Peter Sloterdijk erzählt in seinem Großessay „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ von der Selbstauflösung der Moderne, die alle Kontinuitäten verweigert.
„Wenn das mal gut geht auf Dauer“, sagte die Mutter, als ihr Sohn sich die Kaiserkrone aufsetzte und in den Krieg zog. Selbstverständlich ging es nicht gut, denn Napoléon Bonaparte – bei Sloterdijk ist er vor allem ein schrecklicher Ehrgeizling der Moderne – hinterließ am Ende ein friedloses, wirres Europa, das im Grunde nie wieder zur Ordnung zurückfand und einige Generationen später sogar noch das Schicksal des Autors dieses Buches prägte, dessen Eltern sich in den Wirren des letzten Krieges nur flüchtig fanden und der seine Vaterlosigkeit später beklagte, sodann auf die Suche nach politischen und spirituellen Ersatzvätern ging, bevor er sich ganz dem Projekt der geistigen Erwachsenwerdung verschrieb.
Dieser große Essay gehört zu den Hauptwerken Peter Sloterdijks. Er ist die Summe einer intensiven Gefühlsbeziehung zu Jetztzeit und Geschichte, das Produkt einer äußersten Konzentration, man könnte auch sagen einer filmischen Klarheit kurz vor dem Ausbruch der Panikattacke. Denn es geht dem Autor so schlecht wie der Epoche. Er schreibt eine Katastrophengeschichte der Moderne, nicht als brav entfaltete Historik und vor allem nicht aus ihrem selbst begründenden Horizont heraus, sondern er macht kulturgeschichtliche Fänge am Rand. Mithilfe eines sehr breiten Schleppnetztes von Methoden und Fragen betreibt er eine Suche nach Motiven, Mustern und Grundkräften.
Sloterdijk streicht durch Kultur und Zeit – und findet. Er ist auf seine Weise auch ein Handkescher Pilzsucher, leider einer voller Unrast. Wer die lächerlichen Gewissheitsversprechen der Theorie hinter sich gelassen hat, muss erzählen: „Erzählen heißt, so zu tun, als wäre man am Anfang dabei gewesen.“ Sloterdijk ist ein aufgeweckter Causeur, wenngleich er auch hier gelegentlich Opfer seines exquisiten Satzbaus und seiner überbrillanten Metaphern wird. Und natürlich war er nicht dabei. Es existiert gar keine ursprüngliche Zeitzeugenschaft. Das Literarische, das Paradoxe und Simulierte dieses schriftstellerischen Unternehmens ist Programm. In vielen Masken erscheint dieser Autor auf fast 500 Seiten, aber jene des heils- oder des vernunftgewissen Schulengründers ist nicht darunter.
Kein Epos, keine Meistererzählung mithin, vielmehr ein moderner, fragmentarischer Ideenroman: So sind literarische Zeugnisse und Anekdoten Sloterdijks bevorzugtes Material, Bonmots, historische Szenen, neuralgische Momente der Weltgeschichte. Ein Psychoanalytiker der Epoche lauscht auf deren Geplapper. Und er notiert, sobald darin Wahrheiten aufblitzen. Nicht ihr Selbstverständnis interessiert ihn, sondern die unbewusste Dynamik, nicht ihr fester Grund, sondern ihr heilloses Zerfransen und Verfließen, genauer: die Mechanik der Diskontinuität, die eklatante Unfähigkeit der Modernen, sich als Gründende und Beständige zu reproduzieren. Das macht Sloterdijk Angst. Sein Grundgefühl: Der Ursprung ist schwach, zu schwach. Der moderne Westen muss ohne arché auskommen, ohne die antike Vorstellung vom Urprinzip alles Seienden: Nichts trägt und leitet ihn – und seine Bewohner wollen es so. Man kann nicht nicht sündigen, wie Augustinus meinte.
„Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt“, heißt es, „stehen wir auf dem Boden der authentischen Moderne.“ So bleibt das M-Wort keine historische Kategorie, sondern wird zu einer anthropologischen – es ist ein Existenzial. Moderne ist ein universelles Geschehen, das die Menschen rettungslos in eine posthumane Zukunft zieht. Wie das? Sloterdijk bedient sich eines aus der Familiensoziologie geläufigen Begriffs, der soziale Identität aus Abstammungsverhältnissen erklären will: „Filiation“. Er versteht darunter „die förmliche Übergabe eines Bestandes an Vermögens- und Statuswerten an gezeugte und adoptierte Nachfolger“.
Die Filiation ist der Reproduktionsmechanismus der Kulturen, und das Moderne ist der Habitus des verweigerten oder ausgeschlagenen Erbes, der Verachtung des Vorbilds, des mutwilligen und voraussetzungslosen Anfangens, des Sturzes in die Zeit, die dann Geschichte heißt, der Statusaufgabe und der Bastardisierungen, des Erfindens und des Kreativen, der autonomen Künste und der freigelassenen Sexualität, kurz: der Freiheit, auf die sich der moderne Westen so viel einbildet. Es ist eine teils gefeierte, teils mutlos eingedämmte soziale Entropie, die sich in Gleichheitswahn und Emanzipationsprojekten, in technologischen Wahn und suizidalen Finanzkapitalismus verläppert, in die Arena von Nietzsches unedlen „letzten Menschen“.
Die Madame de Pompadour wird dazu vernommen, Nikolai Tschernyschewskis epochemachender Roman Was tun? gelesen, den wenig später der Berufsrevolutionär Lenin zitiert, Alexander der Große wird ausgedeutet, Jesus und seine Apostel, der heilige Franziskus, die Borgias treten auf, Cola di Rienzi und der Marquis de Sade, Max Stirner, Emerson, Deleuze und Guattari. Die schreckliche Typologie der Modernen umfasst Mystiker, Protestanten, Unternehmer und Arbeiter, Imperialisten, Entdecker und Künstler, natürlich auch den Intellektuellen und den Manager. Sie alle arbeiten mit ameisenhaftem Fleiß an der Herstellung „evolutionärer Asymmetrien“. Denn, so lautet Sloterdijks zivilisationsdynamischer Hauptsatz: „Im Weltprozess nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.“
Gastautor 04.08.2015 Achgut.com
Der westliche Selbsthass
Von Alexander Meschnig
Der Soziologe Max Weber nannte den vorherrschenden Typus des Intellektuellen in seinem 1919 veröffentlichten Essay Politik als Beruf zu Recht in pejorativer Absicht: Gesinnungsethiker. Deutschland besitzt, insbesondere im linken Spektrum, eine schier unerschöpfliche Quelle an „edlen Seelen“ (Siegfried Kohlhammer), die in der Regel jegliche Verantwortung für ihre „reine und hehre Gesinnung“ anderen bzw. der Allgemeinheit übertragen, die dann mit den unmittelbaren Folgen leben müssen. Ihre Positionen sind im besten Sinne apolitisch, da sie in den meisten Fällen keinen Bezug zur Realität oder den Friktionen der Realpolitik zeigen. Unerfüllbare Maximalforderungen und abstrakte Ideale, wie etwa ein bedingungsloser Pazifismus Käßmannscher Prägung oder das neueste Buchelaborat aus dem prantelschen Paralleluniversum, sind typische Ausprägungen eines gesinnungsethischen Moralismus.
