and accounts to see which model fits the observations best.

Science is simply a systematic way of trying to find out about the world. … The most important thing about science is that it involves continuous checking” (D’Andrade, 1995, S.1).

Zu Deutsch: Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass wissenschaftliches Arbeiten darin besteht

(1) etwas über die Welt herauszufinden, indem man Beobachtungen macht,
(2) zu prüfen, ob die gemachten Beobachtungen verlässlich sind,
(3) ein allgemeines Modell zu entwickeln, das die gemachten Beobachtungen erklären kann bzw.  aus dem die Beobachtungen abgeleitet werden können,
(4) dieses allgemeine Modell anhand  weiterer und neuer Beobachtungen zu überprüfen und
(5) das allgemeine Modell mit anderen allgemeinen Modellen zu vergleichen, um herauszufinden, welches der Modelle die gemachten Beobachtungen am besten erklären kann.
Wissenschaft ist ein systematischer Weg, etwas über die Welt herauszufinden. … Was an Wissenschaft am wichtigsten ist, ist, dass sie die vorhandenen Wissensbestände kontinuierlich überprüft.

Merkmale wissenschaftlicher Aussagen

„Gegenstände fallen auf den Boden“, ist eine Aussage über die Realität. „(Partei- oder Gewerkschafts-)Funktionäre vertreten bereits nach kurzer Zeit nicht mehr die Interessen der Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder, sondern ihre eigenen“, ist eine Aussage über die (soziale) Realität. Beide Aussagen haben vier Merkmale gemeinsam:

  • Beide Aussagen sind Beobachtungsaussagen, die aus allgemeinen Zusammenhangsaussagen abgeleitet werden können: Im ersten Fall ist dies z.B. das Gravitationsgesetz, im zweiten Fall z.B. das eherne Gesetz der Oligarchie von Michels (1925).
  • Beide Aussagen sind durch unterschiedliche Menschen prüfbar. Jeder, der z.B. einen Apfel werfen kann, kann die erste Aussage prüfen, und jeder, der sich z.B. mit den Nutznießern von Parteitätigkeit oder der deutschen Parteienfinanzierung beschäftigt, kann die zweite Aussage überprüfen.
  • Beide Aussagen können an der Realität scheitern: Wenn ich einen Apfel werfe, und er verschwindet im Weltall, dann hat sich die erste Aussage offensichtlich als falsch erwiesen. Wenn sich herausstellt, dass Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre aus rein altruistischen Motiven und ohne eigene Interessen zu verfolgen, Partei- oder Gewerkschaftspolitik vertreten und kaum mehr verdienen als das durchschnittliche Mitglied ihrer Partei oder Gewerkschaft, dann hat sich die zweite Aussage als falsch erwiesen.
  • Beide Aussagen beziehen sich allein darauf, ob etwas wie erwartet eintritt oder nicht, ob es sich tatsächlich so verhält. Sie enthalten keine Bewertung dessen, was behauptet wird, als „gut“ oder „schlecht“, lediglich als faktisch zutreffend oder unzutreffend. Es mag naheliegen, das Wirtschaften in die eigene Tasche als „schlecht“ zu bewerten, aber die Aussage, dass Parteifunktionäre dies tun, an sich, stellt noch keine solche Bewertung dar; es geht allein um die Frage, ob die Aussage sachlich korrekt ist oder nicht. Wie man die in der Aussage beschriebene Praxis bewertet oder bewerten würde, wenn die Aussage zutreffend, also sachlich korrekt, ist oder wäre, ist eine andere, eigenständige Frage, die man tunlichst von der Sachfrage nach der Existenz von etwas in der Realität unterscheiden sollte. (Wenn man es nicht tut, könnte man die Beschreibung bestimmter Tatsachen auf unsere Welt allein schon dadurch manipulieren oder unterdrücken, dass man sie vorab als „gut“ oder „schlecht“ bewertet.)

Die vier Merkmale von Aussagen, die wir hier an Beispielen benannt haben, nennt man in der Wissenschaft:

  • Zuordenbarkeit zu einem allgemeinen Satz, einem Gesetz;
  • intersubjektive Nachprüfbarkeit;
  • Falsifizierbarkeit;
  • Werturteilsfreiheit;

Wenn eine Aussage eines oder mehrere dieser vier Merkmale nicht aufweist, dann handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Aussage bzw. keine für Argumentationen relevante Aussage, weil sie keine Überzeugungskraft haben. Beispiele für Aussagen dieser Art sind:

„Atomkraft ist schlecht“,
(diese Aussage ist keine Sachaussage, sondern ein Werturteil)

„Aufgrund meiner emotionalen Erkenntnisfähigkeit bin ich zu der Auffassung (oder schlimmer: zu dem Schluss (!)) gekommen, dass Ihre Auffassung kalt und rationalistisch ist“,
(auch diese Aussage enthält ein Werturteil; außerdem wird etwas behauptet, was für andere nicht überprüfbar ist, weil es sich auf eine dem Sprecher eigene Erkenntnisfähigkeit beruft)

„Aber Herr Prof. X meint, dass dies ganz anders sei“
(diese Aussage ist intersubjektiv nachvollziehbar, sie kann sich als falsch erweisen und sie enthält kein Werturteil, aber das allgemeine Gesetz, aus der sie abgeleitet ist, müsste lauten, dass Herr Prof. X immer recht hat. Ein solches Argument bezeichnet man als Autoritätsargument oder lateinisch: argumentum ad auctoritatem, und es ist logisch falsch, denn es enthält keine Begründung, sondern verschiebt die Begründung auf Herrn Prof. X, der hoffentlich eine Begründung hat. Aber wenn er diese Begründung hat, müsste sie sich ja von ihm oder jemand anderem nennen lassen, und deshalb ist das Autoritätsargument selbst kein Argument, sondern verweist lediglich auf ein Argument, von dem aber nicht mitgeteilt wird, wie es lautet, ja, von dem man nicht einmal weiß, ob es überhaupt existiert)

„Autopoiesis bedingt eine Ausdifferenzierung der Teilsysteme.“
(Diese Aussage ist reines Wortgeklingel, das weder prüfbar ist noch etwas über die Realität aussagt. Etwas, von dem angenommen wird, dass es vielleicht in der Realität vorhanden ist (Autopoiesis) führt zu etwas anderem (Ausdifferenzierung der Teilsysteme), das ebenso angenommen wird und das nicht unabhängig von der ersten Annahme geprüft werden kann. Logisch entsprechend wäre die Aussage, das Wuff führt zu einem Wow im Off.)

Wissenschaftliches Vorgehen

Kritische Wissenschaft beginnt also mit einer prüfbaren Aussage (einer Beobachtung), die aus einem Gesetz abgeleitet werden kann. Dieses Gesetz kann zum Zeitpunkt der Beobachtung bereits bekannt sein oder es kann notwendig sein, das entsprechende Gesetz erst zu finden, z.B. dadurch, dass man eine mutige Antizipation, wie Popper dies genannt hat, also einen allgemeinen Satz aufstellt, aus dem die gemachte Beobachtung, also eine Aussage über die Realität abgeleitet, durch den sie erklärt werden kann.

Wer zum Beispiel prüfen  will, ob das Oligarchiegesetz von Michels zutrifft, der kann die Aussage – in der Wissenschaft nennt man eine solche probeweise formulierte Aussage „Hypothese“ – formulieren, dass es wenig gibt, das die Interessen von Gewerkschaftsfunktionären mit den Interessen ihrer Mitgliedern verbindet. Diese Hypothese ist jedoch sehr allgemein formuliert. Sie sagt einem nicht, was genau man betrachten soll, und dementsprechend muss sie operationalisiert, d.h. messbar gemacht werden. Das heißt, es muss ein Maß gefunden werden, mit dem die Interessen, die Parteifunktionäre mit ihrer Position in der Partei verbinden, gemessen werden können, und es muss ein Maß gefunden werden, mit dem die Interessen der Parteimitglieder gemessen werden können. Dies setzt voraus, dass man angibt, was genau man unter „Interesse“ versteht (Definition) und dass man angibt, wie man „Interesse“ messen kann (Operationalisierung): Anhand welcher Beobachtung entscheidet man, ob ein „Interesse“ vorliegt und wenn ja, welches? Im einfachsten Fall ist die Operationalisierung von „Interessen der Funktionäre“ (z.B. Einkommen, Status, Macht, Einfluss) und „Interessen der Parteimitglieder“ (z.B. Meinungshoheit im Verein, Status, Einfluss, Dazugehören) schnell erledigt, und die Schnittmenge zwischen beiden „Interessenfeldern“ kann bestimmt werden, indem man die Funktionäre und Mitglieder nach diesen Interessen fragt: Je größer die Schnittmenge, um so eher muss man das eherne Gesetz der Oligarchie im geprüften Fall als widerlegt ansehen.

Allerdings fordert kritische Wissenschaft auch intersubjektive Nachprüfbarkeit des Ergebnisses und des Prozesses, der zu dem Ergebnis geführt hat. Um zu prüfen, ob das Ergebnis, dass Parteifunktionäre in die eigene Tasche wirtschaften und Parteimitglieder in der Illusion leben, von Funktionären gut vertreten zu werden, richtig ist, muss die entsprechende Messung wiederholbar sein, und es muss sichergestellt sein, dass die Operationalisierung auch das gemessen hat, was sie messen sollte. Z.B. wäre die Höhe des Einkommens von Funktionären kein ausreichender Indikator, keine ausreichende Operationalisierung für ein „In-die-eigene-Tasche-Wirtschaften“, weil es trotz hoher Einkommen nicht auszuschließen ist, dass es z.B. Parteifunktionäre gibt, die sich um die Interessen der Parteimitglieder kümmern.

Wenn man als Leser einer Studie gar nicht erfährt, wie etwas gemessen wurde und wie insgesamt die Vorgehensweise der Forscher ausgesehen hat, dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich die Studie nicht als „wissenschaftlich“ qualifiziert: Sie ist der Nachprüfbarkeit entzogen und damit irrelevant, oder schlimmer: sie soll der Nachprüfbarkeit bewusst entzogen werden, damit die erzielten Ergebnisse nicht kritisiert werden können.

Damit sind wir wieder bei der Kritik angekommen. Wissenschaft, so wurde oben gesagt, dient der Erkenntnis – oder sagen wir moderner und etwas bescheidener: dem Wissenssgewinn. Wissen sagt, wie etwas ist, und ist nach Möglichkeit gewiss oder doch zumindest nicht falsch. Und zum Wissen gelangt man indirekt dadurch, dass man zeigt, wie etwas nicht ist. Kritik ist ein Mittel, die Schwachstellen in Theorien aufzudecken, Fehler zu eliminieren und dadurch unser vorhandenes Wissen zu verbessern. Kritisches Denken gibt Aufschluss darüber, wo man mit Kritik an einer bestimmten Aussage ansetzen kann, und mit welchen Hypothesen man die Aussage konfrontieren kann, um sie entweder zu bestätigen oder zu falsifizieren.

Kritik und kritisches Denken – es sei noch einmal betont, weil man es gar nicht oft genug betonen kann –, dienen dem Erkenntnisfortschritt, nicht der eigenen Erbauung oder der Selbstdarstellung. Deshalb ist Kritik, der ein „positiver Teil“ fehlt, wie Hans Albert das genannt hat, der also ein konstruktiver Aspekt fehlt, keine besonders nützliche Kritik. Dass dem so ist, kann man sich einfach klar machen, wenn man sich das Ziel von Wissenschaft wieder vor Augen führt: Erkenntnis- oder Wissensgewinn. Nun werden manche das nur negative und nicht konstruktive Kritisieren gegen diese Kritik zu immunisieren suchen, z.B. in dem sie sagen: „zu wissen, was falsch ist, ist doch auch was“, und tatsächlich zielt die wissenschaftliche Prüfung von Hypothesen ja darauf ab, sie als falsch zu erweisen. Normalerweise löst ein falsifizierendes Ergebnis in der Wissenschaft eine Suche nach alternativen Hypothesen oder die Veränderung der Fragestellung oder eine Diskussion darüber aus, ob vielleicht methodische Fehler gemacht wurden bei der Prüfung der Hypothese. In jedem Fall treibt das Ergebnis der Forschung die wissenschaftliche Diskussion des Themas an, und idealerweise auch neue Forschungen. Man ist daher auf jeden Fall konstruktiv, weil man auf diese Weise zum Erkenntnis- oder Wissensgewinn beigetragen hat. (Zugegebenermaßen verhalten sich leider nicht alle Personen, die als Wissenschaftler gelten, weil sie eine Position an einer Universität besetzen, so, insbesondere dann nicht, wenn sie mit Sachaussagen Werturteile und Soll-Aussagen verbinden. Damit sind sie dann aber eben vorrangig Ideologen und nur nachrangig oder gar nicht Wissenschaftler.)

Wenn negative Kritik in Verlautbarungen des Geschmacks besteht oder in emotionalen Äußerungen oder in Diskreditierungen der Person, die eine Aussage macht, dann gibt es keine Möglichkeit, etwas über die in Frage stehende Sache zu lernen: Wenn Nero den Daumen nach unten hält, dann hat ihm offensichtlich die Darbietung im Zirkus nicht gefallen; das sagt möglicherweise etwas über die Darbietung selbst aus, möglicherweise aber auch über Neros Tageslaune oder seinen Geschmack. Was davon zutrifft, kann man nur entscheiden, wenn man die Darbietung anhand von Kriterien beschreibt und Neros Präferenzen und seine Tageslaune misst. In Abwesenheit solcher Messungen gibt die Tatsache, dass Nero den Daumen nach unten hält, keinerlei Informationen, mit denen wir etwas anfangen können. Doch halt: Wenn wir beginnen, darüber zu spekulieren, warum er das tut und wir unsere Annahmen hierüber prüfen könnten, sind wir wieder konstruktiv. Wenn man allerdings meint, Neros Daumenhaltung stelle das abschließende Urteil über eine Sache dar und dies sei auch von anderen ohne Weiteres zu akzeptieren, ist dies ganz und gar destruktiv.

Wissenschaft verlangt nach mehr als Diskreditierung oder persönlichen Gefallensurteilen; sie verlangt von einer Kritik immer etwas, das konstruktiv ist, nicht nette Worte oder ein Lob inmitten von negativer Kritik (was immerhin auch möglich wäre), sondern etwas, das sich mit Bezug auf eine Fragestellung sinnvoll weiterverwerten lässt,

Die Verbindung zwischen Kritik, kritischem Denken und kritischer Wissenschaft kann somit zusammenfassend wie folgt beschrieben werden:

Kritische Wissenschaft dient dem Erkenntnisgewinn durch Prüfung von Sachaussagen mit Bezug auf die Realität, Kritik ist die Methode, mit der Schwachstellen im Erkenntnisprozess aufgespürt werden, und kritisches Denken stellt das Instrumentarium bereit, mit dem Schwachstellen aufgespürt werden können. Dies setzt voraus, dass Aussagen, die sich als Bestandteil kritischer Wissenschaft qualifizieren wollen, an der Realität scheitern können, dass sie prüfbar sind und dass erfolgte Falsifikationen dazu führen, dass die verwendete Methodik überarbeitet wird oder Ausgangshypothesen, die sich als falsch erwiesen haben, verworfen werden oder das Gesetz, aus dem sie abgeleitet wurden, modifiziert wird.

Damit ist kritische Wissenschaft ausreichend beschrieben und die Grenze zu nicht wissenschaftlichen Aussagen gezogen. Die Menge der nicht wissenschaftlichen Aussagen umfasst alle Aussagen, die nichts über die Realität aussagen, an der Realität nicht scheitern können und mithin nicht prüfbar sind. Damit sind alle Aussagen, die subjektive Empfindungen wiedergeben, die Gefallen oder Nichtgefallen ausdrücken oder die (wie wohlklingend sie auch immer sein mögen) im Reich der Sprache ge- oder verfangen sind, aus dem Gegenstandsbereich kritischer Wissenschaft ausgeschlossen.

Zum Schluss: „Kritische Wissenschaft“ – ein Pleonasmus?

Ja. Wenn man von „kritischer Wissenschaft“ spricht, ist das eigentlich ein Pleonasmus, denn nach unserer Auffassung von Wissenschaft gibt es nur kritische Wissenschaft oder keine: Wenn sie nicht kritisch ist, dann ist sie eben etwas anderes, z.B. Propaganda. Wir wählen dennoch die Bezeichnung „kritische Wissenschaft“, weil wir damit deutlich machen möchten, dass das Konzept und die Arbeitsweise von Wissenschaft auf der Idee der Kritik beruht und die Idee der Kritik das Kriterium dafür ist, ob etwas „Wissenschaft“ ist oder nicht. Betrachtet man die institutionalisierte Wissenschaft oder die Vielzahl der „Expertisen“, die im Auftrag von Ministerien und Parteien erstellt werden, so könnte man nämlich auf die Idee kommen, „Wissenschaft“ sei weder kritisch noch wertfrei. Dem ist nicht so. Vielmehr ist, was nicht kritisch und wertfrei ist, keine Wissenschaft.
©Dr. habil. Heike Diefenbach & Michael Klein; sciencefiles.org

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Literatur:

Kritik und kritisches Denken

Bayer, Klaus, 2007: Argument und Argumentation. Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Dauer, Frances Watanabe (1989). Critical Thinking: An Introduction to Reasoning. Oxford: Oxford University Press.

Hoyningen-Huene, Paul, Formale Logik (1998). Eine philosophische Einführung. Stuttgart: Reclam.

Hughes, William, Lavery, Jonathan & Doran, Katheryn (2010). Critical Thinking. An Introduction to the Basic Skills. Peterborough: Broadview Press.

Hunter, David A. (2009). Critical Thinking. Deciding What to Do and Believe. Hoboken: John Wiley & Sons.

Kiersky, James H. & Caste, Nichoas J. (1995). Thinking Critically. Techniques for Logical Reasoning. St. Paul: West Publishing.

Salmon, Wesley C. (1983). Logik. Stuttgart: Reclam

Watson, Jamie Carlin & Arp, Robert (2011). Critical Thinking. An Introduction to Reasoning Well. London: Continuum.

Kritische Wissenschaft
Albert, Hans (1991). Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Føllesdal, Dagfinn, Walløe, Lars & Elster, Jon (1988). Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie. Berlin: deGruyter.

Michels, Robert (1925). Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Stuttgart: Alfred Kröner.

Opp, Karl-Dieter (2002). Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung und praktischen Anwendung. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Popper, Karl Raimund (1994). Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Popper, Karl Raimund (1973). Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg: Hoffmann & Campe.

Weber, Max (1994[1917/1919]). Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Bildnachweis:
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Postmoderner Apriorismus

Ausgabe #12 vom 02.11.2009

Zur Anthropologie Judith Butlers

Spätestens seit Günther Jacob Mitte der 90er Jahre die These aufgestellt hat, dass sich „Antinationalismus möglicherweise viel besser mit Judith Butler, Robert Miles, Fredric Jameson, Etienne Balibar oder Michel Foucault begründen [läßt]“ [1] als mittels der „pseudo-objektivistische[n] Ideologiekritik der adornitischen Ex-Leninisten“ [2], hält sich das hartnäckige Gerücht, dass dekonstruktivistische Theorien mit ihren „Diskussionen über soziale Konstruktionen und Ideologietheorie“ [3] das notwendige Beiwerk kritischer Theorie, wenn nicht ihr logischer Nachfolger seien. [4] Dies kann man etwa anhand der letzten Ausgabe der Phase 2 beobachten, in deren „Einleitung zum Schwerpunkt“ die Berliner Redaktion formuliert, dass sich mit den „Gender Studies und den verschiedenen Ausprägungen dekonstruktivistischer Theoriebildung auch eine Form der Gesellschaftskritik etabliert [hat], die ebenfalls Schnittmengen mit linker, also im weitesten Sinne marxistischer, kritischer Theorie aufweist“, und der es „um die Wiederherstellung der Souveränität der Menschen über die Strukturen [geht], die ihr Leben ordnen und ihnen, im Kapitalismus wie im System der Zweigeschlechtlichkeit, als natürlich entgegentreten wollen.“ [5]

Austreiben von VermittlungWie aber soll diese postulierte und – wie zu zeigen sein wird – dem Poststrukturalismus bloß unterschobene Kritik der ‚ordnenden Strukturen’ vermittelt werden mit der „zumeist in den Gender Studies vertretenen Position, die mit Kant davon ausgeht, über das ‚Ding an Sich’ gar keine Aussage treffen zu können, und sich mit der ‚Welt der Erscheinungen’ und den dort anzutreffenden ‚Konstruktionen’ zufrieden geben zu müssen“ [6]? In der auf Kant sich berufenden Kapitulation vor dem den Erscheinungen zugrunde liegenden Wesen, das als jeder Vermittlung entzogenes Erstes und Undarstellbares gedacht wird, bekundet sich die poststrukturalistische Frontstellung gegen Hegel im Besonderen und die Dialektik im Allgemeinen. Das Marxsche Programm der Kritik der politischen Ökonomie, die Kritik des naturwüchsig entstehenden, den Einzelnen gegenüber verselbständigten gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Hegelschen Kantkritik, die zeigt, dass das Wesen der Erscheinungen zu begreifen ist. Gleichwohl sind Hegels Ausführungen in ihren systemischen und idealistischen Annahmen zu kritisieren und einerseits ist – mit Kant – auf der Nicht-Identität von Form und Inhalt, von Subjekt und Objekt der Erkenntnis bzw. von Geist und Materie zu beharren, sowie andrerseits auf der durch gesellschaftliche Tätigkeit vermittelten Bestimmtheit des Geistes bzw. der ‚Struktur’; ein Projekt, das Alfred Schmidt einmal als „materialistische Neuaufnahme der Konstitutionsproblematik“ [7] bezeichnet hat und das den unhintergehbaren Ausgangspunkt kritischer Theorie bildet.

Von dieser Konstitutionsproblematik, von der Problematik also der für den objektiven Zusammenhang konstitutiven Subjektivität bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Vermitteltheit alles unmittelbar Erscheinenden hat der Poststrukturalismus keinen Begriff.  Dennoch behauptet er – zumindest zeitweise –, der Nachfolger kritischer Theorie zu sein oder zumindest deren Problemstellungen aufgegriffen zu haben und weiter zu verfolgen. Jaques Derrida etwa legte diesen Anspruch in sehr komprimierter Form dar, als er 2001 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises der Stadt Frankfurt auf seine Beziehung zur kritischen Theorie einging. In dieser Rede führte er aus, dass er seit Jahrzehnten Stimmen in sich höre, die ihm sagten: „Weshalb solltest du nicht ein für alle Mal, in aller Deutlichkeit und in aller Öffentlichkeit, die Verwandtschaften zwischen deiner Arbeit und der Adornos anerkennen, ja in Wahrheit die Schuld, in der du Adorno gegenüber stehst? Bist Du nicht ein Erbe der Frankfurter Schule?“ [8] Und er führte weiter aus, worin dieses Erbe für ihn besteht: In einer „Logik des Adornoschen Denkens“, welche seiner eigenen Konzeption der Dekonstruktion entspreche. Das beiden Denkern gemeinsame Verfahren versucht, so Derrida, „in quasi systematischer Weise […], dies Schwache, Verwundbare, in welcher Gestalt es auch auftreten mag, diese wehrlosen Opfer vor der Gewaltsamkeit, ja Grausamkeit der traditionellen Interpretation in Schutz zu nehmen, sie dem Zugriff jener philosophischen, metaphysischen, idealistischen, ja selbst dialektischen, und kapitalistischen Übermächtigung zu entreißen, die sie zur Räson bringen will.“ [9]

Gegen die in dieser Argumentation sich ausdrückende Vorstellung von Unmittelbarkeit, die davon ausgeht, dass es etwas Ursprüngliches, gefasst als ganz und gar wehrloses, gibt, das usurpiert wird und vor dieser äußerlichen Überwältigung zu beschützen ist, insistiert kritische Theorie auf der Kategorie der „Vermittlung des scheinbar Unmittelbaren, und der auf allen Stufen sich entfaltenden Wechselseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung.“ [10] Auch wenn kritische Theorie der Verschlingung von Bewusstsein und Herrschaft nachspürt und subsumierende Abstraktion vom Besonderen, die dieses einem Allgemeinen unterwirft, zu reflektieren trachtet, so ist ihr doch jederzeit klar, dass den traditionellen Kategorien des Geistes nicht einfach eine abstrakte Gegenkategorie – die Dekonstruktion – entgegenzustellen ist, welche die Befreiung der „wehrlosen Opfer“ aus den Klauen der logozentrischen Herrschaft ins Werk setzt, indem sie das unmittelbar Besondere dem Allgemeinen entreißt und es als isoliertes, an sich selbst bestimmtes Prinzip verwirklicht.

Gegen den Anspruch Derridas, Adornos Erbe anzutreten, indem er der kritischen Theorie das Denken der Vermittlung austreibt, ist auf der kritischen Erkenntnis zu beharren, dass jedes Denken, nur vermittels der allgemein sich darstellenden Begriffe möglich ist, dass in ihm objektive Momente ebenso zwangsläufig enthalten sind, wie subjektive in der Allgemeinheit des Objekts. So wenig die ‚Struktur’ eine an die Einzelnen von außen herangetragene „Übermächtigung“ ist, sondern der gesellschaftlichen Praxis ebendieser Einzelnen entspringt, so wenig kann ihr ein ‚neues Denken’ entgegengehalten werden, das ein ‚mehrdimensionales Denken ohne Zentrum’ sein soll. Die Erkenntnis des Besonderen ist ebenso wenig unmittelbar wie das Besondere selbst [11], sie ist dem Einzelnen nur über die begrifflichen Kategorien möglich, die stets schon auf gesellschaftliche Allgemeinheit verweisen, ob die Einzelnen sich dessen bewusst sind oder nicht. Kritik besteht demnach nicht in der Leugnung dieser objektiven Vermittlung bzw. im notwendig zum Scheitern verurteilten Versuch, unmittelbar aus ihr herauszuspringen, sondern vielmehr in der Reflexion auf sie, in der Anwendung von Vernunft auf sich selbst. „Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. […] Nicht anders läßt das Bestehende sich überschreiten als vermöge des Allgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehnt ist.“ [12] Ohne Logik, d. h. ohne Bestimmung und Ordnung der Begriffe, kann es kein Denken geben, die Regeln dieser Logik dürfen jedoch nicht verabsolutiert werden, vielmehr müssen sie selbstreflexiv ihrer eigenen Bedingtheit, ihrer Verflochtenheit mit der gesellschaftlichen Bewegung inne werden, um diese transzendieren zu können.

Der Andere als das anthropologische Allgemeine

Kritische Theorie reflektiert auf das herrschaftliche Moment in der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, während der Poststrukturalimus der Allgemeinheit in abstrakter Negation ein Modell gegenüberstellt – ein scheinbares Gegenmodell, das sich zwangsläufig darin auszeichnet, seinerseits als Allgemeines zu fungieren, mögen das die Ideologen der Differenz auch noch so abstreiten. Was bei Derrida die „différance“ ist, jene „konstituierende, produzierende und originäre Kausalität“ [13], die allen Phänomenen zugrunde gelegt werden muss, sich aber jeder Bestimmung entzieht und mit Eigenleben ausgestattet ihre Spur durch die Geschichte zieht, ist bei Judith Butler das radikale, „weil nicht erzählbare Ausgesetztsein“ [14] an die Anrede durch den Anderen. Dieses irreduzible Ausgesetztsein, das den Einzelnen in seiner Singularität charakterisiert, das aber, weil es für alle Einzelnen gleichermaßen gilt, zugleich „ein kollektiver Zustand“ (S. 50) ist, lässt sich nicht „darstellen, auch wenn es alle meine Darstellungen strukturiert.“ (Ebd.) Der Einzelne ist gefasst als „uneinholbaren primäre[n] Beziehungen“ (S. 55) ausgesetzt, die ihre dauerhaften Eindrücke in sein Leben einschreiben, was dazu führt, dass er von einer „teilweisen Undurchsichtigkeit“ (S. 56) sich selbst gegenüber gekennzeichnet ist: „Wenn der Andere von Anfang an da ist und immer da ist, dort, wo das Ich sein wird, dann wird jedes Leben durch eine grundlegende Unterbrechung konstituiert, eine Unterbrechung schon vor jeder Möglichkeit der Kontinuität.“ (S. 72)

Jeder Versuch, diese primäre Undurchsichtigkeit zu erhellen, jeder Versuch, sich selbstreflexiv Rechenschaft darüber abzulegen, führt laut Butler zur usurpatorischen Errichtung des modernen Subjekts, das mit seiner konstitutiven ‚Dezentriertheit’ nicht umgehen kann und infolgedessen der Alterität, durch die es bestimmt ist, Gewalt antut, indem es sie auf ein Zentrum hin ordnet, um so Eindeutigkeit und Kontinuität zu schaffen.[15] Das Subjekt versucht, „sich selbst vom Anderen zu reinigen“ (S. 65), indem es seine konstitutive Unbestimmbarkeit von sich selbst abspaltet und dem Anderen, den es auf diese Weise zum Nichtanerkennbaren macht, zuschreibt. Das Abgespaltene wird an dem derart konstruierten Fremden verdammt, so die Gemeinsamkeit mit ihm verleugnet und der Selbsterkenntnis des eigenen Überdeterminiertseins durch die „rätselhafte Andersheit“ (S. 101) entgegengearbeitet, womit das Subjekt jene Festigkeit und Kontinuität gewinnt, die es nicht hat, und die damit immer auch illusorisch bleibt. [16]

Butler geht also von einem ursprünglichen, nicht näher bestimmbaren Subjekt aus, das „dem Werden eines ‚Ich’ voraus[geht]“ (S. 107) sowie von einem nachgeordneten performativ geschaffenen Ich, das auf diesem primären aufbaut. „Die Mittel der Subjektkonstitution sind nicht dieselben wie die der narrativen Form, auf welche die Rekonstruktion dieser Konstitution abzielt.“ (S. 95) Die zentrale Frage, um die sich ihre Theorie dreht, ist die, ob das narrativ sich konstruierende Ich seine Heteronomie durch die primäre Dezentriertheit anerkennt und sich in die „Nichtfreiheit am Ursprung unserer selbst“ (S. 119) einfühlt, oder ob es sich dieser verschließt und sich stattdessen die halluzinatorische und „hochtrabende Vorstellung eines transparenten ‚Ich’“ (S. 109) anmaßt. Letzteres charakterisiert für Butler die Hybris des modernen Subjekts, dessen Tod sie als notwendigen formuliert: „Dieser Tod, wenn es denn einer ist, ist jedoch nur der Tod einer bestimmten Art von Subjekt, eines Subjekts, das eigentlich nie möglich gewesen ist; dieser Tod ist der Tod der Phantasievorstellung einer unmöglichen Herrschaft und damit der Verlust von etwas, das man nie besessen hat. Mit anderen Worten, ein notwendiger Schmerz.“ (S. 90) Butlers Frontstellung gegen das moderne Subjekt entspricht darin genau Derridas Definition der Dekonstruktion, welche darin besteht, die wehrlose Alterität von der gewalttätigen performativen Übermächtigung zu befreien.

So grotesk es für ein Denken, das von sich selbst behauptet, die Überwindung metaphysischen Philosophierens zu sein, ist, von „primären Beziehungen“ zu sprechen, die den sekundären – den narrativen – vorausgehen und den Menschen in seiner ‚Eigentlichkeit’ prägen, so aberwitzig ist es, wenn dieses Denken, das mit Foucault gegen den „marxistischen Humanismus“ und dessen Vorstellung eines von seinem „eigentlichen Wesen“ entfremdeten Menschen angeht [17], den Tod einer ‚falschen’ Subjektivität fordert, weil diese der Dezentriertheit am „Ursprung unserer selbst“ nicht gerecht wird. Die gesamte Konstruktion, auf der diese Ausführungen aufruhen, ist widerspruchsvoll. Die Kategorie der Alterität ist voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken und imstande, nahezu Unvorstellbares zu leisten. Wenn Judith Butler etwa ausführt, dass „die Adressierung durch den Anderen […] sich in das einpflanzt, oder in das eindringt, was die Theorie später dann mein Unbewusstes nennen wird“ (S. 74), wenn sie weiter ausführt, dass das Unbewusste eben nur gebildet wird als Reaktion auf diese Adressierung durch den Anderen, als „Art und Weise, mit diesem Überschuss fertig zu werden“ (S. 75) – dann stellt sich die Frage, wie sich ein Anspruch in etwas einschreiben soll, das erst reaktiv gebildet wird, das ja ganz explizit nichts eigenständig Existentes sein soll, sondern „das fortdauernde und undurchschaubare Leben dieses Überschusses [der uneinholbar vorgängigen primären Adressierung; A. G.]“ (S. 75)?

Durch den adressierenden Anderen, der unsere „Ur-Empfänglichkeit“ (S. 119) anspricht, ist das Gegebene als verschiedenes gegeben. Er ist konzipiert als jene Alterität, die jeder Präsenz vorausgeht, die vorhanden ist, aber nicht konkretisierbar und von der „jedwede Darstellung ein ‚Betrug’ wäre“ (S. 130), wie Butler Emmanuel Lévinas zustimmend zitiert. Er ist konzipiert als jene Spur, die sich durch die Adressierung einschreibt, aber kein bestimmbares Subjekt sein soll, sondern abstrakte Form der grundlegenden Relationalität des Einzelnen, und die jene „Enteignung“ (S. 107) und „Desorientierung“ (S. 112) in Szene setzt, die jedem individuellen Werden notwendig vorausgeht und dieses bedingt. Die Adressierung durch den Anderen ist eine Tat, die kein fassbares Subjekt kennt, sie ist „Tat, die gewissermaßen jedem Täter vorausgeht“ (S. 100), die also „vor-ontologisch“ (S. 116) ist und jeder Ontologie stets schon zugrunde liegt. [18]

Butler glaubt allen Ernstes, dass sie, wenn sie ihre metaphysische Konstruktion aller konkreten Inhalte entkleidet und sie so als reine, unbestimmte und unbestimmbare Form fasst, damit die Metaphysik kritisiert und überwunden hat. Sie geht davon aus, dass die Einführung eines gänzlich abstrakten vor-ontologischen Zustands, dem alle Ontologie entspringt, eine Lösung der Probleme der Seinslehre darstellt und dass ein solches Denken allein deswegen kein anthropologisches ist, weil es kein bestimmtes Wesen des Menschen kennt, sondern dieses gerade in seiner Unbestimmbarkeit und Nichteinholbarkeit festmacht. Die zentrumslose „Strukturalität der Struktur“ [19] Derridas, bzw. Butlers vor-ontologisches Ausgesetztsein an die Anrede durch den Anderen, die konstitutive Alterität also, erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Kategorie, die die Probleme idealistischer Metaphysik nicht lösen kann, die vielmehr deren Begriffe in mythologische, jeder begrifflichen Bestimmung entzogene Wesenheiten auflöst. Das postmoderne Bedürfnis erweist sich so als eines, das Einfühlung in Heteronomie postuliert; Einfühlung in die Abhängigkeit von der allumfassenden Alterität, in die durch sie unhintergehbar konstituierte „Unfreiheit im Herzen unserer Beziehungen“ (S. 124), die die vor-ontologische Struktur des Subjekts vor jedem individuellen Gedanken ist.

Poststrukturalistische Massenpsychologie

Butlers Versuch, objektive Strukturen aufzuweisen, die die Einzelnen konstitutiv prägen, weist diesen Strukturen „eine Art metaphysische Weihe“ [20] zu. Die Einzelnen dagegen, deren individuelles Bewusstsein der vor-ontologischen Anrede durch den Anderen stets nachgeordnet ist, sind so zu bloßen Trägern eines vorgängigen, von ihnen unabhängigen Zusammenhangs degradiert, der unbestimmbar, jedem Denkvorgang und damit auch jeder Kritik und jeder Möglichkeit einer praktischen Veränderung entzogen ist. Das Denken und Handeln der Individuen ist durch die Struktur stets schon konstituiert, soll für diese aber nicht konstitutiv sein, da sie jedem Denken und Handeln vorausgeht, welche aus ihr überhaupt erst entspringen. So wird das Individuum zum bloßen Epiphänomen von anonymen, vorgesellschaftlichen Strukturen, die – handelnd und denkend – nachvollzogen werden müssen, will der Einzelne nicht der Hybris des modernen Subjekts verfallen, die darin besteht, sich an seiner konstitutiven Fremdbestimmtheit durch die Alterität zu vergehen.

Darin unterscheidet sich der Poststrukturalismus unvereinbar von kritischer Theorie. Letzterer ist die Objektivität kein unableitbar Letztes, vielmehr beharrt sie auf jeder Stufe ihrer Argumentation darauf, dass diese nur durch die Vermittlung mit der gesellschaftlichen Praxis der Einzelnen zu begreifen und damit auch zu kritisieren ist. Kritische Theorie besteht darin, die Vorgängigkeit der gesellschaftlichen Objektivität, die die Individuen mitschleift, solange diese sich als produktiv erweisen, als aus dem gesellschaftlichen Handeln der Individuen selbst heraus erwachsend darzustellen. Es geht ihr also notwendig darum, die gesellschaftlichen Verkehrungen und Fetischisierungen als subjektiv-objektive Formen auszuweisen und sie nicht als anthropologische Bestimmtheit des Menschen zu rationalisieren. Wenn kritische Theorie von der Vorgängigkeit der Gesellschaft spricht, der die Individuen unterworfen sind, dann meint sie dies keineswegs affirmativ als Gegebenheit, die die Einzelnen unhintergehbar bestimme; ganz im Gegenteil: Diese Vorgängigkeit und Undurchsichtigkeit der gesellschaftlichen Objektivität ist ihr das zu kritisierende Skandalon. Ihr Ziel ist es, die Verselbständigungen, die den Einzelnen als quasi-natürliche entgegentreten, denen diese sich unterzuordnen haben, als gesellschaftlich und damit menschlich produzierte auszuweisen – womit die Möglichkeit ihrer praktischen Abschaffung eröffnet ist. Indem Butler die Struktur aber zur vor-ontologischen erklärt, die jedem Zugang durch das Bewusstsein notwendig entzogen ist, weil sie jedem Bewusstsein uneinholbar vorausgeht, [21] schafft sie die Bedingung der Möglichkeit aus der Welt, Objektivität als historisch gewordene zu erweisen, womit ihre Theorie zu einer Apologetik des Bestehenden wird. Während kritische Theorie also die zur zweiten Natur geronnene gesellschaftliche Objektivität um sie zur kritisieren, bejaht sie der Poststrukturalismus. Er tut dies, indem er die gesellschaftlich produzierte Heteronomie, die den „Riss“, der sich nicht „kitten“ lässt (S. 95), als ewig gültiges menschliches Dasein affirmiert – womit er die zweite Natur verewigt.

Butler insistiert auf einer allein von der Struktur her zu erfassenden Theorie gesellschaftlicher Realität: Jeder Versuch, konstitutive Subjektivität zu denken, werde durch eine „Dunkelheit, die jeder endgültigen Aufklärung widersteht“ hintertrieben, da die Relationalität des Einzelnen „in Formen verinnerlicht ist, über die ich keine Rechenschaft abzulegen vermag.“ (S. 110) Es ist die im Anschluss an Lévinas formulierte vor-ontologische Struktur des Individuums, die „uns keine vollständige Kontrolle jener primären, prägenden Abhängigkeitsbeziehungen ermöglich[t], die uns auf nachhaltige und dunkle Weise form[t] und konstituier[t].“ (S. 80) Darüber hinausgehend verdoppelt und affirmiert Butlers Theorie nicht nur die gesellschaftlich produzierte Heteronomie durch das Kapital, sondern möchte sie sogar in einem bewussten Akt exekutieren, indem sie jedes über Immanenz hinausgehende Denken als Ausfluss moderner Subjektherrschaft und Selbstzurichtung denunziert [22] und dagegen das Einfühlen in das den Einzelnen Vorgängige und ihre individuelle Existenz unaufklärbar Übersteigende fordert.

Die als erforderliche Anerkennung der Adressierung durch die Alterität rationalisierte selbstbewusste Einfühlung in die Heteronomie des Kapitalverhältnisses entpuppt sich letzten Endes als Formierung des sozialen Zusammenhangs zur Gemeinschaft: „In mir“, formuliert Butler, ist „eine andere Geschichte am Werk und es ist unmöglich zwischen dem ‚Ich’ […] und dem ‚Du’ – der Menge der ‚Dus’ –, das mein Begehren von Anfang an bewohnt und enteignet, zu unterscheiden“ (S. 102); eine Geschichte, die bedingt, dass wir „einander körperlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, einer in der Hand des anderen.“ (S. 136) Die Alterität, die sich überwältigend einschreibt, fungiert als Grundlage eines Unbewussten, das kollektiv gedacht ist, auch wenn Butlers Ausführungen im Unterschied zu denen von C. G. Jung, dieses kollektive Unbewusste als von allen Inhalten gereinigte Form fassen: Es ist bestimmt als reine Relationalität, die sich überdeterminierend in den Einzelnen eingeschrieben hat und „ihn auf undurchsichtige Weise antreibt“ (S. 102).

Anders als bei Freud und der an ihn anschließenden Psychoanalyse, die zwar auch den flüchtigen und prekären Charakter des Ich betont, aber dennoch die Möglichkeit der Selbstreflexion nicht ausschließt, bleibt für Butler das Unbewusste das unabdingbar Fremde, das „im eigentlichen Sinne nicht mir gehören kann“ (S. 75), das mich vielmehr permanent enteignet. Dementsprechend wird das Freudsche Programm des „Wo Es war, soll Ich werden“ als gewalttätige Anmaßung des modernen Subjekts verworfen: Es wird zum „unmöglichen Ideal“ erklärt, „ichhafte Herrschaft über das unbewusste Material“ (S. 80) zu erlangen. Gegen jede Betonung des selbstreflexiven Subjekts ist laut Butler darauf zu beharren, dass „Selbstbewusstsein […] immer und in sehr wörtlichem Sinne durch eine Alterität angetrieben [wird], die verinnerlicht worden ist“ (S. 132), und dass diese konstitutive Fremdbestimmtheit durch keine Reflexion einzuholen ist, weswegen die Einzelnen sie als ihre anthropologische Bestimmtheit anzuerkennen und sich in sie einzufühlen haben. [23]
Dieses in die Alterität sich einfühlende Verwerfen der Kategorie des selbstreflexiven Ich ist es, was Butler und mit ihr der Poststrukturalismus als den Tod des Subjekts feiern und vorantreiben wollen. Die kritisch auftretende Ideologie der Differenz vollzieht so begrifflich nach, wozu das Kapital im Laufe seiner Entwicklung die Einzelnen prädestiniert und wozu diese sich selbst zurichten müssen: zu begriffslosen Anhängseln des verselbständigten gesellschaftlichen Prozesses, die sich diesem zu unterwerfen und antizipatorisch seine Imperative zu erfühlen und erfüllen haben. Gegen solche Versuche, den Einzelnen als Vollstrecker eines ihm vorgängigen Prinzips zu denken, hat kritische Theorie bereits in den 1930er Jahren formuliert, dass die gesellschaftliche Allgemeinheit, „gerade in den Individuen und gegen sie sich durchsetzt. […] An uns ist es, dies ‚Bewußtsein’ [das Kollektivbewußtsein; A. G.] nach Gesellschaft und Einzelnem dialektisch zu polarisieren und aufzulösen und nicht es als bildliches Korrelat des Warencharakters zu galvanisieren.“ [24] Diese Kritik an der Annahme eines Kollektivbewusstseins ist jedoch nicht zu verstehen als Versuch, „‚das bürgerliche Individuum’ als eigentliches Substrat stehen zu lassen. Es ist auf Intérieuer als soziale Funktion transparent zu machen und seine Geschlossenheit als Schein zu enthüllen. Aber als Schein nicht gegenüber einem hypostasierten kollektiven Bewußtsein, sondern dem realen gesellschaftlichen Prozeß selber. Das ‚Individuum’ ist dabei ein dialektisches Durchgangsmoment das nicht wegmythisiert werden darf sondern nur aufgehoben werden kann.“ [25]
Butlers Unbewusstes dagegen ist eine überindividuelle Kategorie, die das Individuum „wegmythisiert“. Es ist, anders als bei Freud, keine Kategorie des Einzelnen, sondern umfasst eine Gesamtheit konstitutiver Strukturen, von der es keine Trennung geben kann – nicht einmal im Tod, der vielmehr die Bindung an das kollektive Unbewusste nochmals bezeugt. Indem er als „lustvoller Vorgang“ gefasst ist, als „ekstatische Preisgabe der vereinzelnden Körpergrenze“ (S. 83), ist er als Opfer rationalisiert, das die Gemeinschaft der der Alterität Ausgesetzten bekräftigt. Der Tod nämlich ist lediglich der Tod des sterblichen Einzelnen, während ein „menschliches Etwas“ überlebt: die „Narration“, die „eine besondere Beziehung zum Überleben besitzt.“ (S. 84) Während Adorno – auf dessen Kafka-Interpretation sich Butler im Zusammenhang ihrer Ausführungen in völlig widersinniger Weise beruft – in der „Versöhnung des Organischen und Unorganischen oder der Aufhebung des Todes“ das Versprechen festmacht [26], macht Butler mit Bezug auf Jacques Derrida eine „Unterscheidung zwischen Fortleben und Überleben“ auf, in der das Fortleben, „das angesichts der Endlichkeit des Menschen in der Sprache stattfindet“, Unvergänglichkeit gewährt: „Ein solches Wirken der Sprache ist gleichermaßen ewig und beseelt.“ (S. 85, Fn. 24) Die adressierende Alterität ist das zu hütende Seinsprinzip, das der Einzelne selbst noch bzw. gerade in seinem Tod bestätigt, „[a]ls bliebe, wenn ein Charakter bezwungen ist, die Stimme.“ (S. 83)Postmoderne Entsorgung der Natur

In der Annahme, dass das Unbewusste und die Triebe von der adressierenden Alterität her bestimmt sind; dass sie nichts eigenständig Existentes und Erkennbares darstellen, sondern lediglich die „Verinnerlichung jener rätselhaften, aus der umfassenden Welt der Kultur hervorgehenden Signifikanten“ (S. 131), erweist sich Butlers Rückgriff auf die Psychoanalyse als in der Tradition der Revisionisten stehend, die Freuds somatische Triebtheorie durch eine soziale zu ersetzen beansprucht. Dementsprechend leugnet Butler unter Berufung auf Jean Laplanche auch die Existenz kindlicher Sexualität, die sie vielmehr als überwältigende Verinnerlichung der sexuellen Botschaften, jener „rätselhaften Signifikanten“ aus der „Welt der Erwachsenen“, verstanden wissen will. (Vgl. S. 98 ff.)

Der Poststrukturalismus, der die zweite Natur verewigt, will keine erste mehr kennen. Der Mensch soll nicht Naturwesen sein, das – insofern es Vernunftwesen ist – mehr ist als Natur, er soll reine „Relationalität“ sein, dem keine weitere Substanz zukommt. Der Naturbegriff soll dementsprechend nichts anderes als der Versuch des Subjekts sein, gewaltsam Einheit und Ordnung in die durch die Alterität bestimmte Dezentriertheit zu bringen; eine Ordnung, die dieser als solcher fremd ist und somit rein gesellschaftliches Konstrukt. Natur ist diesem Denken nur noch der Inbegriff des gesellschaftlich auf sie Projizierten – dies ist es, was Butler „performativen Akt“ nennt: einen Akt, der durch Narration und Benennung soziale Realität schafft. Das moderne Subjekt konstruiert sich dergestalt Natur, als deren erkenn- und feststellbare Erscheinung es sich begreifen möchte, und die es im Gegenzug durch Subversion und Überaffirmation, durch Parodie und Travestie zu unterlaufen und zu dekonstruieren gilt, um die Herrschaft dieses Subjekts zu brechen.

Während der Poststrukturalismus die geschichtliche Entwicklung der Bewusstseinsinhalte nicht adäquat fassen kann, da ihm diese bloß Ausdruck einer jedem geschichtlichen Wandel entzogenen vor-ontologischen Struktur ist, ist es für kritische Theorie als Erkenntniskritik zentral, die Begriffe der Naturerkenntnis als historische, d. h. als gesellschaftlich vermittelte auszuweisen. Dies führt jedoch nicht dazu, Natur in diesen Begrifflichkeiten aufzulösen und eine Identität von Begriff und Sache, von Sprache und „Realität der Natur“ [27] zu behaupten. Ohne sie als unveränderlich zu fassen, ohne sie als Gegenstand unmittelbarer Anschauung zu betrachten und der Phantasie zu verfallen, sie unvermittelt an die Hand zu bekommen, fasst kritische Theorie Natur doch als von Gesellschaft unterschiedene, in ihr nicht aufgehende, aber von Vernunft erkennbare Qualität. „Die nachbildende Darstellung des Gegenstandes“, die zugleich seiner kritischen Durchdringung gelten soll, „beruht darauf, daß die Wirklichkeit nicht bloß einen stetigen Wechsel, sondern zugleich relativ statische Strukturen kennt.“ [28] Da Natur dem gesellschaftlichen Prozess immer auch zugrunde liegt und in ihn eingeht, so wie sie in seinem Verlauf bearbeitet und modifiziert wird, ist auch hier die Vermittlung aufzuzeigen und – dem Vorrang des Objekts sowie dem mimetischen Charakter von Erkenntnis eingedenk – wäre festzuhalten: „Das Feste dem Chaotischen entgegenzusetzen und Natur zu beherrschen, wäre nie gelungen ohne ein Moment des Festen an dem Beherrschten, das sonst ohne Unterlaß das Subjekt Lügen strafte. Jenes Moment skeptisch ganz abzustreiten und es einzig im Subjekt zu lokalisieren ist nicht minder dessen Hybris, als wenn es die Schemata begrifflicher Ordnung verabsolutiert“ [29] – jene Hybris, die Butler naturerkennender und -erinnernder Vernunft projektiv unterstellt.

Kritische Theorie als Ausdruck letzterer hält einen Wahrheitsbegriff hoch, der sich im Verhältnis der Vorstellungen des Subjekts zum Objekt zu bewähren hat, und ist allein darin schon gegen die Hypostasierung des Geistes gerichtet, dass die Anschmiegung ans Objekt als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis gefasst wird. Poststrukturalistische Theorie dagegen verdoppelt und affirmiert den Größenwahn des naturbeherrschenden Subjekts, das glaubt, seine gesamte Welt aus sich hervorzubringen und auf sich zurückführen zu können: letzten Endes noch die Natur, die nichts als soziales Konstrukt sein soll, selbst. Während kritische Theorie sich der „Unmöglichkeit, das zu denken, was doch gedacht werden muß“ [30] bewusst ist und sich dem Problem stellt, dass der Begriff selbst noch das Nicht-Begriffliche begreifen muss, ohne es sich zu subsumieren, leugnet poststrukturalistische Theoriebildung erkennbare Nichbegrifflichkeit und dequalifiziert Natur zum diskursiven Konstrukt eines selbstherrlichen Verfügers.

Im Hass auf Natur und Körperlichkeit, der sich in solchen Vorstellungen ausdrückt, „kehrt die Irrationalität und Ungerechtigkeit der Herrschaft als Grausamkeit wieder, die vom einsichtigen Verhältnis, von glücklicher Reflexion so weit entfernt ist, wie jene von der Freiheit.“ [31] Die poststrukturalistische Frontstellung gegen den Menschen als Naturwesen exekutiert das von der verkehrten gesellschaftlichen Allgemeinheit verhängte Diktum gegen den Körper. Die Selbstzurichtung der Einzelnen zu gleichermaßen kapitalproduktiven wie staatsloyalen Subjekten impliziert die Unterdrückung der damit nicht kompatiblen Triebregungen, die als zu beherrschende Natur erfahren werden. Diese stellt eine ständige Gefahr dar, weil sie sich nie ganz unterwerfen lässt. Deshalb muss sie umso heftiger bekämpft werden. Die niemals vollständig gelingende Selbstzurichtung des Köpers kulminiert solcherart in Hass auf ihn, in Hass auf jene Instanz, von der man loszukommen wünscht, um ein für alle Mal den Versagungen, Ambivalenzen und Kränkungen kapitaler Vergesellschaftung entledigt zu sein. Dieses Bedürfnis nach unvergänglicher Identität mit der gesellschaftlichen Herrschaft, die nur als Regression zu haben ist, bedient die Theorie der „kulturelle[n] Kodierung des Körpers“ [32]; die, wie Christina von Braun affirmativ formuliert, Verarbeitung der Erfahrung, dass der biologische Körper einengend und verzichtbar ist, die der „Stillstellung“ und „Überwindung der biologischen Körperlichkeit“ [33] zuarbeitet. Insofern ist es – allein wegen des Gegenstandes – kein Zufall, dass das Konzept der Dekonstruktion gerade in der Theorie des Geschlechterverhältnisses einen derartigen Siegeszug zu verzeichnen hat. „[D]as Geschlecht ist der nicht reduzierte Körper, der Ausdruck, das, wonach jene [die zur Identität mit Herrschaft sich formierenden Subjekte; A. G.] insgeheim verzweifelt süchtig sind“ [34], das sie aber gerade deswegen umso verbissener auszutreiben gezwungen sind.

Wenn der Einzelne anthropologisch als reiner „Effekt innerhalb eines Systems, […] der différance [35], gesetzt ist; wenn er ontologisch als aus der „Irreduzibilität des Ausgesetzseins“ (S. 49) Hervorgegangener gedacht wird, der andrerseits gerade aus dieser vollständigen Entmächtigung heraus mit der Macht belehnt wird, ganz unmittelbar performativ Realität zu erschaffen, so wird ersichtlich, wie sinnstiftend die poststrukturalistische Theorie für die spätkapitalistischen Verhältnisse ist: Gerade als unhintergehbarer Teil des vorausgesetzten großen Ganzen, als Anhängsel des Kollektivs also, kann der Einzelne an den Insignien der Herrschaft teilhaben – an der Macht, die Natur zum beliebig konstruier- und dekonstruierbaren Resultat menschlicher Produktivität erniedrigt. Darin stellt der postmoderne Diskurs in seiner, die gesellschaftliche Realität affirmativ nachvollziehenden Postulierung des Todes des Subjekts zugleich den Kulminationspunkt der Allmachtsphantasien dieses Subjekts dar. Der materialistische Gedanke jedoch, dass der Mensch ein Wesen ist, das, sosehr es sich gesellschaftlich über Natur auch erheben möchte, doch immer unaufhebbar auf diese verwiesen ist; der Gedanke, dass Naturbeherrschung also immer auch Beherrschung innerer Natur ist und damit dem Einzelnen Gewalt antut; dieser zentrale Gedanke kritischer Theorie ist es, der den Anspruch auf Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, von Individuum und Gesellschaft und – was dasselbe ist – von Gesellschaft und Natur aufrechterhält.

Anmerkungen:

[1] Günther Jacob, Self-Fullfilling Prophecy. Popmoderne Politik, Retro-Moden und radikale Linke, auf: www.rote-ruhr-uni.com/texte/jacob_self_fullfilling_prophecy.shtml.

[2] Regina Behrendt/Werner Fleischer/Günther Jacob/Nicola Meißner, Goldhagen und die antinationale Linke, in: Jungle World, Nr. 2/1998, S. 18.

[3] Jacob, Self-Fullfilling Prophecy, a. a. O.

[4] Zu letzterem vgl. etwa: Alex Demirovic, Das Wahr-Sagen des Marxismus: Marx und Foucault, in: Prokla Nr. 151/2008, S. 179-201. Dass Demirovic in diesem Text Foucault ausgerechnet dadurch zum legitimen Nachfahren Marx’ erklärt, dass es diesem „um die Öffnung für Erfahrung [geht], so dass sich die Texte [von Marx; A. G.] mit Leidenschaft, einem neuen ‚Mythos’, einer neuen ‚Spiritualität’ verbinden können und das Wahr-Sagen wieder seine Kraft zur Veränderung und Entwerfung erlangt“ (ebd. S. 199), sagt mehr über Demirovic’ antiaufklärerische Haltung aus, als über das Verhältnis der Gedankengebäude von Marx und Foucault. (Den Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich Florian Ruttner.)

[5] Phase 2 Berlin, Unbehagen von Gewicht. Einleitung zum Schwerpunkt, in: Phase 2, Nr. 32/2009, S. 4.

[6] Merve Winter, Welcher Körper überhaupt? Ein Häufchen unvermeidlich (de-)konstruierte Leiblichkeitserfahrung, in: Phase 2, Nr. 32/2009, S. 25. Dass Winter im Zuge ihres Artikels darauf stößt, dass diese Position das „Ding an Sich“ einer kritischen Analyse entzieht, bringt sie auf die reichlich undekonstruktivistische Idee, das „Geschlecht als Existenzweise“, als „leibliche Daseinsform aller Menschen“ durch die Hintertür wieder ins poststrukturalistische Theoriengebäude hereinzuholen; frei nach dem Motto: „Wieviel Körper hätten’s denn gern?“ (Vgl. ebd., S. 25f.) Dies gelingt ihr nur, indem sie an kritischer Theorie und deren Naturbegriff orientierte Denkerinnen heranzieht, die sie umstandslos als mit dem Poststrukturalismus vereinbar präsentiert, um schließlich in eine sensualistisch anmutende Unmittelbarkeitsposition zu verfallen, die den fetischistischen Schein, dass das, „was ich von mir selbst spüre, was sich mir als Hier und Jetzt aufdrängt“, die „materiell und zugleich [als] Ergebnis eines sozialen Prozesses der Materialisierung“ gedachte Materialität des Selbst sei (Vgl. ebd., S. 27), als Ausweg aus dem Dilemma darstellt.