So mag es eine individuell erhöhende und wohlfeile Sache sein, den Anspruch eines jeden Ausländers auf Einwanderung und Versorgung durch den deutschen Sozialstaat zu fordern („Kein Mensch ist illegal“), nüchtern betrachtet stellt das aber nur eine Einladung an Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen aus der ganzen Welt dar, gleich, ob sie politisch verfolgt werden oder nicht, die verpflichtende Grundsicherung (Unterkunft, Verpflegung, Geldleistungen) hier in Anspruch zu nehmen. Dabei spielt es objektiv nicht einmal eine Rolle ob Deutschland ein, zwei oder mehrere Millionen Armutsflüchtlinge aufnimmt. Die Bevölkerungsexplosion in Afrika oder den meisten muslimischen Ländern würde die Verluste an Auswanderern jedes Jahr einfach ausgleichen. Die Zahl der Afrikaner ist etwa seit 1950 von 250 Millionen auf über eine Milliarde gestiegen. Millionen, vor allem junger Männer, warten bereits auf die Chance ihre Heimatländer zu verlassen und nach Europa zu kommen. Dafür gehen sie alle Risiken ein, insbesondere da sich herumspricht dass, wer einmal in Europa, vor allem in Deutschland, angekommen ist, in den allerwenigsten Fällen ausgewiesen wird, selbst wenn ein Asylstatus abgelehnt wird. Ökonomische Gründe mögen für die wachsenden Flüchtlingswellen wichtig sein, letztendlich ist es aber der demographische Faktor, der den Druck im Inneren vieler Staaten erhöht. Die extremen „Youth Bulges“ in Afrika und den arabischen Ländern, also die exorbitante Zunahme junger Männer an der Bevölkerungspyramide für die keinerlei gesellschaftliche Position zur Verfügung steht und die im wahrsten Sinne des Wortes „Überflüssige“ sind, zeigt sich aktuell in der Zunahme kriegerischer Konflikte in den betroffenen Regionen. Bürgerkriege, äußere Konflikte, ethnische und religiöse Spannungen sind stets historische Begleiterscheinungen von Youth Bulges, wie Gunnar Heinsohn, ein akademischer Außenseiter, in seinem Buch Söhne und Weltmacht eindringlich zeigt.
Die letzte Konsequenz vollkommen offener Grenzen ist, neben dem schon lange sichtbaren Import unzähliger Konflikte der Einwanderer und mentaler Inkompatibilitäten, das Ende unserer Sozialsysteme, wo man über längere Zeit Beiträge einbezahlt, um danach irgendwann Leistungen zurück zu bekommen. Das Grundprinzip allen menschlichen Zusammenlebens lautet Reziprozität. Warum jemand, der hier nie einen Cent für die Allgemeinheit bezahlt hat, alle möglichen Forderungen stellen, den Staat erpressen und damit Erfolg haben kann, wie etwa in Berlin-Kreuzberg monatelang von sogenannten Refugees und ihren linksextremen „Supportern“ vorexerziert, bleibt für die meisten Menschen, nicht nur in Deutschland, wohl rätselhaft. Es gibt, zugespitzt, keinen Generationenvertrag zwischen alternden Westeuropäern und Schwarzafrikanern, rumänischen Zigeunern, Irakern oder Afghanen. Offensichtlich gibt es aber so etwas wie einen „Schuldvertrag“, zwischen dem „reichen Europa“ und dem „armen Rest“, der einfach zu instrumentalisieren ist und der jederzeit abgerufen werden kann. Der französische Soziologe Pascal Bruckner fasst dieses Verhältnis präzise zusammen:
„Europa schuldet Letzteren alles: Unterkunft, Verpflegung, Gesundheitsversorgung, Erziehung, ordentliche Löhne, prompte Erledigung ihrer Anliegen und vor allem Respektierung ihrer Identität. Bevor sie noch einen Fuß auf unseren Boden gesetzt haben, sind sie Gläubiger, die ihre Schulden einfordern.“
Über die tatsächlich Schuldigen, etwa die unsäglichen afrikanischen Regierungen, wird selten einmal berichtet. Inzwischen kommen die meisten afrikanischen Flüchtlinge die über das Mittelmeer nach Europa strömen nicht aus den Bürgerkriegsländern und sind in der Regel nicht von Hunger bedroht. Die Ärmsten haben auch gar keine Möglichkeit den Preis für die Schlepper zu bezahlen. Korruption und Vetternwirtschaft, ein mangelndes Bildungssystem, eine ineffiziente Administration, ausufernde Planwirtschaft, mangelnde Rechtssicherheit und ein Gangstertum an der Spitze vieler Staaten die für sich und ihre Clans den Reichtum verschleudern, erzeugen eine Perspektivlosigkeit für viele Afrikaner, die offensichtlich alle Risiken auf dem Weg nach Europa in Kauf nehmen. Die afrikanische Union oder einzelne afrikanische Staaten scheint dieser Massenexodus der eigenen Bevölkerung, in der Regel junge Männer, nicht zu kümmern. Hat man bis dato einmal davon gehört, dass es einen Sondergipfel oder sonstige Zusammenkünfte afrikanischer Vertreter gab, die das Problem der Massenflucht thematisieren, geschweige sich die Frage stellen: „Was ist eigentlich mit unseren Ländern los, dass Menschen ihr Leben riskieren um sie zu verlassen“? Das einzige, was wir von afrikanischen Potentaten hören sind Vorwürfe die in der Aussage gipfeln, Europa schotte sich ab. Darin gleichen sie den Claudia Roths, den Kathrin Göring-Eckhardts, Heribert Prantls und anderen Linkspopulisten in Deutschland.