[7] Alfred Schmidt, Einleitung, in: Ders.: Beiträge zur Marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1969, S. 10f.

[8] Jacques Derrida, Fichus. Frankfurter Rede, Wien 2003, S. 31 f.

[9] Ebd., S. 23 (Hervorhebung im Original).

[10] Theodor W. Adorno, Wozu noch Philosophie, in: Ders.: Gesammelte Schriften (AGS), Bd. 10.2, Frankfurt/M. S. 467.

[11] „Daß das Nichtidentische nur durch Vermittlung bestimm- und erkennbar ist, heißt aber zugleich dessen eigener Vermitteltheit gewahr zu werden. Das Nichtidentische ist kein absolut Individuelles bzw. Einzelnes, kein absolut Differentes, keine reine Unmittelbarkeit. […] Das Insistieren auf der eigenen Bestimmtheit des Objekts, jenseits seiner falschen Vermittlung, aber nur durch sie erkennbar, unterscheidet Adorno grundsätzlich von allen modernen Differenzphilosophen.“ Clemens Nachtmann, Adornos Orthodoxie. Das Fortbestehen der Revolutionstheorie nach ihrem Ende, in: Bahamas, Nr. 22/1998, S. 48 f.

[12] Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: AGS, Bd. 4, S. 171. In der Dialektik der Aufklärung heißt es dazu: „Allgemeine Begriffe[…] bilden das Material der Darstellung so gut wie Namen für Einzelnes. Der Kampf gegen Allgemeinbegriffe ist sinnlos. Wie es mit der Dignität des Allgemeinen steht, ist damit aber nicht ausgemacht. […] Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.“ Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragment, in: AGS, Bd. 3, S. 249.

[13] Jacques Derrida, Die Différance, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 37.

[14] Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt/M. 2007, S. 55 (Hervorhebung im Original). Die Seitenzahlen in Klammern geben im Folgenden die entsprechenden Stellen im Text an. Hervorhebungen sind stets wie im Original.

[15] Dies ist auch der Kern der Butlerschen Theorie des Geschlechterverhältnisses: Das (biologische) Geschlecht ist für sie ein narrativer bzw. diskursiver Versuch des modernen Subjekts, gewaltsam Ordnung – in diesem Fall zweigeschlechtliche – in seine Dezentriertheit und „konstitutive Inkommensurabilität“ (S. 56) zu bringen; in die Tatsache, dass jede Narration, die vom uneinholbaren Ausgesetztsein Rechenschaft ablegen möchte, zwangsläufig zu spät kommt; dass in ihr zwar „ein körperlicher Referent im Spiel [ist], den ich aber nicht genau erzählen kann […]. Die Geschichten erfassen den Körper nicht, auf den sie verweisen“ (S. 55), weswegen „nichts anderes übrig [bleibt], als jene Ursprünge, die ich nicht kennen kann, zu fiktionalisieren und zu fabulieren.“ (S. 56) Auch das Denken, die ‚narrative Konstruktion’, ist nämlich durch die ‚primäre Unterbrechung’ konstituiert, was unweigerlich zur Einsicht in seine unaufhebbare ‚radikale Fragmentierung’ führen muss. Gewiss, so Butler weiter, wäre dies für den Menschen in seinem tagtäglichen Leben kaum zu bewerkstelligen (vgl. S. 82). Die Philosophin jedoch, so wird man weiter schließen dürfen, kann sich dieser Einsicht in die konstitutive Unzulänglichkeit des Denkens nicht verschließen, will sie die gewalttätige, logozentrische Herrschaft des modernen Subjekts nicht prolongieren: Solche scheinradikale Logikkritik erweist sich als Fortführung jenes Versuchs, mit den Mitteln des Denkens das Denken zu desavouieren, den Adorno schon an Heidegger kritisiert hat. Vgl. Theodor W. Adorno, Ontologie und Dialektik, Frankfurt/M. 2008, S. 54.

[16] Dies ist die Grundlage des Konzepts des „Othering“ der poststrukturalistischen Rassismustheorien.

[17] Vgl. Michel Foucault, Gespräch mit Ducio Tromabrdori, in: Ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt/M. 2008, S. 1624. Diesen Vorwurf bringt Foucault an dieser Stelle ausgerechnet gegen die von ihm als Frankfurter Schule bezeichnete kritische Theorie vor.

[18] „Ja, die Sphäre, in der das Subjekt mutmaßlich entsteht ist ‚vor-ontologisch‘ in dem Sinne, dass die phänomenale Welt der Personen und Dinge erst zugänglich wird, nachdem ein primärer Übergriff ein Subjekt hervorgebracht hat. Es hat keinen Sinn, nach dem Wo und Wann dieser Urszene zu fragen, da sie den raumzeitlichen Koordinaten, die den Bereich der Ontologie umschreiben, vorausgeht und diese sogar bedingt.“ (S. 116)

[19] Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., S. 422.

[20] Alfred Schmidt, Der strukturalistische Angriff auf die Geschicht, in: Ders.: a. a. O., S. 207.

[21] Dass Butler sich damit dem Paradox aussetzt, mittels ihrer Theorie bestimmte Aussagen über etwas zu treffen, worüber sie ihren eigenen Ausführungen gemäß gar nichts Essenzielles aussagen kann, stört weder sie noch ihre Adepten sonderlich. Dass ihren Überlegungen gemäß jedes Denken seiner selbst konstitutiv nicht mächtig ist, hindert sie nicht daran, bestimmte Aussagen über die Konstitution, gar über die vor-ontologische, jeder Konstitution vorausgehende Struktur zu treffen. Das ist die Aporie, die Butlers Theorie charakterisiert und die nur handstreichartig gelöst werden kann, indem stillschweigend davon ausgegangen wird, die Erfahrung der Alterität käme quasi offenbarungsgleich über das Bewusstsein. Vgl. dazu: Alex Gruber, Zur Ontologie der Differenz. Über die Unmöglichkeit poststrukturalistischer Gesellschaftskritik, in: Bahamas, Nr. 57/2009, S. 67 f..

[22] Magnus Klaue hat darauf hingewiesen, dass Butler und mit ihr das Konzept der Dekonstruktion in ihrer Frontstellung gegen „organisierende Vernunft“ und „identifizierende Erinnerung“, welche es ermöglichen, „im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 284), die Menschen auf begriffslose Kreatürlichkeit reduzieren. Damit hypostasieren sie jene Natur, deren Existenz sie sonst so vehement bestreiten. Vgl. Magnus Klaue, Körper ohne Erinnerung. Zum Verhältnis von Natur und Subjekt in Postmoderne und kritischer Theorie, in: http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=644&print.

[23] Alfred Schmidt hat bereits 1969 in seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus darauf hingewiesen, dass Foucaults Vorstellung eines wieder zu entdeckenden Wissens, „das sich in uns weiß und denkt, und dem wir uns zu überlassen haben“, auf die Butler sich explizit beruft, zur vorkritischen Philosophie zurückführt, indem sie die subjektlose Struktur an die Stelle Gottes rückt. Vgl. Alfred Schmidt, Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte, a. a. O., S. 230. Dazu, dass dieser poststrukturalistische Gott „noch eine Umdrehung mysteriöser“ ist als der verborgene Gott der Theologie vgl. Christoph Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 187.

[24] Brief von Wiesengrund-Adorno und Gretel Karplus an Benjamin. Hornberg, 2. – 4. und 5.8.1935, in: Walter Benjamin, Kairos. Schriften zur Philosophie, Frankfurt/M. 2007, S. 206.

[25] Ebd., S. 212 [Zeichensetzung und Hervorhebung im Original].

[26] Brief von Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, 17. 12. 1934, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.3, Frankfurt/M., S. 1176. Zit. in: Judith Butler: a. a. O., S. 85.

[27] Schmidt, Einleitung, a. a. O., S. 14.

[28] Max Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV/1935, München 1980, S. 355.

[29] Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: AGS, Bd. 5, S. 27.

[30] Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme, Frankfurt/M. 2006, S. 226.

[31] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 266.

[32] Christina von Braun, Gender, Geschlecht und Geschichte, in: Gender-Studien. Eine Eiführung, hg. v. Chr. v. Braun u. I. Stephan, Stuttgart 2006, S. 40.

[33] Ebd., S. 41

[34] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 269.

[35] Derrida, Die Différance, a. a. O. S. 46.

Glanz und Elend der Exegeten. Marginalien zur inneren Historizität des Kapitals.

Ausgabe

#11 vom 08.06.2009

Marginalien zur inneren Historizität des Kapitals

I.

Adorno sagt über Honoré de Balzac, ihm sei „aufgegangen, dass im Hochkapitalismus die Menschen, nach dem späteren Ausdruck von Marx, Charaktermasken sind“ (Adorno 1997: 140). Und wirklich entpuppen sich all die Figuren der Menschlichen Komödie, so detailliert und mit feinstem Gespür für ihre unnachahmliche Individualität Balzac sie zu zeichnen vermochte, letzten Endes immer als Rädchen im „Funktionszusammenhang“ (Ebd.: 143) der bürgerlichen Gesellschaft. Ob Leid, Tod, Glück oder Liebe – die Harmonie des Ganzen wird durch das Schicksal der Einzelnen nicht tangiert, sondern gewinnt durch sie hindurch an Kraft. Wozu Balzac wie kein zweiter imstande war, den organischen Zusammenhang von Unterwelt und dem schönen Schein der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft zu veranschaulichen [1], das macht ihn zum Detektiv oder zum „Geheimagenten“ [2] der Moderne. Er spürt auf, dass sich alle Verhältnisse zwischen Menschen in Geldbeziehungen verwandeln, womit auch das Verbrechen eine neue Bedeutung erhält: Verbrecher und ehrbare Bürger gleichen sich einander an, werden ununterscheidbar. Das Verbrechen steht einerseits für die dem Schein zugrunde liegende Wahrheit, die aus der bürgerlichen Öffentlichkeit verbannte Gewalt und das ins Schattenreich verdrängte Unrecht, andererseits ist das gewöhnliche rechtsförmige Geschäft oftmals nicht minder kriminell. Gerade weil beide Sphären, Oberfläche und Unterwelt, nur scheinbar voneinander getrennt sind,  weil sie beide dem sozialen Naturgesetz der „Plusmacherei“ (Marx) folgen, entspricht die solcherart gefasste Totalität präzise dem Begriff der zweiten Natur. Das ist kein Zufall: Balzac selbst hat die soziale Welt angeschaut als sei sie, darin durchaus dem Geist seiner Zeit folgend, eine Spiegelung der natürlichen. In der Vorrede zur Menschlichen Komödie schrieb er 1842, er habe erkannt, dass „die Gesellschaft in dieser Hinsicht der Natur glich. Macht nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach den Umgebungen, in denen sein Handeln sich entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es in der Zoologie Variationen gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwaltungsbeamten, einem Advokaten, einem Müßiggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Kaufmann, einem Seemann, einem Dichter, einem Bettler und einem Priester sind, wenn auch schwieriger zu definieren, so doch nicht minder beträchtlich als jene, die den Wolf, den Löwen, den Esel, die Krähe, den Hai, die Meerkuh, das Schaf und andere unterscheiden. Es hat also ewig soziale Gattungen gegeben und wird ihrer ewig geben, wie es zoologische Gattungen gibt.“ (Balzac 1998: 8f.) Und dementsprechend verglich sich Balzac selbst mit einem der Begründer der neuzeitlichen Zoologie, dem Comte de Buffon.

Was in Glanz und Elend der Kurtisanen, dieser erschreckend realistischen Parabel auf Justiz und Verbrechen, der Gauner Jaques Collin ist, der Lucien de Rubempré und seine Kurtisane Esther in den Selbstmord treibt und am Ende zum neuen Chef der Sicherheitspolizei wird, das sind heute jene Politiker-, Gewerkschafts- oder Unternehmerfratzen, die alle Schweinereien mitmachen, nur um zu Macht und Reichtum zu kommen. Der Unterschied jedoch besteht darin, dass heute die Totalität in das Subjekt eingesickert ist und sich das Unbewusste unmittelbar mit der Gesellschaft kurzgeschlossen hat,  was Reflexion immer mehr verunmöglicht. Dementsprechend erscheint dem heutigen Leser Balzacs Werk als Rückblick auf auf eine Zeit, in der sogar Schurken noch Individuen sein konnten und nicht austauschbare Funktionsträger. Für die Herrschenden des Spätkapitalismus, den Wolfgang Pohrt mit dem Jahr 1871 beginnen lässt, ist zu konstatieren: „Die obersten Führer gleichen trotz ihrer Machtfülle den komischen Helden aus Monumentalfilmen übers klassische Altertum sich an. Sie können ihre Herkunft vom Stammesoberhaupt, vom Haustyrann nicht verleugnen. Sie können zwar als Vollzugsorgane des logischen Ganges der Geschichte Unheil anrichten, in diesen eingreifen aber können sie nicht.“ (Pohrt 1995: 255)

Insofern ist Balzacs literarische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft in gewissem Sinne anachronistisch – durch die innere Geschichte des Kapitals. Dasselbe gilt für Marx, dessen Kritik der politischen Ökonomie eben nicht nur die sozialen Naturgesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu extrapolieren suchte, sondern ganz zentral auch eine Kritik der liberalen Ökonomen seiner Zeit war. Adam Smith’ und David Ricardos Werke sind Produkte des revolutionären, seine Herrschaft selbst durch Theorie legitimierenden Bürgertums. Die „invisible hand“ ist eine Bezeichnung, die sich ohne weiteres auf Balzacs Romane anwenden lässt: „Der einzelne ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur irgend möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt.“ (Smith 1974: 369) Man könnte meinen, Balzac habe Smith’ Buch gelesen und es als Vorlage für seine Figur Collin aus dem Glanz und Elend Roman benutzt. Doch was ist mit den Menschen geschehen, dass sie nicht einmal mehr Charaktermasken sind, weil hinter den Masken nichts lebendiges, unterscheidbares mehr steckt, das früher durch die Maske verdeckt wurde? Warum sind die Menschen zunehmend bloße Erscheinungsformen des Kapitals selbst?

II.

Ein Experte verkündet: „Es ist ungeklärt, welche erklärende Rolle die abstrakt-menschliche Arbeit als allein Wert schöpfende Tätigkeit in der Rekonstruktion des Marxschen Systems noch einnehmen soll. Ihre Funktion im Rahmen einer Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus, wird von der überwiegenden Mehrheit der Autoren der NML [der „Neuen Marxlektüre“ – PL] zurückgewiesen. Aus der zunehmenden Automatisierung der Produktion und der daraus folgenden Freisetzung von Arbeitskräften, lässt sich keine letzte Krise der kapitalistischen Produktionsweise ableiten. Auch die Bedeutung der abstrakt-menschlichen Arbeit für die Mehrwerttheorie scheint ihre Legitimität zu großen Teilen daraus bezogen zu haben, Kampfmittel der Arbeiterklasse zu sein. Dabei kann man weder im strengen Sinne beweisen, dass der Mehrwert allein aus der produktiven Tätigkeit der LohnarbeiterInnen erwächst, noch lässt es sich widerlegen. Zumindest müssen zur Legitimation dieser Kategorie realwirtschaftliche Analyse unternommen werden, die zeigen, welche Bedeutung die abstrakt-menschliche Arbeit im heutigen Produktionsprozess hat.“ (Eichler 2009: 43) [3] Was uns der Autor sagen will, ist: Es gibt viele, viele ungelöste Probleme mit dem Marxschen Werk. Was er uns sagt, ist: Ich habe von Tuten und Blasen keine Ahnung und konstatiere deshalb Probleme, die gar keine sind.

Gehen wir ins Detail: Es gibt die so genannten Rekonstrukteure des Marxschen Werkes, also jene, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit einem positivistisch verseuchten Begriffs- und Methodeninstrumentarium ausgestattet noch einmal aufzuschreiben, was Marx angeblich schon im Kapital und anderen Schriften ausgeführt hat oder „eigentlich“ hätte ausführen müssen. Dieses Unterfangen soll angesichts eines bisweilen „mystizistischen“ und mit Metaphern gespickten Textes zur Klärung beitragen. Nun behauptet unser Experte, es sei „ungeklärt“, welche „erklärende Rolle“ der abstrakt-menschlichen Arbeit innerhalb dieser Marx-Rekonstruktion „noch“ zukommen soll. Das „noch“ suggeriert, dass sich am Begriff der abstrakt-menschlichen Arbeit und seiner Bedeutung seit Marxens Zeiten etwas Entscheidendes geändert haben soll. Was das ist, verrät uns der Autor allerdings nicht – nur, dass die abstrakt-menschliche Arbeit nicht am Zusammenbruch des Kapitalismus schuld sein kann. Auch mit der Mehrwerttheorie hat diese Form der Arbeit angeblich nichts zu tun und man fragt sich, welche Mehrwerttheorie er meint, denn die Marxsche kann es schließlich nicht sein: Dieser hatte immerhin die abstrakt-menschliche Arbeit als Substanz des Werts bestimmt; und da der Mehrwert eine Erscheinungsform des Werts ist, kommt, wenn man vom Mehrwert die abstrakt-menschliche Arbeit abzieht, nur noch eine einzige große Begriffsblase heraus. Der Experte aber meint, man könne weder beweisen, noch widerlegen, dass „der Mehrwert allein aus der produktiven Tätigkeit der Lohnarbeiter erwächst“. Ja, woraus soll er denn sonst erwachsen? Aus den grünen Feldern Sachsens? Aus den Hirnwindungen eines Marxologen? Und hat nicht Marx genau das getan – mit den Mitteln der Logik bewiesen, dass der Mehrwert einzig und allein die in der Ware vergegenständlichte Menge unbezahlter, fremder und abstrakter Arbeit (präziser: Arbeitskraftverausgabung) ist? [4] Dass diese vom Kapitalisten rechtsförmig angeeignete Mehrarbeit genau wie die durchschnittlich zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit immer konkret und abstrakt zugleich ist [5], ist zwar eine Binsenweisheit, aber der Autor hat offenbar noch nie etwas davon gehört, denn sonst gäbe er nicht die dumme Anweisung, es müssten „realwirtschaftliche Analysen“ unternommen werden, die dann zeigten, welche „Rolle“ die abstrakt-menschliche Arbeit im Produktionsprozess heute spielt. Man stelle sich bildlich vor, wie ein Realökonom in die Betriebe geht und den Arbeitern über die Schultern guckt, um festzustellen, wie viel Arbeitszeit sie abstrakt verausgaben, nur um sich hinterher an den Schreibtisch setzen und mit einer raffinierten Formel ausrechnen zu können, welcher Anteil am Mehrwert auf die Verrichtung abstrakt-menschlicher Arbeit zurückgeht, dann weiß man, wie viel Unsinn in den Ausführungen unseres Experten steckt.

Wenn diese den „Stand der Marxrezeption“ wiedergeben, dann ist die Tatsache, dass sich die Menschen nicht dem Marxismus anschließen, nicht auf ihre Dummheit, sondern auf ihre Klugheit zurückzuführen. Nun schreiben selbstredend nicht alle Marxologen solchen Unfug wie der Herr Eichler aus Leipzig – die von ihm rezensierten Ingo Elbe und Helmut Reichelt etwa wissen sehr genau, was abstrakte Arbeit und was angeberisches Gefasel ist. Was diese allerdings negativ von  Martin Eichler unterscheidet, der ja immerhin von grundlegenden geschichtlichen Veränderungen spricht (auch wenn er diese nicht bestimmen kann), ist die Geschichtslosigkeit ihrer Begriffe. Sie kennen nur externe historische Vorraussetzungen, aber keine innere Historizität des Kapitalverhältnisses. Darin zeigt sich ein für die Branche des Expertentums typischer Tunnelblick, welcher nur wahrnimmt und wahrnehmen will, was sich in das vorgefertigte System passlich einfügt. So verliert etwa Ingo Elbe in seinem 650 Seiten starken und vielerlei Hinsicht lehrreichen Mammutwerk Marx im Westen kein einziges Wort über diesen Westen, der ja immerhin die Voraussetzung für die Marxsche Kritik darstellte, sondern setzt ihn blindlings ausgerechnet mit der Bundesrepublik gleich. Der große Gegenspieler des wissenschaftlichen Sozialismus ist für Elbe der so genannte „Engelsismus“, dem jeder zugeordnet wird, der auf den epistemischen Charakter der historischen Passagen im Kapital hinweist. Wer auf die Verfallstendenzen im Inneren der bürgerlichen Gesellschaft aufmerksam macht und daraus auf eine qualitative Veränderung des Kapitalverhältnisses („reelles Gemeinwesen“, „negative Aufhebung des Kapitalverhältnisses“) selbst schließt, befinde sich zusammen mit Marx – hier kommt das altbewährte ML-Vokabular zum Einsatz – im „Gegensatz zum wissenschaftlichen Gehalt seiner Kategorien“ (Elbe 2008: 579). Backhaus, Breuer, Pohrt etc. werden demzufolge als „ideologische Verdolmetscher des Kapitalverhältnisses“ (ebd.) bezeichnet.

Bislang unübertroffen bleibt allerdings – sieht man einmal von Louis Althusser selbst ab – Michael Heinrich, der allen Ernstes verkündet, die „geschichtsphilosophischen Passagen sind jedoch nicht konstitutiv für die wissenschaftliche Analyse (wie zum Teil von Kritikern behauptet wird), sie stellen keine Voraussetzung für wesentliche Argumentationen der Kritik der politischen Ökonomie dar. Es handelt sich entweder um Einzelstellen oder bei den allgemeineren Passagen um ‚Beigaben’ in den deklamatorischen und wohl auch auf Publikumswirksamkeit hin angelegten Teilen. Verzichtet man auf diese problematischen Passagen, so ändert dies nichts für den wissenschaftlichen Korpus des Marxschen Werkes“ (Heinrich 1999: 137). Der „wissenschaftliche Korpus“ soll also die reine Theorie, die Abfolge der Kategorien, die Explikation des Systems sein, das zwar historische Voraussetzungen hat, aber – ist es erst einmal installiert – nur noch um sich selbst kreist und keinerlei qualitative Veränderungen mehr hervorbringt. Das Kapital ist in dieser Vorstellung kein automatisches Subjekt mehr, sondern nur noch eine Art Geldautomat, der so lange Scheine ausspuckt bis sein Vorrat aufgebraucht ist – sprich: so lange es noch Menschen gibt, die Waren herstellen und konsumieren. Dass das Kapital sich allerdings seine eigenen gesellschaftlichen Bedingungen zur Aufrechterhaltung der „Produktion um der Produktion willen“ (Marx 2009: 120) beständig neu schaffen muss, weil es eben kein Luhmannsches Konstrukt, sondern ein prozessierender Widerspruch ist, der ewig seine eigenen Schranken niederreißen muss, geht den genannten Marxisten nicht auf. Produktion um der Produktion willen, d.h. gegebenenfalls Produktion der Vernichtung: Der böse Geist wird exorziert. Dementsprechend findet sich in den „neuen“ Marxexegesen auch kein Wort über den Holocaust – der passt nicht ins Konzept und spielt auch keine Rolle für den „wissenschaftlichen Korpus“.

III.

„Jede theoretische Kritik von bürgerlicher Gesellschaft und kapitalistischer Produktionsweise, die in der Absicht einer weltverändernden Praxis formuliert wird, muß ihren eigenen gesellschaftsgeschichtlichen Kontext reflektieren: sonst geht ihre Intention in einer überhistorischen Theorie unter. Das gilt insbesondere für die Theorie von Marx und deren Aneignung. Diese Theorie, entstanden in der Epoche des klassischen, noch revolutionären Liberalismus, konnte deren aufklärerisch-emanzipatorischen Gehalt aufnehmen und durch immanente Kritik radikalisieren, um die ‚Aussicht auf eine neue Gesellschaft zu eröffnen’ (MEW 26.3, 422). Darum galten für Marx die Krisen, in denen sich Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise manifestierten, als Möglichkeiten eines Widerspruchs (Kritik) gegen die widerspruchsvolle gesellschaftliche Welt. Dieser Zusammenhang von Krise und Kritik zerfiel schon unter dem Imperialismus. Die Krise von 1929/33 hat in Deutschland eine ‚konformistische Revolte’ (Horkheimer) produziert.“ (Stapelfeldt 2009a) Was Gerhard Stapelfeldt hier im Ankündigungstext für eine Veranstaltung zu seinem jüngst neu aufgelegten Buch Das Problem des Anfangs in der Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx (Stapelfeldt 2009b) einfordert, ist eine Historisierung des Marxschen Werkes, eine Reflexion auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach dem Imperialismus und erst recht nach dem Nationalsozialismus. Das auf Adorno und Horkheimer zurückgehende Paradigma vom Zeitkern der Wahrheit, das Stapelfeldt hier ins Feld führt, berührt sein eigenes Buch: Die zuerst 1979 erschienene Studie über das Problem des Anfangs ist noch als Spätausläufer der Marx-Aneignung ab Ende der 60er Jahre zu lesen, entstammt also einer Zeit, in welcher der auf Weltkrieg und Holocaust basierende Nachkriegsboom ins Schlingern geriet und das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit auf der Tagesordnung erschien. Die antiautoritäre Phase der 68er wurde als Reaktion auf diese Entwicklungen liquidiert, im Zeichen der Wiederentdeckung des Proletariats begann die Zeit der Kaderparteien und des Mao-Stalinismus (Vgl. Benicke 2004). Heute dagegen, da die „wiedervereinigte“, d.h. zunehmend ossifizierte Bundesrepublik zu ihrem orientalischen Ausgangspunkt zurückgekehrt ist, sind nicht mehr der „unbedingte Arbeitsethos, der unpolitische Individualismus, die Verdrängung des Nationalsozialismus, der Antikommunismus, die Ideologie der Marktwirtschaft“ (Ebd.: 9) die Probleme, mit denen sich radikale Kritik auseinanderzusetzen hat. Im Gegenteil: Der sich auf die genannten Phänomene kaprizierende Antikapitalismus der (Post-)68er sowie die Propaganda von Linkspartei, Grünen und Sozialdemokratie sind als antiwestlicher Wahn zu dechiffrieren. Die Linke ist demnach kein Ansprechpartner für die „Partei des Glücks“ (Jan Gerber) mehr, sondern nur noch – aber das vor allem anderen – Gegenstand der Kritik.

Stapelfeldts Buch hielt dagegen Ende der 70er Jahre noch in aufklärerischer Absicht gegen die K-Gruppen die Begriffe Dialektik und Kritik hoch und verteidigte sie gegen jede dogmatische Weltanschauung. [6] Er weist luzide nach, dass die Ware im ersten Abschnitt des Kapitals eine Voraus-Setzung ist, die im dialektischen Darstellungsgang wieder eingeholt, d.h. durch das Ende legitimiert werden muss, soll die Theorie kritisch sein. Marx hat, so Stapelfeldt, die Kritik des Anfangs von Hegels Phänomenologie abgeschaut und sie als Kritik der politischen Ökonomie auf die Theorien des revolutionären Bürgertums in Gestalt von Adam Smith und David Ricardo bezogen. Weil die Politische Ökonomie ihren Ursprung im bürgerlichen Kampf gegen den Feudalismus hat, führt sie den gesellschaftlichen Reichtum auf Arbeit zurück – gegen das Erbrecht. Hier erreicht das Bürgertum sein – historisch gesehen – höchstes Niveau: eine kritische Theorie der Gesellschaft. Weil es die kapitalistische Produktionsweise angemessen, i.e. notwendig falsch auf den Punkt bringt, kann Marx, will er die Herrschaft des Kapitals delegitimieren, seine auf Abschaffung dieser Herrschaft zielende Theorie als Kritik der politischen Ökonomie zu Papier bringen. Stapelfeldt weist nun nach, dass im Begriff der Arbeit, wie er von Smith und Ricardo verwendet wird, die Blindheit des Bürgertums für seine eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen kulminiert. „Arbeit“ fungiert bei diesen als unreflektierte Voraus-Setzung, der Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit – Marx’ nach eigener Aussage größte Entdeckung (vgl. Marx 1989: 56) – wird von ihnen permanent identifiziert. Hegels Geistbegriff allerdings kann als Einspruch gegen diese Identifizierung von Konkretem und Abstraktem gelesen werden: Indem der Geist als Subjekt erscheint, das die Dinge hervorbringt, sich nur durch diese hindurch verwirklicht, gleichzeitig aber nicht mit ihnen identisch ist, hat Hegel, so Stapelfeldt, die Wahrheit des Kapitals formuliert. Diese Analogie haben andere vor ihm auch schon gesehen (vgl. etwa Krahl 1970). Bei Stapelfeldt aber bleibt es nicht bei einer Analogie, er weist nach, dass Hegel nicht einen ähnlichen, sondern denselben Gedanken auf dem Gebiet der Philosophie verfolgt wie Marx – und dass sich dieser ebenfalls in einem spezifischen Arbeitsbegriff ausdrückt: in dem der „Arbeit des Begriffs“ (Stapelfeldt 2009b: 84). Doch auch bei Hegel, der ja im Gegensatz zu Smith und Ricardo Allgemeines und Besonderes nicht einfach gleichsetzt, tritt durch die Hintertür wieder dieselbe Identität von abstrakter und konkreter Arbeit ein: Weil ihm die „mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft (…) keine den Individuen zukommende Potenz ihres unmittelbaren Welt- und Selbstbewusstseins, sondern eine überindividuelle ‚List’“ (ebd.: 79) ist, wird das prozessierende Allgemeine nicht als von den Individuen selbst hervorgebrachtes durchschaut.

Jedoch zeigt sich in dieser Kritik an Hegel auch ein zentrales Problem: Denn wenn das Kapital seinem eigenen Begriff entspricht: „negative Beziehung des Werts auf sich“ (ebd.: 143) zu sein, also vermittelnde Unmittelbarkeit, dann geht die Kritik fehl. Sie behauptet etwas, das ihrer eigenen Theorie zufolge Ideologie ist: Es sind, wenn das Kapital geschichtlich zu seiner eigenen Bestimmung gereift ist, eben nicht mehr die Individuen und ihre Arbeit, die das Kapital konstituieren, sondern umgekehrt: „Das Kapital wendet den Arbeiter und nicht der Arbeiter das Kapital an, und nur Sachen, die den Arbeiter anwenden, die daher im Kapitalisten Selbstigkeit, eignes Bewusstsein und eigenen Willen besitzen, sind Kapital.“ (Marx 2009: 89) Marx’ Kapitalbegriff ist negativ in dem Sinne, dass er eine geschichtliche Tendenz ausspricht, die, ist sie an ihr Ende gekommen, jede Kritik unmöglich macht. Wenn alles mit dem Kapital identisch ist, dann wird der Kritiker notwendig zum Theoretiker (wie man bei Stefan Breuer (1977) nachlesen und zugleich beobachten kann), der dem gesellschaftlichen Prozess nur noch ohnmächtig zusehen kann. Insofern ist die Krisenhaftigkeit, also die Unterscheidung (gr. krinein) zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, zwischen bourgeois und citoyen usw. unhintergehbare Voraussetzung von Kritik in kommunistischer Absicht: „Kritik ist sodann die radikale Beschränkung der Darstellung auf eine Aufklärung der Krisenstruktur der kapitalistischen Produktionsweise, die Abstinenz von jeder begrifflichen Antizipation eines versöhnten Zustands – die nur in der bewusstlosen Verdopplung der ‚Herrschaft der Verhältnisse’ bestehen könnte.“ (Stapelfeldt 2009b: 334) Ist aber diese Unterscheidung nicht mehr möglich, weil das Individuum mit Haut und Haaren vom Kapital einverleibt wurde, dann gibt es auch keine Resistenzkräfte mehr, die der Herrschaft ein Ende bereiten oder diese auch nur zu Bewusstsein bringen könnten. Daraus folgt, dass die historische Mission des Kapitals die Abschaffung des Individuums ist, die vollständige und restlose Transformation des Einzelnen in ein Kapitalsubjekt.

Stapelfeldt betont den Zusammenhang der Politischen Ökonomie und ihrer Kritik. Er zeigt, dass Marx heute nicht einfach gelesen werden kann, als bewegten sich die Ökonomen noch auf demselben Niveau wie Smith und Ricardo, als seien sie noch Theoretiker des revolutionären Bürgertums. Die Aufgabe, die sich daher stellt, ist die Kritik der nachbürgerlichen Propagandisten der kapitalen Logik. Ins Visier genommen werden müssten also all diejenigen, die die Abschaffung des Individuums zu ihrer ureigensten Aufgabe erklären. Die von Marx kritisierten Bürger sind, gerade weil sich in ihren Theorien die Krisenhaftigkeit des Kapitals noch ausspricht, gegen die Propheten der endgültigen Identität zu verteidigen.

IV.

In seinen Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses, die ursprünglich als sechstes Kapitel in den ersten Band des Kapital aufgenommen werden sollten, reflektiert Marx auf den Anfang der Darstellung und vermittelt ihn mit dem Ende, der „geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“. Er zeigt, dass in der Ware als Erscheinungsform des gesellschaftlichen Reichtums bereits die Logik der reellen Subsumtion schlummert, indem er die Beweiskette umdreht: Die Ware erscheint nicht mehr als unmittelbare „Elementarform“ (Marx 1989: 49), sondern „als Produkt des Kapitals“ (Marx 2009: 20). Darin scheint die qualitative Differenz der kapitalistischen gegenüber allen vorkapitalistischen Formen der Ware auf: sie ist Bestandteil des organischen Subjekts Kapital, nicht mehr dessen Grundlage. Auf dem Niveau der allgemeinen Formel des Kapitals G-W-G’ scheint Geschichte still gestellt zu sein. Das Kapital reproduziert und vermehrt sich in Beziehung auf sich selbst. Doch im berühmten Abschlusskapitel zum ersten Band schreibt Marx plötzlich: „Diese Expropriation [der Privateigentümer – PL] vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (Marx 1989: 790f.) Handelt es sich bei diesen Ausführungen, wie uns die Herren Heinrich et al. weismachen wollen, um eine unwissenschaftliche Geschichtsphilosophie, die von der Formanalyse abzutrennen ist? Nein. Marx zeigt, dass die „immanenten Gesetze“ des Kapitals, also seine innere Struktur, ein geschichtliches Telos haben: Die Abschaffung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage. [7] Um diese Aussage zu tätigen, bedarf Marx nicht der Hoffnung auf die revolutionäre Sprengkraft der Arbeiterklasse – jene ist vielmehr ein Einspruch der Vernunft gegen die negative Vergesellschaftung und insofern selbst begründungslos. Die Vernunft, die sagt, dass die Menschen sich nicht länger beherrschen, unterdrücken und ausbeuten lassen werden, stützt sich auf nichts weiter als ihre eigene Evidenz. Das Telos des Kapitals aber fällt nicht mit diesem scheinbar apodiktischen Urteil der Vernunft zusammen: Die „immanenten Gesetze“ des Kapitals zwingen die Menschen in immer existentielleren Momenten zur Entscheidung – allerdings ist diese nicht so frei, wie die Existenzialisten suggerieren. Denn die Menschen sind ja, zumal unter spätkapitalistischen Bedingungen, Teil des Kapitals und müssen sich daher nicht nur gegen die herrschende Objektivität, sondern zugleich gegen sich selber wenden. Erstaunlicherweise tun das immer mehr Menschen, die Zahl derer, die einfach weitermachen wie bisher, ist zwar immer noch groß, aber tendenziell im Schwinden begriffen. Das bedeutet aber nicht notwendig, wie einige Rätekommunisten und Gesine Schwan glauben machen möchten, dass eine revolutionäre Situation eintritt. Vielmehr kann die Form des Widerstandes gegen die äußere und innere Herrschaft auch extrem destruktive Formen annehmen: Regressiver, auf Vernichtung der als schuldig Identifizierten abzielender Antikapitalismus, Bekämpfung der als schädlich angesehen Vernunft, welche als schlechthin Allgemeine die Willkür des Einzelnen einschränkt und begrenzt; schließlich die Zerstörung des eigenen Körpers, die von bestimmten Ausprägungen sportlicher Betätigung über die bewusste Selbstverletzung bis hin zum Selbstmordattentat reicht. Weil das Kapital als solches nicht greifbar ist, sondern seine Macht nur durch die Abschaffung seiner Existenzgrundlagen (Privateigentum an Produktionsmitteln, Gewaltmonopol des Staates etc.), die zugleich die der Subjekte selber sind, gebrochen werden kann, projizieren sie es auf etwas, dessen sie habhaft werden können: Den inneren und äußeren Juden. Die innere Historizität des Kapitals besteht demnach in seiner eigenen Abschaffung, die sich – verhalten sich die Individuen nicht so, wie Marx gehofft hatte, d.h. vernünftig – destruktiv als letztlich hemmungslose Vernichtung austobt. Diese aufzuhalten, ist Aufgabe materialistischer Gesellschaftskritik.

Anmerkungen:

[1] In jüngerer Zeit ist Massimo Carlotto, v.a. in Arrivederci Amore, Ciao, mit einem ähnlichen Anliegen aufgefallen. Doch so sehr seine Romane diesen Anspruch erfüllen, so sehr bleiben sie doch künstlerisch hinter dem Reichtum des Balzacschen Universums zurück – nicht zu reden von einigen neueren Vertretern des roman noir wie etwa Garry Disher.

[2]  So Wolfgang Pohrt (1990) im Titel seines nach wie vor lesenswertem Balzac-Essayband.

[3] Die Überakkumulation an Kommata im Original.

[4] Maschinen und Rohstoffe bilden bekanntlich keinen Mehrwert, sondern übertragen nur Wert, der selbst ein Produkt abstrakt-menschlicher Arbeit ist (etwa diejenige, die als konkrete zur Produktion einer Maschine oder zum Abbau von Rohstoffen verausgabt wurde und im Tausch der Maschine/des Rohstoffes gegen Geld auf abstrakt-menschliche Arbeit reduziert und damit in Wertsubstanz verwandelt wird).

[5] Zum Begriff der konkreten und abstrakten Arbeit vgl. Lenhard 2008: 39f.

[6] Einschränkend muss gesagt werden, dass das zweite Kapitel, in dem Stapelfeldt (2009b) u.a. das Warenkapitel erläutert und kommentiert, deutlich hinter dem dritten und vor allem hinter dem grandiosen (hier ausschnittsweise paraphrasierten) ersten Kapitel zurücksteht. So fasst Stapelfeldt etwa Fetischismus als „Projektion“ auf (S. 108; 150), Ideologie als „Selbsttäuschung“ (S. 121) und vor allem die Abstraktion nicht als real im Tausch vollzogene, sondern als „Gedachtes“ (S. 153; 188 etc.). Zudem verwechselt er die einfache und komplizierte Arbeit, die aufgrund ihrer Beziehung auf den Inhalt der Arbeit nur konkrete Arbeitsformen sein können, mit der abstrakten (S. 192-195; 400 FN 54).

[7] Das sagt nichts darüber aus, ob das Kapital nach dieser Selbstabschaffung, die im Nationalsozialismus ihren barbarischen Ausdruck fand, nicht wieder wie Phoenix aus der Asche emporsteigen und die Regie erneut – aber unter veränderten Bedingungen – an sich reißen kann.

Literatur:Adorno, Theodor W., Balzac-Lektüre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11, Frankfurt/M 1997.

Balzac, Honoré de, Vorrede zur Menschlichen Komödie, in: ders., Die menschliche Komödie. Werkausgabe in vierzig Bänden, Supplement-Band, Zürich 1998.

Benicke, Jens, Von Adorno zu Mao. Die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, auf: www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/benicke-adorno.mao.html, 2004.

Breuer, Stefan, Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt 1977.

Eichler, Martin, Zum Stand der Marxrezeption, in: Phase 2, Nr. 31 (März 2009).

Elbe, Ingo, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008.

Heinrich, Michael, Geschichtsphilosophie bei Marx, in: Diethard Behrens (Hg.), Geschichtsphilosophie oder das Begreifen der Historizität, Freiburg i B. 1999.

Krahl, Hans-Jürgen, Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik, in: Oskar Negt (Hg.), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M 1970.

Lenhard, Philipp, Abwesenheit des Staates. Über den Begriff der Geltung bei Helmut Reichelt, in: Prodomo, Nr. 9 (2008).

Marx, Karl, Das Kapital 1.1, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Herausgegeben, bearbeitet und kommentiert von Rolf Hecker und Hildegard Scheibler, Berlin 2009.

Ders., Das Kapital. Band 1: Der Produktionsprozess des Kapitals, in: Marx-Engels-Werke, Band 23, Berlin 1989.

Pohrt, Wolfgang, Der Geheimagent der Unzufriedenheit. Balzac – Rückblick auf die Moderne. Erweiterte Ausgabe, Berlin 1990.

Ders., Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Berlin 1995.

Smith, Adam, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1974.

Stapelfeldt, Gerhard, Das Problem des Anfangs in der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx. Zum Verhältnis von Arbeitsbegriff und Dialektik. Zweite, überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Herausgegeben von Bastian Bredtmann und Hanno Plass, Hamburg 2009.

Ders., Wie Marx zu lesen wäre. Probleme einer Kritik der politischen Ökonomie nach Marx. Veranstaltungsankündigung, auf: http://www.masch-hamburg.de (Zugriff: 1. Mai 2009).

Theodor W. Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit,“

Cornell University
Theodor W. Adorno, „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit,“ Gesammelte Schriften 10.2. Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. Stichworte. Anhang by Theodor W. Adorno (Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1977) 555-572. Used by permission of Suhrkamp Verlag, with thanks to Alexander Street Press.

Die Politik der Kritischen Theorie

Andrew Feenberg, Richard Westerman, Chris Cutrone & Nicholas Brown

Die Platypus Review Ausgabe #1 | April 2016

 

Die hier abgedruckte, ins Deutsche übersetzte Podiumsdiskussion fand im April 2011 auf der dritten internationalen Convention der Platypus Affiliated Society in Chicago statt. Ein Transkript der Podiumsdiskussion wurde zuerst in der Platypus Review #37 in englischer Sprache veröffentlicht. Die Teilnehmer – Nicholas Brown von der University of Chicago, Chris Cutrone von Platypus, Andrew Feenberg von der Simon Fraser University Vancouver sowie Richard Westerman von der University of Chicago – wurden gebeten, auf Folgendes einzugehen: Kürzlich veröffentlichte die New Left Review ein übersetztes Gespräch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, das großes Aufsehen erregte. Im Laufe der Konversation sagte Adorno, dass er immer eine Theorie entwickeln wollte, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“. Adorno, so scheint es, war ein Leninist. Doch so überraschend dieser Nachweis für viele auch sein mag – ist es nicht überraschender, dass Adornos Politik und die Politik der Kritischen Theorie so lange tabuisiert waren? War es wirklich notwendig zu warten, bis sich Adorno und Horkheimer schwarz auf weiß zu ihrer Politik bekannten, um zu verstehen, dass sie ihre zentrale Aufgabe darin sahen, das Verhältnis des Marxismus zur kritischen bürgerlichen Philosophie (Kant und Hegel) zu bewahren? Die Podiumsdiskussion zielt darauf ab, diese Frage so direkt wie möglich zu stellen, und fragt: Inwiefern machten die Praxis und die Theorie des Marxismus, von Marx bis Lenin, die Politik der Kritischen Theorie möglich und notwendig?

Eröffnungsstatements

Andrew Feenberg

DAS WARTEN AUF DIE GESCHICHTE: HORKHEIMERS UND ADORNOS THEATER DES ABSURDEN

Im Jahr 2010 übersetzte die Zeitschrift New Left Review einen Dialog zwischen Horkheimer und Adorno über „ein neues Manifest“1. Dieser Dialog, der 1956 stattfand, kann nur vor dem Hintergrund von Marx‘ und Lukács‘ Interpretation der Beziehung von Theorie und Praxis verstanden werden. In diesem Vortrag möchte ich versuchen zu erklären, wie dieser Hintergrund die Produktion des Manifests verhindert und die Diskussion darüber bis zur Absurdität reduziert. Doch zunächst möchte ich zeigen, wie Horkheimer und Adorno dieses Problem angehen. Ihr Dialog ist ein merkwürdiges Dokument. Die Ambition, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 zu aktualisieren, ist verblüffend, vor allem angesichts der Albernheit eines Großteils ihres Gesprächs. Welche Schlüsse können wir beispielsweise aus ihrem ersten Austausch über die unangebrachte Liebe zur Arbeit ziehen, der dann in eine Konversation über die analen Geräusche eines Motorrads mündet? Der Dialog kehrt immer wieder zu der Frage zurück, was in einer Zeit gesagt werden soll, in der nichts getan werden kann. Die kommunistische Bewegung ist tot, vernichtet von ihrem eigenen grotesken Erfolg in Russland und China. Westliche Gesellschaften sind besser als die marxistische Alternative, die nichtsdestotrotz eine emanzipierte Zukunft repräsentieren. Horkheimer ist überzeugt, dass die Welt verrückt ist und dass selbst Adornos bescheidene Hoffnung, die Dinge könnten sich eines Tages zum Guten wenden, nach Theologie stinkt. Horkheimer bemerkt: „Man muß wahrscheinlich davon ausgehen, daß wir uns sagen müssen, wenngleich es keine Partei mehr gibt, hat der Umstand, daß wir da sind, doch einen Wert“ (S. 61). Zusammengefasst ist der einzige Beweis, dass etwas Besseres möglich ist, der Umstand, dass sie dort sitzen und über die Möglichkeit von etwas Besserem reden.

Horkheimer fragt in dieser Situation: „Aus welchem Interesse heraus schreiben wir[?]“ (S. 51) „Man könnte sagen, das sind nur so Reden, Betrachtungen. Wem soll man‘s sagen” (S. 53). Er fährt fort: „Wir müssen den Verlust der Partei so aktualisieren, daß wir gewissermaßen sagen, wir sind noch genau so schlimm wie früher, aber wir spielen auf dem Instrument, wie es heute gespielt werden muß“ (S. 53f.). Und Adorno antwortet, überzeugend und ziemlich komisch: „Das hat formal etwas Bestechendes, aber was ist das Instrument?“ (S. 54). Auch wenn Adorno an einem Punkt zögernd anmerkt, dass er „das Gefühl [hat], daß das, was wir tun, schon irgendwie wirkt“ (S. 48), ist Horkheimer skeptischer. Er sagt: „Ich habe dabei den Instinkt, wenn ich nichts machen kann, dann sage ich auch nichts“ (S. 55).

Und er fährt fort, den Ton und den Inhalt des Manifests auf eine solche Art zu diskutieren, dass er es auf eine Absurdität reduziert: „Wir wollen, daß das, was heute in Amerika erreicht ist, in der Zukunft bewahrt wird, z.B. die Rechtssicherheit, die drugstores. Das muß dort, wo wir darauf zu sprechen kommen, klar hervorleuchten.“ Adorno antwortet: „Dazu gehört auch, daß die Television-Programme, solange sie Mist sind, eingestellt werden (S. 56)“. Sich selbst widersprechend, beschließt Horkheimer die aufgenommene Diskussion mit den grimmigen Worten: „Weil wir noch leben dürfen, sind wir verpflichtet, etwas zu machen“ (S. 71).

Im Jahr 1955, kurz bevor dieses Gespräch stattfand, verfasste Samuel Beckett Warten auf Godot. Die Spekulationen von Vladimir und Estragon antizipieren Max‘ und Teddies absurdistischen Dialog. Vladimir sagt zum Beispiel: “Wir wollen unsere Zeit nicht bei unnützem Reden verlieren. Wir wollen etwas tun, solange die Gelegenheit sich bietet! Uns braucht man nicht alle Tage. […] Aber in dieser Gegend und in diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns paßt oder nicht. Nützen wir es aus, ehe es zu spät ist.”2 Eine solche Einführung in die Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno mag unfair erscheinen. Verdienen sie meinen Spott? „Ja und nein“, um Horkheimer zu zitieren. In einem gewissen Sinne verspottet sich ihr Text bereits selbst. Der fröhliche Ton vieler ihrer Wortwechsel zeigt, dass sie sich der wortwörtlichen Unmöglichkeit, ihr Projekt durchzuführen, sehr wohl bewusst sind. Horkheimer behauptet, dass der Ton, in dem das Manifest verfasst ist, irgendwie seine Vergeblichkeit in der gegenwärtigen Periode überwinden muss, in der es keinerlei praktische Wirkung haben kann. Etwas Ähnliches findet in dem Dialog statt. Der Ton offenbart, was über den Widerspruch zwischen der existenziellen Situation der Sprecher und ihres Projekts nicht adäquat erklärt werden kann. Aber sie versuchen ihr Bestes, den Widerspruch explizit zu machen.

Das Hindernis ist ihre Konzeption des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Adorno bemerkt, dass Marx und Hegel abstrakte Ideale ablehnen und die Vorstellung des Ideals als nächsten historischen Schritt rekonstruieren. Dies bedeutet, dass Theorie an Praxis, also an wirkliche historische Kräfte gebunden sein muss. Wie Horkheimer später sagt: „Die Wirklichkeit wäre zu messen an einem Aspekt, dessen Verwirklichungsmöglichkeit in bereits vorhandenen konkreten Ansätzen der historischen Realität aufgezeigt werden kann“ (S. 64). Doch Adorno argumentiert, dass Marx und Hegel nicht in einer Welt wie unserer gelebt haben, in der der Unwille, den nächsten Schritt zu gehen, die tatsächliche Verwirklichung der Utopie blockiert. Unter diesen Bedingungen kehrt die Versuchung utopischer Spekulation wieder, doch die Dringlichkeit, ein hegelianisch-marxistisches Desideratum zu erfüllen, blockiert die Weiterentwicklung des Gedankens. Horkheimer kommt zu dem Schluss, dass „[d]urch alles, was wir schreiben, die Praxis durchleuchten [muss]“ (S. 65), ohne jeglichen Kompromiss oder Konzession an die wirkliche historische Situation, eine scheinbar unmögliche Forderung. Dies resultiert in dem, was er „ein merkwürdiges Abwarten“ (ebd.) nennt, das Adorno als „[i]m besten Falle noch Flaschenpost“ (S. 67) definiert. Was am Austausch dieser beiden Philosophen am bemerkenswertesten ist, ist ihre Ablehnung, einen kritischen Standard aus philosophischer Reflexion abzuleiten, wenn die Geschichte diesen nicht mehr bereitstellen kann. Dies ist es, was Habermas später machen sollte: den Zusammenbruch des hegelianisch-marxistischen historischen Ansatzes zuzugestehen und eine angemessene philosophische Basis für Kritik zu etablieren. Wenn kein „nächster Schritt“ den Weg aufzeigt, kann möglicherweise stattdessen Ethik ihre Aufgabe übernehmen. Doch Horkheimer und Adorno insistieren auf der Wichtigkeit, ihr Denken geschichtlich einzuordnen, sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Position als auch der Abwesenheit einer Partei und einer Bewegung. Wie Horkheimer bemerkt: „[W]ir müssen unsere Existenzform als das Maß dessen sehen, was wir denken“ (S. 65).

Wie kann Kritik die gegebene Gesellschaft negieren, wenn diese Gesellschaft die einzige existenzielle Unterstützung des Kritikers ist? Der Kritiker ist das höchste kulturelle Produkt der Gesellschaft. In Abwesenheit realistischer Alternativen rechtfertigt seine Fähigkeit, die Gesellschaft zu negieren, diese. Weder kann er der Geschichte ins Transzendentale entfliehen, wie es bei Habermas der Fall ist, noch kann er ein historisches Argument auf der fortschrittlichen Bewegung der Geschichte basieren – kein Wunder also, dass der Dialog zwischen dem Komischen und dem Unheilvollen hinund herschwankt. Wie konnte sich der Marxismus dermaßen verstricken? Wie ich zu Beginn erwähnte, glaube ich, dass uns diese Frage zurück zu Marx und Lukács führt. Lukács‘ wichtiges Buch Geschichte und Klassenbewusstsein3 beinhaltete die einflussreichste Reflexion über die Beziehung von Theorie und Praxis in der marxistischen Tradition. Er erneuerte die hegelianisch-marxistische Kritik abstrakter Ideale, die dem Dilemma im Herzen des Dialoges zugrunde liegt. Dieser Text war Horkheimer und Adorno bekannt und sein Einfluss auf ihre eigenen Reflektionen ist offensichtlich. Lukács führt das Problem von Theorie und Praxis anhand einer Kritik eines frühen Textes an, in dem Marx fordert, dass die Theorie „die Massen ergreift“4. Doch – so Lukács – wenn die Theorie die Massen ergreift, steht sie in äußerer Beziehung zu deren eigenen Bedürfnissen und Absichten. Es wäre also bloßer Zufall, wenn die Massen theoretische Ziele erfüllen. Stattdessen müsste Theorie in den Bedürfnissen und Absichten der Massen verwurzelt sein, wenn sie wirklich und wahrhaft die Theorie ihrer Bewegung ist und nicht etwas fremd Aufgezwungenes. Lukács greift diese Thematik auf einem abstrakteren Level in seiner Kritik der kantischen Ethik wieder auf. In Lukács’ Terminologie ist die Antinomie von Theorie und Praxis ein Beispiel der allgemeineren Antinomie von Wert und Tatsache, „sollen“ und „sein“. Diese Antinomien stammen aus einem formalistischen Konzept der Vernunft, nach dem Theorie und Praxis einander fremd sind. Dieses Konzept der Vernunft versagt, in den gegebenen Tatsachen des sozialen Lebens diejenigen Möglichkeiten und Tendenzen zu entdecken, die zu einem rationalen Ziel führen. Stattdessen wird das Gegebene als fundamental irrational wahrgenommen, als bloß empirisches, faktisches Residuum des Prozesses formaler Abstraktion, in dem rationale Gesetze konstruiert werden.

Lukács erklärt, „das Sollen setzt gerade in seiner klassischen und reinen Form, die es in der kantischen Philosophie erhalten hat, ein Sein voraus, auf das die Kategorie des Sollens prinzipiell unanwendbar ist“5. Dies ist das Dilemma bürgerlichen Denkens: Politische Rationalität setzt als ihr materielles Substrat eine irrationale, rationalen Prinzipien feindliche soziale Existenz voraus. Der rationale Bereich der Staatsbürgerschaft, erleuchtet von moralischer Pflicht, steht in krassem Gegensatz zur kruden Welt der Zivilgesellschaft, die auf tierischen Bedürfnissen und dem Kampf ums Überleben basiert. Doch wenn dies für die bürgerliche Theorie gilt, wie steht es um die Theorie der proletarischen Bewegung? Ist Marxismus lediglich ein verhülltes ethisches Erfordernis, das den natürlichen Tendenzen der Spezies entgegengesetzt ist? Dies ist die Schwachstelle heroischer Varianten des Kommunismus, nach der Moralität und Leben entgegengesetzt sind. Opfer für die Partei, die nächste Generation und den „Arbeiter“ zu fordern, entspricht genau dem bürgerlichen Muster, das Lukács kritisiert. Das ist nicht Marx. Der frühe Marx begann bei der hegelianischen Kritik abstrakter Ethik und gelangte zu einem allgemeinen Konzept revolutionärer Theorie als Reflexion des Lebens im Gedanken. Es gibt zum Beispiel einen Brief an Ruge, in dem Marx schreibt: “Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.”6 Stattdessen muss Philosophie von tatsächlichen Kämpfen ausgehen, in denen die lebendigen Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit erscheinen. Der neue Philosoph muss der Welt „ihre eignen Aktionen ihr erklär[en]7, indem er zeigt, dass die tatsächlichen Kämpfe einen transzendierenden Inhalt besitzen, der mit dem Begriff einer vernünftigen Gesellschaft verknüpft werden kann. „Wir zeigen ihr [der Welt] nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.“8 „Der Kritiker“, folgert Marx, „kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.“9 Das meinte Horkheimer mit seiner Aussage, dass Gesellschaft an den „konkreten Ansätzen der historischen Realität“ (S. 64) gemessen werden muss. Oder wie Marx an anderer Stelle schreibt: “Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.“10 Marx spätere Schriften sind verworrener und behalten nur noch Spuren dieser reflexiven Bewusstseinstheorie bei, wie zum Beispiel in der kurzen Passage im 18. Brumaire des Louis Bonaparte: „Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers [Krämer] sind oder für dieselben schwärmen. […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“11

Dieser Abschnitt lädt zum Nachsinnen darüber ein, ob das Proletariat mit „Problemen“ konfrontiert ist, die theoretisch durch den Marxismus „gelöst“ werden, und zwar in einer analogen Weise wie die Lebensbedingungen die Klasse zu praktischen Lösungen antreiben. Leider wendet der späte Marx diese anzügliche Bemerkung nicht mehr an. Stattdessen stellt er die historisch-materialistische Theorie auf, dass „das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt“12. Diese deterministische Sprache lässt die Frage nach dem Verhältnis marxistischer Theorie zum proletarischen Klassenbewusstsein unbeantwortet.

Genau diese Frage wird von Lukács behandelt. Er musste zeigen, dass der Marxismus nicht nur rein zufällig den Gedanken und Handlungen des Proletariats entspricht; dass er nicht nur ein wissenschaftliches „Bewusstsein von außen“ ist, für das das Proletariat lediglich eine „passive, materielle Grundlage“ sein würde, sondern dass er wesentlich mit dem Leben dieser Klasse verwurzelt ist. Seine missverstandene Theorie der Verdinglichung und des Klassenbewusstseins bezieht sich auf die Form, in der die soziale Welt unmittelbar dem Bewusstsein aller Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft gegeben ist. Lukács schreibt, dass „das gesellschaftliche Sein in der kapitalistischen Gesellschaft für Bourgeoisie und Proletariat – unmittelbar – dasselbe ist“13. Und noch einmal: „Die Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat also mit der Bourgeoisie.“14 Aber die Erfahrung der Verdinglichung ist abhängig vom Klassenstandpunkt. Es ist interessant, dass Lukács zur Untermauerung seiner These eine der wenigen Marx‘schen Abschnitte über Entfremdung zitiert, die ihm zur Verfügung standen:

„Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.“15

Marx sagt, dass Bourgeois und Proletarier „dieselbe” Entfremdung erfahren, jedoch aus verschiedenen Blickwinkeln. Ganz ähnlich argumentiert Lukács: Wo die Kapitalisten die Verlängerung des Arbeitstages als eine Maßnahme zur Steigerung der Quantität der Arbeitskraft sehen, die sie zu einem bestimmten Preis gekauft haben, schlägt für die Arbeiter diese „Quantität in Qualität“ um. Der Arbeiter geht über die verdinglichten quantitativen Bestimmungen hinaus, die ihm unmittelbar in der verdinglichten Form der Objektivität seiner Arbeitskraft gegeben sind, weil er die damit verbundene reale qualitative Degradierung seines Lebens und seiner Gesundheit nicht ignorieren kann. Daraus folgert Lukács: „Die quantitativen Unterschiede der Ausbeutung, die für den Kapitalisten die unmittelbare Form von quantitativen Bestimmungen der Objekte seiner Kalkulation haben, müssen für den Arbeiter als die entscheidenden, qualitativen Kategorien seiner ganzen physischen, geistigen, moralischen usw. Existenz erscheinen.“16

Das Proletariat sieht jenseits der bloßen Unmittelbarkeit, indem es einen Akt der (sozialen) Selbst-Bewusstwerdung unternimmt. Dieses Selbstbewusstsein geht hinter die verdinglichten Formen seiner Objekte auf ihre „Realität“. Diese mehr oder minder spontane Kritik der Verdinglichung ermöglicht alltägliche Praxen, die durch Gewerkschaften und Parteiorganisationen zur Basis einer revolutionären Bewegung entwickelt werden können.

Lukács behauptet, dass die Antwort der Arbeiter auf die Verdinglichung der Erfahrung im Kapitalismus die Grundlage ist, auf der marxistische Dialektik fußt. Man könnte sagen, dass Marxismus und Proletariat dieselbe „Methode“ vereint. Beide entmystifizieren die verdinglichten Erscheinungsformen auf ihre eigene Weise: die einen auf der Ebene von Theorie, die anderen auf der Ebene von Bewusstsein und Praxis. Wo die Theorie die Relativität der verdinglichten Erscheinungen im Hinblick auf ihre tiefer liegenden sozialen Strukturen aufzeigt, leben die Arbeiter diese Relativität, indem sie sich widerständig gegen die verdinglichten kapitalistischen Formen der Ökonomie zeigen, die ihrem Leben aufgezwungen werden. Beides, Theorie und Praxis, führt zu einer Kritik der ökonomischen und epistemologischen Prämissen des Kapitalismus. Oder, wie Marx im Kapital schreibt: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat.“17 Marx und Lukács begründen den methodologischen Horizont des Marxismus für die Frankfurter Schule. Dies ist der Hintergrund, vor dem Horkheimer und Adorno ihr neues Manifest diskutieren. Sie akzeptieren die Kritik an reiner Theorie; da das Proletariat nun aber eine überwindende Gesellschaftskritik nicht mehr unterstützt, droht jegliche Konzession an die Praxis, die Theorie in die Sphäre alltäglicher politischer Taktiererei zurück zu schleifen – oder schlimmer noch, sie wird zur Komplizin der Ermordung von Millionen durch die kommunistischen Regime. Wie Horkheimer bemerkt: „Was heißt Praxis, wenn es keine Partei mehr gibt? Bedeutet dann nicht Praxis entweder Reformismus oder Quietismus?“ (S. 60f.)

Nachdem die Revolution gescheitert ist, scheint es so, als gebe es keinen Ausweg aus der Falle, die sich aus der Spannung zwischen Norm und Geschichte ergibt. Die Rückkehr zu den „gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft“, also zu einer Art utopisch transzendentalem Denken, ist heute unmöglich. Aber es gibt auch keine Möglichkeit, den „nächsten Schritt“ für eine bessere Welt zu antizipieren. Horkheimer zeigt dieses Dilemma in zwei widersprüchlichen Aussagen auf, indem er zum einen saghint, „was wir denken, ist gar nicht die Funktion des Proletariats” (S. 67), und zum anderen, dass „[d]ie Theorie nur dort im eigentlichen Sinn Theorie [ist], wo sie der Praxis dient. Die Theorie, die sich selber genug sein will, ist schlechte Theorie“ (S. 60). Gibt es innerhalb der marxistischen Prämissen keine Alternative? Doch, während des Gesprächs taucht gelegentlich eine ausgeschlossene Alternative auf. Diese Alternative, auf die nur höhnisch verwiesen wird, ist Marcuse, der wie Banquos Geist über dem Gespräch schwebt. Adorno ist derjenige, der sich dieser Position am meisten annähert, um immer wieder von Horkheimer von ihr weggezogen zu werden. Einmal behauptet er: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Welt gibt, ohne [daß] objektive Gegenkräfte entbunden würden“ (S. 47). Dies wird sich als die These herausstellen, auf die Marcuse in seinem Eindimensionalen Menschen und in dem Versuch über die Befreiung anspielt. Aber Horkheimer lehnt diese Einstellung als zu optimistisch ab. Ein wenig später wehrt sich Adorno dagegen, dass die Menschen inhärent böse seien. „Sie werden nur Chruschtschows, weil sie immer wieder eine auf den Kopf bekommen“ (S. 50).

Doch wieder verneint Horkheimer die Hoffnung auf eine weniger repressive Zukunft und spottet über Marcuse, der einen Russischen Bonaparte erwarte, welcher die Welt rette und alles in Ordnung bringe. Was sollen wir mit dieser gespenstigen Gegenwärtigkeit dieser Marcuse‘schen Alternative anfangen? Es scheint mir, als antizipieren und verurteilen diese Aussagen bereits Marcuses spätere Offenheit gegenüber der Rückkehr der Bewegung in der Gestalt der Neuen Linken. Wo Horkheimer und Adorno schlussendlich die Neue Linke ablehnen, nimmt Marcuse den hegelianisch-marxistisch-Lukács‘schen Sprung zurück in die Geschichte. Adorno war der Bewegung gegenüber zunächst freundlich gesinnt, verurteilte sie jedoch letztendlich für ihre „Pseudo-Aktivität“18. Marcuse war sich völlig darüber im Klaren, dass die Neue Linke dem Marx‘schen Proletariat nicht entsprach, doch er versuchte in ihr einen Hinweis auf jene „objektiven Gegenkräfte“ zu finden, über die Adorno 1956 sprach. Auf diese Art und Weise könne Theorie wieder in Verbindung mit Praxis gebracht werden, ohne Zugeständnisse mit dem Bestehenden einzugehen – jedoch auch ohne ein Versprechen auf sicheren Erfolg. Marcuses wichtige Neuerung war die Einsicht in die präfigurative Kraft der Neuen Linken, ohne sie als einen neuen Agenten der Revolution zu identifizieren. Wir leben immer noch innerhalb des Horizonts progressiver Politik, den die Neue Linke abgesteckt hat; ihre Anliegen sind immer noch unsere eigenen, auch wenn sie natürlich im Laufe der Zeit verschiedentlich abgewandelt wurden. Aber der wichtigste Effekt der Neuen Linken war ihr Einfluss auf unsere Identität als Linke. Die Neue Linke entwickelte eine nicht-sektiererische Form progressiver Opposition, die den Standpunkt der meisten Menschen definiert, die sich heute als links verstehen. Zu Marcuses großer Überraschung gab Beckett an seinem 80. Geburtstag ein Gedicht heraus, das ihm gewidmet war. Das Gedicht erkennt die Hartnäckigkeit an, die von den vermeintlich unmöglichen Forderungen der Frankfurter Schule gegenüber der Geschichte ausgehen. Hier ist das Gedicht19:

pas à pas
nulle part
nul seul
ne sait comment
petits pas
nulle part
obstinément 

Schritt für Schritt
ins Nirgendhin
keiner weiß
auf welche Art
Schrittchen Schritt
ins Nirgendhin
obstinat

Richard Westerman

LUKÁCS‘ PARTEI UND SOZIALE PRAXIS

Die grundlegenden Texte der Kritischen Theorie, Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein [GKB] und Karl Korschs Marxismus und Philosophie, sind die Produkte einer Krise des europäischen Marxismus. Beide wurden im Jahre 1923 publiziert und repräsentieren eine Antwort auf sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Revolutionen: Während die Bolschewiki die Kontrolle über Russland übernommen hatten, obwohl es relativ unterentwickelt war, wurden die kommunistischen Regierungen in Ungarn und Deutschland aufgrund des Fehlens breiter Unterstützung rasch gestürzt. Beachtenswert ist, dass sowohl Lukács als auch Korsch in diesen Regierungen gedient hatten – Lukács selbst an den Frontlinien mit der Roten Armee Ungarns. Die tief philosophischen Lesarten, welche Korsch und Lukács von Marx entwickelten – obwohl von der aufkeimenden sowjetischen Orthodoxie denkwürdiger Weise als „Marxismus der Professoren‘‘ verurteilt –, waren zum großen Teil sowohl ein Produkt ihrer persönlichen Verwicklung in die praktischen revolutionären Situationen als auch eine Antwort auf sie. Dass diese Bücher, wie Lukács beobachtete, „mitten in der Parteiarbeit, als Versuche, theoretische Fragen der revolutionären Bewegung für den Verfasser selbst und für seine Leser zu klären, entstanden“20 sind, wird für gewöhnlich vergessen.

Dies ist offensichtlich in der Rezeption des Konzepts der Verdinglichung. Frei gesprochen beschreibt Verdinglichung eine soziale Pathologie, durch welche die Individuen die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen durch starre, unveränderbare Gesetze bestimmt verstehen, mit der Folge, dass sie sich isoliert und unfähig fühlen, die Gesellschaft zu verändern. Für gewöhnlich wird – fälschlicherweise – angenommen, dass Lukács‘ Lösung eine aufpolierte Version des Deutschen Idealismus sei, laut welchem das Proletariat plötzlich erkenne, dass es der Schöpfer dieser objektiven Welt sei, sich spontan seine Schöpfung rückaneigne und dadurch befreie. Das Resultat ist, dass Lukács‘ Darstellung der Rolle der Partei im letzten Essay von Geschichte und Klassenbewusstsein durch diese Fehlinterpretation der Verdinglichung gelesen und er beschuldigt wird, den Weg für einen zentralisierten Staat unter der Kontrolle einer autoritären Partei gepflastert zu haben. Nach dieser Standardinterpretation scheint Lukács zu glauben, dass die Partei einfach für das Proletariat handeln müsse, da dieses nicht erkannt habe, dass es das Subjekt der Geschichte war. Er gilt als Befürworter einer blanquistischen Partei, die in eine post-revolutionäre Diktatur verfiel. Überraschenderweise erkannten wenige der Interpreten Lukács‘, dass er sich tatsächlich eine sehr viel demokratischere Partei vorstellte. Der hauptsächliche Grund für diese weit verbreitete Entstellung ist das Versagen, adäquat zu erfassen, was Lukács mit seinem zentralen Konzept der Verdinglichung meinte, und wie dies seine Theorie der Partei formte. Die meisten Interpretationen gehen davon aus, dass die Verdinglichung ein Fehler eines denkenden Subjekts ist – selbst wenn dieser Fehler auf soziale Gründe zurückgeführt wird. Die Partei würde nun versuchen, diesen Fehler zu korrigieren. Verdinglichung beschreibt jedoch keine Epistemologie; sie beschreibt von Anfang an eine Form von Praxis. Lukács‘ Partei spielt nicht die Rolle eines weisen Führers, welcher das Proletariat leitet – sie ist da um einen Ort für wirklich ent-verdinglichte und damit ent-verdinglichende Praxis zu schaffen. Statt eines blanquistischen Kaders professioneller Revolutionäre ist Lukács‘ Partei eigentlich eher eine institutionalisiertere Version des Massenstreiks von Rosa Luxemburg.

Zu Anfang werde ich die Wurzeln des Problems, welches Lukács zu lösen versucht, in Marx‘ Kritik der Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Zur Judenfrage lokalisieren und zeigen, dass dieses Problem eindeutig nicht von einer Avantgardepartei zu lösen ist. Dann untersuche ich Lukács‘ eigene Position: Ich werde argumentieren, dass seine Vorstellung der Partei irgendwo zwischen Lenin und Luxemburg liegt und er die formale Organisation durch die Partei als wesentlich für echtes proletarisches Klassenbewusstsein ansieht. Schließlich werde ich einige Möglichkeiten vorschlagen, in welchen dies als Modell für die Art von Aktivität stehen könnte, welche ein Gegengewicht zu existierenden sozialen und politischen Strukturen darstellen könnte. Marx‘ Zur Judenfrage – geschrieben als Antwort auf Bruno Bauers Pamphlet zur Frage voller Emanzipation der Juden innerhalb des deutschen Staates – reinterpretiert radikal die Bedeutung sozialer Freiheit. Indem Marx argumentierte, dass die Säkularisierung des Staates nur eine Reproduktion religiöser Teilung auf der Ebene der Gesellschaft bedeute, hinterfragte er die Hegel‘sche Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. Für Hegel war die Zivilgesellschaft der Bereich partikularer Bedürfnisbefriedigung und unmittelbarer sozialer Gesamtheit: Das Individuum war an andere Individuen durch ein ökonomisches System von Bedürfnissen gebunden, organisiert durch soziale Institutionen, basierend auf dieser grundlegenden Notwendigkeit. Auf der anderen Seite war der Staat der Bereich rationaler Freiheit, in welchem die (Staats-)Bürger als rationale, universale Individuen vereint waren. Für Marx war dies eine entfremdete Form von Freiheit: Sie bedeutete erstens, dass die Form der Politik scheinbar in einer unpersönlichen Kraft der Vernunft wurzelte, anstatt in freiem menschlichen Handeln; zweitens behandelte sie die Kategorien sozialer Existenz als unveränderlich, als notwendig und nur dem Wissen zugänglich, nicht aber der Veränderung. Marx schlug deshalb vor, dass wir den Himmel herunter auf die Erde holen und Gesellschaft selbst in das Reich der Freiheit verwandeln, indem wir die sozialen Verhältnisse selbst transformieren. Demnach entspräche wirkliche Freiheit der kollektiven Kontrolle über diese Verhältnisse.

Es ist diese Art von Freiheit, welche Lukács in der Parteiaktivität sieht. Ich denke jedoch, dass es unmittelbar offensichtlich sein sollte, warum eine Partei, welche die Revolution im Auftrag des Proletariats durchzuführen strebt, unfähig sein würde, sie zu realisieren. Eine solche Partei würde die Arbeiterklasse auf die Rolle von Zuschauern reduzieren, welche genauso unfrei wären wie zuvor. Tatsächlich lehnt Lukács eine solche „Top-down“-Partei extrem eindeutig ab, und es ist schwer zu verstehen, wie man nach einer ehrlichen und gründlichen Lektüre eine andere Schlussfolgerung ziehen kann. Er erklärt ausdrücklich: „Auch theoretisch handelt die kommunistische Partei nicht stellvertretend für das Proletariat“21, damit sie die Massen nicht auf eine „bloß anschauende, kontemplativ[e]“ Gesinnung reduziert, was zu einer „voluntaristische[n] Überschätzung der aktiven Bedeutung des Individuums (des Führers) und [einer] fatalistischen Unterschätzung der Bedeutung der Klasse (der Masse)“ führt22. Und er benutzt wiederholt das Wort „Verdinglichung“, um vor einer Fixierung der Organisationsform und ihrer Isolation von Kritik oder Veränderung durch die Massen zu warnen. Lukács könnte nicht deutlicher sein: Eine „Top-down“-, proto-stalinistische Partei würde eine Rückkehr zum Mangel an Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft repräsentieren. Lukács greift, was 1922 – als der Erfolg der Bolschewiki ein Indikator für den klaren Sieg der Idee Lenins zu sein schien, der Idee eines disziplinierten Kaders von Revolutionären – möglicherweise eine unübliche Taktik war, stark auf Rosa Luxemburg zurück. Der Massenstreik, in welchen sie große Hoffnungen setzte, sollte die spontane Entwicklung von Klassenbewusstsein vollbringen, indem er alle Schichten der Arbeiterklasse zur Organisierung trieb. Luxemburgs Partei spielt lediglich eine sekundäre Rolle, faktisch nur wenig mehr als die Rolle eines Sekretärs, und sicher nicht irgendeine Art von Führung.

Nichtsdestotrotz lobte Lukács Luxemburg auch mehrfach für ihre Einsichten. Er befürwortet explizit ihre Kritik an den westeuropäischen Parteien, welche die Massenaktion unterschätzten und annahmen, nur eine geschulte Partei sei in der Lage die Führung zu übernehmen. Allerdings deutete er an, dass sie den gegenteiligen Fehler machen würde, und kritisierte sie für die „Unterschätzung der Rolle der Partei in der Revolution“23. Wie wir gesehen haben, denkt Lukács nicht, dass diese Rolle „Führung“ im üblichen Sinn zur Folge hat. Um zu verstehen, was Lukács meint, müssen wir einen etwas genaueren Blick auf seine Definition von Verdinglichung werfen. Die meisten Interpreten von Lukács verstehen Verdinglichung als einen erkenntnistheoretischen Irrtum. Sie denken, dass Lukács das Problem dahingehend identifiziert, dass die Kategorien, in welchen die kapitalistische Gesellschaft interpretiert wird, zu abstrakt und formal seien. Sie folgern, Lukács‘ Projekt sei die Ersetzung dieser Kategorien durch substanziellere, welche die qualitativ, zugrundeliegende Realität „akkurat“ reflektieren. Diese Lesart hält bedauerlicherweise einer genauen Lektüre des Textes nicht stand24. Verdinglichung bezieht sich nicht auf ein Problem von Abstraktion, von Quantität gegenüber einem qualitativen Substrat – es bezieht sich vielmehr auf eine undialektische Erstarrung von Formen als Dinge, die nicht verändert werden können. Dies wird sehr deutlich im zentralen Essay des Buches „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“. Hier präsentiert Lukács eine Interpretation von dem, was er „bürgerliche“ Philosophie nennt: die klassische deutsche Denkweise von Kant, Fichte und Hegel. Er identifiziert die erkenntnistheoretische Hauptbeschäftigung solcher Philosophie: Sie beginnt mit der Trennung von Subjekt und Objekt; demzufolge ist ihre zentrale Frage: Wie weit entsprechen unser Wissen und seine Formen einer Realität, welche außerhalb des Bewusstseins liegt? Lukács argumentiert, dieser epistemologische Standpunkt reduziere uns auf bloße Beobachter der Gesellschaft: Wir denken, dass es nur möglich sei, sie durch vorbestimmte Formen zu erfassen. Lukács‘ Problem ist nicht, dass diese Formen falsch seien – vielmehr ist es eben der Versuch Subjekt, Objekt und Bewusstsein voneinander zu trennen. Wir können genauer verstehen, was Lukács mit Verdinglichung meint, wenn wir uns genauer anschauen, wie er über die Partei spricht. In erster Linie dient die Partei nach Lukács als die institutionalisierte Form des proletarischen Klassenbewusstseins. Ohne eine Partei wäre solches Bewusstsein formlos und unmittelbar; das Proletariat muss seinem Selbst-Bewusstsein eine institutionalisierte Form geben, um es selbst richtig zu verstehen. Die Partei ist demzufolge die Form, die sich das revolutionäre Proletariat selbst gibt; die führenden Teile der Arbeiterklasse organisieren sich in einer Partei. Wie Lukács es ausdrückt: „Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; […] damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewußtsein gehoben werde“25.

Während eine blanquistische Partei dazu da wäre, den Arbeitern vorzugeben, was sie denken sollen, verkörpert die Partei nach Lukács das Proletariat in seinen organisatorischen Formen. Darüber hinaus sind diese Formen nicht nur eine Repräsentation von schon Vorhandenem – die mehr oder weniger akkurate Repräsentation eines zugrunde liegenden Substrats der Arbeit oder des Wesens. Vielmehr meint Lukács, dass die Partei der „Akt des Selbstbewusstwerdens“ des Proletariats sei. Nur dadurch, dass das Proletariat sich selbst eine Form gibt, wird es wirklich zur Klasse. Des Weiteren weisen die engen Verbindungen zwischen Form und Existenz, welche Lukács herstellt, darauf hin, wie Verdinglichung als Problem in der Organisation der Partei zurückkehren könnte. Obwohl taktische Anliegen in der Organisation eine Rolle spielen, sollte dies nicht in einer aufgezwungenen Form, im Namen der Notlage, resultieren. Viel eher ist es ausschlaggebend, dass die Formen aus der Selbstorganisation des Proletariats entstehen. Lukács schreibt, dass „das Entstehen der kommunistischen Partei nur das bewußt getane Werk der klassenbewußten Arbeiter sein kann“26. Deshalb ist Organisation auch keine einmalige Aktion: Lukács versucht nicht eine Reihe von (abstrakten, quantifizierbaren, kapitalistischen) Formen durch andere, „authentischere“, oder „qualitative“ Formen zu ersetzen. Dies zu tun, denkt er, würde die Rückkehr von Verdinglichung riskieren – welche er mit den Organisationsstrukturen von Parteiführung identifiziert. Für Lukács geht es nicht so sehr darum, was die Partei tut, sondern darum, welche Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe an der Formung ihrer Existenz sie den Proletariern liefert. Er schreibt: „[I]ndem die kommunistische Partei zu einer Welt der Tätigkeit für jedes ihrer Mitglieder wird, kann sie die Zuschauerrolle des bürgerlichen Menschen […] wirklich überwinden.”27

Lukács identifiziert die Partei als die praktische Überwindung von Verdinglichung. „[D]ie Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis.“28 Wie Luxemburg weist er eine blanquistische Partei zurück, welche die Kontrolle im Namen der Arbeiter übernimmt. Aber er geht weiter als Luxemburg und insistiert auf einer Art fließender institutionalisierter Form für proletarisches Klassenbewusstsein, ohne welche dieses vage und uneffektiv sein würde. Ent-Verdinglichung ist demnach notwendigerweise praktisch – es meint bewusstes Engagement in Praktiken, welche der eigenen Existenz ihre Form verleihen. Die Partei ist praktisches Bewusstsein, die Verkörperung dieser Formen in einer Weise, die ihre Transformation erlauben. Obwohl Lukács‘ Darstellung sehr speziell auf den Umständen der industriellen Arbeiterklasse und der phänomenologischen Konstruktion des proletarischen Selbstbewusstseins beruht, denke ich, dass sein Konzept von ent-verdinglichender Praxis dazu dienen kann, progressive demokratische Organisation im Allgemeinen anzuregen. Sogar innerhalb gegenwärtiger sozialer und politischer Formen kann die Idee der Verdinglichung dazu von Nutzen sein, universalistische Diskurse über Rechte zu kritisieren, angefangen mit einem fixierten Standpunkt, welcher es unmöglich macht, die Grenzen von Staatsangehörigkeit oder Gruppenmitgliedschaft in vertretbarer Weise auszuhandeln. Grundlegender aber bietet Lukács‘ Partei ein Modell für soziale Aktion auf breiter Basis. Demokratisierung würde für Lukács eine umfassendere Beteiligung in der Gestaltung sozialer Beziehungen beinhalten, statt lediglich die Reformation rechtlicher und politischer Kategorien. Wir sollten soziale Formen durch die Idee von Praktiken verstehen – das heißt, durch strukturierte, wiederholte Interaktionen, welche eine bestimmte Signifikanz oder Bedeutung innerhalb der Totalität einer Kultur erlangen. Es sind diese Praktiken, die verdinglicht werden. Statt sie als Dinge zu sehen, die wir tun, Dinge, die nur dadurch Bedeutung erhalten, dass wir fortfahren, sie zu praktizieren, behandeln wir sie fälschlicherweise als fixiert und unveränderlich. Soziale Praktiken können nahezu als göttlich sanktioniert erscheinen. Alternativ könnten wir eine angeblich wissenschaftliche Theorie entwickeln, welche diese Praktiken in Kategorien einer ewigen, unabänderlichen Menschennatur erklärt, welche sich unvermeidlich in spezifischen sozialen Formen entwickelt. Ent-Verdinglichung würde eine bewusste Transformation dieser Praktiken beinhalten: Wir sollten, würde Lukács argumentieren, unsere Praktiken als Dinge behandeln, welche wir den Umständen anpassen können. Wir können soziale Formen nicht beliebig aus dem Nichts heraus neu erschaffen – gleichzeitig aber können wir sie, durch Anerkennen dieser Formen als Praktiken, als Dinge, die wir tun, für kontinuierliche Transformation öffnen.

Auf die Anregung von Sourayan Mookerjea hin möchte ich beispielhaft auf „Alter- Globalisierung“ als ein Modell verweisen. „Alter-Globalisierer“ heißen die globale Interaktion und Kooperation, die die aktuelle Entwicklung generiert, willkommen. Allerdings lehnen sie neoliberale Ideen ab, nach welchen sich eine solche Entwicklung nur auf eine Weise vollziehen könne, determiniert durch wissenschaftlich erklärbare ökonomische Prozesse. „Alter-Globalisierung“ versucht deswegen, alternative soziale Praktiken zu entwickeln, die sich an einer positiven Neudefinition sozialer Interaktion orientieren, nicht der gedankenlosen Ablehnung von Internationalismus. Lukács‘ Parteimodell deutet auch darauf hin, auf welche Weise diese Aktivität umgesetzt werden muss: Es muss eine Graswurzelbewegung mit bewusstem Bezug auf das Problem der eigenen Organisierung sein. Das heißt, emanzipatorische Bewegungen sollten sich nicht als instrumentell zur Erreichung eines spezifischen Zwecks verstehen; stattdessen müssen sie einen großen Teil ihrer Energie auf sich selber und die Gestaltung der Verfahren lenken, die sie als Organisation zusammenhalten. Dadurch liefern sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu der Art ent-verdinglichender Praxis zu gelangen, welche Lukács anstrebt. Um es zusammenzufassen: Lukács‘ Verständnis der revolutionären Partei zielt auf das Einlösen einiger emanzipatorischer Ziele aus Marx‘ Zur Judenfrage. Statt eines zentralisierten Kaders professioneller Führer gestaltet sich Lukács‘ Partei nach dem Luxemburg‘schen Anspruch einer  Basis-Selbstorganisation. Indem Lukács die Partei als die bewusste Form sozialer Beziehungen interpretiert, verweist er auf die Bedeutung einer objektiven Darstellung unserer Praxis, wenn wir unsere soziale Existenz richtig verstehen wollen. Aber er deutet auch auf eine neue Definition von Praxis hin. Eben der Akt der Selbstorganisation oder das bewusste Verändern der Praktiken, die unsere soziale und kulturelle Totalität bilden, ist für Lukács das Wesen revolutionärer Praxis. Wenn wir bestimmte Arten der Interaktion als ewig und unveränderlich akzeptieren, unterliegen wir der Verdinglichung. Nur durch den kontinuierlichen Kampf gegen das Erstarren unserer Praktiken zu unveränderlichen Formen können wir hoffen, emanzipiert zu werden.

Chris Cutrone

ADORNOS „LENINISMUS“

Die politischen Ursprünge der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sind aus verschiedenen Gründen unklar geblieben, nicht zuletzt wegen des diesbezüglich wortkargen Charakters der wichtigsten Schriften ihrer Vertreter. Die Motivation für solche Zurückhaltung seitens dieser Theoretiker ist selbst schon erklärungsbedürftig: Warum sie Selbstzensur betrieben, ihre Ideen verschlüsselten und sich darauf beschränkten, Theorie als „Flaschenpost“ ohne unmittelbaren oder bestimmten Adressaten zu schreiben. Wie Horkheimer es formulierte, bestand die Gefahr, „die Haltung eines Orakels“ einzunehmen; er fragte einfach: „Wem soll man’s sagen?“ (S. 53). Es lag nicht bloß am Exil in Amerika während der Nazi-Ära oder an der Zwangslage des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Manche ihrer Ideen wurden explizit genug ausgedrückt. Vielmehr hat der Zusammenbruch der marxistischen Linken, in dem das Denken der Kritischen Theoretiker geformt worden war, infolge der Oktoberrevolution 1917 in Russland und der Revolution und des Bürgerkriegs in Deutschland 1918–19 ihre Perspektive auf politische Möglichkeiten in ihrem historischen Moment tief beeinflusst. Die Frage ist, inwiefern das Marxismus war.

Eine Reihe von Gesprächen zwischen Horkheimer und Adorno aus dem Jahr 1956, am Höhepunkt des Kalten Krieges, gibt Einblick in ihr Denken und darin, wie sie ihre Situation im Verlauf der Entwicklung des Marxismus im 20. Jahrhundert verstanden. Eine Auswahl aus dem Transkript wurde vor kurzem in der New Left Review (2010) unter dem Titel „Towards a New Manifesto?“ veröffentlicht. Die deutsche Veröffentlichung des vollständigen Transkripts läuft unter dem Titel „Diskussion über Theorie und Praxis“ und in ihrer Diskussion spielte tatsächlich die Überlegung eine Rolle, das Kommunistische Manifest im Lichte der geschichtlichen Veränderungen neu zu schreiben. Innerhalb einiger Jahre nach diesem Gespräch begann Adorno seine Arbeit an einer Kritik des Godesberger Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die 1959 den Marxismus offiziell aufgab, brach dieses an Marx’ gefeierter Kritik des Gothaer Programms, das 1875 die SPD begründet hatte, modellierte Projekt aber ab. Besonders Adorno, aber auch Horkheimer, befassten sich also noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der Frage einer Fortsetzung des Projekts Marxismus. In ihren Gesprächen bekundet Adorno sein Interesse, eine Neufassung des Kommunistischen Manifests im, wie er sagt, „[s]treng leninistische[ n]“ Sinne zu schreiben. Horkheimer lehnte dies nicht ab, sondern wies nur darauf hin, man könnte ein solches Dokument, das fordert, was er die „Wiederherstellung einer sozialistischen Partei“ nennt, „in Rußland […] nicht verbreiten“, während es „in USA und Deutschland […] keinen Wert“ hätte. Nichtsdestotrotz meinte Horkheimer, es sei notwendig aufzuzeigen, „warum man Kommunist sein kann und die Russen verachten“. Wie Horkheimer es ganz einfach formulierte: „Theorie ist gleichsam eines der Instrumente des Menschen“ (S. 66). Daher stellten sie sich die Aufgabe, zu versuchen, den Marxismus fortzuführen, wenn auch nur als „Theorie“. Nun ist es genau diese scheinbare Abwendung von politischer Praxis und der Rückzug in die Theorie, die viele Kommentatoren dazu bewog, der Frankfurter Schule zu unterstellen, sie hätten den Marxismus aufgegeben. Zum Beispiel beschrieben Martin Jay, in Dialektische Phantasie29, und Phil Slater, der in seinem Buch eine „marxistische Interpretation“ der Frankfurter Schule anbietet30, die Angelegenheit so: Marxismus sei nicht dafür vorgesehen, als bloße Theorie zu existieren, sondern müsse mit Praxis verbunden sein. Doch mit diesem Problem war das Frankfurter Institut nicht erst im Exil konfrontiert, nachdem man zum Beispiel gezwungen war, die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Marx-Engels Institut aufzugeben – gleichermaßen eine Folge des Stalinismus wie des Nationalsozialismus. Vielmehr verwies es auf das, was Karl Korsch, ein Mitbegründer des Instituts, 1923 schrieb: dass die Krise des Marxismus – das heißt die Probleme, welche sich bereits in der Ära der Zweiten Internationale im späten 19. Jahrhundert manifestiert hatten (der sogenannte „Revisionismusstreit“) und in ihrem Zusammenbruch und ihrer Spaltung im Ersten Weltkrieg und den folgenden Revolutionen kulminierten – bedeutete, dass die „Nabelschnur“ zwischen Theorie und Praxis bereits „zerrissen“ worden war. Der Marxismus bedurfte, gleichermaßen in Theorie und Praxis, einer Transformation, doch diese Transformation konnte nur als eine Funktion nicht nur von Praxis, sondern auch von Theorie erfolgen. Beide erlitten dasselbe Schicksal. Sowohl für Korsch wie auch für Georg Lukács standen in ihren 1923 verfassten, für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule grundlegenden Schriften Lenin und Rosa Luxemburg exemplarisch für den Versuch, marxistische Theorie und Praxis zu reartikulieren.

Besonders Lenin, den Lukács als „Theoretiker der Praxis” bezeichnete, lieferte einen, tatsächlich den ausschlaggebenden Schlüssel in Bezug auf politische Aktion und theoretisches Selbstverständnis für das Problem, mit dem der Marxismus in diesem historischen Moment konfrontiert war. Wie Adorno bemerkt: „Ich wollte immer […] eine Theorie“ entwickeln, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“ (S. 69). So stellt sich die Frage: In welcher Weise soll ihnen „die Treue“ gehalten werden? Verschiedene Aussagen in zwei Schriften von Horkheimers und Adornos Kollegen Herbert Marcuse, seine „33 Thesen“ von 1947, und sein Buch Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus von 1958, können dabei helfen, Licht darauf zu werfen, wie die Angehörigen der Frankfurter Schule zur Politik des „Kommunismus“, insbesondere von Lenin, standen. Außerdem explizieren verschiedene Briefe von Adorno an Horkheimer und Benjamin in den späten 1930ern Adornos positive Einstellung Lenin gegenüber. Schließlich formulieren Schriften aus Adornos letztem Jahr, 1969, die „Marginalien zu Theorie und Praxis“ und „Resignation“, den Inhalt seines „Leninismus“ im Lichte seiner Kritik der Neuen Linken der 1960er neu und spezifizieren ihn weiter. Die Herausforderung ist, solchen „Leninismus“ zu erkennen, der ansonsten obskur oder eigentümlich erscheinen mag, aber in Wirklichkeit auf die Politik des frühen 20. Jahrhunderts zurückverweist, die Adorno und seine Kohorte nachhaltig prägte. Dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine solche Perspektive im späteren Abschnitt von Adornos Leben hatte. Wie hat ein solcher „Leninismus“ unter veränderten Bedingungen seinen Einfluss derart bewahrt, dass Adorno ihn bis zum Ende seines Lebens kritisch zur Anwendung bringen konnte? Außerdem: Was könnte Adornos Perspektive auf „Leninismus“ über Lenin selbst aussagen? Warum und inwiefern blieb Adorno ein Marxist und welche Rolle spielte Lenin dabei?

Eine deutliche Erklärung für Adornos „Leninismus“ war die Wichtigkeit des Bewusstseins in Adornos Einschätzung des Potenzials für emanzipatorische soziale Veränderung. Zum Beispiel schrieb Adorno in einem Brief an Horkheimer, in dem er sich kritisch über Erich Fromms humaneren Zugang zur Freud’schen Psychoanalyse äußerte, Fromm zeige “eine Mischung aus Sozialdemokratie und Anarchismus, vor allem ein empfindlicher Mangel an dialektischem Begriff. Er macht es sich mit dem Begriff der Autorität zu leicht, ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen.“31 Adorno dachte, dass Fromm so drohte, etwas, was er den „Dreh, den die bürgerlichen Individualisten gegen Marx haben“ nannte, anzuwenden und schrieb an Horkheimer, er betrachtete dies als eine “wirkliche Bedrohung der Linie der Zeitschrift”32. Doch die politische Rolle einer intellektuellen, theoretisch sachkundigen „Avantgarde“ unterliegt der üblichen Kritik, dass der Leninismus dazu tendiert, soziale Emanzipation repressiv zu beherrschen anstatt kritisch zu fördern. Eine kompliziertere Auffassung der Rolle des Bewusstseins in der historischen Transformation der Gesellschaft kann in Adornos Briefverkehr über Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1936 gefunden werden. Dort lobt Adorno Benjamins Werk dafür, dass es eine Darstellung der Beziehung der Intellektuellen zu den Arbeitern im Sinne Lenins liefere. Wie Adorno es in seinem Brief an Benjamin formulierte, ist das Proletariat

„selber bürgerlich produziert […] [D]as tatsächliche Bewußtsein der tatsächlichen Proletarier [hat] vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraus […] außer dem Interesse an der Revolution, [trägt] sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters […] Es ist kein bürgerlicher Idealismus, wenn man erkennend und ohne Erkenntnisverbote dem Proletariat die Solidarität hält, anstatt daß man, wie es immer wieder unsere Versuchung ist, aus der eigenen Not eine Tugend des Proletariats macht, das selber die gleiche Not hat und unserer Erkenntnis so gut bedarf wie wir des Proletariats bedürfen, damit die Revolution gemacht werden kann. Von dieser Rechenschaft über das Verhältnis der Intellektuellen vom Proletariat hängt nach meiner Überzeugung wesentlich die weitere Formulierung der ästhetischen Debatte ab, für die Sie eine so großartige Inauguraladresse geliefert haben. […] [Ihr Essay zählt] zu dem tiefsten und mächtigsten an politischer Theorie […], das mir begegnet ist, seit ich [Lenins] Staat und Revolution las.“33

Wahrscheinlich dachte Adorno auch an Lenins Was tun? oder an Der ‚Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Im ersteren führte Lenin die berühmt(-berüchtigt) e Unterscheidung zwischen „trade-unionistischem“ und „sozialistischem Bewusstsein“ ein. Aber im letzteren beschrieb Lenin die fortdauernden „bürgerlichen“ sozialen Bedingungen intellektueller Arbeit per se, welche die proletarisch sozialistische Revolution lange überleben würden, ja sogar (Aussagen aus Was tun? wiederholend) dass die Arbeiter durch die bloße Aktivität der intellektuellen Arbeit (wie zum Beispiel Journalismus oder Kunstproduktion), einschließlich und vielleicht insbesondere in ihrer Aktivität als politische Kader der Kommunistischen Partei, voll und ganz „bürgerlich“ geworden waren. Die politische Revolution der Arbeiter bedeutete für Lenin eine im Wesentlichen bürgerlich bleibende Gesellschaft zu regieren. Die Revolution würde die Arbeiter sozusagen erstmals vollkommen bürgerlich machen, was die Vorbedingung dafür wäre, die Gesellschaft über die bürgerlichen Bedingungen hinaus zu führen.34 Sie wäre ein Moment, der nächste notwendige Schritt in der Selbstüberwindung der Arbeiter, in der emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft im Kapital, durch es hindurch und über es hinaus. Wie die Arbeiterbewegung selbst war der Marxismus diesem Prozess nicht äußerlich, sondern immanent. Adorno, im Gespräch mit Horkheimer, formulierte es so: „Man könnte sagen, Marx und Hegel haben gelehrt, daß es nicht abstrakte Ideale gibt, sondern daß das Ideal immer im nächsten Schritt liegt, daß das Ganze nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch den nächsten Schritt zu haben ist“ (S. 62).

Lukács hatte in einer Fußnote in seinem 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein erschienenen Essay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ dasselbe über Lenin bemerkt: „Es ist Lenins Verdienst, diese Seite des Marxismus, die den Weg zum Bewußtwerden seines praktischen Kerns weist, wieder entdeckt zu haben. Seine immer wiederholte Mahnung, jenes ‚nächste Glied’ der Entwicklungskette mit voller Wucht anzufassen, an dem im gegebenen Augenblick das Schicksal der Totalität hängt, sein Beiseiteschieben aller utopischen Forderungen, also sein ‚Relativismus’, seine ‚Realpolitik’ bedeuten eben das Aktuell- und Praktischwerden der Feuerbach-Thesen des jungen Marx.“35 In der sich anbahnenden Revolution 1917 bis 1919 in Russland, Deutschland, Ungarn und Italien wurde eine solche Politik der sozialistischen Transformation der Gesellschaft nicht ganz erreicht, sondern abgeschnitten. 30 Jahre später, im Kontext des beginnenden Kalten Krieges nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg, unternahm Marcuse in seinen „33 Thesen“ den Versuch, das Vermächtnis der Krise des Marxismus und der gescheiterten Revolution kritisch zu bewerten36:

[These 3]: „[D]ie orthodox marxistische Lehre […] ohne Kompromiß zu vertreten [wäre] [v]or der politischen Wirklichkeit […] ohnmächtig, abstrakt, unpolitisch, aber wo die politische Wirklichkeit als ganzes falsch ist, mag die unpolitische Haltung die einzige politische Wahrheit sein.“

[These 32]: „Während die Gewerkschaften in ihrer traditionellen Struktur und Organisation eine revolutionsfeindliche Kraft darstellen, bleibt die politische Arbeiterpartei das notwendige Subjekt der Revolution. In der ursprünglichen Marxschen Konzeption spielt die Partei keine entscheidende Rolle. Marx nahm an, daß das Proletariat von sich aus, in Erkenntnis seiner eigenen Interessen zum revolutionären Handeln getrieben wird, sobald die revolutionären Bedingungen gegeben seien. […] Die Entwicklung hat [inzwischen] die Richtigkeit der Leninschen Konzeption von der avantgardistischen Partei als dem Subjekt der Revolution bestätigt. Es ist wahr, daß die kommunistischen Parteien heute nicht dieses Subjekt sind, aber es ist ebenso wahr, daß nur sie es werden können. Nur in der Theorie der kommunistischen Parteien ist noch die Erinnerung an die revolutionäre Tradition lebendig, die wieder zur Erinnerung an das revolutionäre Ziel werden kann […]“

[These 33]: „Die politische Aufgabe würde dann darin bestehen, in den kommunistischen Parteien die revolutionäre Tradition wiederherzustellen.“ Wie Marcuse es 1958 in Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus formulierte: „[W]ährend der Revolution wurde deutlich, wie sehr es Lenin gelungen war, seine Strategie auf den tatsächlichen Klasseninteressen und Bestrebungen der Arbeiter und Bauern aufzubauen. […] Von 1923 an sind dann die Entscheidungen der Führung in wachsendem Maße von den Klasseninteressen des Proletariats abgetrennt worden. Sie setzen das Proletariat nicht mehr als ein revolutionäres Agens voraus, sondern werden dem Proletariat und der übrigen Bevölkerung auferlegt.“37

Im Gespräch mit Horkheimer 1956, in einer in der New Left Review-Übersetzung nicht enthaltenen Passage mit dem Titel „Individualismus“, thematisierte Adorno das Problem der sozial konstituierten Subjektivität, von dem er dachte, dass Lenin es gründlicher behandelt hatte als Marx: „Marx war zu harmlos, er hat sich wahrscheinlich naiv vorgestellt, daß die Menschen im Grunde wesentlich identisch sind und bleiben. Daß es dann gut wird, wenn man nur die schlechte zweite Natur von ihnen nimmt. Er hat sich nicht um die Subjektivität gekümmert, er wollte das nicht so genau wissen. Daß die Menschen bis ins Innerste Produkte der Gesellschaft sind, würde er als eine Milieutheorie abgelehnt haben. Das hat erst Lenin zum ersten Mal angesprochen“ (S. 71). Für Adorno bedeutete dies, dass der Kampf zur Überwindung der Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft nicht bloß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten war, sondern darüber hinausging. Es ging nicht nur um ihre Ausbeutung. Die sozialen Subjekte waren nämlich nicht bloß Produkte ihrer Klassenposition, sondern vielmehr determinierte die bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals alle ihre Subjekte in einem historischen Zusammenhang der Unfreiheit. Klassenpositionen waren lediglich ein Ausdruck der Struktur dieser universalen Unfreiheit. So schrieb Horkheimer in „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“:

“Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darüber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwärtige System den Namen der „Freiheit“ trägt und als liberales angesehen wird.” “Der Geschäftsmann ist von Gesetzen abhängig, die weder er noch irgendein anderer, noch eine von den Menschen hierzu beauftragte Macht mit Wissen und Willen entworfen hat, Gesetzen, deren sich zwar die großen Kapitalisten und vielleicht er selbst geschickt bedienen, deren Existenz aber als Tatsache hinzunehmen ist. Gute und schlechte Konjunktur, Inflation, Kriege, aber weiter auch die auf Grund der gegebenen Gesellschaftslage erforderlichen Eigenschaften von Dingen und Menschen werden durch solche Gesetze, durch die anonyme gesellschaftliche Realität bedingt. ”

“Die bürgerliche Denkweise nimmt diese Wirklichkeit als übermenschlich hin. Sie fetischisiert den gesellschaftlichen Prozeß.” “Der Fehler liegt […] keineswegs darin, daß die Menschen das Subjekt nicht erkennen, sondern darin, daß es nicht existiert. Es kommt darauf an, diesem freien, das gesellschaftliche Leben bewußt gestaltenden Subjekt zur Existenz zu verhelfen: dieses selbst ist nichts anderes als die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft. […] Für jenen kleinen Mann aber, dem die Bitte um Anstellung mit dem Hinweis auf die objektiven Verhältnisse abgeschlagen wird, ist es […] überaus wichtig, daß der Ursprung dieser objektiven Verhältnisse ans Licht gebracht werde, damit sie ihm selbst nicht so ungünstig bleiben. Nicht bloß seine eigene Unfreiheit, sondern auch die der anderen wird ihm zum Verhängnis. Sein Interesse weist ihn auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit.”38

Im Verlauf des Marxismus im 20. Jahrhundert wurde eine solche Erhellung dessen, was eine progressiv-emanzipatorische Herangehensweise an das Problem des Kapitals konstituieren würde, abgeschnitten. Daher wurde es zunehmend schwierig, die „Ursprünge“ der fortdauernden sozialen Bedingungen der Unfreiheit „ans Tageslicht zu bringen“. In vielerlei Hinsicht war die Krise des Marxismus als eine Funktion der revolutionären Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, sondern verstärkt, wodurch sich die Krise der Menschheit vertiefte: Die Kritischen Theoretiker des Frankfurter Instituts waren sich der Tatsache wohl bewusst, dass der Faschismus als historisches Phänomen eine Folge des Scheiterns des Marxismus war. Der Faschismus war der missratene Sprössling der Geschichte des Marxismus selbst. Ein Jahrzehnt nach 1917 schrieb Horkheimer in einer Passage mit dem Titel „Indikationen:”

„Der moralische Charakter der Menschen ist mit Sicherheit aus Antworten auf bestimmte Fragen zu erkennen. […] Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Rußland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie dort die Dinge liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert; zweifellos gibt es viel Elend. […] Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Rußland als den fortgesetzten schmerzlichen Versuch betrachten, diese furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird wenigstens klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauere. Wenn der Schein dagegen spräche, klammerte er sich an die Hoffnung wie ein Krebskranker an die fragwürdige Nachricht, daß das Mittel gegen seine Krankheit wahrscheinlich gefunden sei. Als Kant die ersten Nachrichten über die Französische Revolution bekam, soll er seinen gewohnten Spaziergang von da an geändert haben.“39

Trotz allem, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zutrug, änderten Horkheimer und Adorno nie ihren Kurs. Sind wir schon bereit ihre Flaschenpost zu empfangen?

Antworten

Nicholas Brown: Es scheint mir, als ob die drei Vorträge im Grunde die gleiche Frage aufwerfen – wenn auch nicht explizit. Diese werde ich also nun stellen. Ich gebe zu, dass ich den Dialog von Adorno und Horkheimer nie fertig gelesen habe, gerade wegen des Beckett’schen Beigeschmacks. Sie haben es hier offenkundig mit einer Unmöglichkeit zu tun: Nämlich zu fragen, wie Lenin in Abwesenheit einer Partei die Treue gehalten werden kann; in Abwesenheit einer Partei, der man sich anschließen könnte und ohne einen Begriff einer Partei, der angemessen wäre. Natürlich stellt sich dann die Frage: Was tun, wenn nichts getan werden kann? Es gibt eine tragische Version davon in der Negativen Dialektik, in der Adorno wissentlich seine Auseinandersetzung mit den Stoikern anführt und seine eigen:e Position als im Wesentlichen stoisch einordnet, obgleich er besser – oder zumindest genauso gut – wie jeder andere weiß, dass die gesamte ethische Kraft der Phänomenologie des Geistes, deren Erbe Marx ist, die Unmöglichkeit oder Komplizenschaft der stoischen Position bedeutet. Die Selbstbezogenheit ihrer Sprache ist dem ähnlich, was in der Phänomenologie des Geistes das unglückliche Bewusstsein ist, das genau aus dem gleichen Grund wie Adorno oszilliert, denn ihr unglückliches Bewusstsein ist nicht imstande – in den Worten von Chris, der Lukács zitierte – die nächste Stufe zu erreichen, da es keine nächste Stufe gibt; und dies wiederum ist das Problem der Partei.

Dies führt uns also zur Frage der „Partei“ bei Lukács. Meine Frage an Andrew lautet: Was können wir tun – was ist zu tun – ohne eine Partei? Du scheinst der Meinung zu sein, dass Marcuse hierzu eine Antwort liefert. Richard hat gezeigt, dass „die Partei“ für Lukács nicht so sehr notwendigerweise ein Ding ist als ein Begriff. Die Partei ist dasjenige, das zwischen dem Subjekt in der Geschichte vermittelt. Sobald wir Epistemologie ablehnen, sobald wir Ontologie ablehnen, sobald wir Kant ablehnen, sobald wir Repräsentation – sowohl als philosophisches wie als politisches Konzept – ablehnen, befinden wir uns in diesem Hegel’schen Universum, und hier wird es gewissermaßen unsere Pflicht, „die Partei“, „den nächsten Schritt“ oder „eine Vermittlung“ zu finden. Es ist diese Pflicht, die Adorno nicht erfüllen konnte, und dies ist sowohl die Komik wie auch die Tragik bei Adorno. Meine Frage zielt also in die gleiche Richtung: Wie ist der philosophische Begriff der Partei heutzutage beschaffen? Deine Antwort klingt wie eine Art autonome, Negri’sche Antwort, die mir als eine nicht zufriedenstellende Lösung erscheint, da auch auf Hardt und Negri noch Hegel wartet; das Subjekt ist eine Fiktion, aber nichtsdestotrotz eine notwendige Fiktion – eher als eine Partei notwendig ist. Chris, es scheint so, dass es bei Marx, Lukács und sicherlich bei Adorno und Marcuse eine unaufgelöste Spannung zwischen dem Konzept universeller Unfreiheit und dem Begriff der Ausbeutung gibt. Letzterer hat in unserem gegenwärtigen Moment mit Fragilität zu tun und damit, wer vor dem Sturm der Geschichte geschützt ist und wer nicht, und dies ist nicht genau die gleiche Frage wie universelle Unfreiheit und Un-Entfremdung. Der Begriff der Un-Entfremdung, die romantische Seite der Eruptionen bei Marx, Lukács und der Frankfurter Schule, scheint zu verschwinden, um der eher nüchternen Emphase auf Ausbeutung zu weichen. Wenn das Ideal für die Frankfurter Schule der nächste Schritt oder das nächste Glied in der Kette war, was bedeutet diese Hegel’sche Idee in der Gegenwart? 

AF: Was ich an Marcuse mag, ist, dass er in der Lage war, zwei Dinge auseinanderzuhalten, die für Marx, Lukács und Lenin wesentlich verbunden waren. Eines dieser Dinge war das Subjekt der Revolution, das andere die Kraft, die fähig ist, zumindest einen kleinen Teil sozialer Realität zu ent-verdinglichen. In der traditionellen marxistischen Konzeption waren die Arbeiter diejenigen, die ent-verdinglichen, indem die sich weigern, sich passiv den Formen zu fügen, die ihr Leben bestimmen. Es waren ebenso die Arbeiter, die die neue Gesellschaft errichten. Für Marcuse gibt es das Eine ohne das Andere. Man kann ent-verdinglichende Handlungen haben, seine Solidarität damit ausdrücken, sie theoretisch artikulieren, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese Handlungen in der Lage sein werden, die Gesellschaft zu überwinden und eine neue aufzubauen. Nach dem Mai 1968 in Frankreich wurde es klar, dass eine geschichtlich neue Form der Opposition in Erscheinung getreten ist. Daher glaube ich, dass er recht hatte, Marx‘ Theorie mit dieser Opposition zu verknüpfen. Ich bin der Ansicht, dass das immer noch eine wichtige Alternative zur Verzweiflung Adornos und Horkheimers darstellt, oder – umgekehrt – zum Versuch eine traditionelle marxistisch-proletarische Partei wiederzubeleben.

RW: Meine Antwort auf Was tun? ist, dass es nicht unsere Aufgabe ist, das zu sagen. Ich denke, das wäre Lukács‘ Antwort. Die Partei, oder irgendeine andere Form der Organisation, sollte meines Erachtens nicht als Instrument, sondern eher als die Möglichkeit gesehen werden, durch welche viele Willen zwar nicht notwendigerweise zu einem solchen werden, aber von sich immerhin als vereint zu denken lernen. Nicht so sehr in Bezug auf die spezifischen Entscheidungen, durch welche sie zur praktischen Handlung werden, sondern vielmehr wegen der Selbstorganisation, der institutionellen Formen, die sie sich selbst geben. Ich denke, dass Lukács‘ Kritik an Hegel und der bürgerlichen Philosophie überhaupt von der Idee eines Subjekts herrührt; der Idee, dass wir unsere Tätigkeit als ein auf die Welt einwirkendes und sich wahrnehmendes Subjekt auffassen. Was er in der Partei sieht, ist das Seiende, wenn ich diesen ontologisch verdinglichenden Begriff benutzen darf, das Seiende, das insoweit ein Subjekt ist, als es sich selber durch seine Organisationsformen objektiv manifestiert. Das ist geringfügig anders, als die Partei als Agenten zu verstehen.

CC: Worüber wir diskutieren ist politische Form. Mit anderen Worten: Die Partei ist eine Form. Wir sprechen über die Partei als Vermittlung: die Vermittlung von Theorie und Praxis, eine Vermittlung von Subjekt- und Objektpositionen. Bezüglich der Vorstellung des hegelianischen Ideals nächstem Schritt für Horkheimer und Adorno würde ich ,spekulativ und nicht wörtlich gemeint, etwas anführen: Andrew hob die fundamentale Ambiguität des späten Marx in Bezug auf sein Verständnis von Philosophie als junger Mann hervor. Ich würde allerdings sagen, dass die Frage der Vermittlung in seinem Werk immer wieder auftaucht. Die Kritik der politischen Ökonomie ist nicht bloß eine Analyse „bürgerlicher“ Formen, sondern eher eine Analyse und Kritik des aufkommenden Bewusstseins der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung übernahm die politische Ökonomie, kritisches bürgerliches Bewusstsein, allerdings erst zu einer Zeit, als das Denken der Bourgeoisie selbst vulgär geworden war. Marx lobt Adam Smith dafür, dass er bereit war, die Gesellschaft als in sich widersprüchlich darzustellen. Ich würde also die Frage nach dem nächsten Schritt in Bezug zur Frage der Kritik des Kapitals setzen. Wie ließe sich dann Marx’ eigene politische Praxis mit seiner theoretischen Kritik des Kapitals reartikulieren? Diese stellte den hegelianischen Versuch dar, für Kämpferinnen und Kämpfer der Arbeiterklasse, die in ihrer politischen Praxis infolge der Revolutionen von 1848 auf sehr konkrete Hindernisse gestoßen waren, soziale Form auf das Niveau des Selbstbewusstseins zu heben. Wenn man so will, haben sich Intellektuelle und Arbeiter in Bezug auf die Frage nach ihrem Zusammenwirken in der Kritik des Kapitals, um es in Adornos Worten zu sagen, „getroffen“. Nach den 1960er Jahren gab es eine Rückkehr zu Marx; in Bezug auf die Kritik des Kapitals gab es eine Rückkehr zum hegelianischen Marxismus. Wenn wir uns selbst als Intellektuelle bezeichnen, ist die entscheidende Frage, wie diese Ideen an Boden gewinnen können. Korsch sagte, dass die Krise des Marxismus die Nabelschnur zwischen Theorie und Praxis zu zerreißen droht; das bedeutet, die beiden sind zwei verschiedene Dinge. Anstelle der Liquidierung von Theorie und Praxis im Begriff der Form oder Partei würde ich eher die Vermittlung im Begriff der Form hervorheben.

Q & A

Wenn wir als Marxisten, Kommunisten oder Möchtegern-Radikale/- Revolutionäre nicht in der Position sind zu sprechen, so sollten wir fragen: Was wäre erforderlich, um uns in diejenigen zu verwandeln, die sprechen können? Wie können wir wie Lenin und Mao sprechen? Ich finde den Adorno-Horkheimer Dialog bemerkenswert; Horkheimer war sicher nicht der einzige, der Mao und Stalin für die Toten des Großen Sprungs nach vorn verantwortlich machte. Wieso haben Horkheimer und Adorno ihre Botschaft nicht nach China gesendet, anstatt sie als Flaschenpost aufzufassen und die eigentliche Revolution voreilig abzuschreiben?