Im Übrigen zeigen die steinreichen arabischen Länder wie Saudi-Arabien, Katar oder Kuwait ebenfalls keinerlei Interesse daran ihre „muslimischen Brüder“, die sich in Religions- und Stammeskriegen gegenseitig massakrieren, aufzunehmen und zu alimentieren. Seltsam, wo doch sonst bei jeder angeblichen Beleidigung der Umma (der Gemeinschaft der Gläubigen) riesige „Solidaritätswellen“, meist gewalttätig, ausgelöst werden. Den afrikanischen wie auch arabischen Herrschern fehlt etwas vollkommen, was die europäischen Gesellschaften im Überfluss besitzen: Schuldgefühle und eine Verantwortungsethik. Es interessiert weder einen afrikanischen Despoten noch einen saudischen König ob andere buchstäblich verrecken.
Es ist natürlich ein Leichtes im Namen christlicher oder moralischer Werte zu fordern, Deutschland müsse noch viel mehr Zuwanderer, unabhängig von ihrer Qualifikation, Bildung oder Mentalität aufnehmen. Was die Tugendsamen aber zu dieser Forderung legitimiert oder was sie selbst für eine Integration der Einwandernden leisten, bleibt in der Regel unbeantwortet. Die aus ihrer moralinsauren Haltung entstehenden materiellen und vor allem sozialen Kosten für die Allgemeinheit spielen für die „Guten“ eine zu vernachlässigende Rolle. Die unmittelbaren Folgen ihrer abstrakten Menschenliebe werden gerne an diejenigen delegiert, die an den Schnittpunkten sozialer Verwerfungen leben müssen und die mit den Herbeigerufenen um Arbeitsplätze und Wohnraum konkurrieren.
Jedes noch so vorsichtig vorgebrachte ökonomische Argument, etwa die Frage, was wir in Europa denn mit Millionen von unqualifizierten Einwanderern anfangen sollen, wo doch die Arbeitslosigkeit insbesondere junger Menschen in den südlichen Ländern der EU dramatische Dimensionen angenommen hat, wird mit dem inzwischen inflationären Begriff „menschenverachtend“ rasch abgebügelt. In den allermeisten Fällen betrifft die selbsternannten „edlen Seelen“ die eigene Entscheidung weder finanziell noch lebensweltlich. Wird dennoch einmal – selten genug – ein Asylantenheim oder Zigeunerlager in der unmittelbaren Nähe des meist bürgerlichen und wohlhabenden Wohnumfeldes errichtet, ist der Aufschrei jedes Mal groß. Das geht nun aber doch nicht!
Es gilt allgemein: rassistisch, das sind immer die anderen, etwa diejenigen, die auch ein Recht auf ein zivilisiertes Umfeld für sich fordern und den Preis der massenhaften und ungesteuerten Zuwanderung zahlen müssen. Dass Menschen aus korruptionsverseuchten Ländern die über keinerlei demokratische Traditionen verfügen, vielfach in tribalistischen Strukturen leben und denken, sich auf wundersame Weise und ohne größere Konflikte in unser politisches System und seine Werte integrieren, mag zwar ein frommer Wunsch sein, die Realität der letzten Jahrzehnte zeigt aber ein andere Tendenz, sieht man einmal von den Medien und den meisten Parteien ab, die alles dafür tun, das schöne Bild der bunten Republik nicht zu zerstören.