RW: Es gibt kein Sprechverbot als solches. Aber es hängt davon ab, ob wir ex cathedra oder aus etwas anderem heraus sprechen. Ich bin mit Habermas einverstanden, wenn er darauf insistiert, dass wir uns, wenn wir über diese Dinge sprechen, mit allen anderen auf einer Augenhöhe treffen müssen. Eine Gefahr, die Lenin selbst bemerkte und auch in seinen letzten zornigen Briefen forderte, dass die Partei sich so weit wie möglich von den Sowjets fernhalten solle, war, dass sonst aller Wahrscheinlichkeit nach ehrliche Arbeiter und Bauern entweder eingeschüchtert wären oder mit Bewunderung auf die weisen Männer von Moskau schauten. Was wir tun sollten, um sprechen zu können, wäre folglich abzulehnen, was wir sind – wenn überhaupt. Ich denke, das ist immer die Gefahr, für jeden, der mit einem Abzeichen der Autorität spricht. Es führt zu der Art von Problem intellektueller Führung, das genau die Freiheit, welche Leute wie Marx im Auge hatten, ausgrenzt.

AF: Ich widerspreche dem! Es gibt keine unwissenden Bauern mehr. Diejenigen, die sich am lautesten jeglicher intellektueller Autorität widersetzten, sind selbst Intellektuelle. Also ist es einfach eine andere Theorie! Ich glaube nicht, dass es da irgendein Problem gibt. Es ist mehr eine Frage von „Gibt es jemanden, der zuhört?“, statt „Sind wir autoritär, unsere Meinung kundzutun?“ Das ist eine Schlussfolgerung, die ich aus den Kämpfen der guten alten Tage ziehe, als wir um die Frage von Autoritarismus stritten.

CC: Das Problem in Bezug auf die Selbsttransformation der Intellektuellen ist nicht wer spricht, sondern was gesagt wird. Ich würde eine andere Art von leninistischer Kategorie einführen, und zwar „Nachtrabpolitik”. Es gibt ein Problem in der Artikulation historischen Bewusstseins und empirischer Realitäten. Ich möchte auf ein von Andrew und Richard angesprochenes Problem zurückkommen, von dem ich denke, dass es in Bezug auf Verdinglichung sehr hilfreich war. Was Lukács mit Verdinglichung meinte, war die Zweite Internationale, die sozialistische Arbeiterbewegung, wie sie sich zu diesem historischen Zeitpunkt konstituiert hatte. Und deshalb sympathisierte Lukács mit Luxemburg, denn Luxemburg kritisiert diese Parteiform im Massenstreik-Pamphlet. Dort argumentiert sie, dass die Sozialdemokratie, ich würde sagen in einer Subjekt-Objekt Dialektik, der Arbeiterbewegung zum Hindernis geworden war: Historisch machte sich die Arbeiterbewegung selbst zu einem Objekt der Selbstkritik. Warum Horkheimer Angst vor China hatte, ist der offensichtliche „revolutionäre“ Erfolg dessen, was er und Adorno als konterrevolutionär betrachteten, nämlich des Stalinismus. Nachdem sie die 30er und die Umwandlung des Marxismus in den Stalinismus erlebt hatten, konnten sie es nur als Zeichen der Regression des Marxismus betrachten, dass der Stalinismus als der Marxismus der Nachkriegsperiode aufblühte. Nun gut, warum schickten sie ihre „Flaschenpost“ nicht an Intellektuelle in China? Weil das ein todsicherer Weg gewesen wäre, diese Intellektuellen sofort exekutieren zu lassen. Wir könnten ihre Äußerungen so lesen, dass sie prima facie eine anti-chinesische Befangenheit zeigen, doch da besteht eine Dialektik. Wenn Horkheimer sagt, nun ja, wie sieht es damit aus, dass zwar 20 Millionen Chinesen sterben werden, aber es danach keine verhungernden Chinesen mehr geben wird? Dann fragt er: „Was sollen wir darüber denken?“. Horkheimer und Adornos Gedanke war, dass eine Revolution, wie sie 1949 in China stattfand, nicht notwendig gewesen wäre, wenn sich die Revolution von 1917 nach Deutschland und darüber hinaus ausgebreitet hätte. Das war ihre Vorstellung von Emanzipation. Ihre Sorge war, dass die Bedingungen der Barbarei mit dem Kampf um Emanzipation verwechselt wurden.

NB: Zum Ort der Intellektuellen: Wenn es eine Massenbewegung gibt, ist die Situation des Intellektuellen sowohl deutlich einfacher also auch viel schwerer. Sie ist einfach, weil man weiß, was zu tun ist, aber das Projekt der Transformation, über das du geredet hast, ist schwierig. Das Problem, dem wir gegenüber stehen, ist ein anderes, nämlich dass es keine Massenbewegung gibt. Und insofern es eine gibt, ist sie vollkommen korrupt und rechts. Adorno stellt sich klar auf die Seite des Westens, also stellt sich die Frage gar nicht, Adorno für wirkliche chinesische Dissidenten verfügbar zu machen. Die Frage muss lauten: War es notwendig, dass Adorno sich so klar auf die Seite des Westens stellte und seine Verbindungen mit dem real existierenden Sozialismus so eindeutig abtrennte? Diese Frage ist ein wenig unklarer als diejenige, ob es sinnvoll gewesen wäre, chinesische Dissidenten die Adorno’sche Linie wiederholen zu lassen.

Kant forderte, dass wir insofern politisch denken sollen, als wir gezwungen sind, als Mitglieder der Gesellschaft eben diese zu kommentieren; wir sind verpflichtet, an der Entwicklung der Gesellschaft teilzuhaben. Lukács hatte die Einsicht, dass die Gesellschaft sich nur durch die Partei weiterentwickeln kann, weshalb die Frage der individuellen Verantwortung in der Geschichte gewissermaßen fehl am Platz ist. Allein die Partei, die die Fähigkeit hat, die Geschichte zu formen, ist verpflichtet, über Geschichte nachzudenken. Könnte es sein, dass die Auffassung der Partei von Lenin und Luxemburg davon beeinflusst ist? Wenn Luxemburg über die Abstimmung über die Kriegskredite im Reichstag besorgt ist, betrifft diese Sorge den Niedergang der Partei und das Bedürfnis, diese zu rekonfigurieren, um die Geschichte zu beeinflussen?

RW: Ich stimme nicht zu. Lukács denkt nicht, dass die Partei die Geschichte ändern kann, sondern die Klasse. Die Partei bringt die Klasse zustande. Die Partei mag der Anfangspunkt sein, aber sie ist ausdrücklich nicht der Endpunkt. Zu sagen, die Partei verändere unmittelbar die Geschichte, würde ihr die Art von heroischer Rolle zuschreiben, welche Lukács abzuwenden versucht.

CC: Ich würde sagen, dass die politische Partei oder die Agentur der politischen Vermittlung nicht selbst die Gesellschaft befreien kann. Allerdings kann sie einer solchen Emanzipation definitiv im Wege stehen, sodass man von ihr nur negativ denken kann. Die Wichtigkeit der Partei hängt vom Problem des historischen Bewusstseins ab. Wo ich folglich mehr mit Luxemburgs Kritik an der SPD ihren politischen Zusammenbruch betreffend übereinstimme, ist ihr Vorwurf, dass die Partei im negativen Sinne für die Geschichte verantwortlich ist. Sie sagt, dass die Partei einen Anteil daran hatte, die Geschichte in diese Krisensituation zu bringen, und dass der Partei, als Agentur der politischen Vermittlung, auch die Aufgabe zukommt, die Form, wie sie politische Handlungsfähigkeit vermittelt, selbst zu überwinden.

Zunächst: Ich kann den durch Adorno und Lukács vermittelten Lenin im Vergleich zu dem Lenin der Gesammelten Werke überhaupt nicht wiederkennen. Doch ich erkenne, dass das, was Adorno und Lukács als Lenin beschreiben, die Resolutionen des Zweiten und Dritten Kongresses der Komintern über die Rolle der politischen Partei in der proletarischen Revolution sind. Beinhaltet dies nicht eine falsche Geschichte der bolschewistischen Partei? Eine Geschichte der bolschewistischen Partei, die den Charakter, den die bolschewistische Partei zwischen 1918 und 1921 unter den Bedingungen des Bürgerkrieges angenommen hat, auf die Vorgeschichte der bolschewistischen Partei vor 1917 projiziert? Zum Zweiten: Für Marx und Engels galt von den 1840er Jahren bis zu Engels’ Tod – mit einer kurzen Unterbrechung in der Ersten Internationale, als sie eine Allianz mit den Proudhonisten eingingen – durchgängig der Den Haager Kongress-Beschluss von 1871, dass “das Proletariat nur dann als Klasse handeln kann, wenn es sich selbst als besondre politische Partei konstituiert“. Inwiefern tragen die Versuche, Marx hegelianischer zu machen, diesem politischen Aspekt der Interventionen von Marx und Engels angemessen Rechnung?

CC: Vielleicht ist der Unterschied zwischen dem Lenin, den du erkennen würdest, und dem Lenin des offiziellen Leninismus der Komintern derselbe, den du dann zwischen Marx selbst (oder Marx und Engels) in seiner eigenen politischen Praxis und der Art von hegelianisiertem Marx, den du bei Lukács und Adorno findest, triffst. Lenin hat in der Geschichte des Marxismus einen spezifischen Beitrag geleistet, der nicht ignoriert werden kann: Er ist der große Schismatiker des Marxismus – er hat den Marxismus gespalten.40 Genau das verschafft ihm Adornos Anerkennung. Seine Sichtweise ist nicht die einer kleinen Avantgarde, sondern es geht um Politik in der Arbeiterklasse. Was Lenin in der Zweiten Internationale einführt, ist die Idee konkurrierender Arbeiterparteien, die alle behaupten, antikapitalistisch, revolutionär und marxistisch zu sein. Die Krise des Marxismus verweist auf die politischen Kontroversen innerhalb des Marxismus. Das zu leugnen bedeutet zu sagen, Politik sei nur „die Arbeiter gegen die Kapitalisten“ und nicht ein Phänomen innerhalb der Arbeiterklasse. Die kautskyanische Partei, die Idee „eine Klasse, eine Partei“, dass alle Arbeiter gegenüber den Kapitalisten das gleiche Interesse haben, und der Versuch die „Partei der ganzen Klasse“ zu sein, leugnet, dass zwischen Arbeitern und Marxisten verschiedener Parteien über den Inhalt politischer Emanzipation gestritten werden kann.

AF: Für mich sieht es so aus, als sei die Position Lenins nicht einfach aus der marxistischen Theorie erklärbar oder ableitbar. Was Leute wie Lukács um 1923 oder Gramsci in seinen Gefängnisheften machten, war der Versuch seine Praxis in Marxistischer Theorie zu verankern, um das fehlende Glied zu finden. Es gibt viele verschiedene Aussagen aus Lenins frühen Schriften, die nicht zu dem passen, was er tatsächlich gemacht hat. Aber er wusste, was er macht, und es war historisch entscheidend, wie Chris eben erklärt hat. Also konnte man die Frage getrennt davon stellen, ob er je nach historischer Faktenlage die marxistische Theorie richtig angewandt hat und das Richtige getan hat. Lukács hat erkannt, dass Lenin etwas historisch Bedeutendes getan hat, und hat versucht die Theorie so umzudeuten oder zu interpretieren, dass sie integriert, was er getan hat. Lukács hat einen bedeutenden theoretischen Fortschritt geleistet, indem er das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse, marxistischer Theorie und der Praxis der politischen Parteien, die die Arbeiter repräsentieren, verstanden hat; welche Verbindung es zwischen ihnen geben kann, die in einem ontologischen Verhältnis begründet ist, eines Verhältnisses zur Realität, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Weisen dieser verschiedener Momente der Bewegung geteilt wird. Das ist eine sehr bedeutende theoretische Idee, die man meiner Meinung nach nicht in Marx, Engels oder Lenin finden kann, die aber unabdingbar ist, wenn man verstehen will, was geschichtlich passiert ist.

RW: Lukács macht sehr deutlich, dass die Partei letztendlich zu einer massenbasierten Bewegung heranwachsen soll. Aber in der Zwischenzeit, wie er explizit im Essay zur Parteiorganisation darlegt, müssen alle verschiedenen Bereiche, alle verschiedenen Versuche darüber, was die Partei tun soll, sich organisatorische Formen geben. Er ist für ein breites, pluralistisches Sprießen von verschiedenen Praktiken, was, wie ich denke, die Idee einer einzelnen, vereinigten Avantgardepartei, untergräbt. Das riskiert möglicherweise radikales Sektierertum, verhindert aber aus Lukács‘ Perspektive immerhin Verdinglichung.

NB: Ob Lukács und Adorno Lenin richtig verstanden haben, ist nicht die gleiche Frage und ist sinnvoll von der Frage zu trennen, ob Lenin politisch nützlich war, und was heutzutage zu tun ist. Und zur Hegelianisierung von Marx: Man kann Marx nicht „hegelianisieren“, weil Marx hegelianischer als Hegel selbst ist!

Ich nehme an, dass die primäre Stoßrichtung der These, dass Adorno ein Leninist ist, diejenige ist, den Leninisten Adorno für das Projekt einer Rekonstitution der Linken zu verpflichten. Worin besteht der Nutzen des Leninisten Adorno?

CC: Adorno verpflichtete sich selbst zu einem leninistischen Projekt. Er sagt: „Ich will Lenin die Treue halten.“ Was bedeutet das? Er sagte das, als 99,99% der Leninisten in der Welt nicht zugestimmt hätten, dass Adorno Lenin in irgendeiner Weise die Treue hielt. Ich würde also das Problem umdrehen und sagen, dass ich mich für den Lenin interessiere, der durch Adorno sichtbar wird. Wenn Adorno sagt ein „[s]treng leninistisches Manifest“, ist das nicht gegen Luxemburg gerichtet. Es ist der Lukács‘sche Versuch zu erfassen, was die Radikalen der Zweiten Internationale gemein hatten. Warum bezeichnete Luxemburg sich selbst als Bolschewistin? In den letzten Monaten ihres Lebens schrieb sie ein Essay mit dem Titel „Was ist deutscher Bolschewismus?“ In anderen Worten, „Das ist es, was wir wollen. Warum gehören wir zu den Bolschewiki?“ Ihre Kritik war kameradschaftlich – das ist der Punkt. Ich bin also daran interessiert, wie diese Geschichte des Marxismus im Speziellen durch die Augen Adornos, durch die Augen Lukács’, durch die Augen Korschs aussieht; wir wären nachlässig, ihre Einsichten in diese Geschichte zu ignorieren.

AF: An diesem Punkt der Geschichte wissen wir so wenig über die opponierenden Kräfte, ihr Potenzial und woher sie als nächstes kommen könnten, dass wir nicht die theoretische Basis und die Grundlagen der praktischen Erfahrungen haben werden, die die sozialistische Bewegung hatte, als sie ihre Parteien gründete und entwickelte. Unter gegenwärtigen Bedingungen müssen wir Ausgangspunkte von Opposition und Spannungen finden, die sich um die verdinglichende Kraft von Institutionen herum erzeugen, wo auch immer sie in Erscheinung treten – auch wenn sie nicht politisch aussehen oder erscheinen. Wir würden vorschnell Dingen den Riegel vorschieben, wenn wir eine Theorie und Partei hätten, die Kämpfe lenken würde.

CC: Was ist mit der Partei gemeint? Einerseits würde die Bildung einer Partei in einer aus der Geschichte bekannten Art zum gegenwärtigen Zeitpunkt Möglichkeiten ausschließen. Andererseits habe ich Bedenken gegenüber dem Hardt-Negri-Moment, in dem wir uns in Hinblick auf die „Bewegungslinke“ befinden, die die Partei als den Weg zum Stalinismus sieht. Wenn wir sagen, dass die ältere sozialistische Bewegung historische Erfahrung gesammelt hat, dann müssen wir auch sagen, dass uns das eine Generation lang verweigert wurde. So bleibt uns zu sagen, „OK, so etwas wie eine Partei?“, um die Vorstellung von „Form“ zu erweitern. Worauf Richard in Bezug auf den Begriff der Form hinweist, ist sehr wichtig. Die Gefahr liegt darin, ihn zu weit zu fassen; in dem, was ich vorher als „Nachtrabpolitik“ bezeichnet habe: um zu rechtfertigen, was wir ohnehin schon tun. Das ist eine Gefahr, der ich auf der einen Seite widerstehen würde. Auf der anderen Seite stimme ich zu, dass der Versuch, eine Partei nach einem historischen Modell umzusetzen, überstürzt und zum Scheitern verurteilt wäre.

RW: Das institutionelle Gedächtnis einer Partei ist entscheidend; ich denke, dass seine Abwesenheit zu einem desaströsen Zusammenbruch fortschrittlichen Denkens geführt hat. Ich habe schon zuvor die Luxemburg’schen Elemente bei Lukács hervorgehoben. Hier kritisiert Lukács Luxemburg, zurecht, denn eine Partei kann dieses institutionelle Gedächtnis bilden. Zu Andrew: wir wissen nicht wirklich, welche Kräfte dort sind. Der Akt der Bildung, oder die Unterstützung der Bildung einer Partei, kann ein Weg sein, es herauszufinden. Ich verweise darauf, was ich zuvor zu Lukács und seinem Beharren darauf, dass jede Position ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln versuchen sollte, gesagt habe. Wenn wir es als eine rein soziologische Frage behandeln, riskieren wir meines Erachtens, auf den gleichen verdinglichten Standpunkt des einfachen Faktensammelns zurückzufallen, statt Praxis zu betreiben. Die Entwicklung von Parteien voranzutreiben, von institutionalisierten Formen der verschiedensten Arten, ist der Weg, auf welchem diese oppositionellen Kräfte sich wirklich entwickeln können. Ohne dies würden die Kräfte weniger kohärent und ihrer Opposition weniger bewusst sein.

Wie können wir diese unterschiedlichen Theorien ohne den Anstoß zum Aufbau einer Partei, ohne eine starke Position zur Notwendigkeit von Führung praktisch auf die Arbeiterklasse anwenden? Die Verhältnisse, die in den 1950ern, 1930ern oder 1920ern existiert haben, sind nicht dieselben wie heute. Ohne Partei, ohne Führung – welche Hoffnung haben wir?

RW: Ich würde mit dieser Formulierung vorsichtig sein: es ist gefährlich, über das Anwenden von Theorien auf die Arbeiterklasse zu sprechen. Das Problem der Führung verweist darauf. Es spielt auf vorhin Gesagtes an, aber ich denke, die Tea Party ist ziemlich erfolgreich, in Anbetracht ihrer offensichtlichen Inkohärenzen und Absurditäten, eben weil es ihr an einer Führung mangelt und ihre totemischen Figuren entbehrlich sind. Es gibt Stimmen, aber keine Führung, sodass es einige verschiedene Tea Parties gibt. Dass sie so breitgefächert, zerstreut und dezentralisiert ist, ist einer der Gründe ihres Erfolgs.

AF: Wenn wir eine Partei hätten, die eine Autorität darstellen und auf die gehört würde, wären wir in einer viel besseren Lage. Aber wie kommen wir dahin?

CC: Was für die Rechte funktioniert, kann für die Linke nicht funktionieren. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Rechten und der Linken – dass die Rechte auf eine Weise an Inkohärenz aufblüht, wie die Linke das nicht kann. Auch würde ich, etwas polemisch oder auch zynisch sagen, dass die Tea Parties die wahren Kinder der Neuen Linken sind. Die Idee der theoretischen Führung, im Sinne einer Theorie, die angewandt wird, ist genau das, was die marxistische Tradition überwinden wollte. Das ist es, was sie als eine „bürgerliche“ Vorstellung von Theorie oder Epistemologie verstanden. Wenn wir aber bis auf Kant zurückgehen, gab es dort bereits die Idee einer selbstbewussten Praxis: Es geht nicht um die abstrakte Anwendung der Theorie auf die Praxis. Schon bei Kant – und ich denke, es gibt eine Kontinuität zwischen Kant und Hegel und Marx – geht es darum zu versuchen, existierende Praktiken zum Selbstbewusstsein zu erheben. Das ist etwas ganz anderes, als eine Theorie anzufertigen und sie auf die Realität anzuwenden.

Abschlussbemerkungen

AF: Ich glaube, dass die Linke immer noch innerhalb des Horizonts von Forderungen und Enttäuschungen lebt, die in den 1960ern und 1970ern entstanden sind. Bewegungen wie die Umweltbewegung, die feministische Bewegung und viele andere Proteste die in abgelegenen Bereichen der Gesellschaft entstanden sind (wie Medizin), existieren unter den Kategorien, die die Neue Linke benutzt hat, um neue Formen der Enttäuschung zu artikulieren. Das ist der Beitrag, den Marcuse geleistet hat; Adorno und Horkheimer haben dazu nicht beigetragen, weil sie die Neue Linke nur als ein kleines Aufflackern am Horizont betrachteten. Ich bin ziemlich verdutzt darüber, dass Marcuses Gedanken auf der Linken so umschifft werden und dass die Frankfurter Schule mehr und mehr als Benjamin Adorno und Horkheimer verstanden wird. Es drückt für mich eine gewisse mangelnde politische Ernsthaftigkeit aus, dass Leute einfach so den einzigen Denker überspringen, der sich mit der Art von Linkssein auseinandergesetzt hat, zu der wir heute fähig sind.

RW: Ich würde auch gerne mit einer Antwort auf den ‚‘Mangel an politischer Ernsthaftigkeit‘‘ abschließen. Der Grund für die Rückkehr von Leuten wie Adorno und Benjamin liegt darin, dass ein Großteil der akademischen Rezeption in den Literaturwissenschaften oder durch die Cultural Studies vorgenommen wurde. Und ich denke, dass der Grund dafür eben der Mangel an direktem Engagement und direkter Aktivität ist. Die Wichtigkeit von Engagement und einer Form von Praxis, mit einem gewissen Grad von Führung, welche man auf jene bezieht – eine theoretische Form von Praxis – ist meines Erachtens das Entscheidende.

CC: Ich würde mit einem Angebot schließen, Adorno als politischen Denker ernst zu nehmen und nicht nur als Literaten. Gewiss sagt er, „Musik und Kunst sind das, was ich kenne und deshalb schreibe ich darüber“. Allerdings legt er hier eine falsche Bescheidenheit an den Tag. Seine Arbeit hatte einen starken Einfluss auf die deutsche Soziologie, indem sie amerikanische Techniken der empirischen Sozialforschung und den Durkheim’schen im Gegensatz zum Weber’schen Ansatz in die Untersuchung der Frage der Moderne und des Kapitals einführte. In seinem Briefwechsel mit Marcuse 1969, in dem sich Bitterkeit über die von der Neuen Linken angezettelte Kontroverse zeigt, sagt Adorno zu Marcuse: „Schau, es ist das Institut. Es ist dasselbe Institut. Es ist unser altes Institut.“ Und Marcuse antwortet: „Wie kannst du nur behaupten, dass das Institut in den 60ern in der Bundesrepublik Deutschland das ist, was es in den 30ern war?“ Darauf konnte Adorno nur sagen, „Was ist mit meinen Büchern?“ In anderen Worten: „Was ist mit den Büchern, die mir die Existenz des Instituts zu schreiben ermöglichte?“ Adorno war also der einsame Verfechter des hegelianischen Marxismus innerhalb der deutschen Soziologie und Philosophie. Als solche sind seine Arbeiten kraftvolle Aussagen über die Art von Einsichten, die von der früheren marxistischen Tradition von Lukács und Korsch infolge der Krise des Marxismus und der Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts erreicht wurden, und versuchen diese am Leben zu erhalten. Folglich würde ich Adorno gegen seine Liebhaber verteidigen. Der Adorno, der in den Geisteswissenschaften herumgeistert, ist ein gesäuberter Adorno, ein entpolitisierter Adorno, ein Adorno, bei dem der Marxismus ausgeblendet oder in eine ethische Kritik der Gesellschaft umgewandelt wurde. Ich hingegen denke, dass Adorno sehr viel mehr über das Problem von Theorie und Praxis zu sagen hat, was politisch relevant ist. |P

 http://platypus1917.org/2016/04/16/die-politik-der-kritischen-theoriedie-politik-der-kritischen-theorie/

Andrew Feenberg, Richard Westerman, Chris Cutrone & Nicholas Brown

Die Platypus Review Ausgabe #1 | April 2016

Die hier abgedruckte, ins Deutsche übersetzte Podiumsdiskussion fand im April 2011 auf der dritten internationalen Convention der Platypus Affiliated Society in Chicago statt. Ein Transkript der Podiumsdiskussion wurde zuerst in der Platypus Review #37 in englischer Sprache veröffentlicht. Die Teilnehmer – Nicholas Brown von der University of Chicago, Chris Cutrone von Platypus, Andrew Feenberg von der Simon Fraser University Vancouver sowie Richard Westerman von der University of Chicago – wurden gebeten, auf Folgendes einzugehen: Kürzlich veröffentlichte die New Left Review ein übersetztes Gespräch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, das großes Aufsehen erregte. Im Laufe der Konversation sagte Adorno, dass er immer eine Theorie entwickeln wollte, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“. Adorno, so scheint es, war ein Leninist. Doch so überraschend dieser Nachweis für viele auch sein mag – ist es nicht überraschender, dass Adornos Politik und die Politik der Kritischen Theorie so lange tabuisiert waren? War es wirklich notwendig zu warten, bis sich Adorno und Horkheimer schwarz auf weiß zu ihrer Politik bekannten, um zu verstehen, dass sie ihre zentrale Aufgabe darin sahen, das Verhältnis des Marxismus zur kritischen bürgerlichen Philosophie (Kant und Hegel) zu bewahren? Die Podiumsdiskussion zielt darauf ab, diese Frage so direkt wie möglich zu stellen, und fragt: Inwiefern machten die Praxis und die Theorie des Marxismus, von Marx bis Lenin, die Politik der Kritischen Theorie möglich und notwendig?

Eröffnungsstatements

Andrew Feenberg

DAS WARTEN AUF DIE GESCHICHTE: HORKHEIMERS UND ADORNOS THEATER DES ABSURDEN

Im Jahr 2010 übersetzte die Zeitschrift New Left Review einen Dialog zwischen Horkheimer und Adorno über „ein neues Manifest“1. Dieser Dialog, der 1956 stattfand, kann nur vor dem Hintergrund von Marx‘ und Lukács‘ Interpretation der Beziehung von Theorie und Praxis verstanden werden. In diesem Vortrag möchte ich versuchen zu erklären, wie dieser Hintergrund die Produktion des Manifests verhindert und die Diskussion darüber bis zur Absurdität reduziert. Doch zunächst möchte ich zeigen, wie Horkheimer und Adorno dieses Problem angehen. Ihr Dialog ist ein merkwürdiges Dokument. Die Ambition, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 zu aktualisieren, ist verblüffend, vor allem angesichts der Albernheit eines Großteils ihres Gesprächs. Welche Schlüsse können wir beispielsweise aus ihrem ersten Austausch über die unangebrachte Liebe zur Arbeit ziehen, der dann in eine Konversation über die analen Geräusche eines Motorrads mündet? Der Dialog kehrt immer wieder zu der Frage zurück, was in einer Zeit gesagt werden soll, in der nichts getan werden kann. Die kommunistische Bewegung ist tot, vernichtet von ihrem eigenen grotesken Erfolg in Russland und China. Westliche Gesellschaften sind besser als die marxistische Alternative, die nichtsdestotrotz eine emanzipierte Zukunft repräsentieren. Horkheimer ist überzeugt, dass die Welt verrückt ist und dass selbst Adornos bescheidene Hoffnung, die Dinge könnten sich eines Tages zum Guten wenden, nach Theologie stinkt. Horkheimer bemerkt: „Man muß wahrscheinlich davon ausgehen, daß wir uns sagen müssen, wenngleich es keine Partei mehr gibt, hat der Umstand, daß wir da sind, doch einen Wert“ (S. 61). Zusammengefasst ist der einzige Beweis, dass etwas Besseres möglich ist, der Umstand, dass sie dort sitzen und über die Möglichkeit von etwas Besserem reden.

Horkheimer fragt in dieser Situation: „Aus welchem Interesse heraus schreiben wir[?]“ (S. 51) „Man könnte sagen, das sind nur so Reden, Betrachtungen. Wem soll man‘s sagen” (S. 53). Er fährt fort: „Wir müssen den Verlust der Partei so aktualisieren, daß wir gewissermaßen sagen, wir sind noch genau so schlimm wie früher, aber wir spielen auf dem Instrument, wie es heute gespielt werden muß“ (S. 53f.). Und Adorno antwortet, überzeugend und ziemlich komisch: „Das hat formal etwas Bestechendes, aber was ist das Instrument?“ (S. 54). Auch wenn Adorno an einem Punkt zögernd anmerkt, dass er „das Gefühl [hat], daß das, was wir tun, schon irgendwie wirkt“ (S. 48), ist Horkheimer skeptischer. Er sagt: „Ich habe dabei den Instinkt, wenn ich nichts machen kann, dann sage ich auch nichts“ (S. 55).

Und er fährt fort, den Ton und den Inhalt des Manifests auf eine solche Art zu diskutieren, dass er es auf eine Absurdität reduziert: „Wir wollen, daß das, was heute in Amerika erreicht ist, in der Zukunft bewahrt wird, z.B. die Rechtssicherheit, die drugstores. Das muß dort, wo wir darauf zu sprechen kommen, klar hervorleuchten.“ Adorno antwortet: „Dazu gehört auch, daß die Television-Programme, solange sie Mist sind, eingestellt werden (S. 56)“. Sich selbst widersprechend, beschließt Horkheimer die aufgenommene Diskussion mit den grimmigen Worten: „Weil wir noch leben dürfen, sind wir verpflichtet, etwas zu machen“ (S. 71).

Im Jahr 1955, kurz bevor dieses Gespräch stattfand, verfasste Samuel Beckett Warten auf Godot. Die Spekulationen von Vladimir und Estragon antizipieren Max‘ und Teddies absurdistischen Dialog. Vladimir sagt zum Beispiel: “Wir wollen unsere Zeit nicht bei unnützem Reden verlieren. Wir wollen etwas tun, solange die Gelegenheit sich bietet! Uns braucht man nicht alle Tage. […] Aber in dieser Gegend und in diesem Augenblick sind wir die Menschheit, ob es uns paßt oder nicht. Nützen wir es aus, ehe es zu spät ist.”2 Eine solche Einführung in die Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno mag unfair erscheinen. Verdienen sie meinen Spott? „Ja und nein“, um Horkheimer zu zitieren. In einem gewissen Sinne verspottet sich ihr Text bereits selbst. Der fröhliche Ton vieler ihrer Wortwechsel zeigt, dass sie sich der wortwörtlichen Unmöglichkeit, ihr Projekt durchzuführen, sehr wohl bewusst sind. Horkheimer behauptet, dass der Ton, in dem das Manifest verfasst ist, irgendwie seine Vergeblichkeit in der gegenwärtigen Periode überwinden muss, in der es keinerlei praktische Wirkung haben kann. Etwas Ähnliches findet in dem Dialog statt. Der Ton offenbart, was über den Widerspruch zwischen der existenziellen Situation der Sprecher und ihres Projekts nicht adäquat erklärt werden kann. Aber sie versuchen ihr Bestes, den Widerspruch explizit zu machen.

Das Hindernis ist ihre Konzeption des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Adorno bemerkt, dass Marx und Hegel abstrakte Ideale ablehnen und die Vorstellung des Ideals als nächsten historischen Schritt rekonstruieren. Dies bedeutet, dass Theorie an Praxis, also an wirkliche historische Kräfte gebunden sein muss. Wie Horkheimer später sagt: „Die Wirklichkeit wäre zu messen an einem Aspekt, dessen Verwirklichungsmöglichkeit in bereits vorhandenen konkreten Ansätzen der historischen Realität aufgezeigt werden kann“ (S. 64). Doch Adorno argumentiert, dass Marx und Hegel nicht in einer Welt wie unserer gelebt haben, in der der Unwille, den nächsten Schritt zu gehen, die tatsächliche Verwirklichung der Utopie blockiert. Unter diesen Bedingungen kehrt die Versuchung utopischer Spekulation wieder, doch die Dringlichkeit, ein hegelianisch-marxistisches Desideratum zu erfüllen, blockiert die Weiterentwicklung des Gedankens. Horkheimer kommt zu dem Schluss, dass „[d]urch alles, was wir schreiben, die Praxis durchleuchten [muss]“ (S. 65), ohne jeglichen Kompromiss oder Konzession an die wirkliche historische Situation, eine scheinbar unmögliche Forderung. Dies resultiert in dem, was er „ein merkwürdiges Abwarten“ (ebd.) nennt, das Adorno als „[i]m besten Falle noch Flaschenpost“ (S. 67) definiert. Was am Austausch dieser beiden Philosophen am bemerkenswertesten ist, ist ihre Ablehnung, einen kritischen Standard aus philosophischer Reflexion abzuleiten, wenn die Geschichte diesen nicht mehr bereitstellen kann. Dies ist es, was Habermas später machen sollte: den Zusammenbruch des hegelianisch-marxistischen historischen Ansatzes zuzugestehen und eine angemessene philosophische Basis für Kritik zu etablieren. Wenn kein „nächster Schritt“ den Weg aufzeigt, kann möglicherweise stattdessen Ethik ihre Aufgabe übernehmen. Doch Horkheimer und Adorno insistieren auf der Wichtigkeit, ihr Denken geschichtlich einzuordnen, sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Position als auch der Abwesenheit einer Partei und einer Bewegung. Wie Horkheimer bemerkt: „[W]ir müssen unsere Existenzform als das Maß dessen sehen, was wir denken“ (S. 65).

Wie kann Kritik die gegebene Gesellschaft negieren, wenn diese Gesellschaft die einzige existenzielle Unterstützung des Kritikers ist? Der Kritiker ist das höchste kulturelle Produkt der Gesellschaft. In Abwesenheit realistischer Alternativen rechtfertigt seine Fähigkeit, die Gesellschaft zu negieren, diese. Weder kann er der Geschichte ins Transzendentale entfliehen, wie es bei Habermas der Fall ist, noch kann er ein historisches Argument auf der fortschrittlichen Bewegung der Geschichte basieren – kein Wunder also, dass der Dialog zwischen dem Komischen und dem Unheilvollen hinund herschwankt. Wie konnte sich der Marxismus dermaßen verstricken? Wie ich zu Beginn erwähnte, glaube ich, dass uns diese Frage zurück zu Marx und Lukács führt. Lukács‘ wichtiges Buch Geschichte und Klassenbewusstsein3 beinhaltete die einflussreichste Reflexion über die Beziehung von Theorie und Praxis in der marxistischen Tradition. Er erneuerte die hegelianisch-marxistische Kritik abstrakter Ideale, die dem Dilemma im Herzen des Dialoges zugrunde liegt. Dieser Text war Horkheimer und Adorno bekannt und sein Einfluss auf ihre eigenen Reflektionen ist offensichtlich. Lukács führt das Problem von Theorie und Praxis anhand einer Kritik eines frühen Textes an, in dem Marx fordert, dass die Theorie „die Massen ergreift“4. Doch – so Lukács – wenn die Theorie die Massen ergreift, steht sie in äußerer Beziehung zu deren eigenen Bedürfnissen und Absichten. Es wäre also bloßer Zufall, wenn die Massen theoretische Ziele erfüllen. Stattdessen müsste Theorie in den Bedürfnissen und Absichten der Massen verwurzelt sein, wenn sie wirklich und wahrhaft die Theorie ihrer Bewegung ist und nicht etwas fremd Aufgezwungenes. Lukács greift diese Thematik auf einem abstrakteren Level in seiner Kritik der kantischen Ethik wieder auf. In Lukács’ Terminologie ist die Antinomie von Theorie und Praxis ein Beispiel der allgemeineren Antinomie von Wert und Tatsache, „sollen“ und „sein“. Diese Antinomien stammen aus einem formalistischen Konzept der Vernunft, nach dem Theorie und Praxis einander fremd sind. Dieses Konzept der Vernunft versagt, in den gegebenen Tatsachen des sozialen Lebens diejenigen Möglichkeiten und Tendenzen zu entdecken, die zu einem rationalen Ziel führen. Stattdessen wird das Gegebene als fundamental irrational wahrgenommen, als bloß empirisches, faktisches Residuum des Prozesses formaler Abstraktion, in dem rationale Gesetze konstruiert werden.

Lukács erklärt, „das Sollen setzt gerade in seiner klassischen und reinen Form, die es in der kantischen Philosophie erhalten hat, ein Sein voraus, auf das die Kategorie des Sollens prinzipiell unanwendbar ist“5. Dies ist das Dilemma bürgerlichen Denkens: Politische Rationalität setzt als ihr materielles Substrat eine irrationale, rationalen Prinzipien feindliche soziale Existenz voraus. Der rationale Bereich der Staatsbürgerschaft, erleuchtet von moralischer Pflicht, steht in krassem Gegensatz zur kruden Welt der Zivilgesellschaft, die auf tierischen Bedürfnissen und dem Kampf ums Überleben basiert. Doch wenn dies für die bürgerliche Theorie gilt, wie steht es um die Theorie der proletarischen Bewegung? Ist Marxismus lediglich ein verhülltes ethisches Erfordernis, das den natürlichen Tendenzen der Spezies entgegengesetzt ist? Dies ist die Schwachstelle heroischer Varianten des Kommunismus, nach der Moralität und Leben entgegengesetzt sind. Opfer für die Partei, die nächste Generation und den „Arbeiter“ zu fordern, entspricht genau dem bürgerlichen Muster, das Lukács kritisiert. Das ist nicht Marx. Der frühe Marx begann bei der hegelianischen Kritik abstrakter Ethik und gelangte zu einem allgemeinen Konzept revolutionärer Theorie als Reflexion des Lebens im Gedanken. Es gibt zum Beispiel einen Brief an Ruge, in dem Marx schreibt: “Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.”6 Stattdessen muss Philosophie von tatsächlichen Kämpfen ausgehen, in denen die lebendigen Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit erscheinen. Der neue Philosoph muss der Welt „ihre eignen Aktionen ihr erklär[en]7, indem er zeigt, dass die tatsächlichen Kämpfe einen transzendierenden Inhalt besitzen, der mit dem Begriff einer vernünftigen Gesellschaft verknüpft werden kann. „Wir zeigen ihr [der Welt] nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.“8 „Der Kritiker“, folgert Marx, „kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.“9 Das meinte Horkheimer mit seiner Aussage, dass Gesellschaft an den „konkreten Ansätzen der historischen Realität“ (S. 64) gemessen werden muss. Oder wie Marx an anderer Stelle schreibt: “Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.“10 Marx spätere Schriften sind verworrener und behalten nur noch Spuren dieser reflexiven Bewusstseinstheorie bei, wie zum Beispiel in der kurzen Passage im 18. Brumaire des Louis Bonaparte: „Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers [Krämer] sind oder für dieselben schwärmen. […] Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“11

Dieser Abschnitt lädt zum Nachsinnen darüber ein, ob das Proletariat mit „Problemen“ konfrontiert ist, die theoretisch durch den Marxismus „gelöst“ werden, und zwar in einer analogen Weise wie die Lebensbedingungen die Klasse zu praktischen Lösungen antreiben. Leider wendet der späte Marx diese anzügliche Bemerkung nicht mehr an. Stattdessen stellt er die historisch-materialistische Theorie auf, dass „das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt“12. Diese deterministische Sprache lässt die Frage nach dem Verhältnis marxistischer Theorie zum proletarischen Klassenbewusstsein unbeantwortet.

Genau diese Frage wird von Lukács behandelt. Er musste zeigen, dass der Marxismus nicht nur rein zufällig den Gedanken und Handlungen des Proletariats entspricht; dass er nicht nur ein wissenschaftliches „Bewusstsein von außen“ ist, für das das Proletariat lediglich eine „passive, materielle Grundlage“ sein würde, sondern dass er wesentlich mit dem Leben dieser Klasse verwurzelt ist. Seine missverstandene Theorie der Verdinglichung und des Klassenbewusstseins bezieht sich auf die Form, in der die soziale Welt unmittelbar dem Bewusstsein aller Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft gegeben ist. Lukács schreibt, dass „das gesellschaftliche Sein in der kapitalistischen Gesellschaft für Bourgeoisie und Proletariat – unmittelbar – dasselbe ist“13. Und noch einmal: „Die Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat also mit der Bourgeoisie.“14 Aber die Erfahrung der Verdinglichung ist abhängig vom Klassenstandpunkt. Es ist interessant, dass Lukács zur Untermauerung seiner These eine der wenigen Marx‘schen Abschnitte über Entfremdung zitiert, die ihm zur Verfügung standen:

„Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.“15

Marx sagt, dass Bourgeois und Proletarier „dieselbe” Entfremdung erfahren, jedoch aus verschiedenen Blickwinkeln. Ganz ähnlich argumentiert Lukács: Wo die Kapitalisten die Verlängerung des Arbeitstages als eine Maßnahme zur Steigerung der Quantität der Arbeitskraft sehen, die sie zu einem bestimmten Preis gekauft haben, schlägt für die Arbeiter diese „Quantität in Qualität“ um. Der Arbeiter geht über die verdinglichten quantitativen Bestimmungen hinaus, die ihm unmittelbar in der verdinglichten Form der Objektivität seiner Arbeitskraft gegeben sind, weil er die damit verbundene reale qualitative Degradierung seines Lebens und seiner Gesundheit nicht ignorieren kann. Daraus folgert Lukács: „Die quantitativen Unterschiede der Ausbeutung, die für den Kapitalisten die unmittelbare Form von quantitativen Bestimmungen der Objekte seiner Kalkulation haben, müssen für den Arbeiter als die entscheidenden, qualitativen Kategorien seiner ganzen physischen, geistigen, moralischen usw. Existenz erscheinen.“16

Das Proletariat sieht jenseits der bloßen Unmittelbarkeit, indem es einen Akt der (sozialen) Selbst-Bewusstwerdung unternimmt. Dieses Selbstbewusstsein geht hinter die verdinglichten Formen seiner Objekte auf ihre „Realität“. Diese mehr oder minder spontane Kritik der Verdinglichung ermöglicht alltägliche Praxen, die durch Gewerkschaften und Parteiorganisationen zur Basis einer revolutionären Bewegung entwickelt werden können.

Lukács behauptet, dass die Antwort der Arbeiter auf die Verdinglichung der Erfahrung im Kapitalismus die Grundlage ist, auf der marxistische Dialektik fußt. Man könnte sagen, dass Marxismus und Proletariat dieselbe „Methode“ vereint. Beide entmystifizieren die verdinglichten Erscheinungsformen auf ihre eigene Weise: die einen auf der Ebene von Theorie, die anderen auf der Ebene von Bewusstsein und Praxis. Wo die Theorie die Relativität der verdinglichten Erscheinungen im Hinblick auf ihre tiefer liegenden sozialen Strukturen aufzeigt, leben die Arbeiter diese Relativität, indem sie sich widerständig gegen die verdinglichten kapitalistischen Formen der Ökonomie zeigen, die ihrem Leben aufgezwungen werden. Beides, Theorie und Praxis, führt zu einer Kritik der ökonomischen und epistemologischen Prämissen des Kapitalismus. Oder, wie Marx im Kapital schreibt: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat.“17 Marx und Lukács begründen den methodologischen Horizont des Marxismus für die Frankfurter Schule. Dies ist der Hintergrund, vor dem Horkheimer und Adorno ihr neues Manifest diskutieren. Sie akzeptieren die Kritik an reiner Theorie; da das Proletariat nun aber eine überwindende Gesellschaftskritik nicht mehr unterstützt, droht jegliche Konzession an die Praxis, die Theorie in die Sphäre alltäglicher politischer Taktiererei zurück zu schleifen – oder schlimmer noch, sie wird zur Komplizin der Ermordung von Millionen durch die kommunistischen Regime. Wie Horkheimer bemerkt: „Was heißt Praxis, wenn es keine Partei mehr gibt? Bedeutet dann nicht Praxis entweder Reformismus oder Quietismus?“ (S. 60f.)

Nachdem die Revolution gescheitert ist, scheint es so, als gebe es keinen Ausweg aus der Falle, die sich aus der Spannung zwischen Norm und Geschichte ergibt. Die Rückkehr zu den „gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft“, also zu einer Art utopisch transzendentalem Denken, ist heute unmöglich. Aber es gibt auch keine Möglichkeit, den „nächsten Schritt“ für eine bessere Welt zu antizipieren. Horkheimer zeigt dieses Dilemma in zwei widersprüchlichen Aussagen auf, indem er zum einen saghint, „was wir denken, ist gar nicht die Funktion des Proletariats” (S. 67), und zum anderen, dass „[d]ie Theorie nur dort im eigentlichen Sinn Theorie [ist], wo sie der Praxis dient. Die Theorie, die sich selber genug sein will, ist schlechte Theorie“ (S. 60). Gibt es innerhalb der marxistischen Prämissen keine Alternative? Doch, während des Gesprächs taucht gelegentlich eine ausgeschlossene Alternative auf. Diese Alternative, auf die nur höhnisch verwiesen wird, ist Marcuse, der wie Banquos Geist über dem Gespräch schwebt. Adorno ist derjenige, der sich dieser Position am meisten annähert, um immer wieder von Horkheimer von ihr weggezogen zu werden. Einmal behauptet er: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Welt gibt, ohne [daß] objektive Gegenkräfte entbunden würden“ (S. 47). Dies wird sich als die These herausstellen, auf die Marcuse in seinem Eindimensionalen Menschen und in dem Versuch über die Befreiung anspielt. Aber Horkheimer lehnt diese Einstellung als zu optimistisch ab. Ein wenig später wehrt sich Adorno dagegen, dass die Menschen inhärent böse seien. „Sie werden nur Chruschtschows, weil sie immer wieder eine auf den Kopf bekommen“ (S. 50).

Doch wieder verneint Horkheimer die Hoffnung auf eine weniger repressive Zukunft und spottet über Marcuse, der einen Russischen Bonaparte erwarte, welcher die Welt rette und alles in Ordnung bringe. Was sollen wir mit dieser gespenstigen Gegenwärtigkeit dieser Marcuse‘schen Alternative anfangen? Es scheint mir, als antizipieren und verurteilen diese Aussagen bereits Marcuses spätere Offenheit gegenüber der Rückkehr der Bewegung in der Gestalt der Neuen Linken. Wo Horkheimer und Adorno schlussendlich die Neue Linke ablehnen, nimmt Marcuse den hegelianisch-marxistisch-Lukács‘schen Sprung zurück in die Geschichte. Adorno war der Bewegung gegenüber zunächst freundlich gesinnt, verurteilte sie jedoch letztendlich für ihre „Pseudo-Aktivität“18. Marcuse war sich völlig darüber im Klaren, dass die Neue Linke dem Marx‘schen Proletariat nicht entsprach, doch er versuchte in ihr einen Hinweis auf jene „objektiven Gegenkräfte“ zu finden, über die Adorno 1956 sprach. Auf diese Art und Weise könne Theorie wieder in Verbindung mit Praxis gebracht werden, ohne Zugeständnisse mit dem Bestehenden einzugehen – jedoch auch ohne ein Versprechen auf sicheren Erfolg. Marcuses wichtige Neuerung war die Einsicht in die präfigurative Kraft der Neuen Linken, ohne sie als einen neuen Agenten der Revolution zu identifizieren. Wir leben immer noch innerhalb des Horizonts progressiver Politik, den die Neue Linke abgesteckt hat; ihre Anliegen sind immer noch unsere eigenen, auch wenn sie natürlich im Laufe der Zeit verschiedentlich abgewandelt wurden. Aber der wichtigste Effekt der Neuen Linken war ihr Einfluss auf unsere Identität als Linke. Die Neue Linke entwickelte eine nicht-sektiererische Form progressiver Opposition, die den Standpunkt der meisten Menschen definiert, die sich heute als links verstehen. Zu Marcuses großer Überraschung gab Beckett an seinem 80. Geburtstag ein Gedicht heraus, das ihm gewidmet war. Das Gedicht erkennt die Hartnäckigkeit an, die von den vermeintlich unmöglichen Forderungen der Frankfurter Schule gegenüber der Geschichte ausgehen. Hier ist das Gedicht19:

pas à pas
nulle part
nul seul
ne sait comment
petits pas
nulle part
obstinément 

Schritt für Schritt
ins Nirgendhin
keiner weiß
auf welche Art
Schrittchen Schritt
ins Nirgendhin
obstinat

Richard Westerman

LUKÁCS‘ PARTEI UND SOZIALE PRAXIS

Die grundlegenden Texte der Kritischen Theorie, Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewusstsein [GKB] und Karl Korschs Marxismus und Philosophie, sind die Produkte einer Krise des europäischen Marxismus. Beide wurden im Jahre 1923 publiziert und repräsentieren eine Antwort auf sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Revolutionen: Während die Bolschewiki die Kontrolle über Russland übernommen hatten, obwohl es relativ unterentwickelt war, wurden die kommunistischen Regierungen in Ungarn und Deutschland aufgrund des Fehlens breiter Unterstützung rasch gestürzt. Beachtenswert ist, dass sowohl Lukács als auch Korsch in diesen Regierungen gedient hatten – Lukács selbst an den Frontlinien mit der Roten Armee Ungarns. Die tief philosophischen Lesarten, welche Korsch und Lukács von Marx entwickelten – obwohl von der aufkeimenden sowjetischen Orthodoxie denkwürdiger Weise als „Marxismus der Professoren‘‘ verurteilt –, waren zum großen Teil sowohl ein Produkt ihrer persönlichen Verwicklung in die praktischen revolutionären Situationen als auch eine Antwort auf sie. Dass diese Bücher, wie Lukács beobachtete, „mitten in der Parteiarbeit, als Versuche, theoretische Fragen der revolutionären Bewegung für den Verfasser selbst und für seine Leser zu klären, entstanden“20 sind, wird für gewöhnlich vergessen.

Dies ist offensichtlich in der Rezeption des Konzepts der Verdinglichung. Frei gesprochen beschreibt Verdinglichung eine soziale Pathologie, durch welche die Individuen die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen durch starre, unveränderbare Gesetze bestimmt verstehen, mit der Folge, dass sie sich isoliert und unfähig fühlen, die Gesellschaft zu verändern. Für gewöhnlich wird – fälschlicherweise – angenommen, dass Lukács‘ Lösung eine aufpolierte Version des Deutschen Idealismus sei, laut welchem das Proletariat plötzlich erkenne, dass es der Schöpfer dieser objektiven Welt sei, sich spontan seine Schöpfung rückaneigne und dadurch befreie. Das Resultat ist, dass Lukács‘ Darstellung der Rolle der Partei im letzten Essay von Geschichte und Klassenbewusstsein durch diese Fehlinterpretation der Verdinglichung gelesen und er beschuldigt wird, den Weg für einen zentralisierten Staat unter der Kontrolle einer autoritären Partei gepflastert zu haben. Nach dieser Standardinterpretation scheint Lukács zu glauben, dass die Partei einfach für das Proletariat handeln müsse, da dieses nicht erkannt habe, dass es das Subjekt der Geschichte war. Er gilt als Befürworter einer blanquistischen Partei, die in eine post-revolutionäre Diktatur verfiel. Überraschenderweise erkannten wenige der Interpreten Lukács‘, dass er sich tatsächlich eine sehr viel demokratischere Partei vorstellte. Der hauptsächliche Grund für diese weit verbreitete Entstellung ist das Versagen, adäquat zu erfassen, was Lukács mit seinem zentralen Konzept der Verdinglichung meinte, und wie dies seine Theorie der Partei formte. Die meisten Interpretationen gehen davon aus, dass die Verdinglichung ein Fehler eines denkenden Subjekts ist – selbst wenn dieser Fehler auf soziale Gründe zurückgeführt wird. Die Partei würde nun versuchen, diesen Fehler zu korrigieren. Verdinglichung beschreibt jedoch keine Epistemologie; sie beschreibt von Anfang an eine Form von Praxis. Lukács‘ Partei spielt nicht die Rolle eines weisen Führers, welcher das Proletariat leitet – sie ist da um einen Ort für wirklich ent-verdinglichte und damit ent-verdinglichende Praxis zu schaffen. Statt eines blanquistischen Kaders professioneller Revolutionäre ist Lukács‘ Partei eigentlich eher eine institutionalisiertere Version des Massenstreiks von Rosa Luxemburg.

Zu Anfang werde ich die Wurzeln des Problems, welches Lukács zu lösen versucht, in Marx‘ Kritik der Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Zur Judenfrage lokalisieren und zeigen, dass dieses Problem eindeutig nicht von einer Avantgardepartei zu lösen ist. Dann untersuche ich Lukács‘ eigene Position: Ich werde argumentieren, dass seine Vorstellung der Partei irgendwo zwischen Lenin und Luxemburg liegt und er die formale Organisation durch die Partei als wesentlich für echtes proletarisches Klassenbewusstsein ansieht. Schließlich werde ich einige Möglichkeiten vorschlagen, in welchen dies als Modell für die Art von Aktivität stehen könnte, welche ein Gegengewicht zu existierenden sozialen und politischen Strukturen darstellen könnte. Marx‘ Zur Judenfrage – geschrieben als Antwort auf Bruno Bauers Pamphlet zur Frage voller Emanzipation der Juden innerhalb des deutschen Staates – reinterpretiert radikal die Bedeutung sozialer Freiheit. Indem Marx argumentierte, dass die Säkularisierung des Staates nur eine Reproduktion religiöser Teilung auf der Ebene der Gesellschaft bedeute, hinterfragte er die Hegel‘sche Trennung von Staat und Zivilgesellschaft. Für Hegel war die Zivilgesellschaft der Bereich partikularer Bedürfnisbefriedigung und unmittelbarer sozialer Gesamtheit: Das Individuum war an andere Individuen durch ein ökonomisches System von Bedürfnissen gebunden, organisiert durch soziale Institutionen, basierend auf dieser grundlegenden Notwendigkeit. Auf der anderen Seite war der Staat der Bereich rationaler Freiheit, in welchem die (Staats-)Bürger als rationale, universale Individuen vereint waren. Für Marx war dies eine entfremdete Form von Freiheit: Sie bedeutete erstens, dass die Form der Politik scheinbar in einer unpersönlichen Kraft der Vernunft wurzelte, anstatt in freiem menschlichen Handeln; zweitens behandelte sie die Kategorien sozialer Existenz als unveränderlich, als notwendig und nur dem Wissen zugänglich, nicht aber der Veränderung. Marx schlug deshalb vor, dass wir den Himmel herunter auf die Erde holen und Gesellschaft selbst in das Reich der Freiheit verwandeln, indem wir die sozialen Verhältnisse selbst transformieren. Demnach entspräche wirkliche Freiheit der kollektiven Kontrolle über diese Verhältnisse.

Es ist diese Art von Freiheit, welche Lukács in der Parteiaktivität sieht. Ich denke jedoch, dass es unmittelbar offensichtlich sein sollte, warum eine Partei, welche die Revolution im Auftrag des Proletariats durchzuführen strebt, unfähig sein würde, sie zu realisieren. Eine solche Partei würde die Arbeiterklasse auf die Rolle von Zuschauern reduzieren, welche genauso unfrei wären wie zuvor. Tatsächlich lehnt Lukács eine solche „Top-down“-Partei extrem eindeutig ab, und es ist schwer zu verstehen, wie man nach einer ehrlichen und gründlichen Lektüre eine andere Schlussfolgerung ziehen kann. Er erklärt ausdrücklich: „Auch theoretisch handelt die kommunistische Partei nicht stellvertretend für das Proletariat“21, damit sie die Massen nicht auf eine „bloß anschauende, kontemplativ[e]“ Gesinnung reduziert, was zu einer „voluntaristische[n] Überschätzung der aktiven Bedeutung des Individuums (des Führers) und [einer] fatalistischen Unterschätzung der Bedeutung der Klasse (der Masse)“ führt22. Und er benutzt wiederholt das Wort „Verdinglichung“, um vor einer Fixierung der Organisationsform und ihrer Isolation von Kritik oder Veränderung durch die Massen zu warnen. Lukács könnte nicht deutlicher sein: Eine „Top-down“-, proto-stalinistische Partei würde eine Rückkehr zum Mangel an Freiheit der kapitalistischen Gesellschaft repräsentieren. Lukács greift, was 1922 – als der Erfolg der Bolschewiki ein Indikator für den klaren Sieg der Idee Lenins zu sein schien, der Idee eines disziplinierten Kaders von Revolutionären – möglicherweise eine unübliche Taktik war, stark auf Rosa Luxemburg zurück. Der Massenstreik, in welchen sie große Hoffnungen setzte, sollte die spontane Entwicklung von Klassenbewusstsein vollbringen, indem er alle Schichten der Arbeiterklasse zur Organisierung trieb. Luxemburgs Partei spielt lediglich eine sekundäre Rolle, faktisch nur wenig mehr als die Rolle eines Sekretärs, und sicher nicht irgendeine Art von Führung.

Nichtsdestotrotz lobte Lukács Luxemburg auch mehrfach für ihre Einsichten. Er befürwortet explizit ihre Kritik an den westeuropäischen Parteien, welche die Massenaktion unterschätzten und annahmen, nur eine geschulte Partei sei in der Lage die Führung zu übernehmen. Allerdings deutete er an, dass sie den gegenteiligen Fehler machen würde, und kritisierte sie für die „Unterschätzung der Rolle der Partei in der Revolution“23. Wie wir gesehen haben, denkt Lukács nicht, dass diese Rolle „Führung“ im üblichen Sinn zur Folge hat. Um zu verstehen, was Lukács meint, müssen wir einen etwas genaueren Blick auf seine Definition von Verdinglichung werfen. Die meisten Interpreten von Lukács verstehen Verdinglichung als einen erkenntnistheoretischen Irrtum. Sie denken, dass Lukács das Problem dahingehend identifiziert, dass die Kategorien, in welchen die kapitalistische Gesellschaft interpretiert wird, zu abstrakt und formal seien. Sie folgern, Lukács‘ Projekt sei die Ersetzung dieser Kategorien durch substanziellere, welche die qualitativ, zugrundeliegende Realität „akkurat“ reflektieren. Diese Lesart hält bedauerlicherweise einer genauen Lektüre des Textes nicht stand24. Verdinglichung bezieht sich nicht auf ein Problem von Abstraktion, von Quantität gegenüber einem qualitativen Substrat – es bezieht sich vielmehr auf eine undialektische Erstarrung von Formen als Dinge, die nicht verändert werden können. Dies wird sehr deutlich im zentralen Essay des Buches „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“. Hier präsentiert Lukács eine Interpretation von dem, was er „bürgerliche“ Philosophie nennt: die klassische deutsche Denkweise von Kant, Fichte und Hegel. Er identifiziert die erkenntnistheoretische Hauptbeschäftigung solcher Philosophie: Sie beginnt mit der Trennung von Subjekt und Objekt; demzufolge ist ihre zentrale Frage: Wie weit entsprechen unser Wissen und seine Formen einer Realität, welche außerhalb des Bewusstseins liegt? Lukács argumentiert, dieser epistemologische Standpunkt reduziere uns auf bloße Beobachter der Gesellschaft: Wir denken, dass es nur möglich sei, sie durch vorbestimmte Formen zu erfassen. Lukács‘ Problem ist nicht, dass diese Formen falsch seien – vielmehr ist es eben der Versuch Subjekt, Objekt und Bewusstsein voneinander zu trennen. Wir können genauer verstehen, was Lukács mit Verdinglichung meint, wenn wir uns genauer anschauen, wie er über die Partei spricht. In erster Linie dient die Partei nach Lukács als die institutionalisierte Form des proletarischen Klassenbewusstseins. Ohne eine Partei wäre solches Bewusstsein formlos und unmittelbar; das Proletariat muss seinem Selbst-Bewusstsein eine institutionalisierte Form geben, um es selbst richtig zu verstehen. Die Partei ist demzufolge die Form, die sich das revolutionäre Proletariat selbst gibt; die führenden Teile der Arbeiterklasse organisieren sich in einer Partei. Wie Lukács es ausdrückt: „Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; […] damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewußtsein gehoben werde“25.

Während eine blanquistische Partei dazu da wäre, den Arbeitern vorzugeben, was sie denken sollen, verkörpert die Partei nach Lukács das Proletariat in seinen organisatorischen Formen. Darüber hinaus sind diese Formen nicht nur eine Repräsentation von schon Vorhandenem – die mehr oder weniger akkurate Repräsentation eines zugrunde liegenden Substrats der Arbeit oder des Wesens. Vielmehr meint Lukács, dass die Partei der „Akt des Selbstbewusstwerdens“ des Proletariats sei. Nur dadurch, dass das Proletariat sich selbst eine Form gibt, wird es wirklich zur Klasse. Des Weiteren weisen die engen Verbindungen zwischen Form und Existenz, welche Lukács herstellt, darauf hin, wie Verdinglichung als Problem in der Organisation der Partei zurückkehren könnte. Obwohl taktische Anliegen in der Organisation eine Rolle spielen, sollte dies nicht in einer aufgezwungenen Form, im Namen der Notlage, resultieren. Viel eher ist es ausschlaggebend, dass die Formen aus der Selbstorganisation des Proletariats entstehen. Lukács schreibt, dass „das Entstehen der kommunistischen Partei nur das bewußt getane Werk der klassenbewußten Arbeiter sein kann“26. Deshalb ist Organisation auch keine einmalige Aktion: Lukács versucht nicht eine Reihe von (abstrakten, quantifizierbaren, kapitalistischen) Formen durch andere, „authentischere“, oder „qualitative“ Formen zu ersetzen. Dies zu tun, denkt er, würde die Rückkehr von Verdinglichung riskieren – welche er mit den Organisationsstrukturen von Parteiführung identifiziert. Für Lukács geht es nicht so sehr darum, was die Partei tut, sondern darum, welche Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe an der Formung ihrer Existenz sie den Proletariern liefert. Er schreibt: „[I]ndem die kommunistische Partei zu einer Welt der Tätigkeit für jedes ihrer Mitglieder wird, kann sie die Zuschauerrolle des bürgerlichen Menschen […] wirklich überwinden.”27

Lukács identifiziert die Partei als die praktische Überwindung von Verdinglichung. „[D]ie Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis.“28 Wie Luxemburg weist er eine blanquistische Partei zurück, welche die Kontrolle im Namen der Arbeiter übernimmt. Aber er geht weiter als Luxemburg und insistiert auf einer Art fließender institutionalisierter Form für proletarisches Klassenbewusstsein, ohne welche dieses vage und uneffektiv sein würde. Ent-Verdinglichung ist demnach notwendigerweise praktisch – es meint bewusstes Engagement in Praktiken, welche der eigenen Existenz ihre Form verleihen. Die Partei ist praktisches Bewusstsein, die Verkörperung dieser Formen in einer Weise, die ihre Transformation erlauben. Obwohl Lukács‘ Darstellung sehr speziell auf den Umständen der industriellen Arbeiterklasse und der phänomenologischen Konstruktion des proletarischen Selbstbewusstseins beruht, denke ich, dass sein Konzept von ent-verdinglichender Praxis dazu dienen kann, progressive demokratische Organisation im Allgemeinen anzuregen. Sogar innerhalb gegenwärtiger sozialer und politischer Formen kann die Idee der Verdinglichung dazu von Nutzen sein, universalistische Diskurse über Rechte zu kritisieren, angefangen mit einem fixierten Standpunkt, welcher es unmöglich macht, die Grenzen von Staatsangehörigkeit oder Gruppenmitgliedschaft in vertretbarer Weise auszuhandeln. Grundlegender aber bietet Lukács‘ Partei ein Modell für soziale Aktion auf breiter Basis. Demokratisierung würde für Lukács eine umfassendere Beteiligung in der Gestaltung sozialer Beziehungen beinhalten, statt lediglich die Reformation rechtlicher und politischer Kategorien. Wir sollten soziale Formen durch die Idee von Praktiken verstehen – das heißt, durch strukturierte, wiederholte Interaktionen, welche eine bestimmte Signifikanz oder Bedeutung innerhalb der Totalität einer Kultur erlangen. Es sind diese Praktiken, die verdinglicht werden. Statt sie als Dinge zu sehen, die wir tun, Dinge, die nur dadurch Bedeutung erhalten, dass wir fortfahren, sie zu praktizieren, behandeln wir sie fälschlicherweise als fixiert und unveränderlich. Soziale Praktiken können nahezu als göttlich sanktioniert erscheinen. Alternativ könnten wir eine angeblich wissenschaftliche Theorie entwickeln, welche diese Praktiken in Kategorien einer ewigen, unabänderlichen Menschennatur erklärt, welche sich unvermeidlich in spezifischen sozialen Formen entwickelt. Ent-Verdinglichung würde eine bewusste Transformation dieser Praktiken beinhalten: Wir sollten, würde Lukács argumentieren, unsere Praktiken als Dinge behandeln, welche wir den Umständen anpassen können. Wir können soziale Formen nicht beliebig aus dem Nichts heraus neu erschaffen – gleichzeitig aber können wir sie, durch Anerkennen dieser Formen als Praktiken, als Dinge, die wir tun, für kontinuierliche Transformation öffnen.

Auf die Anregung von Sourayan Mookerjea hin möchte ich beispielhaft auf „Alter- Globalisierung“ als ein Modell verweisen. „Alter-Globalisierer“ heißen die globale Interaktion und Kooperation, die die aktuelle Entwicklung generiert, willkommen. Allerdings lehnen sie neoliberale Ideen ab, nach welchen sich eine solche Entwicklung nur auf eine Weise vollziehen könne, determiniert durch wissenschaftlich erklärbare ökonomische Prozesse. „Alter-Globalisierung“ versucht deswegen, alternative soziale Praktiken zu entwickeln, die sich an einer positiven Neudefinition sozialer Interaktion orientieren, nicht der gedankenlosen Ablehnung von Internationalismus. Lukács‘ Parteimodell deutet auch darauf hin, auf welche Weise diese Aktivität umgesetzt werden muss: Es muss eine Graswurzelbewegung mit bewusstem Bezug auf das Problem der eigenen Organisierung sein. Das heißt, emanzipatorische Bewegungen sollten sich nicht als instrumentell zur Erreichung eines spezifischen Zwecks verstehen; stattdessen müssen sie einen großen Teil ihrer Energie auf sich selber und die Gestaltung der Verfahren lenken, die sie als Organisation zusammenhalten. Dadurch liefern sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu der Art ent-verdinglichender Praxis zu gelangen, welche Lukács anstrebt. Um es zusammenzufassen: Lukács‘ Verständnis der revolutionären Partei zielt auf das Einlösen einiger emanzipatorischer Ziele aus Marx‘ Zur Judenfrage. Statt eines zentralisierten Kaders professioneller Führer gestaltet sich Lukács‘ Partei nach dem Luxemburg‘schen Anspruch einer  Basis-Selbstorganisation. Indem Lukács die Partei als die bewusste Form sozialer Beziehungen interpretiert, verweist er auf die Bedeutung einer objektiven Darstellung unserer Praxis, wenn wir unsere soziale Existenz richtig verstehen wollen. Aber er deutet auch auf eine neue Definition von Praxis hin. Eben der Akt der Selbstorganisation oder das bewusste Verändern der Praktiken, die unsere soziale und kulturelle Totalität bilden, ist für Lukács das Wesen revolutionärer Praxis. Wenn wir bestimmte Arten der Interaktion als ewig und unveränderlich akzeptieren, unterliegen wir der Verdinglichung. Nur durch den kontinuierlichen Kampf gegen das Erstarren unserer Praktiken zu unveränderlichen Formen können wir hoffen, emanzipiert zu werden.

Chris Cutrone

ADORNOS „LENINISMUS“

Die politischen Ursprünge der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sind aus verschiedenen Gründen unklar geblieben, nicht zuletzt wegen des diesbezüglich wortkargen Charakters der wichtigsten Schriften ihrer Vertreter. Die Motivation für solche Zurückhaltung seitens dieser Theoretiker ist selbst schon erklärungsbedürftig: Warum sie Selbstzensur betrieben, ihre Ideen verschlüsselten und sich darauf beschränkten, Theorie als „Flaschenpost“ ohne unmittelbaren oder bestimmten Adressaten zu schreiben. Wie Horkheimer es formulierte, bestand die Gefahr, „die Haltung eines Orakels“ einzunehmen; er fragte einfach: „Wem soll man’s sagen?“ (S. 53). Es lag nicht bloß am Exil in Amerika während der Nazi-Ära oder an der Zwangslage des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Manche ihrer Ideen wurden explizit genug ausgedrückt. Vielmehr hat der Zusammenbruch der marxistischen Linken, in dem das Denken der Kritischen Theoretiker geformt worden war, infolge der Oktoberrevolution 1917 in Russland und der Revolution und des Bürgerkriegs in Deutschland 1918–19 ihre Perspektive auf politische Möglichkeiten in ihrem historischen Moment tief beeinflusst. Die Frage ist, inwiefern das Marxismus war.

Eine Reihe von Gesprächen zwischen Horkheimer und Adorno aus dem Jahr 1956, am Höhepunkt des Kalten Krieges, gibt Einblick in ihr Denken und darin, wie sie ihre Situation im Verlauf der Entwicklung des Marxismus im 20. Jahrhundert verstanden. Eine Auswahl aus dem Transkript wurde vor kurzem in der New Left Review (2010) unter dem Titel „Towards a New Manifesto?“ veröffentlicht. Die deutsche Veröffentlichung des vollständigen Transkripts läuft unter dem Titel „Diskussion über Theorie und Praxis“ und in ihrer Diskussion spielte tatsächlich die Überlegung eine Rolle, das Kommunistische Manifest im Lichte der geschichtlichen Veränderungen neu zu schreiben. Innerhalb einiger Jahre nach diesem Gespräch begann Adorno seine Arbeit an einer Kritik des Godesberger Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die 1959 den Marxismus offiziell aufgab, brach dieses an Marx’ gefeierter Kritik des Gothaer Programms, das 1875 die SPD begründet hatte, modellierte Projekt aber ab. Besonders Adorno, aber auch Horkheimer, befassten sich also noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv mit der Frage einer Fortsetzung des Projekts Marxismus. In ihren Gesprächen bekundet Adorno sein Interesse, eine Neufassung des Kommunistischen Manifests im, wie er sagt, „[s]treng leninistische[ n]“ Sinne zu schreiben. Horkheimer lehnte dies nicht ab, sondern wies nur darauf hin, man könnte ein solches Dokument, das fordert, was er die „Wiederherstellung einer sozialistischen Partei“ nennt, „in Rußland […] nicht verbreiten“, während es „in USA und Deutschland […] keinen Wert“ hätte. Nichtsdestotrotz meinte Horkheimer, es sei notwendig aufzuzeigen, „warum man Kommunist sein kann und die Russen verachten“. Wie Horkheimer es ganz einfach formulierte: „Theorie ist gleichsam eines der Instrumente des Menschen“ (S. 66). Daher stellten sie sich die Aufgabe, zu versuchen, den Marxismus fortzuführen, wenn auch nur als „Theorie“. Nun ist es genau diese scheinbare Abwendung von politischer Praxis und der Rückzug in die Theorie, die viele Kommentatoren dazu bewog, der Frankfurter Schule zu unterstellen, sie hätten den Marxismus aufgegeben. Zum Beispiel beschrieben Martin Jay, in Dialektische Phantasie29, und Phil Slater, der in seinem Buch eine „marxistische Interpretation“ der Frankfurter Schule anbietet30, die Angelegenheit so: Marxismus sei nicht dafür vorgesehen, als bloße Theorie zu existieren, sondern müsse mit Praxis verbunden sein. Doch mit diesem Problem war das Frankfurter Institut nicht erst im Exil konfrontiert, nachdem man zum Beispiel gezwungen war, die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Marx-Engels Institut aufzugeben – gleichermaßen eine Folge des Stalinismus wie des Nationalsozialismus. Vielmehr verwies es auf das, was Karl Korsch, ein Mitbegründer des Instituts, 1923 schrieb: dass die Krise des Marxismus – das heißt die Probleme, welche sich bereits in der Ära der Zweiten Internationale im späten 19. Jahrhundert manifestiert hatten (der sogenannte „Revisionismusstreit“) und in ihrem Zusammenbruch und ihrer Spaltung im Ersten Weltkrieg und den folgenden Revolutionen kulminierten – bedeutete, dass die „Nabelschnur“ zwischen Theorie und Praxis bereits „zerrissen“ worden war. Der Marxismus bedurfte, gleichermaßen in Theorie und Praxis, einer Transformation, doch diese Transformation konnte nur als eine Funktion nicht nur von Praxis, sondern auch von Theorie erfolgen. Beide erlitten dasselbe Schicksal. Sowohl für Korsch wie auch für Georg Lukács standen in ihren 1923 verfassten, für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule grundlegenden Schriften Lenin und Rosa Luxemburg exemplarisch für den Versuch, marxistische Theorie und Praxis zu reartikulieren.

Besonders Lenin, den Lukács als „Theoretiker der Praxis” bezeichnete, lieferte einen, tatsächlich den ausschlaggebenden Schlüssel in Bezug auf politische Aktion und theoretisches Selbstverständnis für das Problem, mit dem der Marxismus in diesem historischen Moment konfrontiert war. Wie Adorno bemerkt: „Ich wollte immer […] eine Theorie“ entwickeln, „die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt“ (S. 69). So stellt sich die Frage: In welcher Weise soll ihnen „die Treue“ gehalten werden? Verschiedene Aussagen in zwei Schriften von Horkheimers und Adornos Kollegen Herbert Marcuse, seine „33 Thesen“ von 1947, und sein Buch Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus von 1958, können dabei helfen, Licht darauf zu werfen, wie die Angehörigen der Frankfurter Schule zur Politik des „Kommunismus“, insbesondere von Lenin, standen. Außerdem explizieren verschiedene Briefe von Adorno an Horkheimer und Benjamin in den späten 1930ern Adornos positive Einstellung Lenin gegenüber. Schließlich formulieren Schriften aus Adornos letztem Jahr, 1969, die „Marginalien zu Theorie und Praxis“ und „Resignation“, den Inhalt seines „Leninismus“ im Lichte seiner Kritik der Neuen Linken der 1960er neu und spezifizieren ihn weiter. Die Herausforderung ist, solchen „Leninismus“ zu erkennen, der ansonsten obskur oder eigentümlich erscheinen mag, aber in Wirklichkeit auf die Politik des frühen 20. Jahrhunderts zurückverweist, die Adorno und seine Kohorte nachhaltig prägte. Dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine solche Perspektive im späteren Abschnitt von Adornos Leben hatte. Wie hat ein solcher „Leninismus“ unter veränderten Bedingungen seinen Einfluss derart bewahrt, dass Adorno ihn bis zum Ende seines Lebens kritisch zur Anwendung bringen konnte? Außerdem: Was könnte Adornos Perspektive auf „Leninismus“ über Lenin selbst aussagen? Warum und inwiefern blieb Adorno ein Marxist und welche Rolle spielte Lenin dabei?

Eine deutliche Erklärung für Adornos „Leninismus“ war die Wichtigkeit des Bewusstseins in Adornos Einschätzung des Potenzials für emanzipatorische soziale Veränderung. Zum Beispiel schrieb Adorno in einem Brief an Horkheimer, in dem er sich kritisch über Erich Fromms humaneren Zugang zur Freud’schen Psychoanalyse äußerte, Fromm zeige “eine Mischung aus Sozialdemokratie und Anarchismus, vor allem ein empfindlicher Mangel an dialektischem Begriff. Er macht es sich mit dem Begriff der Autorität zu leicht, ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen.“31 Adorno dachte, dass Fromm so drohte, etwas, was er den „Dreh, den die bürgerlichen Individualisten gegen Marx haben“ nannte, anzuwenden und schrieb an Horkheimer, er betrachtete dies als eine “wirkliche Bedrohung der Linie der Zeitschrift”32. Doch die politische Rolle einer intellektuellen, theoretisch sachkundigen „Avantgarde“ unterliegt der üblichen Kritik, dass der Leninismus dazu tendiert, soziale Emanzipation repressiv zu beherrschen anstatt kritisch zu fördern. Eine kompliziertere Auffassung der Rolle des Bewusstseins in der historischen Transformation der Gesellschaft kann in Adornos Briefverkehr über Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1936 gefunden werden. Dort lobt Adorno Benjamins Werk dafür, dass es eine Darstellung der Beziehung der Intellektuellen zu den Arbeitern im Sinne Lenins liefere. Wie Adorno es in seinem Brief an Benjamin formulierte, ist das Proletariat

„selber bürgerlich produziert […] [D]as tatsächliche Bewußtsein der tatsächlichen Proletarier [hat] vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraus […] außer dem Interesse an der Revolution, [trägt] sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters […] Es ist kein bürgerlicher Idealismus, wenn man erkennend und ohne Erkenntnisverbote dem Proletariat die Solidarität hält, anstatt daß man, wie es immer wieder unsere Versuchung ist, aus der eigenen Not eine Tugend des Proletariats macht, das selber die gleiche Not hat und unserer Erkenntnis so gut bedarf wie wir des Proletariats bedürfen, damit die Revolution gemacht werden kann. Von dieser Rechenschaft über das Verhältnis der Intellektuellen vom Proletariat hängt nach meiner Überzeugung wesentlich die weitere Formulierung der ästhetischen Debatte ab, für die Sie eine so großartige Inauguraladresse geliefert haben. […] [Ihr Essay zählt] zu dem tiefsten und mächtigsten an politischer Theorie […], das mir begegnet ist, seit ich [Lenins] Staat und Revolution las.“33

Wahrscheinlich dachte Adorno auch an Lenins Was tun? oder an Der ‚Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus. Im ersteren führte Lenin die berühmt(-berüchtigt) e Unterscheidung zwischen „trade-unionistischem“ und „sozialistischem Bewusstsein“ ein. Aber im letzteren beschrieb Lenin die fortdauernden „bürgerlichen“ sozialen Bedingungen intellektueller Arbeit per se, welche die proletarisch sozialistische Revolution lange überleben würden, ja sogar (Aussagen aus Was tun? wiederholend) dass die Arbeiter durch die bloße Aktivität der intellektuellen Arbeit (wie zum Beispiel Journalismus oder Kunstproduktion), einschließlich und vielleicht insbesondere in ihrer Aktivität als politische Kader der Kommunistischen Partei, voll und ganz „bürgerlich“ geworden waren. Die politische Revolution der Arbeiter bedeutete für Lenin eine im Wesentlichen bürgerlich bleibende Gesellschaft zu regieren. Die Revolution würde die Arbeiter sozusagen erstmals vollkommen bürgerlich machen, was die Vorbedingung dafür wäre, die Gesellschaft über die bürgerlichen Bedingungen hinaus zu führen.34 Sie wäre ein Moment, der nächste notwendige Schritt in der Selbstüberwindung der Arbeiter, in der emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft im Kapital, durch es hindurch und über es hinaus. Wie die Arbeiterbewegung selbst war der Marxismus diesem Prozess nicht äußerlich, sondern immanent. Adorno, im Gespräch mit Horkheimer, formulierte es so: „Man könnte sagen, Marx und Hegel haben gelehrt, daß es nicht abstrakte Ideale gibt, sondern daß das Ideal immer im nächsten Schritt liegt, daß das Ganze nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch den nächsten Schritt zu haben ist“ (S. 62).

Lukács hatte in einer Fußnote in seinem 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein erschienenen Essay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ dasselbe über Lenin bemerkt: „Es ist Lenins Verdienst, diese Seite des Marxismus, die den Weg zum Bewußtwerden seines praktischen Kerns weist, wieder entdeckt zu haben. Seine immer wiederholte Mahnung, jenes ‚nächste Glied’ der Entwicklungskette mit voller Wucht anzufassen, an dem im gegebenen Augenblick das Schicksal der Totalität hängt, sein Beiseiteschieben aller utopischen Forderungen, also sein ‚Relativismus’, seine ‚Realpolitik’ bedeuten eben das Aktuell- und Praktischwerden der Feuerbach-Thesen des jungen Marx.“35 In der sich anbahnenden Revolution 1917 bis 1919 in Russland, Deutschland, Ungarn und Italien wurde eine solche Politik der sozialistischen Transformation der Gesellschaft nicht ganz erreicht, sondern abgeschnitten. 30 Jahre später, im Kontext des beginnenden Kalten Krieges nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg, unternahm Marcuse in seinen „33 Thesen“ den Versuch, das Vermächtnis der Krise des Marxismus und der gescheiterten Revolution kritisch zu bewerten36:

[These 3]: „[D]ie orthodox marxistische Lehre […] ohne Kompromiß zu vertreten [wäre] [v]or der politischen Wirklichkeit […] ohnmächtig, abstrakt, unpolitisch, aber wo die politische Wirklichkeit als ganzes falsch ist, mag die unpolitische Haltung die einzige politische Wahrheit sein.“

[These 32]: „Während die Gewerkschaften in ihrer traditionellen Struktur und Organisation eine revolutionsfeindliche Kraft darstellen, bleibt die politische Arbeiterpartei das notwendige Subjekt der Revolution. In der ursprünglichen Marxschen Konzeption spielt die Partei keine entscheidende Rolle. Marx nahm an, daß das Proletariat von sich aus, in Erkenntnis seiner eigenen Interessen zum revolutionären Handeln getrieben wird, sobald die revolutionären Bedingungen gegeben seien. […] Die Entwicklung hat [inzwischen] die Richtigkeit der Leninschen Konzeption von der avantgardistischen Partei als dem Subjekt der Revolution bestätigt. Es ist wahr, daß die kommunistischen Parteien heute nicht dieses Subjekt sind, aber es ist ebenso wahr, daß nur sie es werden können. Nur in der Theorie der kommunistischen Parteien ist noch die Erinnerung an die revolutionäre Tradition lebendig, die wieder zur Erinnerung an das revolutionäre Ziel werden kann […]“

[These 33]: „Die politische Aufgabe würde dann darin bestehen, in den kommunistischen Parteien die revolutionäre Tradition wiederherzustellen.“ Wie Marcuse es 1958 in Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus formulierte: „[W]ährend der Revolution wurde deutlich, wie sehr es Lenin gelungen war, seine Strategie auf den tatsächlichen Klasseninteressen und Bestrebungen der Arbeiter und Bauern aufzubauen. […] Von 1923 an sind dann die Entscheidungen der Führung in wachsendem Maße von den Klasseninteressen des Proletariats abgetrennt worden. Sie setzen das Proletariat nicht mehr als ein revolutionäres Agens voraus, sondern werden dem Proletariat und der übrigen Bevölkerung auferlegt.“37

Im Gespräch mit Horkheimer 1956, in einer in der New Left Review-Übersetzung nicht enthaltenen Passage mit dem Titel „Individualismus“, thematisierte Adorno das Problem der sozial konstituierten Subjektivität, von dem er dachte, dass Lenin es gründlicher behandelt hatte als Marx: „Marx war zu harmlos, er hat sich wahrscheinlich naiv vorgestellt, daß die Menschen im Grunde wesentlich identisch sind und bleiben. Daß es dann gut wird, wenn man nur die schlechte zweite Natur von ihnen nimmt. Er hat sich nicht um die Subjektivität gekümmert, er wollte das nicht so genau wissen. Daß die Menschen bis ins Innerste Produkte der Gesellschaft sind, würde er als eine Milieutheorie abgelehnt haben. Das hat erst Lenin zum ersten Mal angesprochen“ (S. 71). Für Adorno bedeutete dies, dass der Kampf zur Überwindung der Herrschaft des Kapitals über die Gesellschaft nicht bloß der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten war, sondern darüber hinausging. Es ging nicht nur um ihre Ausbeutung. Die sozialen Subjekte waren nämlich nicht bloß Produkte ihrer Klassenposition, sondern vielmehr determinierte die bürgerliche Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals alle ihre Subjekte in einem historischen Zusammenhang der Unfreiheit. Klassenpositionen waren lediglich ein Ausdruck der Struktur dieser universalen Unfreiheit. So schrieb Horkheimer in „Der kleine Mann und die Philosophie der Freiheit“:

“Im Sozialismus soll die Freiheit verwirklicht werden. Die Vorstellungen darüber pflegen um so weniger klar zu sein, als doch das gegenwärtige System den Namen der „Freiheit“ trägt und als liberales angesehen wird.” “Der Geschäftsmann ist von Gesetzen abhängig, die weder er noch irgendein anderer, noch eine von den Menschen hierzu beauftragte Macht mit Wissen und Willen entworfen hat, Gesetzen, deren sich zwar die großen Kapitalisten und vielleicht er selbst geschickt bedienen, deren Existenz aber als Tatsache hinzunehmen ist. Gute und schlechte Konjunktur, Inflation, Kriege, aber weiter auch die auf Grund der gegebenen Gesellschaftslage erforderlichen Eigenschaften von Dingen und Menschen werden durch solche Gesetze, durch die anonyme gesellschaftliche Realität bedingt. ”

“Die bürgerliche Denkweise nimmt diese Wirklichkeit als übermenschlich hin. Sie fetischisiert den gesellschaftlichen Prozeß.” “Der Fehler liegt […] keineswegs darin, daß die Menschen das Subjekt nicht erkennen, sondern darin, daß es nicht existiert. Es kommt darauf an, diesem freien, das gesellschaftliche Leben bewußt gestaltenden Subjekt zur Existenz zu verhelfen: dieses selbst ist nichts anderes als die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft. […] Für jenen kleinen Mann aber, dem die Bitte um Anstellung mit dem Hinweis auf die objektiven Verhältnisse abgeschlagen wird, ist es […] überaus wichtig, daß der Ursprung dieser objektiven Verhältnisse ans Licht gebracht werde, damit sie ihm selbst nicht so ungünstig bleiben. Nicht bloß seine eigene Unfreiheit, sondern auch die der anderen wird ihm zum Verhängnis. Sein Interesse weist ihn auf die marxistische Erhellung des Begriffs der Freiheit.”38

Im Verlauf des Marxismus im 20. Jahrhundert wurde eine solche Erhellung dessen, was eine progressiv-emanzipatorische Herangehensweise an das Problem des Kapitals konstituieren würde, abgeschnitten. Daher wurde es zunehmend schwierig, die „Ursprünge“ der fortdauernden sozialen Bedingungen der Unfreiheit „ans Tageslicht zu bringen“. In vielerlei Hinsicht war die Krise des Marxismus als eine Funktion der revolutionären Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, sondern verstärkt, wodurch sich die Krise der Menschheit vertiefte: Die Kritischen Theoretiker des Frankfurter Instituts waren sich der Tatsache wohl bewusst, dass der Faschismus als historisches Phänomen eine Folge des Scheiterns des Marxismus war. Der Faschismus war der missratene Sprössling der Geschichte des Marxismus selbst. Ein Jahrzehnt nach 1917 schrieb Horkheimer in einer Passage mit dem Titel „Indikationen:”

„Der moralische Charakter der Menschen ist mit Sicherheit aus Antworten auf bestimmte Fragen zu erkennen. […] Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Rußland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie dort die Dinge liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert; zweifellos gibt es viel Elend. […] Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Rußland als den fortgesetzten schmerzlichen Versuch betrachten, diese furchtbare gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird wenigstens klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauere. Wenn der Schein dagegen spräche, klammerte er sich an die Hoffnung wie ein Krebskranker an die fragwürdige Nachricht, daß das Mittel gegen seine Krankheit wahrscheinlich gefunden sei. Als Kant die ersten Nachrichten über die Französische Revolution bekam, soll er seinen gewohnten Spaziergang von da an geändert haben.“39

Trotz allem, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zutrug, änderten Horkheimer und Adorno nie ihren Kurs. Sind wir schon bereit ihre Flaschenpost zu empfangen?

Antworten

Nicholas Brown: Es scheint mir, als ob die drei Vorträge im Grunde die gleiche Frage aufwerfen – wenn auch nicht explizit. Diese werde ich also nun stellen. Ich gebe zu, dass ich den Dialog von Adorno und Horkheimer nie fertig gelesen habe, gerade wegen des Beckett’schen Beigeschmacks. Sie haben es hier offenkundig mit einer Unmöglichkeit zu tun: Nämlich zu fragen, wie Lenin in Abwesenheit einer Partei die Treue gehalten werden kann; in Abwesenheit einer Partei, der man sich anschließen könnte und ohne einen Begriff einer Partei, der angemessen wäre. Natürlich stellt sich dann die Frage: Was tun, wenn nichts getan werden kann? Es gibt eine tragische Version davon in der Negativen Dialektik, in der Adorno wissentlich seine Auseinandersetzung mit den Stoikern anführt und seine eigen:e Position als im Wesentlichen stoisch einordnet, obgleich er besser – oder zumindest genauso gut – wie jeder andere weiß, dass die gesamte ethische Kraft der Phänomenologie des Geistes, deren Erbe Marx ist, die Unmöglichkeit oder Komplizenschaft der stoischen Position bedeutet. Die Selbstbezogenheit ihrer Sprache ist dem ähnlich, was in der Phänomenologie des Geistes das unglückliche Bewusstsein ist, das genau aus dem gleichen Grund wie Adorno oszilliert, denn ihr unglückliches Bewusstsein ist nicht imstande – in den Worten von Chris, der Lukács zitierte – die nächste Stufe zu erreichen, da es keine nächste Stufe gibt; und dies wiederum ist das Problem der Partei.

Dies führt uns also zur Frage der „Partei“ bei Lukács. Meine Frage an Andrew lautet: Was können wir tun – was ist zu tun – ohne eine Partei? Du scheinst der Meinung zu sein, dass Marcuse hierzu eine Antwort liefert. Richard hat gezeigt, dass „die Partei“ für Lukács nicht so sehr notwendigerweise ein Ding ist als ein Begriff. Die Partei ist dasjenige, das zwischen dem Subjekt in der Geschichte vermittelt. Sobald wir Epistemologie ablehnen, sobald wir Ontologie ablehnen, sobald wir Kant ablehnen, sobald wir Repräsentation – sowohl als philosophisches wie als politisches Konzept – ablehnen, befinden wir uns in diesem Hegel’schen Universum, und hier wird es gewissermaßen unsere Pflicht, „die Partei“, „den nächsten Schritt“ oder „eine Vermittlung“ zu finden. Es ist diese Pflicht, die Adorno nicht erfüllen konnte, und dies ist sowohl die Komik wie auch die Tragik bei Adorno. Meine Frage zielt also in die gleiche Richtung: Wie ist der philosophische Begriff der Partei heutzutage beschaffen? Deine Antwort klingt wie eine Art autonome, Negri’sche Antwort, die mir als eine nicht zufriedenstellende Lösung erscheint, da auch auf Hardt und Negri noch Hegel wartet; das Subjekt ist eine Fiktion, aber nichtsdestotrotz eine notwendige Fiktion – eher als eine Partei notwendig ist. Chris, es scheint so, dass es bei Marx, Lukács und sicherlich bei Adorno und Marcuse eine unaufgelöste Spannung zwischen dem Konzept universeller Unfreiheit und dem Begriff der Ausbeutung gibt. Letzterer hat in unserem gegenwärtigen Moment mit Fragilität zu tun und damit, wer vor dem Sturm der Geschichte geschützt ist und wer nicht, und dies ist nicht genau die gleiche Frage wie universelle Unfreiheit und Un-Entfremdung. Der Begriff der Un-Entfremdung, die romantische Seite der Eruptionen bei Marx, Lukács und der Frankfurter Schule, scheint zu verschwinden, um der eher nüchternen Emphase auf Ausbeutung zu weichen. Wenn das Ideal für die Frankfurter Schule der nächste Schritt oder das nächste Glied in der Kette war, was bedeutet diese Hegel’sche Idee in der Gegenwart? 

AF: Was ich an Marcuse mag, ist, dass er in der Lage war, zwei Dinge auseinanderzuhalten, die für Marx, Lukács und Lenin wesentlich verbunden waren. Eines dieser Dinge war das Subjekt der Revolution, das andere die Kraft, die fähig ist, zumindest einen kleinen Teil sozialer Realität zu ent-verdinglichen. In der traditionellen marxistischen Konzeption waren die Arbeiter diejenigen, die ent-verdinglichen, indem die sich weigern, sich passiv den Formen zu fügen, die ihr Leben bestimmen. Es waren ebenso die Arbeiter, die die neue Gesellschaft errichten. Für Marcuse gibt es das Eine ohne das Andere. Man kann ent-verdinglichende Handlungen haben, seine Solidarität damit ausdrücken, sie theoretisch artikulieren, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese Handlungen in der Lage sein werden, die Gesellschaft zu überwinden und eine neue aufzubauen. Nach dem Mai 1968 in Frankreich wurde es klar, dass eine geschichtlich neue Form der Opposition in Erscheinung getreten ist. Daher glaube ich, dass er recht hatte, Marx‘ Theorie mit dieser Opposition zu verknüpfen. Ich bin der Ansicht, dass das immer noch eine wichtige Alternative zur Verzweiflung Adornos und Horkheimers darstellt, oder – umgekehrt – zum Versuch eine traditionelle marxistisch-proletarische Partei wiederzubeleben.

RW: Meine Antwort auf Was tun? ist, dass es nicht unsere Aufgabe ist, das zu sagen. Ich denke, das wäre Lukács‘ Antwort. Die Partei, oder irgendeine andere Form der Organisation, sollte meines Erachtens nicht als Instrument, sondern eher als die Möglichkeit gesehen werden, durch welche viele Willen zwar nicht notwendigerweise zu einem solchen werden, aber von sich immerhin als vereint zu denken lernen. Nicht so sehr in Bezug auf die spezifischen Entscheidungen, durch welche sie zur praktischen Handlung werden, sondern vielmehr wegen der Selbstorganisation, der institutionellen Formen, die sie sich selbst geben. Ich denke, dass Lukács‘ Kritik an Hegel und der bürgerlichen Philosophie überhaupt von der Idee eines Subjekts herrührt; der Idee, dass wir unsere Tätigkeit als ein auf die Welt einwirkendes und sich wahrnehmendes Subjekt auffassen. Was er in der Partei sieht, ist das Seiende, wenn ich diesen ontologisch verdinglichenden Begriff benutzen darf, das Seiende, das insoweit ein Subjekt ist, als es sich selber durch seine Organisationsformen objektiv manifestiert. Das ist geringfügig anders, als die Partei als Agenten zu verstehen.

CC: Worüber wir diskutieren ist politische Form. Mit anderen Worten: Die Partei ist eine Form. Wir sprechen über die Partei als Vermittlung: die Vermittlung von Theorie und Praxis, eine Vermittlung von Subjekt- und Objektpositionen. Bezüglich der Vorstellung des hegelianischen Ideals nächstem Schritt für Horkheimer und Adorno würde ich ,spekulativ und nicht wörtlich gemeint, etwas anführen: Andrew hob die fundamentale Ambiguität des späten Marx in Bezug auf sein Verständnis von Philosophie als junger Mann hervor. Ich würde allerdings sagen, dass die Frage der Vermittlung in seinem Werk immer wieder auftaucht. Die Kritik der politischen Ökonomie ist nicht bloß eine Analyse „bürgerlicher“ Formen, sondern eher eine Analyse und Kritik des aufkommenden Bewusstseins der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung übernahm die politische Ökonomie, kritisches bürgerliches Bewusstsein, allerdings erst zu einer Zeit, als das Denken der Bourgeoisie selbst vulgär geworden war. Marx lobt Adam Smith dafür, dass er bereit war, die Gesellschaft als in sich widersprüchlich darzustellen. Ich würde also die Frage nach dem nächsten Schritt in Bezug zur Frage der Kritik des Kapitals setzen. Wie ließe sich dann Marx’ eigene politische Praxis mit seiner theoretischen Kritik des Kapitals reartikulieren? Diese stellte den hegelianischen Versuch dar, für Kämpferinnen und Kämpfer der Arbeiterklasse, die in ihrer politischen Praxis infolge der Revolutionen von 1848 auf sehr konkrete Hindernisse gestoßen waren, soziale Form auf das Niveau des Selbstbewusstseins zu heben. Wenn man so will, haben sich Intellektuelle und Arbeiter in Bezug auf die Frage nach ihrem Zusammenwirken in der Kritik des Kapitals, um es in Adornos Worten zu sagen, „getroffen“. Nach den 1960er Jahren gab es eine Rückkehr zu Marx; in Bezug auf die Kritik des Kapitals gab es eine Rückkehr zum hegelianischen Marxismus. Wenn wir uns selbst als Intellektuelle bezeichnen, ist die entscheidende Frage, wie diese Ideen an Boden gewinnen können. Korsch sagte, dass die Krise des Marxismus die Nabelschnur zwischen Theorie und Praxis zu zerreißen droht; das bedeutet, die beiden sind zwei verschiedene Dinge. Anstelle der Liquidierung von Theorie und Praxis im Begriff der Form oder Partei würde ich eher die Vermittlung im Begriff der Form hervorheben.

Q & A

Wenn wir als Marxisten, Kommunisten oder Möchtegern-Radikale/- Revolutionäre nicht in der Position sind zu sprechen, so sollten wir fragen: Was wäre erforderlich, um uns in diejenigen zu verwandeln, die sprechen können? Wie können wir wie Lenin und Mao sprechen? Ich finde den Adorno-Horkheimer Dialog bemerkenswert; Horkheimer war sicher nicht der einzige, der Mao und Stalin für die Toten des Großen Sprungs nach vorn verantwortlich machte. Wieso haben Horkheimer und Adorno ihre Botschaft nicht nach China gesendet, anstatt sie als Flaschenpost aufzufassen und die eigentliche Revolution voreilig abzuschreiben?

RW: Es gibt kein Sprechverbot als solches. Aber es hängt davon ab, ob wir ex cathedra oder aus etwas anderem heraus sprechen. Ich bin mit Habermas einverstanden, wenn er darauf insistiert, dass wir uns, wenn wir über diese Dinge sprechen, mit allen anderen auf einer Augenhöhe treffen müssen. Eine Gefahr, die Lenin selbst bemerkte und auch in seinen letzten zornigen Briefen forderte, dass die Partei sich so weit wie möglich von den Sowjets fernhalten solle, war, dass sonst aller Wahrscheinlichkeit nach ehrliche Arbeiter und Bauern entweder eingeschüchtert wären oder mit Bewunderung auf die weisen Männer von Moskau schauten. Was wir tun sollten, um sprechen zu können, wäre folglich abzulehnen, was wir sind – wenn überhaupt. Ich denke, das ist immer die Gefahr, für jeden, der mit einem Abzeichen der Autorität spricht. Es führt zu der Art von Problem intellektueller Führung, das genau die Freiheit, welche Leute wie Marx im Auge hatten, ausgrenzt.

AF: Ich widerspreche dem! Es gibt keine unwissenden Bauern mehr. Diejenigen, die sich am lautesten jeglicher intellektueller Autorität widersetzten, sind selbst Intellektuelle. Also ist es einfach eine andere Theorie! Ich glaube nicht, dass es da irgendein Problem gibt. Es ist mehr eine Frage von „Gibt es jemanden, der zuhört?“, statt „Sind wir autoritär, unsere Meinung kundzutun?“ Das ist eine Schlussfolgerung, die ich aus den Kämpfen der guten alten Tage ziehe, als wir um die Frage von Autoritarismus stritten.

CC: Das Problem in Bezug auf die Selbsttransformation der Intellektuellen ist nicht wer spricht, sondern was gesagt wird. Ich würde eine andere Art von leninistischer Kategorie einführen, und zwar „Nachtrabpolitik”. Es gibt ein Problem in der Artikulation historischen Bewusstseins und empirischer Realitäten. Ich möchte auf ein von Andrew und Richard angesprochenes Problem zurückkommen, von dem ich denke, dass es in Bezug auf Verdinglichung sehr hilfreich war. Was Lukács mit Verdinglichung meinte, war die Zweite Internationale, die sozialistische Arbeiterbewegung, wie sie sich zu diesem historischen Zeitpunkt konstituiert hatte. Und deshalb sympathisierte Lukács mit Luxemburg, denn Luxemburg kritisiert diese Parteiform im Massenstreik-Pamphlet. Dort argumentiert sie, dass die Sozialdemokratie, ich würde sagen in einer Subjekt-Objekt Dialektik, der Arbeiterbewegung zum Hindernis geworden war: Historisch machte sich die Arbeiterbewegung selbst zu einem Objekt der Selbstkritik. Warum Horkheimer Angst vor China hatte, ist der offensichtliche „revolutionäre“ Erfolg dessen, was er und Adorno als konterrevolutionär betrachteten, nämlich des Stalinismus. Nachdem sie die 30er und die Umwandlung des Marxismus in den Stalinismus erlebt hatten, konnten sie es nur als Zeichen der Regression des Marxismus betrachten, dass der Stalinismus als der Marxismus der Nachkriegsperiode aufblühte. Nun gut, warum schickten sie ihre „Flaschenpost“ nicht an Intellektuelle in China? Weil das ein todsicherer Weg gewesen wäre, diese Intellektuellen sofort exekutieren zu lassen. Wir könnten ihre Äußerungen so lesen, dass sie prima facie eine anti-chinesische Befangenheit zeigen, doch da besteht eine Dialektik. Wenn Horkheimer sagt, nun ja, wie sieht es damit aus, dass zwar 20 Millionen Chinesen sterben werden, aber es danach keine verhungernden Chinesen mehr geben wird? Dann fragt er: „Was sollen wir darüber denken?“. Horkheimer und Adornos Gedanke war, dass eine Revolution, wie sie 1949 in China stattfand, nicht notwendig gewesen wäre, wenn sich die Revolution von 1917 nach Deutschland und darüber hinaus ausgebreitet hätte. Das war ihre Vorstellung von Emanzipation. Ihre Sorge war, dass die Bedingungen der Barbarei mit dem Kampf um Emanzipation verwechselt wurden.

NB: Zum Ort der Intellektuellen: Wenn es eine Massenbewegung gibt, ist die Situation des Intellektuellen sowohl deutlich einfacher also auch viel schwerer. Sie ist einfach, weil man weiß, was zu tun ist, aber das Projekt der Transformation, über das du geredet hast, ist schwierig. Das Problem, dem wir gegenüber stehen, ist ein anderes, nämlich dass es keine Massenbewegung gibt. Und insofern es eine gibt, ist sie vollkommen korrupt und rechts. Adorno stellt sich klar auf die Seite des Westens, also stellt sich die Frage gar nicht, Adorno für wirkliche chinesische Dissidenten verfügbar zu machen. Die Frage muss lauten: War es notwendig, dass Adorno sich so klar auf die Seite des Westens stellte und seine Verbindungen mit dem real existierenden Sozialismus so eindeutig abtrennte? Diese Frage ist ein wenig unklarer als diejenige, ob es sinnvoll gewesen wäre, chinesische Dissidenten die Adorno’sche Linie wiederholen zu lassen.

Kant forderte, dass wir insofern politisch denken sollen, als wir gezwungen sind, als Mitglieder der Gesellschaft eben diese zu kommentieren; wir sind verpflichtet, an der Entwicklung der Gesellschaft teilzuhaben. Lukács hatte die Einsicht, dass die Gesellschaft sich nur durch die Partei weiterentwickeln kann, weshalb die Frage der individuellen Verantwortung in der Geschichte gewissermaßen fehl am Platz ist. Allein die Partei, die die Fähigkeit hat, die Geschichte zu formen, ist verpflichtet, über Geschichte nachzudenken. Könnte es sein, dass die Auffassung der Partei von Lenin und Luxemburg davon beeinflusst ist? Wenn Luxemburg über die Abstimmung über die Kriegskredite im Reichstag besorgt ist, betrifft diese Sorge den Niedergang der Partei und das Bedürfnis, diese zu rekonfigurieren, um die Geschichte zu beeinflussen?

RW: Ich stimme nicht zu. Lukács denkt nicht, dass die Partei die Geschichte ändern kann, sondern die Klasse. Die Partei bringt die Klasse zustande. Die Partei mag der Anfangspunkt sein, aber sie ist ausdrücklich nicht der Endpunkt. Zu sagen, die Partei verändere unmittelbar die Geschichte, würde ihr die Art von heroischer Rolle zuschreiben, welche Lukács abzuwenden versucht.

CC: Ich würde sagen, dass die politische Partei oder die Agentur der politischen Vermittlung nicht selbst die Gesellschaft befreien kann. Allerdings kann sie einer solchen Emanzipation definitiv im Wege stehen, sodass man von ihr nur negativ denken kann. Die Wichtigkeit der Partei hängt vom Problem des historischen Bewusstseins ab. Wo ich folglich mehr mit Luxemburgs Kritik an der SPD ihren politischen Zusammenbruch betreffend übereinstimme, ist ihr Vorwurf, dass die Partei im negativen Sinne für die Geschichte verantwortlich ist. Sie sagt, dass die Partei einen Anteil daran hatte, die Geschichte in diese Krisensituation zu bringen, und dass der Partei, als Agentur der politischen Vermittlung, auch die Aufgabe zukommt, die Form, wie sie politische Handlungsfähigkeit vermittelt, selbst zu überwinden.

Zunächst: Ich kann den durch Adorno und Lukács vermittelten Lenin im Vergleich zu dem Lenin der Gesammelten Werke überhaupt nicht wiederkennen. Doch ich erkenne, dass das, was Adorno und Lukács als Lenin beschreiben, die Resolutionen des Zweiten und Dritten Kongresses der Komintern über die Rolle der politischen Partei in der proletarischen Revolution sind. Beinhaltet dies nicht eine falsche Geschichte der bolschewistischen Partei? Eine Geschichte der bolschewistischen Partei, die den Charakter, den die bolschewistische Partei zwischen 1918 und 1921 unter den Bedingungen des Bürgerkrieges angenommen hat, auf die Vorgeschichte der bolschewistischen Partei vor 1917 projiziert? Zum Zweiten: Für Marx und Engels galt von den 1840er Jahren bis zu Engels’ Tod – mit einer kurzen Unterbrechung in der Ersten Internationale, als sie eine Allianz mit den Proudhonisten eingingen – durchgängig der Den Haager Kongress-Beschluss von 1871, dass “das Proletariat nur dann als Klasse handeln kann, wenn es sich selbst als besondre politische Partei konstituiert“. Inwiefern tragen die Versuche, Marx hegelianischer zu machen, diesem politischen Aspekt der Interventionen von Marx und Engels angemessen Rechnung?

CC: Vielleicht ist der Unterschied zwischen dem Lenin, den du erkennen würdest, und dem Lenin des offiziellen Leninismus der Komintern derselbe, den du dann zwischen Marx selbst (oder Marx und Engels) in seiner eigenen politischen Praxis und der Art von hegelianisiertem Marx, den du bei Lukács und Adorno findest, triffst. Lenin hat in der Geschichte des Marxismus einen spezifischen Beitrag geleistet, der nicht ignoriert werden kann: Er ist der große Schismatiker des Marxismus – er hat den Marxismus gespalten.40 Genau das verschafft ihm Adornos Anerkennung. Seine Sichtweise ist nicht die einer kleinen Avantgarde, sondern es geht um Politik in der Arbeiterklasse. Was Lenin in der Zweiten Internationale einführt, ist die Idee konkurrierender Arbeiterparteien, die alle behaupten, antikapitalistisch, revolutionär und marxistisch zu sein. Die Krise des Marxismus verweist auf die politischen Kontroversen innerhalb des Marxismus. Das zu leugnen bedeutet zu sagen, Politik sei nur „die Arbeiter gegen die Kapitalisten“ und nicht ein Phänomen innerhalb der Arbeiterklasse. Die kautskyanische Partei, die Idee „eine Klasse, eine Partei“, dass alle Arbeiter gegenüber den Kapitalisten das gleiche Interesse haben, und der Versuch die „Partei der ganzen Klasse“ zu sein, leugnet, dass zwischen Arbeitern und Marxisten verschiedener Parteien über den Inhalt politischer Emanzipation gestritten werden kann.

AF: Für mich sieht es so aus, als sei die Position Lenins nicht einfach aus der marxistischen Theorie erklärbar oder ableitbar. Was Leute wie Lukács um 1923 oder Gramsci in seinen Gefängnisheften machten, war der Versuch seine Praxis in Marxistischer Theorie zu verankern, um das fehlende Glied zu finden. Es gibt viele verschiedene Aussagen aus Lenins frühen Schriften, die nicht zu dem passen, was er tatsächlich gemacht hat. Aber er wusste, was er macht, und es war historisch entscheidend, wie Chris eben erklärt hat. Also konnte man die Frage getrennt davon stellen, ob er je nach historischer Faktenlage die marxistische Theorie richtig angewandt hat und das Richtige getan hat. Lukács hat erkannt, dass Lenin etwas historisch Bedeutendes getan hat, und hat versucht die Theorie so umzudeuten oder zu interpretieren, dass sie integriert, was er getan hat. Lukács hat einen bedeutenden theoretischen Fortschritt geleistet, indem er das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse, marxistischer Theorie und der Praxis der politischen Parteien, die die Arbeiter repräsentieren, verstanden hat; welche Verbindung es zwischen ihnen geben kann, die in einem ontologischen Verhältnis begründet ist, eines Verhältnisses zur Realität, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Weisen dieser verschiedener Momente der Bewegung geteilt wird. Das ist eine sehr bedeutende theoretische Idee, die man meiner Meinung nach nicht in Marx, Engels oder Lenin finden kann, die aber unabdingbar ist, wenn man verstehen will, was geschichtlich passiert ist.

RW: Lukács macht sehr deutlich, dass die Partei letztendlich zu einer massenbasierten Bewegung heranwachsen soll. Aber in der Zwischenzeit, wie er explizit im Essay zur Parteiorganisation darlegt, müssen alle verschiedenen Bereiche, alle verschiedenen Versuche darüber, was die Partei tun soll, sich organisatorische Formen geben. Er ist für ein breites, pluralistisches Sprießen von verschiedenen Praktiken, was, wie ich denke, die Idee einer einzelnen, vereinigten Avantgardepartei, untergräbt. Das riskiert möglicherweise radikales Sektierertum, verhindert aber aus Lukács‘ Perspektive immerhin Verdinglichung.

NB: Ob Lukács und Adorno Lenin richtig verstanden haben, ist nicht die gleiche Frage und ist sinnvoll von der Frage zu trennen, ob Lenin politisch nützlich war, und was heutzutage zu tun ist. Und zur Hegelianisierung von Marx: Man kann Marx nicht „hegelianisieren“, weil Marx hegelianischer als Hegel selbst ist!

Ich nehme an, dass die primäre Stoßrichtung der These, dass Adorno ein Leninist ist, diejenige ist, den Leninisten Adorno für das Projekt einer Rekonstitution der Linken zu verpflichten. Worin besteht der Nutzen des Leninisten Adorno?

CC: Adorno verpflichtete sich selbst zu einem leninistischen Projekt. Er sagt: „Ich will Lenin die Treue halten.“ Was bedeutet das? Er sagte das, als 99,99% der Leninisten in der Welt nicht zugestimmt hätten, dass Adorno Lenin in irgendeiner Weise die Treue hielt. Ich würde also das Problem umdrehen und sagen, dass ich mich für den Lenin interessiere, der durch Adorno sichtbar wird. Wenn Adorno sagt ein „[s]treng leninistisches Manifest“, ist das nicht gegen Luxemburg gerichtet. Es ist der Lukács‘sche Versuch zu erfassen, was die Radikalen der Zweiten Internationale gemein hatten. Warum bezeichnete Luxemburg sich selbst als Bolschewistin? In den letzten Monaten ihres Lebens schrieb sie ein Essay mit dem Titel „Was ist deutscher Bolschewismus?“ In anderen Worten, „Das ist es, was wir wollen. Warum gehören wir zu den Bolschewiki?“ Ihre Kritik war kameradschaftlich – das ist der Punkt. Ich bin also daran interessiert, wie diese Geschichte des Marxismus im Speziellen durch die Augen Adornos, durch die Augen Lukács’, durch die Augen Korschs aussieht; wir wären nachlässig, ihre Einsichten in diese Geschichte zu ignorieren.

AF: An diesem Punkt der Geschichte wissen wir so wenig über die opponierenden Kräfte, ihr Potenzial und woher sie als nächstes kommen könnten, dass wir nicht die theoretische Basis und die Grundlagen der praktischen Erfahrungen haben werden, die die sozialistische Bewegung hatte, als sie ihre Parteien gründete und entwickelte. Unter gegenwärtigen Bedingungen müssen wir Ausgangspunkte von Opposition und Spannungen finden, die sich um die verdinglichende Kraft von Institutionen herum erzeugen, wo auch immer sie in Erscheinung treten – auch wenn sie nicht politisch aussehen oder erscheinen. Wir würden vorschnell Dingen den Riegel vorschieben, wenn wir eine Theorie und Partei hätten, die Kämpfe lenken würde.

CC: Was ist mit der Partei gemeint? Einerseits würde die Bildung einer Partei in einer aus der Geschichte bekannten Art zum gegenwärtigen Zeitpunkt Möglichkeiten ausschließen. Andererseits habe ich Bedenken gegenüber dem Hardt-Negri-Moment, in dem wir uns in Hinblick auf die „Bewegungslinke“ befinden, die die Partei als den Weg zum Stalinismus sieht. Wenn wir sagen, dass die ältere sozialistische Bewegung historische Erfahrung gesammelt hat, dann müssen wir auch sagen, dass uns das eine Generation lang verweigert wurde. So bleibt uns zu sagen, „OK, so etwas wie eine Partei?“, um die Vorstellung von „Form“ zu erweitern. Worauf Richard in Bezug auf den Begriff der Form hinweist, ist sehr wichtig. Die Gefahr liegt darin, ihn zu weit zu fassen; in dem, was ich vorher als „Nachtrabpolitik“ bezeichnet habe: um zu rechtfertigen, was wir ohnehin schon tun. Das ist eine Gefahr, der ich auf der einen Seite widerstehen würde. Auf der anderen Seite stimme ich zu, dass der Versuch, eine Partei nach einem historischen Modell umzusetzen, überstürzt und zum Scheitern verurteilt wäre.

RW: Das institutionelle Gedächtnis einer Partei ist entscheidend; ich denke, dass seine Abwesenheit zu einem desaströsen Zusammenbruch fortschrittlichen Denkens geführt hat. Ich habe schon zuvor die Luxemburg’schen Elemente bei Lukács hervorgehoben. Hier kritisiert Lukács Luxemburg, zurecht, denn eine Partei kann dieses institutionelle Gedächtnis bilden. Zu Andrew: wir wissen nicht wirklich, welche Kräfte dort sind. Der Akt der Bildung, oder die Unterstützung der Bildung einer Partei, kann ein Weg sein, es herauszufinden. Ich verweise darauf, was ich zuvor zu Lukács und seinem Beharren darauf, dass jede Position ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln versuchen sollte, gesagt habe. Wenn wir es als eine rein soziologische Frage behandeln, riskieren wir meines Erachtens, auf den gleichen verdinglichten Standpunkt des einfachen Faktensammelns zurückzufallen, statt Praxis zu betreiben. Die Entwicklung von Parteien voranzutreiben, von institutionalisierten Formen der verschiedensten Arten, ist der Weg, auf welchem diese oppositionellen Kräfte sich wirklich entwickeln können. Ohne dies würden die Kräfte weniger kohärent und ihrer Opposition weniger bewusst sein.