Warnungen vor einer allzu naiven Sichtweise gibt es, sie werden aber entweder ignoriert oder die Verkünder der Botschaft in die rechte, gerne auch rechtspopulistische Ecke, gestellt. Bezeichnenderweise sind es Politiker der SPD, einst traditionell die Vertreter des „kleinen Mannes“, wie Thilo Sarrazin oder der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, die den Bezug zur Realität der normalen Bürger noch nicht ganz verloren haben, eine Tatsache, die für ihre Partei längst nicht mehr zutrifft, die sich mehr und mehr für ihre ehemaligen Stammwähler schämt. Die intellektuelle und akademische Elite schweigt in der Regel oder entspricht bei allen wichtigen Fragen rund um Zuwanderung und Integration ganz dem Typus des Weberschen Gesinnungsethikers. Eine der wenigen kritischen Stimmen, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, vor Kurzem selbst zur Zielscheibe linker Denunzianten geworden, skizziert die aktuelle Situation, die für die nächsten Jahre bestimmend sein wird, in nüchternen Worten:
„Die größte sicherheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird nicht in der Gefährdung von Grenzen durch feindliche Militärverbände, sondern im Überschreiten dieser Grenzen durch gewaltige Flüchtlingsströme bestehen, die, wenn sie massiv auftreten, nicht der wirtschaftlichen Prosperität Europas zugutekommen, sondern die sozialen Sicherungssysteme der europäischen Staaten überfordern und damit die soziale Ordnung in Frage stellen. Gleichzeitig ist Europa infolge seiner Wertbindungen nicht in der Lage, diese Flüchtlingsströme an seinen Grenzen zu stoppen und zurückzuweisen, wie man dies bei einem militärischen Angriff versuchen würde.“
Über die Konsequenzen eines derartigen Szenarios auf längere Sicht nachzudenken mag kaum jemand. Die allgemeine Forderung, alle Flüchtlinge – und als solche werden inzwischen alle hier Eintreffenden unterschiedslos bezeichnet – unabhängig von ihren Gründen und ihrer individuellen Disposition aufzunehmen, ist da viel bequemer und gibt einem zugleich ein gutes Gewissen. In den klassischen Einwandererländern wie den USA, Kanada oder Australien sind nach einer Phase ungeregelter Einwanderung längst Immigrationsgesetze in Kraft getreten, die Zuwanderer auf ihren praktischen Nutzen für die Aufnahmegesellschaft prüfen. Was ist daran verwerflich? Einwanderer, wohlgemerkt: nicht politisch Verfolgte, die asylberechtigt sind, haben in der Regel ökonomische Gründe sich für ein Land zu entscheiden. Wieso soll das nicht umgekehrt ebenso gelten? In Deutschland ist aber allein die einfache Frage: Können wir die Leute, die zu uns wollen, brauchen? Sind sie sozial und kulturell zu integrieren?, weitgehend tabuisiert. Fragen nach dem, was Einwanderer (von politisch Verfolgten und Asylberechtigten zu unterscheiden) für uns bringen, gelten als unmenschlich.
Woher kommt diese Weigerung sich mit den konkreten Folgen des Zuzugs Hunderttausender auseinanderzusetzen? Warum soll alles eine Bereicherung sein, was von außen kommt, während das Eigene abgewertet wird? All das Gerede von der bunten Republik, von Diversitäten und kultureller Bereicherung soll uns letzten Endes suggerieren, dass wir froh sein sollen, nicht im nationalen Sumpf zu versinken, der direkt in den Faschismus führt. „Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen allein“, dieser Slogan der 80er Jahre drückt die Sehnsucht nach dem Anderen und die Abwertung des Eigenen in aller Deutlichkeit aus.
Man kann in der aktuellen Situation ein allgemeines Symptom erblicken, das man mit dem Begriff der Dekadenz beschreiben kann. Diese besteht in einer feindseligen Haltung gegenüber der eigenen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung, bei gleichzeitiger Glorifizierung alles „Fremden“, kurz: einem Mangel an Selbstachtung und einem Hass auf das Eigene. Der Selbsthass und die eigene Bußfertigkeit, die in der Abwertung des Eigenen eine Tugend erblickt, sind so tief in den kulturellen Traditionen unserer protestantisch geprägten Schuldkultur verwurzelt, dass etwa jegliche Kritik an der selbstzerstörerischen Asylpolitik als moralisches Versagen und herzlose Haltung erscheint. Europa, der geografische und politische Raum, in dem die Menschenrechte erfunden wurden, wird so wahrscheinlich an der strikten Einhaltung seiner humanistischen Grundsätze zugrunde gehen.