Wie können wir diese unterschiedlichen Theorien ohne den Anstoß zum Aufbau einer Partei, ohne eine starke Position zur Notwendigkeit von Führung praktisch auf die Arbeiterklasse anwenden? Die Verhältnisse, die in den 1950ern, 1930ern oder 1920ern existiert haben, sind nicht dieselben wie heute. Ohne Partei, ohne Führung – welche Hoffnung haben wir?

RW: Ich würde mit dieser Formulierung vorsichtig sein: es ist gefährlich, über das Anwenden von Theorien auf die Arbeiterklasse zu sprechen. Das Problem der Führung verweist darauf. Es spielt auf vorhin Gesagtes an, aber ich denke, die Tea Party ist ziemlich erfolgreich, in Anbetracht ihrer offensichtlichen Inkohärenzen und Absurditäten, eben weil es ihr an einer Führung mangelt und ihre totemischen Figuren entbehrlich sind. Es gibt Stimmen, aber keine Führung, sodass es einige verschiedene Tea Parties gibt. Dass sie so breitgefächert, zerstreut und dezentralisiert ist, ist einer der Gründe ihres Erfolgs.

AF: Wenn wir eine Partei hätten, die eine Autorität darstellen und auf die gehört würde, wären wir in einer viel besseren Lage. Aber wie kommen wir dahin?

CC: Was für die Rechte funktioniert, kann für die Linke nicht funktionieren. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Rechten und der Linken – dass die Rechte auf eine Weise an Inkohärenz aufblüht, wie die Linke das nicht kann. Auch würde ich, etwas polemisch oder auch zynisch sagen, dass die Tea Parties die wahren Kinder der Neuen Linken sind. Die Idee der theoretischen Führung, im Sinne einer Theorie, die angewandt wird, ist genau das, was die marxistische Tradition überwinden wollte. Das ist es, was sie als eine „bürgerliche“ Vorstellung von Theorie oder Epistemologie verstanden. Wenn wir aber bis auf Kant zurückgehen, gab es dort bereits die Idee einer selbstbewussten Praxis: Es geht nicht um die abstrakte Anwendung der Theorie auf die Praxis. Schon bei Kant – und ich denke, es gibt eine Kontinuität zwischen Kant und Hegel und Marx – geht es darum zu versuchen, existierende Praktiken zum Selbstbewusstsein zu erheben. Das ist etwas ganz anderes, als eine Theorie anzufertigen und sie auf die Realität anzuwenden.

Abschlussbemerkungen

AF: Ich glaube, dass die Linke immer noch innerhalb des Horizonts von Forderungen und Enttäuschungen lebt, die in den 1960ern und 1970ern entstanden sind. Bewegungen wie die Umweltbewegung, die feministische Bewegung und viele andere Proteste die in abgelegenen Bereichen der Gesellschaft entstanden sind (wie Medizin), existieren unter den Kategorien, die die Neue Linke benutzt hat, um neue Formen der Enttäuschung zu artikulieren. Das ist der Beitrag, den Marcuse geleistet hat; Adorno und Horkheimer haben dazu nicht beigetragen, weil sie die Neue Linke nur als ein kleines Aufflackern am Horizont betrachteten. Ich bin ziemlich verdutzt darüber, dass Marcuses Gedanken auf der Linken so umschifft werden und dass die Frankfurter Schule mehr und mehr als Benjamin Adorno und Horkheimer verstanden wird. Es drückt für mich eine gewisse mangelnde politische Ernsthaftigkeit aus, dass Leute einfach so den einzigen Denker überspringen, der sich mit der Art von Linkssein auseinandergesetzt hat, zu der wir heute fähig sind.

RW: Ich würde auch gerne mit einer Antwort auf den ‚‘Mangel an politischer Ernsthaftigkeit‘‘ abschließen. Der Grund für die Rückkehr von Leuten wie Adorno und Benjamin liegt darin, dass ein Großteil der akademischen Rezeption in den Literaturwissenschaften oder durch die Cultural Studies vorgenommen wurde. Und ich denke, dass der Grund dafür eben der Mangel an direktem Engagement und direkter Aktivität ist. Die Wichtigkeit von Engagement und einer Form von Praxis, mit einem gewissen Grad von Führung, welche man auf jene bezieht – eine theoretische Form von Praxis – ist meines Erachtens das Entscheidende.

CC: Ich würde mit einem Angebot schließen, Adorno als politischen Denker ernst zu nehmen und nicht nur als Literaten. Gewiss sagt er, „Musik und Kunst sind das, was ich kenne und deshalb schreibe ich darüber“. Allerdings legt er hier eine falsche Bescheidenheit an den Tag. Seine Arbeit hatte einen starken Einfluss auf die deutsche Soziologie, indem sie amerikanische Techniken der empirischen Sozialforschung und den Durkheim’schen im Gegensatz zum Weber’schen Ansatz in die Untersuchung der Frage der Moderne und des Kapitals einführte. In seinem Briefwechsel mit Marcuse 1969, in dem sich Bitterkeit über die von der Neuen Linken angezettelte Kontroverse zeigt, sagt Adorno zu Marcuse: „Schau, es ist das Institut. Es ist dasselbe Institut. Es ist unser altes Institut.“ Und Marcuse antwortet: „Wie kannst du nur behaupten, dass das Institut in den 60ern in der Bundesrepublik Deutschland das ist, was es in den 30ern war?“ Darauf konnte Adorno nur sagen, „Was ist mit meinen Büchern?“ In anderen Worten: „Was ist mit den Büchern, die mir die Existenz des Instituts zu schreiben ermöglichte?“ Adorno war also der einsame Verfechter des hegelianischen Marxismus innerhalb der deutschen Soziologie und Philosophie. Als solche sind seine Arbeiten kraftvolle Aussagen über die Art von Einsichten, die von der früheren marxistischen Tradition von Lukács und Korsch infolge der Krise des Marxismus und der Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts erreicht wurden, und versuchen diese am Leben zu erhalten. Folglich würde ich Adorno gegen seine Liebhaber verteidigen. Der Adorno, der in den Geisteswissenschaften herumgeistert, ist ein gesäuberter Adorno, ein entpolitisierter Adorno, ein Adorno, bei dem der Marxismus ausgeblendet oder in eine ethische Kritik der Gesellschaft umgewandelt wurde. Ich hingegen denke, dass Adorno sehr viel mehr über das Problem von Theorie und Praxis zu sagen hat, was politisch relevant ist. |P

Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur.

Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 6, 1937

Über den affirmativen Charakter der Kultur.