Dr. Alexander Meschnig ist Psychologie, Politikwissenschafter und Publizist. Er lebt seit Anfang der 90er Jahre in Berlin.
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/der_westliche_selbsthass
»Gesinnungsethik« versus »Verantwortungsethik«
Da liegt der entscheidende Punkt. Wir müssen uns klarmachen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann »gesinnungsethisch« oder »verantwortungsethisch« orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: »Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim« –, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. Sie mögen einem überzeugten gesinnungsethischen Syndikalisten noch so überzeugend darlegen: dass die Folgen seines Tuns die Steigerung der Chancen der Reaktion, gesteigerte Bedrückung seiner Klasse, Hemmung ihres Aufstiegs sein werden, – und es wird auf ihn gar keinen Eindruck machen. Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie FICHTE richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. »Verantwortlich« fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z.B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.
Aber auch damit ist das Problem noch nicht zu Ende. Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung »guter« Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge »heiligt«.
Für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit, und wie groß die Tragweite der Spannung zwischen Mittel und Zweck, ethisch angesehen, ist, mögen Sie daraus entnehmen, dass, wie jedermann weiß, sich die revolutionären Sozialisten (Zimmerwalder Richtung) schon während des Krieges9 zu dem Prinzip bekannten, welches man dahin prägnant formulieren könnte: »Wenn wir vor der Wahl stehen, entweder noch einige Jahre Krieg und dann Revolution oder jetzt Friede und keine Revolution, so wählen wir: noch einige Jahre Krieg!« Auf die weitere Frage: »Was kann diese Revolution mit sich bringen?«, würde jeder wissenschaftlich geschulte Sozialist geantwortet haben: dass von einem Übergang zu einer Wirtschaft, die man sozialistisch nennen könne in seinem Sinne, keine Rede sei, sondern dass eben wieder eine Bourgeoisiewirtschaft entstehen würde, die nur die feudalen Elemente und dynastischen Reste abgestreift haben könnte. – Für dies bescheidene Resultat also: »noch einige Jahre Krieg«! Man wird doch wohl sagen dürfen, dass man hier auch bei sehr handfest sozialistischer Überzeugung den Zweck ablehnen könne, der derartige Mittel erfordert. Beim Bolschewismus und Spartakismus, überhaupt bei jeder Art von revolutionärem Sozialismus, liegt aber die Sache genau ebenso, und es ist natürlich höchst lächerlich, wenn von dieser Seite die »Gewaltpolitiker« des alten Regimes wegen der Anwendung des gleichen Mittels sittlich verworfen werden, – so durchaus berechtigt die Ablehnung ihrer Ziele sein mag.
Hier, an diesem Problem der Heiligung der Mittel durch den Zweck, scheint nun auch die Gesinnungsethik überhaupt scheitern zu müssen. Und in der Tat hat sie logischerweise nur die Möglichkeit: jedes Handeln, welches sittlich gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen. Logischerweise. In der Welt der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, dass der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, dass z.B. diejenigen, die soeben »Liebe gegen Gewalt« gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen, – zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde, – [ebenso] wie unsere Militärs den Soldaten bei jeder Offensive sagten: es sei die letzte, sie werde den Sieg und dann den Frieden bringen. Der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht. Er ist kosmischethischer »Rationalist«. Sie erinnern sich, jeder von Ihnen, der DOSTOJEWSKIJ kennt, der Szene mit dem Großinquisitor, wo das Problem treffend auseinandergelegt ist. Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen oder ethisch zu dekretieren: welcher Zweck welches Mittel heiligen solle, wenn man diesem Prinzip überhaupt irgendwelche Konzessionen macht.
Siehe auch:
Damn right 🙂
Viele Grüße
Derya
Von meinem iPhone gesendet
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Toller Artikel. Vielen Dank.