Von
Herbert Marcuse.
I. Ursprung des Kulturbegriffs : Die Lehre über die Beziehungen zwischen
Notwendigem und Schönem in der griechischen Philosophie (S. 54). Die Deutung
dieser Beziehung im affirmativen KulturbegrifI: Kultur und Zivilisation (S. 59). Kultur
und Glücksanspruch (S. 61). – H. Die affirmative Kultur: Die Idee der Seele
(S. 65). Die Idee der Schönheit (S. 76). Die Idee der Persönlichkeit (S. 81). ~
IH. Die Selbstzersetzung der affirmativen Kultur: Der Kulturkampf des
autoritären Staates (S. 85). Verwandtschaft zwischen liberalem Idealismus und
„heroischem Realismus“ : Beibehaltung des affirmativen Charakters der Kultur
(5. 86).
I
Die Lehre, dass alle menschliche Erkenntnis ihrem Sinn nach
auf die Praxis bezogen sei, gehörte zum Kernbesta~ der antikep.
Philosophie. Aristoteles war der Ansicht, dass die erkannten
Wahrheiten die Praxis führen sollten, sowohl in der alltäglichen
Erfahrung wie in den Künsten und Wissenschaften. Die Menschen
bedürfen in ihrem Daseinskampfe der Anstrengung der Erkenntnis,
des Suchens der Wahrheit, weil ihnen nicht unmittelbar schon
offenbar ist, was das für sie Gute, Zuträgliche und Richtige ist.
Der Handwerker und der Kaufmann, der Kapitän und der Arzt,
der Feldherr und der Staatsmann – alle müssen über das rechte
Wissen in ihrem Sachgebiet verfügen, um so handeln zu können,
wie es die jeweils wechselnde Situation erfordert.
Während Aristoteles an dem praktischen Charakter jeder
Erkenntnis festhält, macht er einen bedeutsamen Unterschied
zwischen den Erkenntnissen. Er ordnet sie gleichsam in einer
Wertreihe, deren unterste Stelle das zweckmässige Bescheidwissen
mit den notwendigen Dingen des alltäglichen Daseins einnimmt
und auf deren oberster Stufe die philosophische Erkenntnis steht,
die für keinen ausserhalb ihrer selbst liegenden Zweck, sondern
nur noch um ihrer selbst willen geschieht und die den Menschen
das höchste Glück gewähren soll. Innerhalb dieser Reihe liegt
‚) Diese Arbeit ist durch die Ausführungen Max Horkheimers über den „atnrmaUven
Charakter“ und den „falschen Idealismus“ der Kultur der neuere~ Zeit
angeregt worden (vgl. diese Zeitschrift, V. Jahrgang 1936, bes. S. 219).
Ober den affirmativen Charakter der Kultur 55
ein grundsätzlicher Einschnitt: zwischen dem Notwendigen und
Nützlichen einerseits und dem „Schönen“ andererseits. „Nun ist
aber auch das ganze Leben geteilt in Musse und Arbeit und Krieg
und Frieden, und die Tätigkeiten sind geteilt in notwendige und
nützliche und in schöne. ‚(1) Indem diese Teilung selbst nicht
in Frage· gestellt wird, indem mit den anderen Bereichen des
„Schönen“ die „reine“ Theorie sich zu einer selbständigen Tätigkeit
neben und über den anderen Tätigkeiten verfestigt, bricht der
ursprüngliche Anspruch der Philosophie zusammen : die Praxis
nach den erkannten Wahrheiten zu gestalten. Die Trennung des
Zweckmässigen und Notwendigen vom Schönen und vom Genuss
ist der Anfang einer Entwicklung, welche das Feld freigibt für
den Materialismus der bürgerlichen Praxis einerseits und für die
Stillstellung des Glücks und des Geistes in einem Reservatbereich
der „Kultur“ andererseits.
In der Begründung, welche für die Verweisung der höchsten
Erkenntnis und der höchsten Lust auf die reine zwecklose Theorie
gegeben wird, kehrt ein Motiv immer wieder : Die Welt des N otwendigen,
der alltäglichen Lebensbesorgung, ist unbeständig, unsicher,
unfrei, – nicht bloss faktisch; sondern. in!~rem Wesen.,
Die Verfügung über die materiellen Güter ist nie ganz das Werk
menschlicher Tüchtigkeit und Weisheit; der Zufall herrscht über
sie. Das Individuum, welches sein höchstes Ziel : seine Glückseligkeit,
in diese Güter setzt, macht sich zum Sklaven von Menschen
und Dingen, die seiner Macht entzogen sind: es gibt seine Freiheit
auf. Reichtum und Wohlstand kommen und bleiben nicht durch
seine autonome Entscheidung, sondern durch die wechselnde Gunst
undurchschaubarer Verhältnisse. Der Mensch unterwirft also seine
Existenz einem ausserhalb seiner selbst liegenden Zweck. –
Dass ein solcher äusserer Zweck allein schon den Menschen verkümmert.
und versklavt, setzt eine schlechte Ordnung der materiellen
Lebensverhältnisse voraus, deren Reproduktion durch die
Anarchie einander entgegengesetzter gesellschaftlicher Interessen
geregelt wird, eine Ordnung, in der die Erhaltung des allgemeinen
Daseins nicht mit dem Glück und der Freiheit der Individuen
zusammengeht. Sofern die Philosophie um das Glück der Menschen
besorgt ist – und die klassische antike Theorie hält an der
Eudaimonie als dem höchsten Gut fest -, kann sie es nicht in der
bestehenden materiellen Lebensgestaltung finden: sie muss deren
Faktizität transzendieren.
Die Transzendierung betrifft mit der Metaphysik, Erkenntnis-
1) Aristoteles, Pol. 1333a, 30 ff.
56 lierbert ]darcuse
theorie und Ethik auch die Psychologie. Wie die ausser-seelische
Welt zerfällt die menschliche Seele in einen niederen und einen
höheren Bereich; zwischen den Polen der Sinnlichkeit und der
Vernunft spielt sich die Geschichte der Seele ab. Die Abwertung
der Sinnlichkeit erfolgt aus denselben Motiven wie die der materiellen
Welt: weil sie ein Feld der Anarchie, der Unbeständigkeit,
der Unfreiheit ist. Die sinnliche Lust ist nicht an sich schlecht;
sie ist schlecht, weil sie – wie die niederen Tiitigkeiten des Menschen
– in einer schlechten Ordnung sich erfüllt. Die „niederen
Seelen teile “ binden den Menschen an die Gier nach Erwerb und
Besitz, Kauf und Verkauf; er wird dazu geführt, „um nichts anderes
sich zu beeifern als um Geldbesitz und was etwa damit zusammenhängt.
‚(1) Entsprechend wird der „begehrliche“ Seelenteil, der
sich auf die sinnliche Lust richtet, von Plato auch der „geldliebende“
genannt, „weil vorzüglich durch Geld die Begierden dieser
Art befriedigt werden. „2)
In allen ontologischen Einteilungen des antiken Idealismus
kommt die Schlechtigkeit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zum
Ausdruck, in der die Erkenntnis der Wahrheit über das menschliche
Dasein nicht mehr in die Praxis aufgenommen ist. Die Welt des
Wahren, Guten und Schönen ist in der Tat eine „ideale “ Welt,
sofern sie jenseits der bestehenden Lebensverhältnisse liegt, jenseits
einer Gestalt des Daseins, in welcher der grösste Teil der
Menschen entweder als Sklaven arbeiten oder im Warenhandel
ihr Leben verbringen und nur eine kleine Schicht überhaupt die
Möglichkeit hat, sich um das zu kümmern, was über die Besorgung
und Erhaltung des Notwendigen hinausliegt. Wenn die Reproduktion
des materiellen Lebens unter der Herrschaft der Warenform
sich vollzieht und das Elend der Klassengesellschaft immer
wieder erzeugt, ist das Gute, Schöne und Wahre solchem Leben
transzendent. Und wenn unter dieser Form alles zur Erhaltung
und Sicherung des materiellen Lebens Notwendige hergestellt wird,
ist das darüber Hinausliegende allerdings „überflüssig“. Das,
worauf es eigentlich für den Menschen ankommt : die höchsten
Wahrheiten, die höchsten Güter und die höchsten Freuden sind
durch einen Abgrund des Sinns vom Notwendigen getrennt, sie sind
ein· „Luxus H. Aristoteles hat den Sachverhalt nicht verhüllt.
Die „erste Wissenschaft „, bei der auch das höchste Gut und die
höchste Lust aufgehoben sind, ist das Werk der Musse einiger
weniger, für die alle Lebensnotwendigkeiten schon anderweitig
ausreichend besorgt sind. Die „reine Theorie“ ist als Beruf einer
1) Plato, Republ. 525 und 553 (Übersetzung v. Schleiermacher).
I) Plato, a. a. O. 581.
Über den affirmativen Charakter der Kultur 57
Elite appropriiert und durch eiserne gesellschaftliche Schranken
von dem grössten Teil der Menschheit abgeschlossen. – Aristote]
es hat nicht behauptet, dass das Gute, Schöne und Wahre allgemeingültige
und allgemein-verpflichtende Werte seien, die von
„oben her“ auch den Bereich des Notwendigen: der materiellen
Lebensbesorgung, durchdringen und verklären sollten. Erst
wenn dies beansprucht wird, ist der Begriff von Kultur ausgebildet,
der ein Kernstück der bürgerlichen Praxis und Weltanschauung
darstellt. Die antike Theorie meint mit der Höherwertigkeit der
über das Notwendige hinausliegenden Wahrheiten auch das soziale
„Oben“ mit: es sind die Wahrheiten, die bei den herrschenden
gesellschaftlichen Schichten beheimatet sein sollen. Und andererseits
wird die gesellschaftliche Herrschaftsstellung dieser Schichten
von der Theorie dadurch wenigstens noch mitbegründet, dass es
deren „Beruf“ sein soll, um die höchsten Wahrheiten Sorge zu
tragen.
Die antike Theorie steht mit der aristotelischen Philosophie
gerade an dem Punkt, wo der Idealismus vor den gesellschaftlichen
Widersprüchen die Fahne streicht und diese Widersprüche als
ontologische Sachverhalte ausspricht. Die platonische Philosophie
kämpfte noch gegen die Lebensordnung der warenhandelnden
Gesellschaft Athens. Platos Idealismus ist von gesellschaftskritischen
Motiven durchzogen. Was von den Ideen her gesehen
als Faktizität erscheint, ist die materielle Welt, in der Menschen
und Dinge als Waren einander entgegentreten. Die rechte Ordnung
der Seele wird zerstört durch die „Gier nach Reichtum, die
den Menschen so in Anspruch nimmt, dass er für nichts anderes
Zeit hat· als für die Sorge um sein Hab und Gut. Daran hängt
der Bürger mit ganzer Seele, und so kommt es eben, dass er auf
nichts anderes denkt als den täglichen Gewinn … „1) Und es ist
die eigentliche idealistische Grundforderung, dass diese materielle
Welt entsprechend den in der Erkenntnis der Ideen gewonnenen
Wahrheiten verändert und verbessert werde. Platos Antwort auf
die Forderung ist sein Programm einer Neuorganisation der
Gesellschaft. Aus ihm wird offenbar, wo er die Wurzel des Übels
gesehen hat: er verlangt für die massgebenden Schichten die Aufhebung
des Privateigentums (auch an Frauen und Kindern) und das
Verbot des Warenhandels. Aber dasselbe Programm will die
Gegensätze der Klassengesellschaft in der Tiefe des menschlichen
Wesens begründen und verewigen: während der grösste Teil der
Mitglieder des Staates vom Anfang bis zum Ende ihres Daseins auf
-) Plato, Leges 831. – Vgl. J. Brake, Wirtschaften und Charakter in der antiken
Biluung. Frankfurt a. M. 1935, S. 124 fI.
58 Herbert Marcuse
die freudlose Besorgung der Lebensnotwendigkeiten abgerichtet
ist, bleibt der Genuss des Wahren, Guten und Schönen einer kleinen
Elite als Beruf vorbehalten. – Aristoteles lässt zwar noch die
Ethik in der Politik enden, aber die Neuorganisation der Gesellschaft
steht bei ihm nicht mehr im Zentrum der Philosophie.
In dem Masse wie er „realistischer“ als Plato ist, ist sein Idealismus
auch schon resignierter vor den geschichtlichen Aufgaben der
Menschheit. Der wahre Philosoph ist für ihn nicht mehr wesentlich
der wahre Staatsmann. Die Entfernung zwischen Faktizität
und Idee ist grösser geworden, gerade weil sie enger zusammengedacht
werden. Der Stachel des Idealismus: die Idee zu verwirklichen,
stumpft sich ab. Die Geschichte des Idealismus ist auch
die Geschichte seines Sich-Abfindens mit dem Bestehenden.
Hinter der ontologischen und erkenntnistheoretischen Trennung
von Sinnen- und Ideenwelt, von Sinnlichkeit und Vernunft, von
Notwendigem und Schönem steckt nicht nur die Verwerfung,
sondern zugleich auch schon die Entlastung einer schlechten
geschichtlichen Form des Daseins. Die materielle Welt (womit
hier die mannigfachen Gestaltendes jeweils „unteren“ Beziehungsgliedes
jener Relation zusammengefasst sein sollen) ist an sich
selbst blosser Stoff, blosse Möglichkeit, mehr dem Nicht~Sein als
dem Sein verwandt und wird nur, sofern sie an der „oberen“
Welt teilnimmt, zur Wirklichkeit. In allen ihren Gestalten bleibt
die materielle Welt eben Materie, Stoff für etwas anderes, das ihr
erst Wert verleiht. Alle Wahrheit, Güte und Schönheit kann
ihr nur „von oben“ kommen: von Gnaden der Idee. Und alle
Tätigkeit der materiellen Lebensbesorgung bleibt ihrem Wesen
nach unwahr, schlecht, hässlich. Mit diesen Charakteren aber
ist sie so notwendig, wie der Stoff notwendig ist für die Idee. Das
Elend der Sklavenarbeit, die Verkümmerung von Menschen und
Dingen zur Ware, die Freudlosigkeit und Gemeinheit, in der sich
das Ganze der materiellen Daseinsverhältnisse immer \vieder reproduziert,
stehen diesseits des Interesses der idealistischen Philosophie,
weil sie ja. noch gar nicht die eigentliche Wirklichkeit sind,
die Gegenstand dieser Philosophie ist. Auf Grund ihrer unabdingbarenStofflichkeit
ist die materielle Praxis von der Verantwortung
für das Wahre, Gute und Schöne entlastet, das vielmehr in der
Beschäftigung mit der Theorie aufgehoben sein soll. Die ontologische
Sonderung der ideellen von den materiellen Werten beruhigt
den Idealismus in allem, was die materiellen Lebensvorgänge
betrifft. Aus einer bestimmten geschichtlichen Form der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung und Klassenschichtung wird ihm eine
ewige, metaphysische Form des Verhältnisses von Notwendigem
und Schönem, Materie und Idee.
Über den affirmativen Charakter der Kultur 59
In der bürgerlichen Epoche hat die Theorie des Verhältnisses
zwischen Notwendigem und Schönem, Arbeit und Genuss entscheidende
Veränderungen erfahren. Zunächst verschwindet die
Ansicht, nach der die Beschäftigung mit den höchsten Werten
an bestimmte gesellschaftliche Schichten als Beruf appropriiert
sei. An ihre Stelle tritt die These von der Allgemeinheit und
Allgemeingültigkeit der „Kultur“. Die antike Theorie hatte mit
gutem Gewissen ausgesprochen, dass die meisten Menschen ihr
Dasein mit der Besorgung der Lebensnotwendigkeiten verbringen
müssen, während ein kleiner Teil sich dem Genuss und der Wahrheit
widmet. So wenig sich der Sachverhalt geändert hat : das gute
Gewissen ist verloren gegangen. Die freie Konkurrenz stellt die
Individuen als Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft einander
gegenüber. Die reine Abstraktheit, auf welche die Menschen in
ihren gesellschaftlichen Beziehungen reduziert sind, erstreckt sich
auch auf den Umgang mit den ideellen Gütern. Es soll nicht
mehr wahr sein, dass die einen geboren und würdig sind für die
Arbeit, die anderen für die Musse, die einen für das Notwendige,
die anderen für das Schöne. Wie jedes Individuum unmittelbar
zum Markte ist (ohne dass seine persönlichen Eigenschaften und
Bedürfnisse anders relevant werden als warenmässig), so auch
unmittelbar zu Gott, unmittelbar zu Schönheit, Güte und Wahrheit.
Als abstrakte Wesen sollen alle Menschen an diesen Werten in
gleicher Weise teilnehmen. Wie in der materiellen Praxis das
Produkt von den Produzenten sich trennt und in der allgemeinen
Dingform des „Gutes“ sich verselbständigt, 80 verfestigt sich in
der kulturellen Praxis das Werk, sein Gehalt zu einem allgemeingültigen
„Werte „. Die Wahrheit eines philosophischen Urteils, die
Güte einer moralischen Handlung, die Schönheit eines Kunstwerks
sollen ihrem Wesen nach jeden ansprechen, jeden betreffen, jeden
verpflichten. Ohne Unterschied des Geschlechts und der Geburt,
unbeschadet ihrer Stellung im Produktionsprozess haben sich die
Individuen den kulturellen Werten zu unterwerfen. Sie haben
sie in ihr Leben aufzunehmen, ihr Dasein von ihnen durchdringen
und verklären zu lassen. Die „Zivilisation“ wird beseelt durch
die „Kultur“.
Auf die verschiedenen Versuche, den Begriff der Kultur zu
definieren, wird hier nicht eingegangen. Es gibt einen Kulturbegriff,
der ein für die Sozialforschung wichtiges Werkzeug darstellen
kann, weil in ihm die Verflochtenheit des Geistes in den
geschichtlichen Prozess der Gesellschaft ausgesprochen wird. Er
meint das jeweilige Ganze qes gesellschaftlichen Lebens, sofern
darin sowohl die Gebiete der ideellen Reproduktion (Kultur im
engeren Sinne, als die „geistige Welt „) als auch der materiellen
60 lierbert ~arcuse
Reproduktion (der „Zivilisation „) eine historisch abheb bare und
begreifbare Einheit bilden.I ) Es gibt jedoch noch eine andere
sehr verbreitete Verwendung des Kulturbegriffs, bei welcher die
geistige Welt aus einem gesellschaftlichen Ganzen herausgehoben
und hierdurch die Kultur zu einem (falschen) Kollektivum und
zu einer (falschen) Allgemeinheit erhöht wird. Dieser zweite
Kulturbegriff (besonders ausgeprägt in Wendungen wie „nationale
Kultur“, „germanische Kultur“ oder „romanische Kultur „) spielt
die geistige Welt gegen die materielle Welt aus, indem er die
Kultur als das Reich der eigentlichen Werte und Selbst-Zwecke
der gesellschaftlichen Nutz- und Mittel-Welt entgegenhält. Durch
ihn wird die Kultur von der Zivilisation unterschieden und vom
Gesellschaftsprozess soziologisch und wertmässig entfernt. 2) Er ist
selbst schon auf dem Boden einer bestimmten geschichtlichen
Gestalt der Kultur erwachsen, die im folgenden als affirmative
Kultur bezeichnet wird. Unter affirmativer Kultur sei jene der
bürgerlichen Epoche des Abendlandes angehörige Kultur verstanGen,
welche im Lauf ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat!.
diegeistiB-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der
Zivilisation anzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender
Zug ist<Iie Behauptung einer allgemein verp’flichtenden, unbeding!
zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der
tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich
verschieden ist, die aber jedes Individuum „von innen her“, ohne
jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann. Erst
in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände
ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde: ihre
Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung.
-Mag dIe Unterscheidung von Zivilisation undKültur auenerst
in jüngster Zeit zum terminologischen Rüstzeug der Geisteswissenschaften
geworden sein, – der durch sie ausgedrückte Sachverhalt
ist für die Lebenspraxis und Weltanschauung des bürgerlichen
Zeitalters seit langem charakteristisch. „Zivilisation und Kultur“
ist nicht einfach eine Übersetzung des antiken Verhältnisses von
Zweckmässigem und Zwecklosem, Notwendigem und Schönem.
Indem das Zwecklose und Schöne verinnerlicht und mit den
1) Vgl. Studien über Autorität und Familie. Schriften des Instituts tür Sozial.
forschung, Bd. V, Paris 1936, S. 7 fI.
I) O. Spengler fasst das Verhältnis von Zivilisation und Kultur nicht als Gleichzeitigkeit,
sondern als .. notwendiges organisches Nacheinander“ auf: die Zivilisation
ist das unausweichliche Schicksal und Ende jeder Kultur (Der Untergang des Abendlandes,
I. Bd., 23.-32. Aufl., München 1920, S. 43 t.). An der oben angedeuteten
traditionellen Bewertung von Kultur und Zivilisation wird durch solche Umformulierung
nichts geändert.
über den affirmativen Charakter der Kultur 61
Qualitäten der verpflichtenden Allgemeingültigkeit und der erhabenen
Schönheit zu den kulturellen Werten des Bürgertums gemacht
werden, wird in- der Kultur ein Reich scheinbarer Einheit und
scheinbarer Freiheit aufgebaut, worin die antagonistischen Daseinsverhältnisse
eingespannt und befriedet werden sollen. Die Kultur
bejaht und verdeckt die neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen.
Die Welt des- Schönen jenseits des Notwendigen war für die
Antike wesentlich eine Welt des Glücks, des Genusses. Die antike
Theorie hatte noch nicht bezweifelt, dass es den Menschen auf
dieser Welt zuletzt um ihre irdische Befriedigung, um ihr Glück geht.
Zuletzt, – nicht zuerst. Zuerst ist der Kampf um die Erhaltung
und Sicherung des bIossen Daseins. Angesichts der dürftigen
Entfaltung der Produktivkräfte in der antiken Wirtschaft kam
es der Philosophie nicht in den Sinn! die materielle Praxis könne
je so gestaltet werden, dass in ihr selbst Raum und Zeit für das
Glück entstünde. Die Angst steht am Anfang aller idealistischer
Lehren, die höchste Glückseligkeit in der ideellen Praxis zu suchen:
Angst vor der Unsicherheit aller Lebensverhältnisse, vor dem
„Zufall“ des Verlusts, der Abhängigkeit, des Elends, aber auch
Angst vor der Sättigung, dem Überdruss, dem Neid der Menschen
und Götter. Doch die Angst um das Glück, welche die Philosophie
zur Trennung des Schönen vom Notwendigen getrieben hatte,
hält die Forderung nach Glück noch in der getrennten Sphäre
aufrecht. Das Glück wird zum Reservatbereich, damit es überhaupt
noch da sein kann. Es ist die höchste Lust, die der Mensch
in der philosophischen Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen
finden soll. Sie trägt die Gegenzüge der materiellen Faktizität :
sie gibt das Dauernde im Wechsel, das Reine im Unreinen, das
Freie im Unfreien.
Das abstrakte Individuum, welches mit dem Beginn der bürgerlichen
Epoche als Subjekt der Praxis auftritt, wird, allein schon
durch die neue gesellschaftliche Frontenbildung, auch zum Träger
einer neuen Glücksforderung. Nicht mehr als Vertreter oder
Delegat höherer Allgemeinheiten, sondern als je einzelnes Individuum
soll es nun die Besorgung seines Daseins, die Erfüllung
seiner Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen, unmittelbar zu seiner
„Bestimmung „, seinen Zwecken und Zielen stehen, ohne die sozialen,
kirchlichen und politischen Vermittlungen des Feudalismus.
Sofern in solcher Forderung dem einzelnen ein grösserer Raum
individueller Ansprüche und Befriedigungen zugewiesen war –
ein Raum, den die sich entfaltende kapitalistische Produktion
mit immer mehr Gegenständen möglicher Befriedigung als Waren
zu füllen begann -, bedeutet die bürgerliche Befreiung des Indi62
Iierbert ~arcuse
viduums die Ermöglichung eines neuen Glücks. Ihre Allgemeingültigkeit
wird sogleich zurückgenommen, da die abstrakte Gleichheit
der Individuen in der kapitalistischen Produktion sich als
konkrete Ungleichheit realisiert: nur ein kleiner Teil der Menschen
verfügt über die nötige Kaufkraft, um sich die zur Sicherung seines
Glücks erforderliche Warenmenge verschaffen zu können. Auf
die Bedingungen zur Erlangung der Mittel erstreckt sich die
Gleichheit nicht mehr. Bei den Schichten des bäuerlichen und
städtischen Proletariats, auf die das Bürgertum im Kampf gegen
die feudalen Mächte angewiesen war, konnte die abstrakte Gleichheit
nur als wirkliche Gleichheit einen Sinn haben. Für das zur
Herrschaft gekommene Bürgertum genügte die abstrakte Gleichheit,
um wirkliche individuelle Freiheit und wirkliches individuelles
Glück erscheinen zu lassen: es verfügte bereits über die materiellen
Bedingungen, die solche Befriedigung verschaffen konnten. Ja
das Stehen bleiben bei der abstrakten Gleichheit gehörte selbst zu
den Bedingungen seiner Herrschaft, die durch das Weitertreiben
des Abstrakten zum konkreten Allgemeinen gefährdet werden
musste. Andererseits konnte es den allgemeinen Charakter der
Forderung: dass sie sich auf alle Menschen erstrecke, nicht aufgeben,
ohne sich selbst zu denunzieren und den beherrschten Schichten
offen zu sagen, dass für den grössten Teil der Menschen in Bezug
auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse alles beim alten bliebe;
es konnte dies umso weniger, je mehr der steigende gesellschaftliche
Reichtum die wirkliche Erfüllung der allgemeinen Forderung zur
realen Möglichkeit machte und mit dem relativ wachsenden Elend
der Armen in Stadt und Land kontrastierte. So wird aus der
Forderung ein Postulat, aus ihrem Gegenstand eine Idee. Die
Bestimmung des Menschen, dem die allgemeine Erfüllung in der
materiellen Welt versagt ist, wird als Ideal hypostasiert.
Die aufsteigenden bürgerlichen Gruppen hatten ihre Forderung
nach einer neuen gesellschaftlichen Freiheit durch die allgemeine
Menschenvernunft begründet. Dem Glauben an die gottgesetzte
Ewigkeit einer hemmenden Ordnung hielten ’sie ihren Glauben an
den Fortschritt, an eine bessere Zukunft entgegen. Aber die
Vernunft und die Freiheit reichten nicht weiter als das Interesse
eben jener Gruppen, das mehr und mehr zu dem Interesse des
grössten Teils der Menschen in Gegensatz trat. Auf die .anklagenden
Fragen gab das Bürgertum eine entscheidende Antwort :
die affirmative Kultur. Sie ist in ihren Grundzügen idealistisch.
Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der
allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit
der Seele, auf die äussere Knechtschaft mit der inneren
Freiheit. auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der
über den affirmativen Charakter der Kultur 63
Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen
Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die
erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter,
so treten sie in steigendem Masse mit der sich stabilisierenden
Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung
unzufriedener Massen und der bIossen rechtfertigenden Selbsterhebung
: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung
des Individuums.
Aber der bürgerliche Idealismus ist nicht nur eine Ideologie :
er spricht auch einen richtigen Sachverhalt aus. Er enthält nicht
nur die Rechtfertigung der bestehenden Daseinsform, sondern
auch den Schmerz über ihren Bestand; nicht nur die Beruhigung
bei dem, was ist, sondern auch die Erinnerung an das, was sein
könnte. Indem die grosse bürgerliche Kunst das Leid und die
Trauer als ewige WeItkräfte gestaltet hat, hat sie die leichtfertige
Resignation des Alltags immer wieder im Herzen der Menschen
zerbrochen; indem sie die Schönheit der Menschen und Dinge und
ein überirdisches Glück in den leuchtenden Farben dieser Welt
gemalt hat, hat sie neben dem schlechten Trost und der falschen
Weihe auch die wirkliche Sehnsucht in den Grund des bürgerlichen
Lebens eingesenkt. Wenn sie den Schmerz und die Trauer, die
Not und die Einsamkeit zu metaphysischen Mächten steigert,
wenn sie die Individuen über die gesellschaftlichen Vermittlungen
hinweg in nackter seelischer Unmittelbarkeit gegeneinander und
gegen die Götter stellt, so steckt in dieser Übersteigerung die höhere
Wahrheit: dass eine solche Welt nicht durch dieses oder jenes
geändert werden kann, sondern nur durch ihren Untergang. Die
klassische bürgerliche Kunst hat ihre Idealgestalten so weit von dem
alltäglichen Geschehen entfernt, dass die in diesem Alltag leidenden
und hoffenden Menschen sich nur durch den Sprung in eine total
andere Welt wiederfinden können. So hat die Kunst den Glauben
genährt, dass die ganze bisherige Geschichte zu dem kommenden
Dasein nur die dunkle und tragische Vorgeschichte ist. Und die
Philosophie hat die Idee ernst genug genommen, um noch für ihre
Verwirklichung besorgt zu sein. Hegels System ist der letzte Protest
gegen die Entwürdigung der Idee: gegen das geschäftige Spiel
mit dem Geiste als einem Gegenstande, der mit der Geschichte der
Menschen eigentlich nichts zu tun hat. Der Idealismus hat
immerhin daran festgehalten, dass der Materialismus der bürgerlichen
Praxis nicht das letzte Wort ist und dass die Menschheit
darüber hinauszuführen sei. Er gehört einer fortschrittlicheren
Stufe der Entwicklung an als der späte Positivismus, der (wie an
anderer Stelle dieses Heftes gezeigt) in seinem Kampf gegen die
metaphysischen Ideen nicht nur ihren metaphysischen Charakter,.
64 CIerbert ~Iarcuse
sondern auch ihre Inhalte durchstreicht und sich unentrinnbar der
bestehenden Ordnung verbindet.
Die Kultur soll die Sorge für den Glücksanspruch der Individuen
übernehmen. Aber die gesellschaftlichen Antagonismen, die ihr
zugrundeliegen, lassen den Anspruch nur als verinnerlichten und
rationalisierten in die Kultur eingehen. In einer Gesellschaft,
welche sich durch die wirtschaftliche Konkurrenz reproduziert,
stellt schon die Forderung nach einem glücklicheren Dasein des
Ganzen eine Rebellion dar: den Menschen auf den Genuss irdischen
Glücks verweisen, das bedeutet, ihn jedenfalls nicht auf die Erwerbsarbeit,
nicht auf den Profit, nicht auf die Autorität jener ökonomischen
Mächte verweisen, die dieses Ganze am Leben erhalten.
Der Glücksanspruch hat einen gefährlichen Klang in einer Ordnung,
die für die meisten Not, Mangel und Mühe bringt. Die Widersprüche
solcher Ordnung treiben dazu, den Anspruch zu idealisieren.
Aber die wirkliche Befriedigung der Individuen lässt sich nicht
in eine idealistische Dynamik einspannen, .welche die Erfüllung
immer wieder hinausschiebt oder überhaupt nur in das Streben
nach dem nie schon Erreichten verlegt. Nur gegen die idealistische
Kultur kann sie sich durchsetzen; nur gegen diese Kultur
wird sie als allgemeine Forderung laut. Sie tritt auf als die
Forderung nach einer wirklichen Veränderung der materiellen
Daseinsverhältnisse, nach einem neuen Leben, nach einer neuen
Gestalt der Arbeit und des Genusses. So bleibt sie wirksam in
den revolutionären Gruppen, die seit dem ausgehenden Mittelalter
die sich ausbreitende neue Ungerechtigkeit bekämpfen. – Und
während der Idealismus die Erde der bürgerlichen Gesellschaft
überlässt und seine Ideen selbst unwirklich macht, indem er sich
mit dem Himmel und der Seele begnügt, nimmt die materialistische
Philosophie die Sorge um das Glück ernst und kämpft um seine
Realisierung in der Geschichte. In der Philosophie der Aufklärung
wird dieser Zusammenhang deutlich. „Die falsche Philosophie
kann, wie die Theologie, uns ein ewiges Glück versprechen und,
uns in schönen Chimären wiegend, dorthin uns führen auf Kosten
unserer Tage oder unserer Lust. Die wahre Philosophie, wohl
verschieden von jener und weiser als sie, gibt nur ein zeitliches
Glück zu; sie sät die Rosen und Blumen auf unserem Pfad und
lehrt uns sie pflücken. „1) Dass es um das Glück der Menschen
geht, gibt auch die idealistische Philosophie zu. In der Auseinandersetzung
mit dem Stoizismus übernimmt die Aufklärung aber
1) La Mettrie, Discours sur Je Bonheur. <Euvres Philosophiques, BelUn 1775,
Bd. H, S. 102.
über den affirmativen Charakter der Kultur 65
gerade jene Gestalt der Glücksforderung, welche in den Idealismus
nicht eingeht und mit der die affirmative Kultur nicht fertig
wird: „Und wie werden wir Anti-Stoiker sein‘ Diese Philosophen
sind streng, traurig, hart; wir werden zart, froh und gefällig sein.
Ganz Seele, abstrahieren sie von ihrem Körper; ganz Körper,
werden wir von unserer Seele abstrahieren. Sie zeigen sich unzugänglich
der Lust und dem Schmerz; wir werden stolz sein, das
eine wie das andere zu fühlen. Auf das Erhabene ausgerichtet,
erheben sie sich über alle Geschehnisse und glauben sich nur soweit
wahrhaft Mensch, als sie aufhören zu sein. Wir, wir werden nicht
verfügen über das, was uns beherrscht; wir werden nicht unseren
Empfindungen gebieten : indem wir ihre Herrschaft und unsere .
Knechtschaft zugest~hen, werden wir versuchen, sie uns angenehm
zu machen, in der Überzeugung, dass eben hier das Glück des
Lebens liegt; und endlich werden wir uns umso glücklicher glauben,
je mehr wir Mensch sind, oder umso würdiger des Daseins, je
mehr wir Natur, Menschlichkeit und alle sozialen Tugenden empfinden;
wir werden keine anderen anerkennen, noch ein anderes
Leben als dieses hier. „1)
11
Die affirmative Kultur hat mit ihrer Idee der reinen Menschlichkeit
die geschichtliche Forderung der allgemeinen Befreiung
des Individuums aufgenommen. „Betrachten wir die Menschheit,
wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen, so kennen
wir nichts Höheres, als Humanität im Menschen. ‚(2) In diesem
Begriff soll alles zusammengefasst sein, was auf „des Menschen edle
Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feineren Sinnen und Trieben,
zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung
der Erde ‚(3) ausgerichtet ist. Alle menschlichen Gesetze
und Regierungsformen sollten nur den einen Zweck haben : „dass
jeder, unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schöneren,
freieren Genuss des Lebens sich erwerben könnte. „‚) Das
Höchste, was aus dem Menschen gemacht werden kann, weist
in seiner Verwirklichung auf eine Gemeinschaft freier und vernünftiger
Personen, in der jeder dieselbe Möglichkeit zur Entfaltung
und Erfünung aller seiner Kräfte hat. Der Begriff der Person,
1) a. a. 0., S. 86 f.
2) Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 15. Buch,
t. Abschnitt (Werke, hrsg. v. Bemh. Suphan, Berlin 1877-1913, Bd. XIV, S. 208).
3) a. a. 0., 4. Buch, 6. Abschnitt (Werke, a. a. 0., Bd. XIII, S. 154).
‚) a. a. 0., 15. Buch, t. Abschnitt (Werke, a. a. 0., Bd. XIV, S. 209).
66 Herbert Marcuse
in dem der Kampf gegen unterdrückende Kollektivitäten bis heute
lebendig geblieben ist, wendet sich über die sozialen Gegensätze
und Konventionen hinweg an alle Individuen. Niemand nimmt
dem einzelnen die Last seines Daseins ab; aber niemand schreibt
ihm auch sein Dürfen und sein Tun vor – niemand ausser dem
„Gesetz in seiner eigenen Brust „. „Die Natur hat gewollt, dass
der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines
tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe,
und keiner andern Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig
werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft
vcrschafft hat. „1) Aller Reichtum und alle Armut kommen aus
ihm selbst und schlagen auf ihn selbst zurück. Jedes Individuum
ist unmittelbar zu sich selbst : ohne irdische und himmlische
Yermittlungen. Und so ist es auch unmittelbar zu allen anderen.
Die klarste Darstellung hat diese Idee der Person in der klassischen
Dichtkunst seit Shakespeare gefunden. In ihren Dramen sind
die Personen einander so nahe, dass es zwischen ihnen nichts prinzipiell
Cnsagbares, Unaussprechbares gibt. Der Vers macht
möglich, was in der Prosa der Wirklichkeit schon unmöglich geworden
ist. In Versen sprechen die Personen über alle gesellschaftlichen
Isolierungen und Distanzierungen hinweg von den ersten
und letzten Dingen. Sie überwinden die faktische Einsamkeit
in der Glut der grossen und schönen Worte, oder sie lassen die
Einsamkeit selbst in metaphysischer Schönheit erscheinen. Verbrecher
und Heiliger, Fürst und Diener, Weiser und Narr, reich
und arm vereinigen sich in einer Diskussion, aus deren freiem
Ablauf die Wahrheit herausleuchten soll. Die Einheit, welche
die Kunst darstellt, die reine Menschlichkeit ihrer Personen ist
unwirklich; sie ist das Gegenbild dessen, was in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit geschieht. Die kritisch-revolutionäre Kraft des
Ideals, das gerade in seiner Unwirklichkeit die besten Sehnsüchte
der Menschen inmitten einer schlechten Realität wachhält, wird
in jenen Zeiten wieder deutlich, wo der Verrat der saturierten Schichten
an ihren eigenen Idealen ausdrücklich vollzogen wird. Das
Ideal war freilich so konzipiert, dass weniger seine vorwärtstreibenden
als seine retardierenden, weniger seine kritischen als seine
rechtfertigenden Charaktere dominieren. Seine Realisierung soll
durch die kulturelle Bildung der Individuen in Angriff genommen
werden. Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine
edlere Welt: eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materi-
. ellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele
J) K a n t, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht,
3. Satz; (Werke, hrsg. v. E. Cassirer, Berlin 1912 ff., Bd. IV, S. 153).
Über den affirmativen Charakter der Kultur 67
des Individuums herbeigeführt werden soll. Humanität wird zu
einem inneren Zustand ; Freiheit, Güte, Schönheit werden zu seelischen
Qnalitäten : Verständnis für alles Menschliche, ‚Wissen um
das Grosse aller Zeiten, Würdigung alles Schweren und Erhabenen,
Respekt vor der Geschichte, in der das alles geworden ist. Aus
solchem Zustand soll ein Handeln fliessen, das nicht gegen die
gesetzte Ordnung anrennt. Kultur hat nicht, wer die Wahrheiten
der Humanität als Kampfruf versteht, sondern als Haltung. Diese
Haltung führt zu einem Sich-benehmen-können : bis in die alltäglichsten
Verrichtungen hinein Harmonie und Abgewogenheit zeigen.
Die Kultur soll das Gegebene veredelnd durchdringen,
– nicht ein Neues an seine Stelle setzen. So erhebt sie das
Individuum, ohne es aus seiner tatsächlichen Erniedrigung zu
befreien. Sie spricht von der Würde „des“ Menschen, ohne sich
um einen tatsächlichen würdigeren Zustand der Menschen zu
kümmern. Die Schönheit der Kultur ist vor allem eine innere
Schönheit und kann auch dem Älisseren nur von innen her zukommen.
Ihr Reich ist wesentlich ein Reich der Seele.
Dass es in der Kultur um seelische Werte geht, ist mindestens
seit Herder konstitutiv für den affirmativen Kulturbegriff. Die
seelischen Werte gehören zur Definition der Kultur gegenüber
der bIossen Zivilisation. Alfred Weber zieht nur die Konsequenz
aus einer schon lange wirksamen Begriffsbildung, wenn er
definiert : „Kultur … ist bloss, was seelischer Ausdruck, seelisches
Wollen ist, und damit Ausdruck und Wollen eines hinter aller
intellektuellen Daseinsbeherrschung dahinterliegenden ,Wesens‘,
einer ,Seele‘, die bei ihrem Ausdrucksstreben und ihrem Wollen gar
nicJat nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit fragt … „. „Daraus
folgt der Begriff der Kultur als der jeweiligen Ausdrucks- und Erlösungsform
des Seelischen in der materiell und· geistig gebotenen
Daseinssubstanz. „1) Die Seele, wie sie solcher Auffassung zugrundeliegt,
ist anderes und mehr als die Gesamtheit der psychischen
Kräfte und Mechanismen (so, wie sie etwa in der empirischen
Psychologie Gegenstand werden) : sie soll dieses nicht-körperliche
Sein des Menschen als die eigentliche Substanz des Individuums
andeuten.
Der Substanzcharakter der Seele ist seit Descartes auf der
Einzigartigkeit des Ich als Res cogitans gegründet. Während
‚) Alfred Weber, Prinzipielles zur Kultursoziologie. In: Archiv für Sozklwisscnschaft,
47. Bd., 1920/21, S. 29 f. – VgI. G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie
der Kultur, wo „der Weg der Seele zu sich selbst“ als die der Kultur zugrundeliegende
Tatsache beschrieben wird (Philosophische Kultur, Leipzil< 1919, S. 222). – O. Spengler
bezeichnet die Kultur als „die Verwirklichung des seelisch Möglichen“ (Der Unterg:
1ng d:cs Abendlandes, I. Bd., a. a. 0., S. 418).
68 lIerbert ~arcuse
die ganze ausser-ichliche Welt zur prinzipiell messbaren und in
ihrer Bewegung berechenbaren Materie wird, entzieht sich das Ich
als einzige Dimension der Wirklichkeit dem materialistischen Rationalismus
des aufsteigenden Bürgertums. Indem das Ich als wesensverschiedeneSubstanz
der Körperwelt gegenübertritt, geschieht
eine merkwürdige Auf teilung des Ichs in zwei Bereiche. Das Ich
als Subjekt des Denkens (mens, Geist) bleibt in selbstgewisser
Eigenständigkeit diesseits des Seins der Materie, gleichsam ihr
Apriori, während Descartes das Ich als Seele (anima), als Subjekt
der „Leidenschaften“ (Liebe und Hass, Freude und Trauer, Eifersucht,
Scham, Reue, Dankbarkeit usw.) materialistisch zu erklären
versucht. Die Leidenschaften der Seele werden auf den Blutkreislauf
und dessen Veränderung im Gehirn zurückgeführt. Die
Zurückführung gelingt nicht ganz. Es werden zwar alle Muskelbewegungen
und Sinnesempfindungen von den Nerven abhängig
gedacht, die „wie feine Fäden oder Röhrchen aus dem Gehirn
kommen „, aber die Nerven selbst sollen „eine sehr feine Luft,
einen Hauch enthalten, den man die Lebensgeister nennt. ‚(1)
Trotz dieses immateriellen Restes ist die Tendenz der Interpretation
eindeutig: das Ich ist entweder Geist (Denken, cogito me cogitare)
oder, sofern es nicht bIosses Denken, cogitatio, ist, ist es nicht
mehr eigentlich Ich, sondern körperlich: die ihm zugeschriebenen
Eigenschaften und Tätigkeiten gehören dann der Res extensa an. 2)
Und doch lassen sie sich nicht ganz in Materie auflösen. Die
Seele bleibt ein unbeherrschtes Zwischenreich zwischen der unerschütterlichen
Selbstgewissheit des reinen Denkens und der mathematisch-
physikalischen Gewissheit des materiellen Seins. Das, was
später eigentlich die Seele ausmacht : die Gefühle, Begierden,
Triebe und Sehnsüchte des Individuums fallen schon im Ansatz
der Vernunftphilosophie aus dem System heraus. Die Stellung
der empirischen Psychologie, also der wirklich von der menschlichen
Seele handelnden Disziplin, innerhalb der Vernunftphilosophie
ist charakteristisch : sie kommt vor, ohne durch die Vernunft
selbst gerechtfertigt werden zu können. Kant hat gegen die
Behandlung der empirischen Psychologie innerhalb der rationalen
Metaphysik (bei Baumgarten) polemisiert: sie muss „aus der
Metaphysik gänzlich verbannt sein und ist schon durch die Idee
derselben davon gänzlich ausgeschlossen.“ Aber er fährt fort :
.. Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch doch noch
1) Descartes, über die Leidenschaften der Seele, Artikel VII.
I) Vgl. Descartes‘ Antwort auf die Einwände Gassendls zur zweiten Meditation
(Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, übers. von A. Buchenau,
Leipzig 1915, S. 327 f.).
über den affirmativen Charakter der Kultur 69
immer (obzwar nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten
müssen, und zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch
nicht so reich ist, dass sie allein ein Studium ausmachen, und
doch zu wichtig, als dass man sie ganz ausstossen oder anderwärts
anheften sollte… Es ist also bloss ein so lange aufgenommener
Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt.
bis er in einer ausführlichen Anthropologie ( … ) seine eigene Behausung
wird beziehen können. „1) Und in der Metaphysik-Vorlesung
VOll 1792/93 äussert sich Kant noch skeptischer über diesen
„Fremdling“ : „Ist eine empirische Psychologie als Wissenschaft
möglich? Nein – unsre Kenntnis von der Seele ist gar zu
eingeschränkt. „2)
Die Fremdheit der Vernunftphilosophie gegenüber der Seele
weist auf einen entscheidenden Sachverhalt hin. In den gesellschaftlichen
Arbeitsprozess geht die Seele in der Tat nicht ein.
Die konkrete Arbeit ist auf die abstrakte reduziert, die den Tausch
der Arbeitsprodukte als Waren ermöglicht. Die Idee der Seele
scheint auf die Lebensbezirke hinzudeuten, mit denen die abstrakte
Vernunft der bürgerlichen Praxis nicht fertig wird. Die Bearbeitung
der Materie wird gleichsam nur von einem Teil der Res cogitans
geleistet: von der technischen Vernunft. Beginnend mit der
manufakturmässigen Teilung der Arbeit und vollendet in der
Maschinenindustrie, treten „die geistigen Potenzen des materiellen
Produktionsprozesses „den unmittelbaren Produzenten „alsfremdes
Eigentum und sie beherrschende Macht „3) gegenüber. Sofern das
Denken nicht unmittelbar technische Vernunft ist, löst es sich
seit Descartes mehr und mehr von der bewussten Verbindung
mit der gesellschaftlichen Praxis und lässt die Verdinglichung
stehen, die es selbst befördert. Wenn in dieser Praxis die menschlichen
Beziehungen als sachliche Verhältnisse, als Gesetze der Dinge
selbst erscheinen, so überlässt die Philosophie das Individuum
diesem Schein, indem sie sich auf die transzendentale Konstitution
der Welt in der reinen Subjektivität zurückzieht. Die Transzendentalphilosophie
kommt an die Verdinglichung nicht heran:
sie untersucht nur den Prozess der Erkenntnis der je schon verdinglichten
Welt.
Durch die Dichotomie von Res cogitans und Res extensa wird
die Seele nicht getroffen: sie lässt sich weder als blosse Res cogitans
noch als blosse Res extensa verstehen. Kant hat die rationale
1) Kant, Kritik der reinen Vernunft. Werke, a. a. 0., Bd. UI, S. 567.
I) Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, hrsg. v. A. KowalewskI.
München u. Leipzig 1924, S. 602.
‚) Marx, Das Kapital. Ausgabe Meissner, Hamburg. Bd. I, S. 326.
70 Herbert Marcuse
Psychologie zerstört, ohne die empirische Psychologie zu erreichen.
Bei Hegel ist jede einzelne Bestimmung der Seele vom Geist her
begriffen, in den sie als in ihre Wahrheit übergeht. Die Seele
ist für Hegel wesentlich dadurch charakterisiert, dass sie „noch
nicht Geist“ ist,l) Wo innerhalb seiner Lehre vom subjektiven
Geist die Psychologie, also die menschliche Seele abgehandelt wird,
ist nicht mehr Seele, sondern Geist Leitbegriff. Hegel behandelt
die Seele vornehmlich in der „Anthropologie „, wo sie noch ganz
„an die Naturbestimmungen gebunden“ ist. 2) Hier spricht Hegel
von dem allgemeinen planetarischen Leben, von den natürlichen
Rassen-Unterschieden, von den Lebensaltern, vom Magischen,
vom Somnambulismus, von verschiedenen Formen psychopathischen
Selbstgefühls und – nur auf wenigen Seiten – von der
„wirklichen Seele „, welche ihm nichts anderes ist als der Übergang
zum Ich des Bewusstseins, womit die Seelenlehre als Anthropologie
bereits verlassen und die Phänomenologie des Geistes erreicht ist.
Die Seele verfällt also teils der physiologischen Anthropologie,
teils der Philosophie des Geistes : auch im grössten System der
bürgerlichen Vernunftphilosophie gibt es für die Eigenständigkeit
der Seele ~einen Ort. Die eigentlichen Gegenstände der Psychologie
: Gefühle, Triebe, Wille kommen zu Worte nur als Daseinsformen
des Geistes.
Die affirmative Kultur meint jedoch mit der Seele gerade das,
was nicht Geist ist; ja der Seelenbegriff tritt in einen immer
schärferen Gegensatz zum Geistbegriff. Was mit Seele gemeint
ist, „bleibt dem taghellen Geiste, dem Verstande, der empirischen
Tatsachenforschung für immer unzugänglich… Eher liesse sich
ein Thema von Beethoven mit dem Seziermesser oder Säure zerlegen
als die Seele durch die Mittel des abstrakten Denkens.“3)
Durch die Idee der Seele werden die nicht-leiblichen Vermögen,
Tätigkeiten und Eigenschaften des Menschen (nach der traditionellen
Einteilung sein Vorstellen, Fühlen und Begehren) zu einer
unteilbaren Einheit zusammengefasst, – eine Einheit, welche
sich in allem Verhalten des Individuums manifest durchhält‘ und
erst seine Individualität konstituiert.
Der für die affirmative Kultur typische Begriff der Seele
ist nicht von der PhilosojJhie geprägt worden : die Belege aus
Descartes, Kant und Hege! sollten nur auf die Verlegenheit der
Philosophie gegenüber der Seele hinweisen. 4) Ihren ersten posi-
1) Hegel, Enzyklopacdie der philosophischen Wissenschaften, Bd. Ir, § 388.
2) Ebenda, § 387, Zusatz.
3) O. Spengler, a. a. 0., S. 406. .
‚) Charakteristisch ist die Einführung des SeelenbegrifIs in der Herbartsehen
Psychologie: die Seele ist „nicht irgendwo und nicht irgendwann“ ; sie hat „garkeine
Über den affirmativen Charakter der Kultur 71
tiven Ausdruck hat die Idee der Seele in der Literatur der Renaissance
gefunden. Hier ist die Seele zunächst ein unerforschter
Teil der zu entdeckenden und zu geniessenden Welt, auf den
jene Forderungen erstreckt werden, mit deren Verkündung die
neue Gesellschaft die rationale Beherrschung der Welt durch den
befreiten Menschen begleitet hatte : Freiheit und Selbstwert des
Individuums. Der Reichtum der Seele, des „Innenlebens“ ist
so das Korrelat neu erschlossener Reichtümer des äusseren
Lebens. Das Interesse an den bisher vernachlässigten „individuellen,
unvergleichbaren, lebendigen Zuständen“ der Seele gehörte
zu dem Programm : „sein Leben voll und ganz auszuleben. ‚(1)
Die Beschäftigung mit der Seele“ wirkt auf die zunehmende Differenzierung
der Individualitäten, und sie erhöht das lebensfreudige
Bewusstsein der Menschen von einer in dem Menschenwesen
gegründeten natürlichen Entfaltung. ‚(2) – Von der Vollendung
der affirmativen Kultur, also etwa vom 18. und 19. Jahrhundert
her gesehen, erscheint solcher seelischer Anspruch wie ein unerfülltes
Versprechen. Die Idee der „natürlichen Entfaltung“ ist
geblieben; aber sie meint vor allem die innere Entfaltung. In
der äusseren Welt kann sich die Seele nicht frei ausleben. Die
Organisation dieser Welt durch den kapitalistischen Arbeitsprozess
hat aus der Entfaltung des Individuums die ökonomische Konkurrenz
gemacht und die Befriedigung seiner Bedürfnisse dem Warenmarkt
anheimgestellt. Mit der Seele protestiert die affirmative
Kultur gegen die Verdinglichung, um ihr dann doch zu verfallen.
Die Seele wird als der einzige noch nicht in den gesellschaftlichen
Arbeitsprozess hineingezogene Lebensbereich gehütet. „Das Wort
Seele gibt dem höheren Menschen ein Gefühl seines innern
Daseins, abgetrennt von allem Wirklichen und Gewordnen, ein
sehr bestimmtes Gefühl von den geheimsten und eigensten Möglichkeiten
seines Lebens, seines Schicksals, seiner Geschichte. Es
ist in den Sprachen aller Kulturen von früh an ein Zeichen, in
dem zusammengefasst wird, was nicht Welt ist. ‚(3) Und in dieser
– negativen – Qualität wird sie nun der einzige noch nicht befleckte
Anlagen und Vermögen, weder etwas zu empfangen noch zu produciren“ . „Das
einfache Wesen der Seele ist völlig unbeklumt, und bleibt es auf immer; es ist kein
Gegenstand der speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie“ (Herbart,
Lehrbuch zur Psychologie, § 150-153 ; Sämtliche Werke, hrsg. v. Hartenstein, V. Bd.,
Leipzig 1850, S. 108 f.) ..
1) W. Dil they über Petrarca. In: Weltanschauung und Analyse des Menschen
seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schritten, Bd. 11, Leipzig 1914,
S. 20. – Vgl. Diltheys Analyse des übergangs von der metaphysischen zur „beschreibenden
und zergliedernden“ Psychologie bei L. Vives, ebd., S. 423 11.
I) a. a. 0., S. 18.
8) O. Spengler, a. a. 0., S. 407.
72 Herbert Marcuse
Garant der bürgerlichen Ideale. Die Seele verklärt die Resignation.
Dass es zuletzt, über allen natürlichen und sozialen Unterschieden,
um den Menschen geht, um den einzelnen, unersetzbaren
Menschen, dass zwischen den Menschen Wahrheit, Güte und
Gerechtigkeit sein sollen, dass alle menschlichen Gebrechen durch
reine Menschlichkeit gesühnt werden : solches Ideal lässt sich in
einer durch das ökoriomische Wertgesetz bestimmten Gesellschaft
nur durch die Seele und als seelisches Geschehen darstellen. Nur
von der reinen Seele kann die Rettung ausgehen. Alles andere
ist inhuman, diskreditiert. Die Seele allein hat offenbar keinen
Tauschwert. Der Wert der Seele geht nicht so in ihren Körper
ein, dass er in ihm zum Gegenstand gerinnt und zur Ware werden
kann. Es gibt eine schöne Seele in einem hässlichen Leib, eine
gesunde in einem kranken, eine edle in einem gemeinen – und
umgekehrt. – Ein Kern von Wahrheit liegt in dem Satz, dass,
was mit dem Leibe geschieht, die Seele nicht angreifen kann.
Aber diese Wahrheit hat in der bestehenden Ordnung eine furchtbare
Gestalt angenommen. Die Freiheit der Seele wurde dazu
benutzt, um Elend, Martyrium und Knechtschaft des Leibes zu
entschuldigen. Sie diente der ideologischen Auslieferung des
Daseins an die Ökonomie des Kapitalismus. Aber recht verstanden
weist die Seelenfreiheit nicht auf die Teilnahme des Menschen
an einem ewigen Jenseits hin, wo schliesslich alles gut wird, wenn
das Individuum nichts mehr davon hat. Sie nimmt vielmehr
jene höhere Wahrheit vorweg, dass im Diesseits eine Gestalt des
gesellschaftlichen Daseins möglich ist, in welcher nicht schon die
Ökonomie über das ganze Leben der Individuen entscheidet.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein : solche Wahrheit ist keineswegs
schon durch die falsche Auslegung erledigt, dass seelische
Nahrung ein ausreichender Ersatz für zu wenig Brot sei.
Wie die Seele sich dem Wertgesetz zu entziehen scheint, so
au cl! der Verdinglichung. Sie lässt sich beinahe dadurch definieren,
da’is durch sie alle verdinglichten Beziehungen in menschliche
aufgelöst und aufgehoben werden. Die Seele stiftet eine allumspannende
innere Gemeinschaft der Menschen über die Jahrhunderte
hinweg. „Der erste Gedanke in der ersten menschlichen
Seele hängt mit dem letzten in der letzten menschlichen Seele zusammen.
„1) Seelische Bildung und seelische Grösse einigt die Ungleichheit
und Unfreiheit der alltäglichen Konkurrenz im Reich der
Kultur, darin die Individuen als freie und gleiche Wesen eingehen.
1) Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 2. Teil, 4. Naturgesetz
(Werke, a. a. 0., Bd. V, S. 135).
über den affirmativen Charakter der Kultur 73
Wer auf die Seele sieht, sieht durch die ökonomischen Verhältnisse
hindurch die Menschen selbst. Wo die Seele spricht, da wird die
zufällige Stellung und Wertung der Menschen im Gesellschaftsprozess
transzendiert. Liebe durchbricht die Schranken zwischen
reich und arm, hoch und niedrig. Freundschaft hält selbst
den Verstossenen und Verachteten die Treue, und die. Wahrheit
erhebt noch vor dem Thron des Tyrannen ihre Stimme. Die
Seele entfaltet sich, trotz aller sozialen Hemmnisse und Verkümmerungen,
im Innern des Individuums : der kleinste Lebensraum
ist gross genug, um sich zum unendlichen Seelenraum erweitern
zu können. – So hat die affirmative Kultur in ihrem klassischen
Zeitalter immer wieder die Seele gedichtet.
Die Seele des Individuums ist zunächst abgehoben gegen seinen
Leib. Wenn sie als der entscheidende Bereich des Lebens in
Anspruch genommen wird, so kann dies zweierlei meinen : einmal
eine Freigabe der Sinnlichkeit (als des irrelevanten Lebensbereiches)
oder aber eine Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Herrschaft
der Seele. Die affirmative Kultur hat eindeutig die zweite Richtung
eingeschlagen. Freigabe der Sinnlichkeit wäre Freigabe des
Genusses. Sie setzt das Fehlen des schlechten Gewissens voraus
und eine reale Möglichkeit der Befriedigung. In der bürgerlichen
Gesellschaft wirkt ihr in steigendem Masse die Notwendigkeit einer
. Disziplinierung unbefriedigter Massen entgegen. Es wird eine der
entscheidenden Aufgaben der kulturellen Erziehung, den Genuss
zu verinnerlichen durch Beseelung. Indem die Sinnlichkeit in
das seelische Geschehen hineingenommen wird, soll sie gezügelt
und verklärt werden. Aus der Verkoppelung von Sinnlichkeit
und Seele erwächst die bürgerliche Idee von Liebe.
Die Beseelung der Sinnlichkeit verschmilzt die Materie mit
dem Himmel, den Tod mit der Ewigkeit. Je schwächer der Glaube
an das himmlische Jenseits wird, umso stärker die Verehrung des
seelischen Jenseits. In die Idee der Liebe wurde die Sehnsucht
nach der Ständigkeit irdischen Glücks, nach dem Segen der Unbedingtheit,
nach der Überwindung des Endes aufgenommen. Die
Liebenden der bürgerlichen Dichtung lieben gegen die alltägliche
Unbeständigkeit, gegen die Realitätsgerechtigkeit, gegen die
Knechtung des Individuums, gegen den Tod. Er kommt nicht
von aussen : er kommt aus der Liebe selbst. Die Befreiung des
Individuums vollzog sich in einer Gesellschaft, welche sich nicht
auf der Solidarität, sondern auf dem Interessengegensatz der
Individuen aufbaute. Das Individuum gilt als eigenständige
selbstgenügsame Monade. Seine Beziehung zur (menschlichen
und ausser-menschlichen) Welt ist entweder eine abstrakt unmittelbare
: das Individuum konstituiert in sich selbst je schon die
74 Herbert Marcuse
Welt (als erkennendes, fühlendes, wollendes Ich), – oder eine
abstrakt vermittelte : sie wird durch die blinden Gesetze der
Warenproduktion und des Marktes bestimmt. In beiden Fällen
wird die monadische Isolierung des Individuums nicht aufgehoben.
Ihre Überwindung würde die Herstellung einer wirklichen Solidarität
bedeuten; sie setzt die Aufhebung der individualistischen
Gesellschaft in einer höheren Form des gesellschaftlichen Daseins
voraus.
Die Idee der Liebe fordert aber die individuelle Überwindung
der monadischen Isolierung. Sie will die erfüllende Hingabe der
Individualität in der unbedingten Solidarität von Person zu Person.
Diese vollendete Hingabe erscheint einer Gesellschaft, in der das
Gegeneinander der Interessen das principium individuationis ist,
rein nur im Tode. Denn nur der Tod beseitigt alle jene äusserlichen,
eine dauernde Solidarität zerstörenden Bedingtheiten, im
Kampf mit denen die Individuen sich aufreiben. Er erscheint
nicht als das Aufhören des Daseins im Nichts, vielmehr als die einzig
mögliche Vollendung der Liebe und so gerade als ihr tiefster Sinn.
Während die Liebe in der Kunst zur Tragödie erhöht wird,
droht sie im bürgerlichen Alltag zur bIossen Pflicht und Gewohnheit
zu werden. Die Liebe enthält das individualistische Prinzip
der neuen Gesellschaft in sich : sie verlangt Ausschliesslichkeit.
Solche Ausschliesslichkeit erscheint in der Forderung unbedingter
Treue, die von der Seele her auch die Sinnlichkeit verpflichten soll.
Aber die Beseelung der Sinnlichkeit mutet dieser etwas zu, was sie
nicht leisten kann : sie soll dem Wechsel und der Veränderung
entzogen und in die Einheit und Unteilbarkeit der Person hinein‘
genommen werden. An diesem einen Punkt soll eine prästabilierte
Harmonie zwischen Innerlichkeit und Äusserlichkeit, Möglichkeit
und Wirklichkeit bestehen, welche gerade durch das anarchische
Prinzip der Gesellschaft überall zerstört ist. Dieser Widerspruch
macht die ausschliessende Treue unwahr und verkümmert
die Sinnlichkeit, welche in der verstohlenen Gemeinheit des Spiessbürgers
einen Ausweg findet.
Die rein privaten Beziehungen wie Liebe und Freundschaft
sind die einzigen Verhältnisse, in denen sich die Herrschaft der
Seele unmittelbar in der Wirklichkeit bewähren soll. Sonst hat
die Seele vor allem die Funktion, zu den Idealen zu erheben,
ohne deren Verwirklichung zu urgieren. Die Seele hat eine beruhigende
Wirkung. Weil sie von der Verdinglichung ausgenommen
wird, leidet sie auch am wenigsten an ihr und setzt ihr den
schwächsten Widerstand entgegen. Da Sinn und Wert der Seele
nicht in der geschichtlichen Realität aufgehen, kann sie sich
schadlos halten auch in einer schlechten Realität. Seelische Freuüber
den affirmativen Charakter der Kultur 75
den sind billiger als leibliche: sie sind gefahrloser und werden gerne
gewährt. – Es ist ein wesentlicher Unterschied der Seele vom
Geiste, nicht auf die kritische Erkenntnifder Wahrheit ausgerichtet
zu sein. Wo der Geist schon verurtiilen muss, kann die Seele
noch verstehen. Das begreifende Erkennen sucht das eine vom
andern zu sondern und hebt den Gegensatz nur auf Grund der
„kalt fortschreitenden Notwendigkeit der Sache“ auf; der Seele
versöhnen sich alle „äusseren“ Gegensätze schnell in irgendeiner
„inneren“ Einheit. Wenn es eine abendländische, germanische,
faustische Seele gibt, dann gehört zu ihnen auch eine abendländische,
germanische, faustische Kultur, und dann sind die feudalistische,
kapitalistische, sozialistische Gesellschaft nur Manifestationen
solcher Seelen, und ihre harten Gegensätze lösen sich in der schönen
und tiefen Einheit der Kultur auf. Die versöhnende Natur der
Seele zeigt sich deutlich dort, wo die Psychologie zum Organon
der Geisteswissenschaften gemacht wird, ohne in einer hinter die
Kultur zurückgreifenden Theorie der Gesellschaft fundiert zu sein.
Die Seele hat eine starke Affinität zum Historismus. Schon bei
Herder soll die vom Rationalismus befreite Seele sich überall
„einfühlen“ können : „ganze Natur der Seele, die durch Alles
herrscht, die alle übrigen Neigungen und Seelenkräfte nach sich
modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbt – um
diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe
in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, ‚fühle
dich in alles hinein … „1). In ihrer Eigenschaft universaler Einfühlung
entwertet die Seele die Unterscheidung des Richtigen und
Falschen, Guten und Schlechten, Vernünftigen und Unvernünftigen,
welche durch die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit im
Hinblick auf die erreichbaren Möglichkeiten der materiellen Daseinsgestaltung
gegeben werden kann. Jede geschichtliche Epoche
manifestiert dann, nach Rankes Wort, eine andere Tendenz desselben
menschlichen Geistes; jede hat ihren Sinn in sich, „und
ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was“aus ihr hervorgeht, sondern
in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst. „2) – Seele sagt
noch nichts für die Richtigkeit der Sache, die sie vertritt. Sie
kann eine schlechte Sache gross machen (der Fall Dostojewskis).3)
1) Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit.
Werke, a. a. 0., Bd. V, S. 503.
„) Ranke, über die Epochen der neueren Geschichte, 1. Vortrag (Das politische
GesprAch und andere Schriften zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Erich Rothacker,
Halle 1925, S. 61 f.). “
8) über den quietistischen Charakter seelischer Forderungen bei Dostojewski
vgl. L. Löwenthai, Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, Jahr·
gang III (1934), dieser Zeitschrift, S. 363.
76 Herbert Marcuse
Die tiefen und feinen Seelen mögen in dem Kampf um eine bessere
Zukunft der Menschen abseits oder auf der falschen Seite stehen.
Vor der harten Wahrheit der Theorie, welche die Notwendigkeit
der Veränderung einer elenden Daseinsform aufzeigt, erschrickt
die Seele: wie kann eine äussere Umgestaltung über die eigentliche,
die innere Substanz des Menschen entscheiden! Seele lässt weich
und gefügig werden und den Tatsachen gehorchen, auf die es ja
zuletzt doch nicht ankomme. So konnte die Seele als ein nützlicher
Faktor in die Technik der Massenbeherrschung eingehen, als, in
der Epoche der autoritären Staaten, alle verfügbaren Kräfte gegen
eine wirkliche Veränderung des gesellschaftlichen Daseins mobilgemacht
werden mussten. Mit Hilfe der Seele hat das späte
Bürgertum seine einstigen Ideale begraben. Dass es auf die Seele
ankomme, eignet sich gut zum Stichwort, wenn es nur noch auf
die Macht ankommt.
Aber es kommt wirklich auf die Seele an : auf das unausgesprochene,
unerfüllte Leben des Individuums. In die Kultur der
Seele sind – in falscher Form – diejenigen Kräfte und Bedürfnisse
eingegangen, welche im alltäglichen Dasein keine Stätte finden
konnten. Das kulturelle Ideal hat die Sehnsucht nach einem
glücklicheren Leben aufgenommen : nach Menschlichkeit, Güte,
Freude, Wahrheit, Solidarität. Doch sie alle sind mit dem affirmativen
Vorzeichen versehen: einer höheren, reineren, nicht-alltäglichen
Welt anzugehören. Sie werden entweder zur Pflicht
der einzelnen Seele verinnerlicht (so soll die Seele erfüllen, was im
äusseren Dasein des Ganzen ständig verraten wird) oder als
Gegenstände der Kunst dargestellt (so wird ihre Realität einem
Reich zugewiesen, das wesentlich nicht das des tatsächlichen Lebens
ist). – Wenn das kulturelle Ideal hier vor allem an der Kunst
exemplifiziert wird, so hat das seinen Grund: Nur in der Kunst
hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen
Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen.
Was in der Tatsächlichkeit als Utopie, Phantasterei, Umsturz
gilt, ist dort gestattet. In der Kunst hat die affirmative Kultur
die vergessenen Wahrheiten gezeigt, über die im Alltag die Realitätsgerechtigkeit
triumphiert. Das Medium der Schönheit entgiftet
die Wahrheit und rückt sie ab von der Gegenwart. Was
in der Kunst geschieht, verpflichtet zu nichts. Sofern solche
schöne Welt nicht überhaupt als längst vergangene dargestellt
wird (das klassische Kunstwerk siegender Humanität, Goethes
Iphigenie, ist ein „historisches“ Drama), wird sie, eben durch
den Zauber der Schönheit, entaktuaIisiert.
Im Medium der Schönheit durften die Menschen am Glück
teilhaben. Aber auch nur im Ideal der Kunst wurde die Schönheit
Über den affirmativen Charakter der Kultur 77
mit gutem Gewissen bejaht, denn an sich hat sie eine gefährliche,
die gegebene Gestalt des Daseins bedrohende Gewalt. Die unmittelbare
Sinnlichkeit der Schönheit verweist unmittelbar auf sinnliches
Glück. Nach Hume gehört es zum entscheidenden Charakter
der Schönheit, Lust zu erregen: Lust ist nicht nur eine Begleiterscheinung
der Schönheit, sondern konstituiert ihr Wesen selbst.l)
Und für Nietzsehe erweckt die Schönheit „die aphrodisische Seligkeit“
wieder: er polemisiert gegen Kants Definition, des Schönen
als interesselosen Wohlgefallens und hält ihr Stendhals Satz entgegen,
dass die Schönheit „une promesse de bonheur H sei. 2) Darin liegt
ihre Gefahr in einer Gesellschaft, die das Glück rationieren und
regulieren muss. Schönheit ist eigentlich schamlos3) : sie stellt
zur Schau, was nicht offen verheissen werden darf und was‘
den meisten versagt ist. Von ihrer Verbindung mit dem Ideal
getrennt: im Bereich der biossen Sinnlichkeit, verfällt die Schönheit
daher der allgemeinen Entwertung dieser Sphäre. Von allen seelischen
und geistigen Ansprüchen gelöst, darf die Schönheit nur in
sehr genau begrenzten Bereichen mit gutem Gewissen genossen
werden: in dem Bewusstsein, dass man sich dabei auf kurze Zeit
entspannt und verliert. – Die bürgerliche Gesellschaft hat die
Individuen befreit, aber als Personen, die sich seIbst in Zucht
halten sollen. Die Freiheit hing von Anfang an davon ab, dass
der Genuss verpönt blieb. Den Menschen zum Mittel der Lust zu
machen, kennt die in Klassen zerspaltene Gesellschaft ohnehin
nur als Knechtschaft und Ausbeutung. Indem die beherrschten
Schichten in der neuen Ordnung nicht mehr unmittelbar mit ihren
Personen zu Diensten standen, sondern mittelbar durch Produktion
von Mehrwert für den Markt verwendet wurden, galt es als unmenschlich,
den Körper der Beherrschten als Lustquelle auszunutzen
und so die Menschen direkt als Mittel zu gebrauchen (Kant) ; die
Einspannung ihrer Körper und Intelligenz für den Profit dagegen
als natürliche Betätigung der Freiheit. Entsprechend wurde
für den Armen die Verdingung in der Fabrik zur moralischen
Pflicht, die Verdingung des Leibes als Mittel der Lust aber zur
V#!rworfenheit, zur „Prostitution H. – Das Elend ist auch in dieser
Gesellschaft die Bedingung von Gewinn und Macht. Die Abhän-
1) D. Hume, A Treatise of Human Nature, Book 11, Part I, Section VIII (Edition
L. A. Selby-Rigge, Oxford 1928, S. 301).
2) Nietzsche, Werke, Grossoktavausgabe 1917, Bd. XVI, S. 233 und Bd. VII,
S.408.
8) Goethe, Faust 11, Phorkias : „Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr
der Sinn, Dass Scham und Schönheit nie zusammen Hand in Hand Den Weg verfolgen
über der Erde grünen pfad“ (Werke, Cotiasche Jubiläumsausgabe, Bd. XIII,
S. 159).
78 Herbert l\Iarcuse
gigkeit vollzieht sich jedoch im Medium der abstrakten Freiheit.
Der Verkauf der Arbeit~kraft soll auf Grund eigener Entscheidung
des Armen geschehen. Die Arbeit leistet er im Dienst seines
Brotherrn ; seine Person an sich, von ihren gesellschaftlich wertvollen
Funktionen getrennt, dieses Abstraktum darf er für sich
behalten und als Heiligtum ausbauen. Er soll es rein bewahren.
Das Verbot, jen Körper anstatt bloss als Arbeitsinstrument auch
als Lustinstrument auf den Markt zu bringen, ist eine soziale und
psychische Hauptwurzel der bürgerlich-patriarchalischen Ideologie.
An diesem Punkt werden der Verdinglichung Grenzen gesetzt,
deren Einhaltung für das System lebenswichtig ist. Soweit trotzdem
auch der Körper als Erscheinung oder als Träger der
Geschlechtsfunktion gewissermassen zur Ware wird, geschieht dies
unter allgemeiner Verachtung. Das Tabu ist verletzt. Das gilt
nicht nur für die Prostitution, sondern für alle Erzeugung von
Lust, sofern sie nicht aus „sozialhygienischen “ Gründen mit zur
Reproduktion gehört. Die in halb-mittelalterlichen Formen zurückgehaltenen,
an den untersten Rand gedrängten, weitgehend demoralisierten
Schichten bilden jedoch unter‘ solchen Umständen eine
vordeutende Erinnerung. Wo der Körper ganz zur Sache, zum
schönen Ding geworden ist, kann er ein neues Glück ahnen lassen.
Im äussersten Erleiden der Verdinglichung triumphiert der Mensch
über die Verdinglichung. Die Artistik des schönen Körpers, wie
sie sich heute einzig noch in Zirkus, Variete und Revue zeigen
darf, diese spielerische Leichtigkeit und Gelöstheit kündet die
Freude an der Befreiung vom Ideal an, zu welcher der Mensch
gelangen kann, wenn die in Wahrheit zum Subjekt gewordene
Menschheit einmal die Materie beherrscht. Wenn die Verbindung
mit dem affirmativen Ideal aufgehoben ist, wenn im Zusammenhang
einer wissenden Existenz, ohne jede Rationalisierung und ohne das
geringste puritanische Schuldgefühl wirklich genossen wird, wenn
die Sinnlichkeit von der Seele also ganz freigegeben ist, dann
entsteht der erste Glanz einer anderen Kultur.
Aber in der affirmativen Kultur gehören die „seelenlosen“
Bezirke eben nicht mehr zur Kultur. Sie werden – wie jedes
andere Gut der Zivilisationssphäre – offen dem ökonomischen
Wertgesetz überlassen. Nur die beseelte Schönheit und ihr beseelter
Genuss wurde in die Kultur hineingelassen. Weil die Tiere
unfähig sind, Schönheit zu erkennen und zu geniessen, so folgt
daraus für Shaftesbury, dass auch der Mensch nicht mittels der
Sinne oder „des tierischen Teils seines Wesens Schönheit erfassen
oder geniessen kann, sondern dass sein Geniessen des Schönen und
Guten sich durchweg auf edlere Art vollzieht, mit Hilfe des Edelsten,
was es gibt, seines Geistes und seiner Vernunft… Wenn
über den affirmativen Charakter der Kultur 79
man die Lust nicht in die Seele, sondern sonst wohin verlegt „,
dann wird „der Genuss selbst nichts Schönes und seine Erscheinung
ohne Reiz und Anmut sein. „1) Nur im Medium der idealen Schönheit,
in der Kunst, durfte das Glück als kultureller Wert mit dem
Ganzen des gesellschaftlichen Lebens reproduziert werden. Nicht
in den beiden anderen Kulturgebieten, die sich sonst mit der Kunst
in die Darstellung der idealen Wahrheit teilen : Philosophie und
Religion. Die Philosophie wurde in ihrer idealistischen Richtung
immer misstrauischer gegen das Glück; und die Religion gewährte
ihm erst im Jenseits einen Raum. Die ideale Schönheit war die
Gestalt, in der die Sehnsucht sich aussprechen und das Glück
genossen werden konnte; so wurde die Kunst zu einem Vorboten
möglicher Wahrheit. Oie klassische deutsche Ästhetik hat das
Verhältnis zwischen Schönheit und Wahrheit in der Idee einer
ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts aufgefasst.
Schiller sagt, dass das „politische Problem“ einer besseren Organisation
der Gesellschaft „durch das ästhetische den Weg nehmen
muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit
wandert. „2) Und in seinem Gedicht „Die Künstler“ spricht er das
Verhältnis zwischen der bestehenden und der kommenden Kultur
in den Versen aus: „Was wir als Schönheit hier empfunden, Wird
einst als Wahrheit uns entgegengehn.“ Nach dem Mass an gesellschaftlich
zugelassener Wahrheit und an Gestalt geworden em
Glück ist die Kunst innerhalb der affirmativen Kultur das höchste
und für die Kultur repräsentativste Gebiet. „Kultur: Herrschaft
der Kunst über das Leben „, so hat Nietzsche einmal definiert. 3)
Was qualifiziert die Kunst zu dieser einzigartigen Rolle?
Die Schönheit der Kunst ist – anders als die Wahrheit der
Theorie – verträglich mit der schlechten Gegenwart: in ihr kann
sie Glück gewähren. Die wahre Theorie erkennt das Elend
und die Glücklosigkeit des Bestehenden. Auch wo sie den Weg
zur Veränderung zeigt, spendet sie keinen mit der Gegenwart
versöhnenden Trost. In einer glücklosen Welt muss aber das
Glück immer ein Trost sein : der Trost des schönen Augenblicks
in der nicht enden-wollenden Kette von Unglück. Der Genuss
des Glücks ist in den Augenblick einer Episode zusammengedrängt.
Der Augenblick aber trägt die Bitterkeit seines Verschwindens
in sich. Und bei der Isoliertheit der einsamen‘ Individuen ist
niemand da, bei dem das eigene Glück nach dem Verschwinden
1) Shaftesbury, Die Moralisten, 3. Teil, 2. Abschnitt (Deutsch von Karl Wolff,
Jena 1910, S. 151 f.).
‚) über die ästhetische Erziehung des Menschen, Ende des Zweiten Briefes.
3) Nietzsche, Werke, a. a. 0., Bd. X, S. 245.
80 Herbert Marcuse
des Augenblicks aufbewahrt wäre, niemand, der nicht derselben
Isolierung verfiele. Die Vergänglichkeit, die nicht eine Solidarität
der Überlebenden zurücklässt, bedarf der Verewigung, um überhaupt
ertragbar zu sein, denn sie wiederholt sich in jedem Augenblick
des Daseins und nimmt den Tod gleichsam in jedem Augenblick
vorweg. Weil jeder Augenblick den Tod in sich trägt, muss
der schöne Augenblick als solcher verewigt werden, um überhaupt
so etwas wie Glück möglich zu machen. Die affirmative Kultur
verewigt in dem von ihr gebotenen Glück den schönen Augenblick;
sie verewigt das Vergängliche.
Eine der entscheidenden gesellschaftlichen Aufgaben der affirmativen
Kultur gründet in diesem Widerspruch zwischen der
glücklosen Vergänglichkeit eines schlechten Daseins und der N otwendigkeit
des Glücks, das solches Dasein erträglich macht.
Innerhalb jenes Daseins selbst kann die Auflösung nur eine
scheinbare sein. Gerade auf dem Schein-Charakter der KunstSchönheit
beruht die Möglichkeit der Lösung. – Einerseits darf
Genuss des Glücks nur in beseelter, idealisierter Gestalt freigegeben
werden. Andererseits hebt die Idealisierung den Sinn des Glücks
auf : das Ideal kann nicht genossen werden; alle Lust ist ihm
fremd, sie würde die Strenge und Reinheit zerstören, die ihm in der
ideal-losen Wirklichkeit dieser Gesellschaft zukommen müssen,
wenn anders es seine verinnerlichende, disziplinierende Funktion
soll erfüllen können. Das Ideal, dem die entsagende, sich selbst
unter den kategorischen Imperativ der Pflicht stellende Person
nacheifert (dieses kantische Ideal ist nur die Zusammenfassang
aller affirmativer Tendenzen der Kultur), ist unempfindlich gegen
das Glück; es kann weder Glück noch Trost erwecken, da es nie
gegenwärtige Befriedigung gibt. Soll das Individuum wirklich
dem Ideal so verfallen können, dass es seine faktischen Sehnsüchte
und Bedürfnisse in ihm wiederzufinden glaubt, und zwar als erfüllte,
befriedigte wiederzufinden glaubt, – dann muss das Ideal den
Schein gegenwärtiger Befriedigung haben. Es ist diese ScheinWirklichkeit,
die weder die Philosophie noch die Religion zu erreichen
vermag: nur die Kunst erreicht sie, – eben im Medium der
Schönheit. Goethe hat die trügende und tröstende Rolle der
Schönheit verraten: „Der menschliche Geist befindet sich in einer
herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen
Gegenstand erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in
diesem Zustand nicht lange verharren; der Gattungsbegriff liess
ihn kalt, das Ideale erhob ihn über sich selbst; nun aber möchte
er in sich selbst wieder zurückkehren; er möchte jene frühere
Neigung, die er zum Individuo gehegt, wieder geniessen, ohne in
jene Beschränktheit zurückzukehren, und will auch das Bedc:uüber
den affirmativen Charakter der Kultur 81
tende, das Geisterhebende nicht fahren lassen. Was würde aus
ihm in diesem Zustande werden, wenn die Schönheit nicht einträte
und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen
erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe
mildert und himmlischen Reiz darüber ausgiesst, bringt sie es
uns wieder näher. Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis
durchlaufen, es ist nun wieder eine Art Individuum, das wir mit
Neigung umfassen, .das wir uns zueignen können. „1)
Nicht dass die Kunst die ideale Wirklichkeit darstellt, sondern
dass sie sie als schöne Wirklichkeit darstellt, ist in diesem Zusammenhang
entscheidend. Die Schönheit gibt dem Ideal den Charakter
des Liebenswerten, Beseligenden, Befriedigenden – des
Glücks. Sie erst macht den Schein der Kunst vollkommen, indem
erst durch sie die Scheinwelt den Anschein der Vertrautheit, Gegenwärtigkeit
– also Wirklichkeit erweckt. Der Schein bringt tatsächlich
etwas zum Erscheinen : in der Schönheit des Kunstwerks
kommt die Sehnsucht einen Augenblick zur Erfüllung: der Aufnehmende
empfindet Glück. Und einmal im Werk Gestalt geworden,
kann der schöne Augenblick ständig wiederholt werden; er
ist im Kunstwerk verewigt. Der Aufnehmende kann solches Glück
im Kunstgenuss immer wieder reproduzieren.
Die affirmative Kultur war die geschichtliche Form, in der
die über die materielle Reproduktion des Daseins hinausgehenden
Bedürfnisse der Menschen aufbewahrt blieben, und insofern gilt
von ihr wie von der Form der gesellschaftlichen Wirklichkeit,
der sie zugehört: das Recht ist auch auf ihrer Seite. Sie hat zwar
die „äusseren Verhältnisse“ von der Verantwortung um die
„Bestimmung des Menschen“ entlastet, – so stabilisiert sie deren
Ungerechtigkeit, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren
Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist. Das Bild
ist verzerrt, und die Verzerrung hat alle kulturellen Werte des
Bürgertums gefälscht. Trotzdem ist es ein Bild des Glücks :
Es ist ein Stück irdischer Seligkeit in den Werken der grossen
bürgerlichen Kunst, auch wenn sie den Himmel malen. Das
Individuum ge ni esst die Schönheit, Güte, den Glanz und den
Frieden, die sieghafte Freude; ja es geniesst den Schmerz und das
Leid, das Grausame und das Verbrechen. Es erlebt eine Befreiung.
Und es versteht und findet Verständnis, Antwort auf seine Triebe
und Forderungen. Eine private Durchbrechung der Verdinglichung
findet statt. In der Kunst braucht man nicht realitätsgerecht
zu sein: hier kommt es auf den Menschen an, nicht auf
1) Goethe, Der Sammler und die Seinigen (gegen Ende des Sechsten Briefes).
82 lierbert ~arcuse
seinen Beruf, seine Stellung. Das Leid ist Leid und die Freude
Freude. Die Welt erscheint wieder als das, was sie hinter der
Warenform ist : eine Landschaft ist wirklich eine Landschaft,
ein Mensch wirklich ein Mensch und ein Ding wirklich ein Ding.
Das gibt es, und daran hat man trotz alledem noch Teil!
In jener Gestalt des Daseins, dem die affirmative Kultur zugehört,
ist „das Glück am Dasein… nur möglich als Glück am
Schein. „1) Aber der Schein hat eine reale Wirkung: es findet eine
Befriedigung statt. Ihr Sinn jedoch wird entscheidend verändert:
sie tritt in den Dienst des Bestehenden. Die rebellische Idee
wird zum Hebel der Rechtfertigung. Dass es eine höhere Welt,
ein höheres Gut als das materielle Dasein gibt, verdeckt die Wahrheit,
dass ein besseres materielles Dasein geschaffen werden kann,
in dem solches Glück wirklich geworden ist. In der affirmativen
Kultur wird sogar das Glück zu einem Mittel der Einordnung und
Bescheidung. Wie die Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt,
bringt sie die revoltierende Sehnsucht zur Ruhe. Zusammen mit
den anderen Kulturgebieten hat sie zu der grossen erzieherischen
Lristung dieser Kultur beigetragen : das befreite Individuum,
für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht
hatte, so zu disziplinieren, dass es die Unfreiheit des gesellschaftlichen
Daseins ertrage. Der offenbare Gegensatz zwischen den
gerade mit Hilfe des modernen Denkens erschlossenen Möglichkeiten
eines reichen Lebens und der armen faktischen Gestalt des
Lebens drängte dieses Denken immer wieder dazu, seine eigenen
Ansprüche zu verinnerlichen, seine eigenen Konsequenzen abzubiegen.
Es gehörte eine jahrhundertlange Erziehung dazu, um
jenen grossen und alltäglich reproduzierten Schock erträglich zu
machen : auf der einen Seite die dauernde Predigt von der unabdingbaren
Freiheit, Grösse und Würde der Person, von der Herrlichkeit
und Autonomie der Vernunft, von der Güte der Humanität
und der unterschiedslosen Menschenliebe und Gerechtigkeit, ~
und auf der anderen Seite die allgemeine Erniedrigung des grössten
Teils der Menschheit, die Vernunftlosigkeit des gesellschaftlichen
Lebensprozesses, der Sieg des Arbeitsmarktes über die Humanität,
des Profits über die Menschenliebe. „Auf dem Boden des verarmten
Lebens … ist die ganze Falschmünzerei der Transzendenz und
des Jenseits aufgewachsen ‚(2), aber die Einstreuung des kulturellen
Glücks in das Unglück, die Beseelung der Sinnlichkeit mildert
die Armseligkeit und Krankhaftigkeit solchen Lebens zu einer
„gesunden“ Arbeitsfähigkeit. Es ist das eigentliche Wunder der
1) Nietzsehe, Werke, a. a. 0., Bd. XIV, 1>. 3G6.
2) Nietzsehe, Werke, a. a. 0., Dd. VIII, S. 41.
über den affirmativen Charakter der Kultur 83
affirmativen Kultur. Die Menschen könne’n sich glücklich fühlen,
. auch wenn sie es gar nicht sind. Die Wirkung des Scheins macht
selbst die Behauptung eigenen Glücklichseins unrichtig. Das
Individuum, auf sich selbst zurückgeworfen, lernt seine Isolierung
ertragen und in gewisser Weise lieben. Die faktische Einsamkeit
wird zur metaphysischen Einsamkeit gesteigert und erhält als
solche die ganze Weihe und Seligkeit der inneren Fülle bei äusserer
Armut. Die affirmative Kultur reproduziert und verklärt in ihrer
Idee der Persönlichkeit die gesellschaftliche Isolierung und Verarmung
der Individuen. .
Die Persönlichkeit ist der Träger des kulturellen Ideals. Sie
soll die Glückseligkeit darstellen, wie sie diese Kultur als höchs~es
Gut proklamiert : die private Harmonie inmitten der allgemeinen
Anarchie, freudige Aktivität inmitten saurer Arbeit. Sie hat alles
Gute in sich aufgenommen und alles Schlechte abgestossen oder
veredelt. – Es kommt nicht darauf an, dass der Mensch sein Leben
lebt; es kommt darauf an, dass er es so gut wie möglich lebt.
Das ist einer der Leitsätze der affirmativen Kultur. Mit „gut“
ist dabei wesentlich die . Kultur selbst gemeint: Anteilnahme an
den seelischen und geistigen Werten, Durchformung des individuellen
Daseins mit der Menschlichkeit der Seele und mit der Weite
des Geistes. Das Glück des unrationalisierten Genusses ist aus
dem Ideal der Glückseligkeit herausgefallen. Solche Glückseligkeit
darf die Gesetze der bestehenden Ordnung nicht verletzen und
braucht sie auch nicht zu verletzen: sie ist in ihrer Immanenz zu
realisieren. Die Persönlichkeit, wie sie mit der Vollendung der
affirmativen Kultur „höchstes Glück“ der Menschen sein soll,
hat die Grundlagen des Bestehenden zu respektieren; Achtung
vor den gegebenen Herrschaftsverhältnissen gehört zu ihren Tugenden.
Sie darf nur über die Stränge schlagen, solange sie sich
dessen bewusst bleibt, und sofern sie den Ausbruch wieder in ihre
Haltung zurücknimmt.
Das war nicht immer so. Ehe;:1als, in den Anfängen der neueren
Epoche, zeigte die Persönlichkeit ein anderes Gesicht. Sie
gehörte zunächst – wie die Seele, deren vollendete menschliche
Verkörperung sie sein sollte, – zur Ideologie der bürgerlichen
Befreiung des Individuums. Die Person war die Quelle aller Kräfte
und Eigenschaften, welche das Individuum dazu befähigten, Hf>u
seines Schicksals zu werden, seine Umwelt nach seinen Bedürfnissen
zu gestalten. Jacob Burckhardt hat diese Idee der Persönlichkeit
am „uomo universale“ der Renaissance dargestellt.!) Wenn das
‚) Die Kultur der Renaissance in Italien. 11. Aull., besorgt von L. Geiger, Leipzig
1913; besonders Bd. I, S. 150 II.
84 Herbert Marcuse
Individuum als Persönlichkeit angesprochen wurde, so sollte damit
betont werden, dass es alles, was es aus sich gemacht hatte, nur
sich selbst verdankte, – nicht seinen Vorfahren, seinem Stand,
seinem Gott. Das Kennzeichen der Persönlichkeit war keineswegs
nur ein seelisches (eine „schöne Seele „), vielmehr Macht, Ein fluss,
Ruhm, – ein möglichst weiter und gefüllter Lebensraum seiner
Taten. – In dem Begriff der Persönlichkeit, wie er seit Kant repräsentativ
für die affirmative Kultur ist, spürt man nichts mehr von
solchem expansiven Aktivismus. Herr ihres Daseins ist die Persönlichkeit
nur noch als seelisches und sittliches Subjekt. Die
„Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur“,
die jetzt ihr Wesen kennzeichnen sol11), ist nur noch eine „intelligib
eIe “ Freiheit, welche die gegebenen Lebensumstände als Material
der Pflicht hinnimmt. Der Raum der äusseren Erfüllung ist
sehr klein, der Raum .der inneren Erfüllung sehr gross geworden.
Das Individuum hat gelernt, alle Forderungen zunächst an sich
selbst zu stellen. Die Herrschaft der Seele ist anspruchsvoller
nach innen und bescheidener nach aussen geworden. Die Person
ist nun nicht mehr ein Sprungbrett für den Angriff auf die Welt,
sondern eine geschützte Rückzugslinie hinter der Front. In ihrer
Innerlichkeit, als sittliche Person, ist sie der einzig sichere Besitz,
der dem Individuum nicht verloren gehen kann. 2) Sie ist die Quelle
nicht mehr der Eroberung, sondern der Entsagung. Persönlichkeit
ist vor allem der Entsagende, der Mensch, der sich zu seiner Erfüllung
innerhalb der vorgegebenen Umstände durchringt, mögen
diese auch noch so arm sein. Er findet seine Glückseligkeit im
Bestehenden. – Aber noch in solcher verarmten Form enthält
die Idee der Persönlichkeit das vorwärtstreibende Moment, dass
es zuletzt um das Individuum geht. Die kulturelle Vereinzelung
der Individuen zu in sich geschlossenen, ihre Erfüllung in sich
selbst tragenden Persönlichkeiten entspricht immerhin noch einer
liberalen Methode der Disziplinierung, die über einen bestimmten
Bereich privaten Lebens keine Herrschaft fordert. Sie lässt das
Individuum als Person bestehen, solange es den Arbeitsprozess
nicht stört, und lässt die immanenten Gesetze dieses Arbeitsprozesses,
die ökonomischen Mächte für die gesellschaftliche Eingliederung
der Menschen sorgen.
1) Kan t, Kritik der praktischen Vernunft, I. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück. Werke,
a. a. 0., Bd. V, S. 95.
„) Das in der Idee der Persönlichkeit liegende „Nur“ hat Goethe einmal so
ausgesprochen: „Man mäkelt an der Persönlichkeit, Vernünftig, ohne Scheu; Was
habt ihr denn aber, was euch erfreut, Als eure liebe Persönlichkeit? Sie sei auch,
wie sie sei.“ (Zahme Xenien, Werke, a. a. 0., Bd. IV, S. 54).
Cber den affirmativen Charakter der Kultur 85
III
Das ändert sich, sobald die Aufrechterhaltung der bestehenden
Gestalt des Arbeitsprozesses mit einer bloss partiellen Mobilmachung
(bei der das private Leben des Individuums in Reserve bleibt)
nicht mehr auskommt, wo vielmehr die „totale Mobilmachung“
nötig wird, durch die das Individuum in allen Sphären seines Daseins
der Disziplin des autoritären Staates unterworfen werden muss.
Jetzt kommt das Bürgertum mit seiner eigenen Kultur in Konflikt.
Die totale Mobilmachung der monopolkapitalistischen Epoche ist
mit jenen um die Idee der Persönlichkeit zentrierten, fortschrittlichen
Momenten der Kultur nicht mehr zu vereinigen. Die Selbstaufhebung
der affirmativen Kultur beginnt.
Der laute Kampf des autoritären Staates gegen die „liberalistischen
Ideale“ der Humanität, Individualität, Rationalität, gegen
die idealistische Kunst und Philosophie kann nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es sich um einen Vorgang von Selbstaufhebung
handelt. Wie die gesellschaftliche Umorganisation von der parlamentarischen
Demokratie zum autoritären Führerstaat nur eine
Umorganisation innerhalb der bestehenden Ordnung ist, so vollzieht
sich auch die kulturelle Umorganisation vom liberalistischen
Idealismus zum „heroischen Realismus“ noch innerhalb der affirmativen
Kultur selbst : es handelt sich um eine neue Sicherung
der alten Daseinsformen. Die Grundfunktion der Kultur bleibt
dieselbe; nur die Wege, auf denen sie diese Funktion ausübt, ändern
sich.
Die Identität des Gehalts bei völligem Wechsel der Form zeigt
sich besonders deutlich an der Idee der Verinnerlichung. Die
Verinnerlichung: die Umkehrung sprengender Triebe und Kräfte
des Individuums in seelische Bereiche, war einer der stärksten
Hebel der Disziplinierung gewesen.I ) Die affirmative Kultur hatte
die gesellschaftlichen Antagonismen in einer abstrakten inneren
Allgemeinheit aufgehoben: als Personen, in ihrer seelischen Freiheit
und Würde, haben alle Menschen den gleichen Wert; hoch über
den faktischen Gegensätzen liegt das Reich der kulturellen Solidarität.
Diese abstrakte innere Gemeinschaft (abstrakt, weil sie die
wirklichen Gegensätze bestehen lässt) schlägt in der letzten Periode
der affirmativen Kultur in eine ebenso abstrakte äussere Gemeinschaft
um. Das Individuum wird in eine falscl,e Kollektivität
gestellt (Rasse, Volkstum, Blut und Boden). Aber solche Veräusserlichung
hat dieselbe Funktion wie die Verinnerlichung: Entsa-
1) Vgl. diese Zeitschrift, Jahrgang V (1936), S. 219 II.
86 lIerbert ~arcuse
gung und Einordnung in das Bestehende, erträglich gemacht durch
den realen Schein der Befriedigung. Dass die nun seit über vierhundert
Jahren befreiten Individuen so gut in den Gemeinschaftskolonnen
des autoritären Staates marschieren, dazu hat die affirmative
Kultur ein gut Teil beigetragen.
Die neuen Methoden der Disziplinierung sind nicht möglich,
ohne die fortschrittlichen Momente abzustossen, die in den früheren
Stadien der Kultur enthalten waren. Von der letzten Entwicklung
her gesehen, erscheint die Kultur jener Stadien wie eine
glücklichere Vergangenheit. Aber so sehr die autoritäre Umorganisation
des Daseins faktisch nur den Interessen kleinster gesellschaftlicher
Gruppen zugute kommt, wieder stellt sie den Weg
dar, auf dem sich das gesellschaftliche Ganze in der veränderten
Situation erhält; insofern vertritt sie – in schlechter Form und
unter gesteigerter Glücklosigkeit der meisten – das Interesse aller
Individuen, deren Existenz an die Erhaltung dieser Ordnung gebunden
ist. Es ist eben jene Ordnung, in die auch die idealistische
Kultur verflochten war. In dieser doppelten Zwiespältigkeit
gründet zum Teil die Schwäche, mit der die Kultur heute gegen
‚ihre neue Gestalt protestiert. .
Wie sehr die idealistische Innerlichkeit mit der heroischen
Äusserlichkeit verwandt ist, zeigt beider gemeinsame Frontstellung
gegen den Geist. Neben der Hochschätzung des Geistes, welche
in einigen Bereichen und Trägern der affirmativen Kultur charakteristisch
war, ging immer schon eine tiefe Verachtung des Geistes
in der bürgerlichen Praxis einher, die in der Unbekümmertheit
der Philosophie um die wirklichen Probleme der Menschen ihri
Rechtfertigung finden konnte. Aber noch aus anderen Gründen
war die affirmative Kultur wesentlich eine Kultur der Seele, nicht
des Geistes. Auch wo er noch nicht verfallen war, war der Geist
immer schon etwas verdächtig: er ist greifbarer, fordernder, wirklichkeitsnäher
als die Seele; seine kritische Helle und Rationalität,
sein Widerspruch zu einer vernunftlosen Faktizität ist schwer zu
verbergen und zum Schweigen zu bringen. Hegel passt schlecht
in den autoritären Staat. Er war für den Geist; die Neueren sind
für die Seele und das Gefühl. Der Geist kann sich der Wirklichkeit
nicht entziehen, ohne sich selbst aufzugeben; die Seele kann und
soll es. Und gerade weil sie jenseits der Ökonomie lebt, kann
die Ökonomie so leicht mit ihr fertig werden. Eben in ihrer Eigenschaft,
nicht unter dem Wertgesetz zu leiden, erhält die Seele
nun ihren Wert. Das seelenvolle Individuum fügt sich leichter,
beugt sich demütiger unter das Schicksal, gehorcht besser der
Autorität. Es behält ja den ganzen Reichtum seiner Seele doch
für sich und kann sich tragisch und heroisch verklären. Was
Über den affirmativen Charakter der Kultur 87
,seit Luther ins Werk gesetzt wurde: die intensive Erziehung
zur inneren Freiheit, trägt jetzt seine schönsten Früchte, wo die
innere Freiheit sich selbst zur äusseren Unfreiheit aufhebt. Während
der Geist dem Hass und der Verachtung anheimfällt, bleibt
die Seele teuer. Man wirft sogar dem Liberalismus vor, dass
ihm „Seele und ethischer Gehalt“ nichts mehr galten; man preist
als das „tiefste. geistige Merkmal der klassischen Kunst“ die
„Seelengrösse und charaktervolle Persönlichkeit“, „die Weitung
der Seele ins Unendliche. „1) Die Feste und Feiern des autoritären
Staates, seine Aufzüge und seine Physiognomik, die Reden seiner
Führer sprechen weiter zur Seele. Sie gehen zum Herzen, auch
wenn sie die Macht meinen.
Das Bild der heroischen Gestalt der affirmativen Kultur ist
am schärfsten während der ideologischen Vorbereitung des autoritären
Staates gezeichnet worden. Man wendet sich gegen den
„musealen Betrieb“ und gegen die „grotesken Erbauungsformen „,
die er angenommen hat.2) Dieser Kulturbetrieb wird von den
Anforderungen der totalen Mobilmachung her beurteilt und verworfen.
Er „stellt nichts anderes dar als eine der letzten Oasen
der bürgerlichen Sicherheit. Er liefert die scheinbar plausibelste
Ausflucht, mit der man sich der politischen Entscheidung entziehen
kann.“ Die Kulturpropaganda ist „eine Art von Opium, durch
das die Gefahr verschleiert und das trügerische Bewusstsein einer
Ordnung hervorgerufen wird. Dies aber ist ein unerträglicher
Luxus in einem Zustande, in dem es nicht von Tradition zu reden,
sondern Tradition zu schaffen gilt. Wir leben in einem Geschichtsabschnitte,
in dem alles abhängt von einer ungeheuren Mobilmachung
und Konzentration der Kräfte, die zur Verfügung stehen. „3)
Mobilmachung und Konzentration wozu? Was Ernst Jünger
noch als die Rettung der „Totalität unseres Lebens“, als Schaffung
einer heroischen Arbeitswelt und dergleichen bezeichnet, enthüllt
sich im Verlauf immer deutlicher als die Umformung des gesamten
Daseins im Dienst der stärksten ökonomischen Interessen. Von
ihnen her sind auch die Forderungen nach einer neuen Kultur
bestimmt. Die notwendige Intensivierung und Expandierung der
Arbeitsdisziplin lässt die Beschäftigung mit den „Idealen einer
objektiven Wissenschaft und einer Kunst, die um ihrer selbst
willen besteht „, als Zeitverschwendung erscheinen; sie macht
1) Walter Stang, Grundlagen nationalsozialistischer Kulturpßege. Berlin 1935,
S. 13 und 43.
01) Ernst Jünger, Der Arbelter. Herrschaft und Gestalt. 2. Auflage. Harnburg
1932, S. 198.
3) a. a. 0., S. 199.
88 Herbert Marcuse
eine „Gepäckerleichterung“ auf diesem Gebiet wünschenswert.
„Unsere ganze sogenannte Kultur“ vermag „selbst den kleinsten
Grenzstaat nicht an einer Gebietsverletzung zu verhindern“; gerade
darauf aber kommt es an. Die Welt muss wissen, dass die Regierung
keinen Augenblick zögern würde; „alle Kunstschätze der
Museen an den Meistbietenden zu versteigern, wenn die Verteidigung
es erforderte. „1) Dementsprechend soll auch die neue Kultur
aussehen, die an die Stelle der alten zu treten hat. Sie wird durch
eine junge und rücksichtslose Führerschaft repräsentiert sein.
„Je weniger Bildung im üblichen Sinne diese Schicht besitzt,
desto besser wird es sein. „2) Die zynischen Andeutungen, die
Jünger gibt, sind vage und beschränken sich vor allem auf die
Kunst. „Ebenso wie der Sieger die Geschichte schreibt, das heisst
sich seinen Mythos schafft, bestimmt er, was als Kunst zu gelten
hat. ‚(3) Auch die Kunst hat in den Dienst der Landesverteidigung,
der arbeitstechnischen und militärischen Disziplinierung zu treten
(Jünger erwähnt die Städtebaukunst : die Auflösung der grossen
Wohnblocks zur Zerstreuung der Massen im Kriegs- und Revolutionsfall
; die militärische Gestaltung der Landschaft usw.). Sofern
solche Kultur auf die Bereicherung, Verschönerung und Sicherung
des autoritären Staates abzielen soll, trägt sie auch die Zeichen
seiner gesellschaftlichen Funktion, das gesellschaftliche Ganze im
Interesse weniger ökonomisch mächtigster Gruppen und ihres
Anhangs zu organisieren : Demut, Opferbereitschaft, Armut und
Pflichterfüllung einerseits, höchster Machtwille,‘ Expansionsdrang,
technische und militärische Vollkommenheit andrerseits. „Die
Aufgabe der totalen Mobilmachung ist die Verwandlung des Lebens
in Energie, wie sie sich in Wirtschaft, Technik und Verkehr im
Schwirren der Räder, oder auf dem Schlachtfeld als Feuer und
Bewegung offenbart. „4) Wie der idealistische Kult der Innerlichkeit,
so dient der heroische Kult des Staates einer in ihren Grundlagen
identischen Ordnung des gesellschaftlichen Daseins. Das
Individuum wird ihr jetzt völlig geopfert. Sollte früher die kulturelle
Erhebung dem persönlichen Wunsch nach Glück eine Befriedigung
verschaffen, so soll jetzt in der Grösse des Volkes das Glück
des einzelnen verschwinden. Hatte die Kultur früher den Glücksanspruch
im realen Schein zur Ruhe gebracht, so soll sie jetzt
das Individuum lehren, dass es eine Glücksforderung für sich
überhaupt nicht stellen darf: „Der gegebene Masstab liegt in der
1) a. a. 0., s. 200.
I) a. a. 0., S. 203.
a) a. a. 0., S. 204.
‚) a. B. 0., S. 210.
Über den affirmativen Charakter der Kultur 89
Lebensführung des Arbeiters vor. Es kommt nicht darauf an,
diese Lebensführung zu verbessern, sondern darauf, ihr einen
höchsten, entscheidenden Sinn zu verleihen. ‚(1) Auch hier soll
die „Erhebung“ die Veränderung ersetzen. So ist dieser Abbau
der Kultur ein Ausdruck der höchsten Verschärfung von Tendenzen,
welche der affirmativen Kultur schon seit langem zugrunde
lagen.
Ihre wirkliche Überwindung wird nicht zu einem Abbau der
Kultur überhaupt führen, sondern zu einer Aufhebung ihres affirmativen
Charakters. Die affirmative Kultur war das Gegenbild
einer Ordnung, in der die materielle Reproduktion des Lebens
keinen Raum und keine Zeit liess für jene Daseinsbereiche, welche
die Alten als das „Schöne“ bezeichnet hatten. Man hat sich
daran gewöhnt, die ganze Sphäre der materiellen Reproduktion
als wesensmässig mit dem Makel des Elends, der Härte und Ungerechtigkeit
behaftet zu sehen, auf jeden dagegen protestierellden
Anspruch zu verzichten oder ihn zu unterdrücken. Schon der
Ansatz der ganzen traditionellen Kulturphilosophie: die Abhebung
der Kultur von der Zivilisation und vom materiellen Lebensprozess,
beruht auf der verewigenden Anerkennung jenes geschichtlichen
Verhältnisses. Es wird metaphysisch entschuldigt durch jene
Kulturtheorie, dass man das Leben „bis zu einem gewissen Grade
ertöten“ müsse, um zu „Gütern mit Eigenwerten zu kommen. „2)
Die Zurücknahme der Kultur in den materiellen Lebensprozess
gilt als die Sünde wider den Geist und wider die Seele. Zwar
gescMhe damit nur ausdrücklich, was sich blind schon lange durchgesetzt
hat, indem nicht nur die Produktion, sondern auch die
Rezeption der kulturellen Güter unter der Herrschaft des Wertgesetzes
steht. Und doch liegt an dem Vorwurf das Berechtigte,
dass solche Zurücknahme bisher nur in der Gestalt des Utilitarismus
erfolgt ist. Der Utilitarismus ist nur eine Kehrseite der
affirmativen Kultur. Wie hier der „Nutzen“ verstanden wird,
ist er allerdings nur der Nutzen des Geschäftsmanns, der das
Glück als unvermeidbare Spesen in die Rechnung einsetzt : als
notwendige Diät und Erholung. Das Glück wird im vorhinein
auf seinen Nutzen berechnet, ganz wie die Chance des Geschäftsgewinns
im Verhältnis zu dem Risiko und zu den Kosten, und auf
solche Weise bruchlos mit dem ökonomischen Prinzip dieser
Gesellschaft verbunden. Das Interesse des Individuums bleibt
im Utilitarismus mit dem Grundinteresse der bestehenden Ordnung
1) a. a. 0., S. 201.
2) H. Rickert, Lebenswerte und Kulturwerte. In: Logos Bd. H, 1911/12,
S. 154.
90 lIerbert ~arcuse
vereinigt. Sein Glück ist harmlos. Und diese Harmlosigkeit hält
sich durch bis in die Freizeitgestaltung des autoritären Staates.
Jetzt wird die erlaubte Freude organisiert. Die idyllische Landschaft,
der Ort des Sonntagsglücks, verwandelt sich ins Übungsgelände,
die kleinbürgerliche Landpartie in Geländesport. Die
Harmlosigkeit erzeugt ihre eigene Negation.
Von dem Interesse der bestehenden Ordnung her gesehen
muss eine wirkliche Aufhebung der affirmativen Kultur als utopisch
erscheinen : sie liegt jenseits des gesellschaftlichen Ganzen, mit
dem die Kultur bisher verbunden war. Sofern Kultur nur als
affirmative Kultur in das abendländische Denken eingegangen ist,
wird die Aufhebung ihres affirmativen Charakters wie eine Aufhebung
der Kultur als solcher wirken. Insoweit die Kultur die
erfüllbaren, aber faktisch unerfüllten Sehnsüchte und Triebe der
Menschen gestaltet hat, wird sie ihren Gegenstand verlieren. Die
Behauptung, dass die Kultur heute unnötig geworden sei, enthält
ein weitertreibendes Element. Nur dass die Gegenstandslosigkeit
der Kultur im autoritären Staat nicht aus der Erfüllung hervorgeht,
sondern aus dem Bewusstsein, dass schon das Wachhalten
der Sehnsucht nach Erfüllung in der gegenwärtigen Situation
gefährlich ist. – Wenn die Kultur einmal die Erfüllung selbst
wachzuhalten hat und nicht mehr bloss die Sehnsucht, wird sie es
nicht mehr in den Inhalten tun können, die als solche schon affirmativen
Charakter tragen. „Dankbarkeit“ wird dann vielleicht
wirklich ihr Wesen sein, wie Nietzsche es von aller schönen und
grossen Kunst behauptet haU) Die Schönheit wird eine andere
Verkörperung finden, wenn sie nicht mehr als realer Schein dargestellt
werden, sondern die Realität und die Freude an ihr ausdrükken
soll. Nur aus der anspruchslosen Schaustellung mancher
griechischer Statuen, aus der Musik Mozarts und des letzten Beethoven,
aus der Darbietung des Körpers in der Artistik lässt sich
eine Vorahnung solcher Möglichkeiten gewinnen. Vielleicht wird
aber auch die Schönheit und ihr Genuss überhaupt nicht mehr der
Kunst anheimfallen. Vielleicht wird die Kunst als solche gegenstandslos
werden. Seit mindestens einem Jahrhundert hat ihre
Existenz für den Bürger nur noch in der musealen Form bestanden .
. Das Museum war die geeignetste Stätte, um die Entfernung von
der Faktizität, die trostreiche Erhebung in eine würdigere Welt
zugleich mit der zeitlichen Beschränkung auf das Feiertägliche im
Individuum zu reproduzieren. Museal war auch die weihevolle
Behandlung der „Klassiker“ : hier brachte die Würde allein schon
1) Werke, a. a. 0 .• Bd. VIII, S. 50.
Über den affirmativen Charakter der Kultur 91
eine Still stellung aller sprengenden Motive mit sich. Was ein
Klassiker gesagt und getan hatte, brauchte man nie so ganz
ernst zu nehmen: es gehörte eben einer anderen Welt an und konnte
mit der gegenwärtigen nicht in Konflikt kommen. – Die Polemik
des autoritären Staates gegen den „musealen Betrieb“ enthält
eine richtige Erkenntnis; aber wenn er gegen die „grotesken Formen
der Erbauung“ kämpft, will er nur zeitgemässere Methoden der.
Affirmation an die Stelle veralteter setzen.
Jeder Versuch, das Gegenbild der affirmativen Kultur zu zeichnen,
stösst auf das unausrottbare Klischee vom „Schlaraffenlande“.
Es ist aber immer noch besser, dieses Klischee zu akzeptieren als
jenes von der Umwandlung der Erde in eine riesige Volksbildungsanstalt,
wie es manchen Kulturtheorien zugrundezuliegen scheint.
Man spricht von dem „Allgemeinwerden der kulturellen Werte „,
von dem „Recht aller Volksgenossen an den Kulturgütern „, von
der „Hebung der leiblichen, geistigen und sittlicheIi Volksbildung. „1)
Das hiesse aber nur, die Ideologie einer bekämpften Gesellschaft
zur bewussten Lebensform einer anderen zu erheben, aus ihrer
Not eine neue Tugend zu machen. Wenn Ka u tsky von dem
„kommenden Glück“ spricht, denkt er zunächst an die „beglükkenden
Wirkungen wissenschaftlicher Arbeit „, an das „verständnisvolle
Geniessen auf den Gebieten der Wissenschaft und Kunst,
in der Natur, im Sport und Spiel. „2) Den „Massen“ soll „alles,
was bisher an Kultur geschaffen worden ist, … zur Verfügung
gestellt werden. Diese gesamte Kultur für sich zu erobern“, ist
ihre Aufgabe.3) – Das kann aber nichts anderes. bedeuten, als
die Massen wieder einmal für jene gesellschaftliche Ordnung zu
erobern, welche von der „gesamten Kultur“ bejaht wird. Solche
Ansichten verfehlen das Entscheidende : die Aufhebung dieser
Kultur. Nicht das primitiv-materialistische Element an der Idee
vom Schlaraffenland ist falsch, sondern seine Verewigung. Solange
Vergänglichkeit ist, wird genug Kampf, Trauer und Leid sein,
um das idyllische Bild zu zerstören; solange ein Reich der Notwendigkeit
ist, wird genug Not sein. Auch eine nicht-affirmative
Kultur wird mit der Vergänglichkeit und mit der Notwendigkeit
belastet sein: ein Tanz auf dem Vulkan, ein Lachen unter Trauer,
ein Spiel mit dem Tod. Solange wird auch die Reproduktion des
Lebens noch eine Reproduktion der Kultur sein : Gestaltung
1) Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1921 und der
Sächsischen Volkspartei von 1866.
2) K. Kautsky, Die materialistische Geschlchtsaullassung. Berlin 1927, ILBd.,
S. 819 und 837.
8) a. a. 0., S. 824.
92 Herbert Mareuse
unerfülIter Sehnsüchte, Reinigung unerfüllter Triebe. In der affirmativen
Kultur ist die Entsagung mit der äusseren Verkümmerung
des Individuums verbunden, mit seiner Disziplinierung zum SichFügen
in eine schlechte Ordnung. Der Kampf gegen die Vergänglichkeit
befreit hier nicht die Sinnlichkeit, sondern entwertet
sie: er ist nur auf dem Grunde ihrer Entwertung möglich. Diese
Glücklosigkeit ist keine metaphysische; sie ist das Werk einer
vernunftlosen gesellschaftlichen Organisation. Ihre Aufhebung
wird mit der Beseitigung der affirmativen Kultur die Individualität
nicht beseitigen, sondern verwirklichen. Und „sind wir einmal
irgendwie im Glück, so können wir gar nicht anders als die Kultur
fördern. „1)
The Idealistie Character of Modern Culture.
As the idea of culture is conceived in modern times, it has its roots
in the ancient teaching on the relation between the Necessary and the Beautiful,
and between labor and rest. The stabilizing of modern society,
however, ushered in a significant change in the interpretation of this relationship.
Cultural val lies became universally valid and obligatory : each
individual, regardless cif his place in society, is supposed to share them in
equal measure. Culture is cut off from the material processes of social
reproduction, as weIl as from those of civilization, and comes to be regarded
as belonglng to a higher, purer, beUer world. The realm of culture comes
to be looked upon as the sovereignty of a free moral and intellectual
community.
The article attempts to indicate the significance of modern culture for
the place of the individual in society. For this purpose the author selects
some characteristic and fundamental concepts of modern culture : the idea of
the soul (the values of the soul reeeive unconditional preference to the
sensual as weil as the intellectual values : external eonditions and inteIlectu
al achievements are less relevant than the inner essenee of man), – the
idea of beauty (art attains the function of giving to humanity, through the
presentation of the beautiful, the enjoyment of a better world) ,- and
the idea of personality (the individual achieves his own happiness only
through subordination to the existing order of things). These ideas are
analyzed in order to show that culture has absorbed all the forees that were
directed towards the achievement of a beUer existenee : humanity, kindliness,
solidarity, happiness. Modern culture was the historie framework
within which the pursuit of happiness was accomplished in a social order
that was without happiness for the majority of mankind.
But, by proclaiming all progressive ideas as spiritual or internal ideals,
this same culture has distilled from themall their critieal, dynamic force.
They are taken seriously only as inner spiritual values or as objects of
1) Nietzsehe, Werke, a. a. 0., Bd. XI, S. 241.
über den affirmativen Charakter der Kultur 93
art. In this internalized and transfigured form the human desire for happiness
has been diverted from reality and appears to have been set at rest.
The individ~al is trained for renunciation and he has to rationalize in
order to believe hirnself satisfied. In this way, culture serves to take
the responsibility for the happiness of the individual from the existing
order and to justify the given order of things.
In the last period of this development, idealism gives way to a heroie
realism of power. In the battle of the authoritarian state against the
idealism of the liberal bourgeois culture, the old methods of cultural
discipline are to be replaced by more timely ones. The principal funcUon of
culture, however, remains unchanged. The hostility of the authoritarian
state toward culture in general also serves as a justification for the existing
order of things. But in comparison the culture that is being attacked
appears as an enlightened, more humane stage of the past ; its progressive
tendencies stand forth more cJearly in our minds.
In concJusion, the idea of bridging the gulf between culture and civilization
is outlined : adefinite re-incorporation of culture into the general social
process, whereby it would lose its justificatory character. .
Du caractere affirmatif de la culture.
L’idee de la culture caracteristique de l’Occident moderne, remonte
a la doctrine antique qui a formule les rapports du necessaire et du beau,
du travail et du plaisir. A vec la stabilisation de la societe moderne,
Intervint un changement decisif dans l’interpretation de ces rapports :
les valeurs culturelles deviennent universellement valables et universellement
imperatives; chaque individu, quelle que soit sa position sociale, doit
egalement participer a ces valeurs. La culture, monde meilleur, superieur,
plus pur, se detache et du proces materiel de reproduction et de la „civilisation“.
Elle est revendiquee comme le regne d’une libre communaute morale
et spirituelle.
L’etude essaye d’indiquer la repercussion de la culture nouvelle sur la
situation de l’individu dans la societe. Elle releve quelques-uns des concepts
fondamentaux de cette culture : L’idee de l’äme (spiritualisation de la
sensibilite), l’idee de la beaute (satisfaction par l’art), et l’idee de la personnalite
(accomplissement par le renoncement). La culture aresorbe
toutes les forces qui tendaient vers une existence meilleure : humanite,
bonte, solidarite, joie. La culture representait la forme historique sous
laquelle le besoin de bonheur trouvait satisfaction dans un ordre social qui
privait de bonheur la majorite des hommes. Mais la culture, en hypostasiant
toutes les idees progressives en ideals, a depouille celles-ci de toute force
explosive, qui les eilt rendues dangereuses. Elle ne les a prises au serieux
qu’en tant que valeurs interieures, spirituelles, ou en tant que themes de
l’art. L’exigence de bonheur trouve sous cette forme interiorisee et transftguree
une satisfaction apparente. Toutes les exigences, l’individu apprend
a se les poser a lui-m~me et a se contenter d’une jouissance rationalisee.
11 est eleve en vue du renoncement. Ainsi la culture contribue a decharger
et a justifier l’ordre existant.
‚.
94 Herbert Marcuse
Dans la derniere phase de cette evolution, l’idealisme de l’interiorite.
par un renversement dialectique, devient „realisme de Ia force“. Dans le
combat de l’Etat autoritaire contre la culture idealiste de Ia bourgeoisie
liberale, les vieilles methodes de discipline culturelle cMent Ia place ades
methodes plus adaptees. L’hostilite de l’Etat antoritaire a Ia culture est ellememe
une justification. Par comparaison, la culture attaquee appara1t
comme un passe moins sombre et plus humain : ses tendances progressives
s’elevent plus c1airement a la conscience. En conclusion, l’auteur indique
!’idee d’un depassement de l’opposition entre civilisation et culture : Ia
culture, une fois ramenee de fa~on positive au processus social, perdrait son
caractere affirmatif.

Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie

Reflexionen zur Klassentheorie

(GS 8: 373–391)

Theodor W. Adorno

I

Geschichte ist, der Theorie zufolge, Geschichte von Klassenkämpfen. Aber der Begriff der Klasse ist mit dem Auftreten des Proletariats verbunden. Noch als revolutionäre nannte die Bourgeoisie sich den dritten Stand. In der Ausdehnung des Klassenbegriffs auf die Vorzeit denunziert die Theorie nicht bloß die Bürger, deren Freiheit mit Besitz und Bildung die Tradition des alten Unrechts fortsetzt. Sie wendet sich gegen die Vorzeit selber. Der Schein patriarchalischer Gutmütigkeit, den jene seit dem Sieg des unerbittlichen kapitalistischen Kalküls angenommen hat, wird zerstört. Die ehrwürdige Einheit des Gewordenen, das natürliche Recht der Hierarchie in der als Organismus vorgestellten Gesellschaft schon zeigt sich als Einheit von Interessenten. Die Hierarchie war von je Zwangsorganisation zur Aneignung fremder Arbeit. Das natürliche Recht ist verjährtes historisches Unrecht, der gegliederte Organismus das System der Spaltung, das Bild der Stände die Ideologie, die dem installierten Bürgertum in Gestalt von redlichem Verdienst, treuer Arbeit, schließlich dem Äquivalententausch am besten zustatten kam. Indem die Kritik der politischen Ökonomie die historische Notwendigkeit aufweist, die den Kapitalismus zur Entfaltung brachte, wird sie zur Kritik der ganzen Geschichte, von deren Unabänderlichkeit die Kapitalistenklasse wie ihre Ahnherrn das Privileg herleitet. Das jüngste Unrecht, das im gerechten Tausch selber gelegene, in seiner verhängnisvollen Gewalt erkennen, heißt nichts anderes als mit der Vorzeit es identifizieren, die von ihm vernichtet wird. Kulminiert in der Moderne, im kalten Elend der freien Lohnarbeit alle Unterdrückung, die Menschen je Menschen angetan haben, so offenbart sich der Ausdruck des Historischen selber an Verhältnissen und Dingen – der romantische Gegensatz zur industriellen Vernunft – als Spur von altem Leiden. Das archaische Schweigen von Pyramiden und Ruinen wird im materialistischen Gedanken seiner selbst inne: es ist das Echo vom Lärm der Fabrik in der Landschaft des Unabänderlichen. Vom Höhlengleichnis der Platonischen Politeia, der feierlichsten Symbolik der Lehre von den ewigen Ideen, argwöhnt Jacob Burckhardt1, es sei nach dem Bilde der grauenvollen athenischen Silberminen gestaltet. Dann wäre noch der philosophische Gedanke ewiger Wahrheit in der Betrachtung gegenwärtiger Qual entsprungen. Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte.

 

II

Darin ist eine Anweisung gelegen, wie Geschichte zu erkennen sei. Von der jüngsten Gestalt des Unrechts fällt Licht stets aufs Ganze. So nur vermag die Theorie, die Schwere des historischen Daseins der Einsicht ins Gegenwärtige zugute kommen zu lassen, ohne der Last resigniert selber zu erliegen. Bürgerliche wie Anhänger haben am Marxismus dessen Dynamik zu rühmen gewußt, in der sie jene beflissene Mimikry an die Geschichte witterten, die ihrer eigenen Betriebsamkeit naheliegt. Die marxistische Dialektik hat, der Würdigung Troeltschs im Historismusbuch zufolge, »ihre konstruktive Kraft und ihre Einschmiegung in die grundsätzliche Bewegtheit des Wirklichen bewahrt«2. Das Lob der konstruktiven Einschmiegung weckt Mißtrauen gegen die grundsätzliche Bewegtheit. Dynamik ist bloß der eine Aspekt von Dialektik: jener, den der Glaube an den praktischen Geist, die beherrschende Tat, das unermüdliche Machenkönnen am liebsten hervorhebt, weil die immerwährende Erneuerung das alte Unwahre am besten verbirgt. Der andere, unbeliebtere Aspekt der Dialektik ist der statische. Die Selbstbewegung des Begriffs, die Konzeption der Geschichte als Syllogismus, wie Hegels Philosophie sie denkt, ist keine Entwicklungslehre. Dazu hat sie bloß das einverstandene Mißverständnis der Geisteswissenschaften gemacht. Der Zwang, unter dem sie die rastlos zerstörende Entfaltung des immer Neuen begreift, besteht darin, daß in jedem Augenblick das immer Neue zugleich das Alte aus der Nähe ist. Das Neue fügt nicht dem Alten sich hinzu sondern bleibt die Not des Alten, seine Bedürftigkeit, wie sie durch dessen denkende Bestimmung, seine unabdingbare Konfrontation mit Allgemeinem im Alten selber als immanenter Widerspruch aktuell wird. In allen antithetischen Vermittlungen bleibt somit Geschichte ein unmäßiges analytisches Urteil. Das ist die historische Essenz der metaphysischen Lehre von der Identität von Subjekt und Objekt im Absoluten. Das System der Geschichte, die Erhebung des Zeitlichen zur Totalität des Sinnes, hebt als System Zeit auf und reduziert sie aufs abstrakt Negative. Dem ist der Marxismus als Philosophie treu geblieben. Er bestätigt den Hegelschen Idealismus als das Wissen der Vorgeschichte von der eigenen Identität. Aber er stellt ihn auf die Füße, indem er die Identität als vorgeschichtliche demaskiert. Das Identische wird ihm wahrhaft zur Bedürftigkeit, der der Menschen, die der Begriff bloß ausspricht. Die unversöhnliche Kraft des Negativen, die Geschichte in Bewegung setzt, ist die dessen, was Ausbeuter den Opfern antun. Als Fessel von Geschlecht zu Geschlecht verhindert sie wie die Freiheit so Geschichte selber. Die systematische Einheit der Geschichte, die dem individuellen Leiden Sinn geben oder erhaben zum Zufälligen es degradieren soll, ist die philosophische Zueignung des Labyrinths, in dem die Menschen bis heute gefront haben, der Inbegriff des Leidens. Im Bannkreis des Systems ist das Neue, der Fortschritt, Altem gleich als immer neues Unheil. Das Neue erkennen bedeutet nicht ihm und der Bewegtheit sich einschmiegen sondern ihrer Starrheit widerstehen, den Marsch der welthistorischen Bataillone als Treten auf der Stelle erraten. Die Theorie weiß von keiner »konstruktiven Kraft« denn der, mit dem Widerschein des jüngsten Unheils die Konturen der ausgebrannten Vorgeschichte zu erleuchten, um in ihr seiner Korrespondenz gewahr zu werden. Das Neueste gerade, und es allein stets, ist der alte Schrecken, der Mythos, der eben in jenem blinden Fortgang der Zeit besteht, der sich in sich zurücknimmt, mit geduldiger, dumm allwissender Tücke, wie der Esel das Seil des Oknos verzehrt. Nur wer das Neueste als Gleiches erkennt, dient dem, was verschieden wäre.

 

III

Die jüngste Phase der Klassengesellschaft wird von den Monopolen beherrscht; sie drängt zum Faschismus, der ihrer würdigen Form politischer Organisation. Während sie die Lehre vom Klassenkampf mit Konzentration und Zentralisation vindiziert[i], äußerste Macht und äußerste Ohnmacht unvermittelt, in vollkommenem Widerspruch einander entgegenstellt, läßt sie die Existenz der feindlichen Klassen in Vergessenheit geraten. Solche Vergessenheit hilft den Monopolen mehr als die Ideologien, die schon so dünn geworden sind, daß sie sich als Lügen bekennen, um denen, die daran glauben müssen, die eigene Ohnmacht um so nachdrücklicher zu demonstrieren. Die totale Organisation der Gesellschaft durchs big business und seine allgegenwärtige Technik hat Welt und Vorstellung so lückenlos besetzt, daß der Gedanke, es könnte überhaupt anders sein, zur fast hoffnungslosen Anstrengung geworden ist. Das teuflische Bild der Harmonie, die Unsichtbarkeit der Klassen in der Versteinerung ihres Verhältnisses gewinnt darum nur jene reale Gewalt übers Bewußtsein, weil die Vorstellung, es möchten die Unterdrückten, die Proletarier aller Länder, als Klasse sich vereinen und dem Grauen das Ende bereiten, angesichts der gegenwärtigen Verteilung von Ohnmacht und Macht aussichtslos scheint. Die Nivellierung der Massengesellschaft, die von kulturkonservativen und soziologischen Helfershelfern bejammert wird, ist in Wahrheit nichts anderes als die verzweifelte Sanktionierung der Differenz als der Identität, die die Massen, vollends Gefangene des Systems, zu vollbringen trachten, indem sie die verstümmelten Herrscher imitieren, um vielleicht von ihnen das Gnadenbrot zu erhalten, wenn sie sich nur hinlänglich ausweisen. Der Glaube, als organisierte Klasse überhaupt noch den Klassenkampf führen zu können, zerfällt den Enteigneten mit den liberalen Illusionen, nicht viel anders als die revolutionären Vereinigungen der Arbeiter einmal die Stilisierung der Bourgeoisie zum Stand verlachen mochten. Der Klassenkampf wird unter die Ideale verbannt und hat sich mit der Toleranz und der Humanität zur Parole in den Reden gewerkschaftlicher Präsidenten zu bescheiden. Die Zeiten, da man noch Barrikaden bauen konnte, sind fast schon so selig wie die, da das Handwerk einen goldenen Boden hatte. Die Allgewalt der Repression und ihre Unsichtbarkeit ist dasselbe. Die klassenlose Gesellschaft der Autofahrer, Kinobesucher und Volksgenossen verhöhnt nicht bloß die draußen sondern die eigenen Mitglieder, die Beherrschten, die es weder anderen noch sich selber mehr einzugestehen wagen, weil das bloße Wissen bereits mit qualvoller Angst vorm Verlust der Existenz und des Lebens bestraft wird. So angewachsen ist die Spannung, daß zwischen den inkommensurablen[ii] Polen gar keine mehr besteht. Der unermeßliche Druck der Herrschaft hat die Massen so dissoziiert, daß noch die negative Einheit des Unterdrücktseins zerrissen wird, die im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht. Dafür werden sie unmittelbar beschlagnahmt von der Einheit des Systems, das es ihnen antut. Die Klassenherrschaft schickt sich an, die anonyme, objektive Form der Klasse zu überleben.

 

IV

Das macht es notwendig, den Begriff Klasse selber so nah zu betrachten, daß er festgehalten wird und verändert zugleich. Festgehalten: weil sein Grund, die Teilung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, nicht bloß ungemindert fortbesteht sondern an Zwang und Festigkeit zunimmt. Verändert: weil die Unterdrückten, heute nach der Voraussage der Theorie die übergroße Mehrheit der Menschen, sich selber nicht als Klasse erfahren können. Diejenigen unter ihnen, welche den Namen reklamieren, meinen zumeist ihr partikulares Interesse im Bestehenden, etwa so wie die industriellen Spitzen den Begriff »Produktion« verwenden. Der Unterschied von Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, daß er den Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte: Konformität ist ihnen rationaler. Die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse setzt längst nicht in Gleichheit des Interesses und der Aktion sich um. Nicht erst bei der Arbeiteraristokratie sondern im egalitären Charakter der Bürgerklasse selber ist das widersprechende Moment des Klassenbegriffs aufzusuchen, das verhängnisvoll heute hervortritt. Bedeutet die Kritik der politischen Ökonomie die des Kapitalismus, so ist der Begriff der Klasse, ihr Zentrum, selbst nach dem Modell der Bourgeoisie gebildet. Diese ist, als anonyme Einheit der Eigentümer von Produktionsmitteln und ihres Anhangs, die Klasse schlechthin. Aber der egalitäre Charakter, der sie dazu macht, wird selbst von der Kritik der politischen Ökonomie aufgelöst, nicht bloß im Verhältnis zum Proletariat sondern auch als Bestimmung der Bourgeoisie als solcher. Die freie Konkurrenz der Kapitalisten unter einander impliziert schon das gleiche Unrecht, das sie vereint den Lohnarbeitern antun, die sie nicht erst als ihnen tauschend Gegenübertretende exploitieren, vielmehr zugleich durchs System produzieren. Gleiches Recht und gleiche Chance der Konkurrierenden ist weithin fiktiv. Ihr Erfolg hängt ab von der – außerhalb des Konkurrenzmechanismus gebildeten – Kapitalkraft, mit der sie in die Konkurrenz eintreten, von der politischen und gesellschaftlichen Macht, die sie repräsentieren, von altem und neuem Conquistadorenraub, von der Affiliation mit dem feudalen Besitz, den die Konkurrenzwirtschaft nie ernstlich liquidiert hat, vom Verhältnis zum unmittelbaren Herrschaftsapparat des Militärs. Die Interessengleichheit reduziert sich auf die Partizipation an der Beute der Großen, die gewährt wird, wenn alle Eigentümer den Großen das Prinzip souveränen Eigentums zugestehen, das jenen ihre Macht und deren erweiterte Reproduktion garantiert: die Klasse als ganze muß zur äußersten Hingabe ans Prinzip des Eigentums bereit sein, das sich real vorab aufs Eigentum der Großen bezieht. Das bürgerliche Klassenbewußtsein zielt auf den Schutz von oben, das Zugeständnis, das die eigentlich herrschenden Eigentümer denen machen, die ihnen mit Leib und Seele sich verschreiben. Die bürgerliche Toleranz will toleriert werden. Sie meint nicht die Gerechtigkeit gegen die drunten, selbst die in der eigenen Klasse nicht, welche die oben vermöge der »objektiven Tendenz« verdammen, und das Gesetz des Äquivalententauschs und seiner rechtlichen und politischen Reflexionsformen ist der Vertrag, der die Beziehung zwischen dem Kern der Klasse und deren Mehrheit, den bürgerlichen Lehensleuten, stillschweigend im Sinne von Machtverhältnissen regelt. Mit anderen Worten, so real die Klasse ist, so sehr ist sie selber schon Ideologie. Wenn die Theorie erweist, daß es mit dem gerechten Tausch, der bürgerlichen Freiheit und Humanität fragwürdig bestellt ist, so fällt Licht damit auf den Doppelcharakter der Klasse. Er besteht darin, daß ihre formale Gleichheit die Funktion sowohl der Unterdrückung der anderen Klasse hat wie die der Kontrolle der eigenen durch die Stärksten. Sie wird von der Theorie als Einheit, als Klasse gegen das Proletariat gebrandmarkt, um das Gesamtinteresse, das sie vertritt, in seiner Partikularität bloßzustellen. Aber diese partikulare Einheit ist notwendig Nichteinheit in sich selber. Die egalitäre Form der Klasse dient als Instrument dem Privileg der Herrschenden über den Anhang, das sie zugleich verdeckt. Die Kritik der liberalen Gesellschaft kann vor dem Klassenbegriff nicht Halt machen, der so wahr und unwahr ist wie das System des Liberalismus. Seine Wahrheit ist die kritische: er designiert die Einheit, in der sich die Partikularität des bürgerlichen Interesses verwirklicht. Seine Unwahrheit liegt in der Nichteinheit der Klasse. Ihre immanente Bestimmung durch Herrschaftsverhältnisse ist der Tribut, den sie an die eigene Partikularität zu entrichten hat, der ihrer Einheit zugute kommt. Vor ihrer realen Nichteinheit wird noch die ebenso reale Einheit zum Schleier.

 

V

In der Marktwirtschaft war die Unwahrheit am Klassenbegriff latent: unterm Monopol ist sie so sichtbar geworden wie seine Wahrheit, das Überleben der Klassen, unsichtbar. Mit der Konkurrenz und ihrem Kampf ist auch soviel von der Einheit der Klasse verschwunden, wie als Spielregel des Kampfes, als Gemeininteresse die Konkurrenten zusammenhielt. Es wird der Bourgeoisie so leicht, dem Proletariat gegenüber ihren Klassencharakter zu verleugnen, weil in der Tat ihre Organisation die Form des Consensus der Interessengleichen abwirft, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als Klasse sie konstituiert hatte, und durch unvermittelte ökonomische und politische Befehlsgewalt der Großen ersetzt, die auf dem Anhang und den Arbeitern mit der gleichen Polizeidrohung lastet, ihnen gleiche Funktion und gleiches Bedürfnis aufzwingt und damit den Arbeitern es nahezu unmöglich macht, das Klassenverhältnis zu durchschauen. Die Prognose der Theorie von den wenigen Eigentümern und der überwältigenden Masse der Besitzlosen ist erfüllt, aber anstatt daß damit das Wesen der Klassengesellschaft eklatant geworden wäre, wird es von der Massengesellschaft verzaubert, in der die Klassengesellschaft sich vollendet. Die herrschende Klasse verschwindet hinter der Konzentration des Kapitals. Diese hat eine Größe erreicht, ein Eigengewicht gewonnen, durch die das Kapital als Institution, als Ausdruck der Gesamtgesellschaft sich darstellt. Das Partikulare usurpiert vermöge der Allmacht seiner Durchsetzung das Ganze: im gesellschaftlich-totalen Aspekt des Kapitals terminiert der alte Fetischcharakter der Ware, der Beziehungen von Menschen als solche von Sachen zurückspiegelt. Zu solchen Sachen ist heute die ganze Ordnung des Daseins geworden. In ihr wird dem Proletariat mit dem freien Markt, der für die Arbeiter immer schon Lüge war, die Möglichkeit zur Klassenbildung objektiv versperrt und schließlich durch den bewußten Willen der Herrschenden im Namen des großen Ganzen, das sie selber sind, durch Maßnahmen verhindert. Die Proletarier aber müssen, wenn sie leben wollen, sich angleichen. Allenthalben drängt Selbsterhaltung übers Kollektiv zur verschworenen Clique. Zwangshaft reproduziert unten sich die Spaltung in Führer und Gefolge, die an der herrschenden Klasse selber sich vollzieht. Die Gewerkschaften werden zu Monopolen und die Funktionäre zu Banditen, die von den Zugelassenen blinden Gehorsam verlangen, die draußen terrorisieren, loyal jedoch bereit wären, den Raub mit den anderen Monopolherren zu teilen, wenn diese nur nicht vorher in offenem Faschismus die ganze Organisation in eigene Regie nehmen. Der Gang der Handlung macht der liberalen Episode ein Ende; die Dynamik von gestern bekennt sich als die erstarrte Vorzeit von heute, die anonyme Klasse als die Diktatur der selbsternannten Elite. Noch die politische Ökonomie, deren Konzeption die Theorie der liberalen grimmig vorgab, zergeht als vergänglich. Ökonomie ist ein Sonderfall der Ökonomie, des für Herrschaft präparierten Mangels. Nicht haben die Tauschgesetze zur jüngsten Herrschaft als der historisch adäquaten Form der Reproduktion der Gesamtgesellschaft auf der gegenwärtigen Stufe geführt, sondern die alte Herrschaft war in die ökonomische Apparatur zuzeiten eingegangen, um sie, einmal in voller Verfügung darüber, zu zerschlagen und sich das Leben zu erleichtern. In solcher Abschaffung der Klassen kommt die Klassenherrschaft zu sich selber. Die Geschichte ist, nach dem Bilde der letzten ökonomischen Phase, die Geschichte von Monopolen. Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und Arbeit heute verübt wird, ist sie die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Rackets.

 

VI

Marx ist über der Ausführung der Klassentheorie gestorben, und die Arbeiterbewegung hat sie auf sich beruhen lassen. Sie war nicht nur das wirksamste Agitationsmittel sondern reichte im Zeitalter der bürgerlichen Demokratie, der proletarischen Massenpartei und der Streiks, vorm offenen Sieg des Monopols und vor der Entfaltung der Arbeitslosigkeit zur zweiten Natur, an den Konflikt heran. Nur die Reformisten haben sich auf die Klassenfrage diskutierend eingelassen, um mit der Leugnung des Kampfes, der statistischen Würdigung der Mittelschichten und dem Lob des umspannenden Fortschritts den beginnenden Verrat zu bemänteln. Die verlogene Leugnung der Klassen bewog die verantwortlichen Träger der Theorie, den Klassenbegriff selber als Lehrstück zu hüten, ohne ihn weiterzutreiben. Damit hat die Theorie sich Blößen gegeben, die Mitschuld tragen am Verderb der Praxis. Die bürgerliche Soziologie aller Länder hat sie sich weidlich zunutze gemacht. War sie insgesamt durch Marx wie durch eine Magnetnadel abgelenkt und apologetisch geworden, je mehr sie sich auf die Wertfreiheit versteifte, so konnte ihr Positivismus, die wahre Einschmiegung ins Faktische, dort den Lohn ihrer Mühen einkassieren, wo verkümmerten Theorie Unrecht gaben, die als Glaubensartikel selber auf die Aussage über Faktisches heruntergekommen war. Der Nominalismus der Forschung, der das Wesentliche, das Klassenverhältnis als Idealtyp in die Methodologie verbannte und die Realität jenem Einmaligen überließ, das sie bloß garniert, fand sich mit Analysen zusammen, die die Klasse – etwa in ihrem spezifischen politischen Äquivalent, der Partei – jener oligarchischen Züge überführten, welche die Theorie vernachlässigte oder als Anhang »Monopolkapitalismus« verdrossen berücksichtigte. Je gründlicher man dabei die Fakten vom konkreten Begriff, ihrer Beziehung auf den aktuellen Stand des Ausbeutungssystems, reinigte, die allem Faktischen bestimmend innewohnt, um so besser paßten sie in den abstrakten Begriff, die alle Epochen umfassende Merkmaleinheit hinein, die als von den Fakten bloß abgezogene über diese nichts mehr vermag. Oligarchie, Ideologie, Integration, Arbeitsteilung werden aus Momenten der Herrschaftsgeschichte, deren dunklen Wald man vor den grünen Bäumen des eigenen Lebens nicht mehr sieht, zu generellen Kategorien der Vergesellschaftung der Menschen. Die Skepsis gegen die angebliche Klassenmetaphysik wird normativ im Zeichen der formalen Soziologie: Klassen gibt es nicht wegen der unbeugsamen Tatsachen; deren Unbeugsamkeit aber substituiert die Klasse, und da der soziologische Blick, wo er die Steine der Klassen sucht, immer nur das Brot der Eliten findet und tagtäglich erfährt, daß es ohne Ideologie schlechterdings nicht abgeht, so ist es schon das gescheiteste, bei den Formen der Vergesellschaftung es zu belassen und womöglich blutenden Herzens die Sache der unvermeidlichen Elite zur eigenen Ideologie zu machen. Gegen das phantasma bene fundatum sich auf Gegenbeispiele berufen, den oligarchischen Charakter der Massenpartei abstreiten, verkennen, daß die Theorie im Munde ihrer Funktionäre wirklich zur Ideologie geworden ist, wäre pure Ohnmacht und trüge bloß den Geist der Apologetik in die Theorie, gegen welche die bürgerlichen Apologeten ihr Netz gesponnen haben. Nichts hilft als die Wahrheit aus den soziologischen Begriffen gegen die Unwahrheit wenden, die sie produzierte. Was die Soziologie gegen die Realität der Klassen vorbringt, ist nichts anderes als das Prinzip der Klassengesellschaft: die Allgemeinheit der Vergesellschaftung ist die Form, unter der Herrschaft historisch sich durchsetzt. Die abstrakte Einheit selber, in deren Herstellung aus blinden Fakten die Soziologie ihr Trugbild des Klassenlosen vollendet meint, ist die Disqualifizierung der Menschen zu Objekten, die von Herrschaft bewirkt wird und heute auch die Klassen ergriffen hat. Die soziologische Neutralität wiederholt die soziale Gewalttat, und die blinden Fakten, hinter die sie sich verschanzt, sind die Trümmer, in welche die Welt von der Ordnung geschlagen ward, mit der die Soziologen sich vertragen. Die generellen Gesetze besagen nichts gegen die gesetzlose Zukunft, weil ihre Allgemeinheit selber die logische Form der Repression ist, die abgeschafft werden muß, damit die Menschheit nicht in die Barbarei zurückfällt, aus der sie noch gar nicht herauskam. Daß Demokratie Oligarchie ist, liegt nicht an den Menschen, die nach Ansicht und Interesse ihrer reifen Führer zur Demokratie nicht reif sein sollen, sondern an der Unmenschlichkeit, die das Privileg in die objektive Notwendigkeit der Geschichte eingräbt. Indem aus der Dialektik der Klasse am Ende die nackte Cliquenherrschaft sich erhebt, wird die Soziologie erledigt, die das immer schon gemeint hat. Ihre formalen Invarianten erweisen sich als Voraussagen über jüngste materiale Tendenzen. Die Theorie, die an der Lage heute lernt, die Banden in den Klassen zu identifizieren, ist die Parodie auf die formale Soziologie, welche die Klassen leugnet, um die Banden zu verewigen.

 

VII

Die Stelle der marxistischen Klassenlehre, die der apologetischen Kritik am offensten sich darbietet, scheint die Verelendungstheorie. Das gemeinsame Elend macht die Proletarier zur Klasse. Es folgt als Konsequenz aus ihrer Stellung im Produktionsprozeß der kapitalistischen Wirtschaft und wächst mit dem Prozeß ins Unerträgliche an. So wird Elend selber zur Kraft der Revolution, die das Elend überwinden soll. Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten und alles zu gewinnen: die Wahl soll ihnen nicht schwer werden, und die bürgerliche Demokratie ist soweit progressiv wie sie den Spielraum zur Klassenorganisation gewährt, deren numerisches Gewicht den Umsturz herbeiführt. Dagegen läßt sich alle Statistik ins Feld führen. Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Ihr Lebensstandard hat sich gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren, wie sie den Autoren des Manifests vor Augen standen, nicht verschlechtert sondern verbessert. Kürzere Arbeitszeit, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters, durchschnittlich höhere Lebensdauer sind mit der Entwicklung der technischen Produktivkräfte den Arbeitern zugefallen. Keine Rede kann davon sein, daß Hunger sie zum bedingungslosen Zusammenschluß und zur Revolution nötigte. Dafür ist die Möglichkeit von Zusammenschluß und Massenrevolution selber fragwürdig geworden. Der Einzelne gedeiht besser in der Interessenorganisation als in der gegens Interesse, die Konzentration technisch-militärischer Machtmittel auf der Unternehmerseite ist so formidabel, daß sie die Erhebung alten Stils vorweg ins allgemein tolerierte Bereich heroischer Erinnerung verweist, und daß die bürgerliche Demokratie dort, wo ihre Fassade noch existiert, die Bildung einer Massenpartei zuließe, die an die Revolution denkt, von der sie redet, ist ganz unwahrscheinlich. So zerfällt die überlieferte Konstruktion von der Verelendung. Sie mit dem Hilfsbegriff der relativen Verelendung zu flicken, wie man es zur Zeit des Revisionismusstreits versuchte, konnte nur sozialdemokratischen Gegenapologeten beikommen, deren Ohren vom eigenen Geschrei schon so stumpf geworden waren, daß sie nicht einmal den Hohn mehr vernahmen, der aus dem Ausdruck relative Verelendung ihrer Mühe entgegenschallt. Notwendig ist die Erwägung des Begriffs Verelendung selbst, nicht die sophistische Modifikation seines Geltungsbereichs. Er ist aber ein strikt ökonomischer Begriff, definiert durch das absolute Akkumulationsgesetz. Reservearmee, Übervölkerung, Pauperismus wachsen proportional mit dem »funktionierenden Kapital«3 und drücken zugleich den Arbeitslohn herab. Die Verelendung ist die Negativität des freien Spiels der Kräfte im liberalen System, dessen Begriff die Marxische Analyse ad absurdum führt: mit dem gesellschaftlichen Reichtum nimmt unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen vermöge des immanenten Systemzwangs die gesellschaftliche Armut zu. Vorausgesetzt ist der ungestörte, autonome Ablauf des Wirtschaftsmechanismus, wie die liberale Theorie ihn postuliert: die Geschlossenheit des je zu analysierenden tableau économique. Alles andere wird den modifizierenden »Umständen« zugezählt, »deren Analyse nicht hierher gehört«4. Damit aber zeigt sich die Verelendungstheorie selber als abhängig vom Doppelcharakter der Klasse, der Differenz vermittelter und unmittelbarer Repression, die ihr Begriff enthält. Es gibt soweit Verelendung, wie die bürgerliche Klasse wirklich anonyme und bewußtlose Klasse ist, wie sie und das Proletariat vom System beherrscht werden. Im Sinne der rein ökonomischen Notwendigkeit vollzieht die Verelendung sich absolut: wäre der Liberalismus wirklich der Liberalismus, als den Marx ihn beim Wort nimmt, so bestünde schon in der friedlichen Welt der Pauperismus, der heute in den kriegerisch unterjochten Ländern offenbar wird. Aber die herrschende Klasse wird nicht nur vom System beherrscht, sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber. Die modifizierenden Umstände stehen extraterritorial zum System der politischen Ökonomie, aber zentral in der Geschichte der Herrschaft. Im Prozeß der Liquidation der Ökonomie sind sie keine Modifikationen sondern selber das Wesen. Soweit betreffen sie die Verelendung: sie darf nicht in Erscheinung treten, um nicht das System zu sprengen. In seiner Blindheit ist das System dynamisch und akkumuliert das Elend, aber die Selbsterhaltung, die es durch solche Dynamik leistet, terminiert auch dem Elend gegenüber in jener Statik, die von je den Orgelpunkt der vorgeschichtlichen Dynamik abgibt. Je weniger die Aneignung fremder Arbeit unterm Monopol mehr durch die Marktgesetze sich vollzieht, um so weniger auch die Reproduktion der Gesamtgesellschaft. Die Verelendungstheorie impliziert unmittelbar Marktkategorien in Gestalt der Konkurrenz der Arbeiter, durch die der Preis der Ware Arbeitskraft fällt, während diese Konkurrenz mit allem was sie bedeutet so fraglich geworden ist wie die der Kapitalisten. Die Dynamik des Elends wird mit der der Akkumulation stillgelegt. Die Verbesserung der ökonomischen Lage drunten oder deren Stabilisierung ist außerökonomisch: der höhere Standard wird aus Einkommen oder Monopolprofiten bezahlt, nicht aus Vernunft. Er ist Arbeitslosenunterstützung auch wo diese nicht deklariert ist, ja wo der Schein von Arbeit und Lohn dicht fortbesteht: Zugabe, Trinkgeld im Sinne der Herrschenden. Guter Wille und Psychologie haben nichts damit zu tun. Die ratio solchen Fortschritts ist das Selbstbewußtsein des Systems von den Bedingungen seiner Perpetuierung, nicht jedoch die bewußtlose Mathematik der Schemata. Die Prognose von Marx ist auf ungeahnte Weise verifiziert: die herrschende Klasse wird so gründlich von fremder Arbeit ernährt, daß sie ihr Schicksal, die Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur eigenen Sache macht und dem »Sklaven die Existenz innerhalb seiner Sklaverei« sichert, um die eigene zu befestigen. Im Anfang mochte der Druck der Massen, die potentielle Revolution die Umkehr bewirken. Später, mit der Verstärkung der Macht der monopolistischen Zentralstellen, wird man die Lage der arbeitenden Klassen mehr stets mit der Aussicht auf Vorteile jenseits der eigenen geschlossen definierten Wirtschaftssysteme – nicht unmittelbar durch Kolonialprofite – verbessert haben. Die endgültige Etablierung der Macht ist in alle Posten des Kalküls eingerechnet. Der Schauplatz des kryptogamen, gleichsam zensurierten Elends aber ist die politische und gesellschaftliche Ohnmacht. Sie macht alle Menschen derart zu bloßen Verwaltungsobjekten der Monopole und ihrer Staaten, wie es zur Zeit des Liberalismus nur jene paupers waren, die man in der Hochzivilisation hat aussterben lassen. Diese Ohnmacht er-laubt die Führung des Krieges in allen Ländern. Wie er die faux frais der Machtapparatur nachträglich als profitbringende Investition bestätigt, so löst er den Kredit des Elends ein, das die herrschenden Cliquen klug vertagten, während ihre Klugheit doch am Elend die unverrückbare Grenze hat. Nur ihr Sturz, nicht die wie immer verschleierte Manipulation wird das Elend stürzen.

 

VIII

»Was fällt, das sollt ihr stoßen.« Der Satz Nietzsches spricht als Maxime ein Prinzip aus, das die reale Praxis der Klassengesellschaft definiert. Maxime wird es bloß gegen die Ideologie der Liebe in der Welt von Haß: Nietzsche gehört der Tradition jener bürgerlichen Denker seit der Renaissance an, die aus Empörung über die Unwahrheit der Gesellschaft zynisch deren Wahrheit als Ideal gegen das Ideal ausgespielt und mit der kritischen Gewalt der Konfrontation jener anderen Wahrheit geholfen haben, die sie am grimmigsten als die Unwahrheit verhöhnen, in die sie von der Vorgeschichte verzaubert ist. Die Maxime sagt aber mehr als die These vom bellum omnium contra omnes, die am Beginn des Zeitalters der freien Konkurrenz steht. Das Bündnis von Fall und Stoß ist eine Chiffre für den altehrwürdigen Doppelcharakter der Klasse, der heute erst manifest wird. Die objektive Tendenz des Systems wird immer vom bewußten Willen derer verdoppelt, gestempelt, legitimiert, die darüber verfügen. Denn das blinde System ist die Herrschaft; darum kommt es den Herrschenden stets zugute, auch wo es sie anscheinend bedroht, und die Geburtshelferdienste der Herrschenden bezeugen das Wissen darum und stellen den Sinn des Systems wieder her, wenn er von der Objektivität des geschichtlichen Vollzugs, seiner sich selbst entfremdeten Gestalt, verhüllt wird. Es gibt eine Tradition freier bürgerlicher Tathandlungen von der Pulververschwörung – vielleicht vom athenischen Hermensturz – bis zum Reichtagsbrand, und Intrigen wie die Bestechung der Hindenburgs und die Begegnung beim Bankier Schroeder, auf die der Kenner der objektiven Tendenz desinteressiert herunterblickt als auf die Zufälle, die der Weltungeist benutzt, um sich durch sie hindurch zu realisieren, sind gar nicht so zufällig: es sind Akte der Freiheit, die bezeugen, daß die objektive historische Tendenz soweit Täuschung ist, wie sie nicht ohne weiteres mit den subjektiven Interessen derer harmoniert, die durch Geschichte der Geschichte befehlen. Die Vernunft ist noch viel listiger, als Hegel ihr attestieren mochte. Ihr Geheimnis ist weniger das der Leidenschaften als das von Freiheit selber. Diese ist in der Vorgeschichte die Verfügung der Cliquen über die Anonymität des Unheils, das Schicksal heißt. Sie werden vom Schein des Wesens überwältigt, das sie selber ins Spiel gebracht haben, und darum nur scheinbar überwältigt. Geschichte ist Fortschritt im Bewußtsein ihrer eigenen Freiheit durch die historische Objektivität hindurch und diese Freiheit nichts als das Reversbild der Unfreiheit der anderen. Das ist die wahre Wechselwirkung der Geschichte und der Banden, die »innere Identität, … worin … die Nothwendigkeit zur Freiheit erhoben ist«5. Der Idealismus, dem man zu Recht die Verklärung der Welt vorwirft, ist zugleich die furchtbarste Wahrheit über die Welt: noch in den Momenten seiner Positivität, der Lehre von der Freiheit, enthält er durchsichtig das Deckbild ihres Gegenteils, und wo er den Menschen als entronnenen bestimmt, dort gerade sind in der Vorgeschichte die Menschen dem Verhängnis am vollkommensten verfallen. Zwar nicht im preußischen Staat aber im Charisma des Führers kommt die Freiheit als Wiederholung der Notwendigkeit zu sich selber. Wenn die Massen der Rede von der Freiheit nur ungern mehr lauschen, so ist das nicht bloß ihre Schuld oder die des Mißbrauchs, der mit dem Namen getrieben wird. Sie ahnen, daß die Welt des Zwanges gerade immer die von Freiheit, Verfügung, Setzung war und der Freie der, welcher sich etwas herausnehmen darf. Was anders wäre ist namenlos und was etwa heute dafür einsteht, Solidarität, Zartheit, Rücksicht, Bedacht, hat mit der Freiheit der gegenwärtig Freien nur geringe Ähnlichkeit.

 

IX

Die gesellschaftliche Ohnmacht des Proletariats, in der die auseinanderweisenden Tendenzen ökonomischer Verelendung und extra-ökonomischer Besserung des Lebensstandards resultieren, ist als solche von der Theorie nicht vorausgesagt worden. Der überwiegenden Einsicht in die erste Tendenz entspricht jene Erwartung, daß der Druck der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker wird. Aber der Gedanke an die Ohnmacht ist doch der Theorie nicht fremd. Er erscheint unter dem Namen der Entmenschlichung. Wie die Industrie ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten fordert, droht sie das Bewußtsein zu deformieren. Der Brutalisierung der Arbeiter, die zwangshaft was ihnen angetan ward den von ihnen Abhängigen nochmals antun, und ihrer wachsenden Entfremdung vom mechanisierten Arbeitsprozeß, den sie nicht mehr verstehen können, geschieht ausdrücklich Erwähnung. Die Frage, wie die so Bestimmten zur Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbstaufopferung verlangt, wird nicht erhoben. Die Gefahr des Psychologismus – der Autor[iii] einer »Psychologie des Sozialismus« ist nicht zufällig am Ende Faschist geworden wie der Soziologe des Parteiwesens – ist im Ursprung abgewandt, längst ehe die bürgerliche Philosophie verbissen sich daran machte, ihre Objektivität in der Erkenntnissphäre zu verteidigen. Marx hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen. Sie setzt Individualität, eine Art Autarkie der Motivationszusammenhänge im Einzelnen voraus. Solche Individualität ist selber ein gesellschaftlich produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie fällt. Schon unter den konkurrierenden Bürgern ist das Individuum weithin Ideologie, und denen drunten wird Individualität versagt durch die Ordnung des Eigentums. Nichts anderes kann Entmenschlichung heißen. Die Gegenüberstellung mit dem Proletariat desavouiert den bürgerlichen Begriff des Menschen so wie die Begriffe der bürgerlichen Ökonomie. Er wird festgehalten bloß, um in seinem eigenen Widerspruch exponiert zu werden, nicht aber von einer marxistischen »Anthropologie« bestätigt. Mit der Autonomie der Marktwirtschaft und der an ihr gebildeten bürgerlichen Individualität ist auch ihr Gegenteil, die blutige Entmenschlichung des von der Gesellschaft Verstoßenen, vergangen. Die Figur des Arbeiters, der in der Nacht betrunken nach Hause kommt und die Familie verprügelt, ist an den äußersten Rand gedrängt: seine Frau hat mehr als ihn den social worker zu fürchten, der sie berät. Von einer Verdummung des Proletariers, der den eigenen Arbeitsprozeß nicht mehr begriffe, kann gar keine Rede sein. Die höchstgesteigerte Arbeitsteilung hat zwar den Arbeiter dem zusammengesetzten Endprodukt, wie es dem Handwerker vertraut war, immer ferner gerückt, zugleich aber die einzelnen Arbeitsvorgänge in ihrer Disqualifikation einander immer mehr angenähert, so daß, wer eines kann, virtuell alles kann und das Ganze versteht. Der Mann am laufenden Band bei Ford, der immer denselben Handgriff machen muß, weiß doch mit dem fertigen Wagen sehr wohl Bescheid, der kein Geheimnis enthält, das nicht nach dem Muster jenes Handgriffs vorzustellen wäre. Selbst der Unterschied zwischen dem Arbeiter und dem Ingenieur, dessen Arbeit selber mechanisiert ist, dürfte nachgerade aufs bloße Privileg hinauslaufen; unterm Bedarf des Krieges an technischen Spezialisten zeigt sich, wie flexibel die Differenzen, wie wenig die Spezialisten mehr welche sind. An der Ohnmacht aber ändert das zunächst so wenig wie zuvor das nackte Elend in die Revolution umschlug. Die hellen Mechaniker von heute sind so wenig Individuen geworden wie die dumpfen Insassen der working houses vor hundert Jahren es waren, und freilich ist unwahrscheinlich, daß ihre Individualität die Revolution beschleunigte. Der Arbeitsprozeß indessen, den sie verstehen, modelt sie noch gründlicher als der unverstandene von dazumal: er wird zum »technologischen Schleier«. Am Doppelcharakter der Klasse haben sie ihren Anteil. Hat das System der Entmenschlichung Einhalt geboten, die die Herrschenden gefährdet, bis diese sie für die eigene Unmenschlichkeit einspannen, so ist dafür die Einsicht von Marx, daß das System das Proletariat produziere, zu einem Maße eingelöst worden, das schlechterdings nicht abzusehen war. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung, nicht als unerfaßte Roheit vollendet unterm Monopol die Entmenschlichung sich an den Zivilisierten, ja sie fällt mit ihrer Zivilisation zusammen. Die Totalität der Gesellschaft bewährt sich daran, daß sie ihre Mitglieder nicht nur mit Haut und Haaren beschlagnahmt, sondern nach ihrem Ebenbild erschafft. Darauf ist es in letzter Instanz mit der Polarisation der Spannung in Macht und Ohnmacht abgesehen. Nur denen die wie es sind zahlt das Monopol die Zuwendungen, auf denen heute die Stabilität der Gesellschaft beruht. Dies sich Gleichmachen, Zivilisieren, Einfügen verbraucht all die Energie, die es anders machen könnte, bis aus der bedingten Allmenschlichkeit die Barbarei hervortritt, die sie ist. Indem die Herrschenden planvoll das Leben der Gesellschaft reproduzieren, reproduzieren sie eben dadurch die Ohnmacht der Geplanten. Herrschaft wandert in die Menschen ein. Sie müssen nicht, wie Liberale kraft ihrer Marktvorstellungen zu denken geneigt sind, »beeinflußt« werden. Die Massenkultur macht sie bloß immer nochmals so, wie sie unterm Systemzwang ohnehin schon sind, kontrolliert die Lücken, fügt noch den offiziellen Widerpart der Praxis als public moral dieser ein, stellt ihnen Modelle zur Imitation bereit. Einfluß auf Andersgeartete ist den Filmen nicht zuzutrauen, denen schon die Gleichgearteten nicht ganz glauben: mit den Resten der Autonomie vergehen auch die der Ideologien, die zwischen Autonomie und Herrschaft vermittelten. Entmenschlichung ist keine Macht von außen, keine wie immer geartete Propaganda, kein Ausgeschlossensein von Kultur. Sie ist gerade die Immanenz der Unterdrückten im System, die einmal wenigstens durch Elend herausfielen, während heute ihr Elend ist, daß sie nicht mehr herauskönnen, daß ihnen die Wahrheit als Propaganda verdächtig ist, während sie die Propagandakultur annehmen, die fetischisiert in den Wahnsinn der unendlichen Spiegelung ihrer selbst sich verkehrt. Damit aber ist die Entmenschlichung zugleich ihr Gegenteil. An den verdinglichten Menschen hat Verdinglichung ihre Grenze. Sie holen die technischen Produktivkräfte ein, in denen die Produktionsverhältnisse sich verstecken: so verlieren diese durch die Totalität der Entfremdung den Schrecken ihrer Fremdheit und bald vielleicht auch ihre Macht. Erst wenn die Opfer die Züge der herrschenden Zivilisation ganz annehmen, sind sie fähig, diese der Herrschaft zu entreißen. Was an Differenz übrig ist, reduziert sich auf die nackte Usurpation. Nur in ihrer blinden Anonymität erschien die Ökonomie als Schicksal: durchs Entsetzen der sehenden Diktatur wird ihr Bann gebrochen. Die Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose ist so gelungen, daß zwar die Unterdrückten aufgesaugt sind, alle Unterdrückung aber manifest überflüssig geworden ist. Ganz schwach ist der alte Mythos in seiner jüngsten Allmacht. War die Dynamik immer das Gleiche, so ist ihr Ende heute nicht das Ende.

 

Fußnoten

1 Cf. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, 4. Aufl., Stuttgart 1908, S. 164, Anm. 5.

2 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, S. 315.

3 Cf. Marx, Kapital I, ed. Adoratskij, S. 679f.

4 ibid. 5 Hegel, Sämtliche Werke, ed. Glockner, Bd. 4: Wissenschaft der Logik, 1. Teil, Stuttgart 1928, S. 719.

[i] von lateinisch vindicare → la „als Eigentum beanspruchen, Anspruch erheben“

[ii] Inkommensurabilität (Gegensatz: Kommensurabilität, adj. (in)kommensurabel; von lat. mensura für Maß, wörtlich etwa „nicht zusammen messbar“, „ohne gemeinsames Maß“)

[iii] Hendrik de Man (französisch Henri de Man; * 17. November 1885 in Antwerpen; † 20. Juni 1953 nahe Murten) war ein belgischer Sozialpsychologe, Theoretiker des Sozialismus und Politiker.

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