Weil der „Deutsche Frauenrat“ Frank Plasbergs Sendung „Sexismus“ und „ungeheuerlichen Machtmissbrauch“ vorwirft, schreitet der Rundfunkrat ein. Im Rundfunkrat sitzen Politiker und Kirchenvertreter.
Sie nennen die Sendung „unseriös“ und empfehlen, diese nie mehr zu wiederholen und aus der Mediathek zu löschen. Zensur!
Das ist eine gefährliche Entwicklung. Politik, Kirchen, Verbände haben niemals zu beurteilen, welche Art Journalismus als „unseriös“ getilgt gehört. „Unseriös“ ist der schwammige Vorwurf, den Regime ohne Pressefreiheit gern erheben, um Medien zum Schweigen zu bringen.
Wem in unserem freien Land eine Talk-Sendung nicht passt, für den gibt es ein einfaches Mittel: ausschalten!
Der umstrittene Talk
Sexismus-Beschwerde! | Plasberg-Sendung mit Thomalla zensiert
22.08.2015
Von G. BRANDENBURG, N. HARBUSCH und F. KAIN
In Sachen Zensur sitzen Sie in diesem Fall ganz sicher in der ersten Reihe. 2,98 Millionen Zuschauer sahen am 2. März 2015 die ARD-Talkshow „Hart aber fair“. Moderator Frank Plasberg (58) hatte zum Thema Gleichberechtigung Gäste wie Schauspielerin Sophia Thomalla (25) und FDP-Vize Wolfgang Kubicki (63) eingeladen.
Ein halbes Jahr war die Sendung in der ARD-Mediathek abrufbar, doch in dieser Woche löschte der WDR den Gender-Talk! Der unglaubliche Vorgang: Am Dienstag hatte der WDR-Rundfunkrat nach einer Sexismus-Beschwerde von Frauenverbänden zwar von einer Rüge gegen Plasberg abgesehen, aber empfohlen, die Sendung aus dem Netz zu nehmen.
Von der ARD gelöscht: Talkshow-Gast Sophia Thomalla (25)
Foto: Oliver Ziebe/WDR
WDR-Rundfunkrats-Vorsitzende Ruth Hieronymi zu BILD: „Die Auswahl der Gäste und die Gesprächsleitung waren für die Ernsthaftigkeit des Themas nicht ausreichend.“ Und auch der WDR-Programmausschuss urteilte: „Es ist mit einem gesellschaftlichen Thema in einer unseriösen Weise umgegangen worden – nicht zuletzt durch den Moderator.“
Aber was soll zu hart und unfair gewesen sein? BILD schaute sich die Sendung noch einmal an. Plasberg macht sich z.B. darüber lustig, dass es in Deutschland 190 Professoren für Geschlechterforschung gibt, 180 davon weiblich. Er mokiert sich, dass die Umbenennung eines „Studentenwerks“ in „Studierenden-Werk“ 1 Mio. Euro kostet.
Mehrfach prallen Gast Birgit Kelle („Gender gaga“) und Bloggerin Anne Wizorek („Auf Herrenklos gibt es selten Wickeltische“) aufeinander. Kubicki sagt zu Grünen-Fraktionschef Hofreiter: „Sie sehen ja schon gendermäßig aus.“
Die Talkrunde bei „Hart aber fair“: Bloggerin Anne Wizorek, Anton Hofreiter (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP), Sophia Thomalla, Autorin Birgit Kelle und Moderator Frank Plasberg (von links)
Foto: Oliver Ziebe/WDR
Fazit: TV-Polit-Unterhaltung, eher harmlos! Trotzdem drückte der WDR die Löschtaste, sagte BILD: „Die Sendung war von Frauenverbänden und Gleichstellungsbeauftragten als unseriös empfunden worden und hatte zu Programmbeschwerden und zahlreichen Protestbriefen geführt. Die Redaktion musste zur Kenntnis nehmen, dass viele Frauen die Sendung offenbar anders empfunden haben, als sie gemeint war.“
Talkshow-Gast Wolfgang Kubicki fordert jetzt: „Die Sendung muss wieder raus aus dem Giftschrank, rein in die Mediatheken. In welchem Land leben wir, wenn feministische Extremisten in der Lage sind, mit einem organisierten Shitstorm die Meinungsfreiheit einzuschränken?“
Sophia Thomalla: „Ich als Frau soll frauenfeindlich sein? Immer wieder erstaunlich, was Frauen sich so einfallen lassen, um Frauen vor so Frauen wie mir zu beschützen. Verbote von Meinungen kenne ich eigentlich aus dem Geschichtsbuch.“ Frank Plasberg wollte sich nicht äußern.
Wie nahe Sieg und Niederlage beeinander liegen, das erleben derzeit die Frauenverbände und Frauenräte, denen die Meinungsfreiheit in Deutschland zu weit geht. Gerade haben sie beim WDR Rundfunkrat durchgesetzt, dass die Sendung “Hart aber Fair, Nieder mit den Ampelmännchen – Deutschland im Gleichheitswahn” aus der Mediathek gelöscht wurde, da bricht ein Sturm der Berichterstattung über die Frauenräte herein.
Kaum ein deutsches Medium scheint sich die Geschichte entgehen lassen zu wollen, niemand will in seinem Beitrag auf den obligatorischen Link auf YouTube verzichten, wo die Sendung vom 2. März immer noch zu sehen ist – in ihrer ganzen Länge und Lächerlichkeit – jedenfalls meinen die sich beschwerdenden Frauenräte, dass die Sendung den Genderismus und das Gender Mainstreaming lächerlich gemacht habe. Als bräuchte es dazu die Sendung von Plasberg, als reichten die Vorschläge zur Sprachverhunzung, *X_Innen, zu Unisextoiletten, zu Frauenquote im Cockpit nicht aus, um den Genderismus lächerlich zu machen.
Und nun, nachdem sie es durchgesetzt haben, das Plasbergs Sendung aus der Mediathek des WDR gelöscht wurde, dass sie herauszensiert wurde, nun haben sich die Frauenräte und -verbände mit ihrer Beschwerde-Onanie vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben (Man muss in diesem Zusammenhang von Onanie sprechen, denn wie wir gezeigt haben, enthalten die vermeintlichen Beschwerden keinerlei Argument).
Die Lächerlichkeit und Peinlichkeit der Frauenräte, sie hat klar benennbare Ursachen:
Offensichtlich hält der Genderismus nicht einmal eine Talkshow aus, in der die obligatorische politische Korrrektheit, die offensichtlich der Wohlfühlfaktor für Genderisten ist, nicht eingehalten wird.
Offensichtlich fehlt es dem Genderismus an “Fachlichkeit“, wie die Frauenräte es wohl nennen würden, um sich in der Diskussion mit anderen zu behaupten.
Offensichtlich haben Genderisten Angst vor Meinungsfreiheit, Angst davor, in der richtigen Welt, außerhalb ihrer universitären und instutionellen Schutzräume auf die Wirklichkeit zu stoßen, mit der Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Deshalb muss die Wirklichkeit zensiert werden. Deshalb müssen Meinungen, die mit Fakten und somit auf Basis der Wirklichkeit begründet werden, unterdrückt am besten verboten werden.
Und was sind Organisationen, Räte, Einzelakteure, die durch eine Talkshow aus dem Gleichgewicht geworfen werden, die keine Argumente zur Verteidigung der eigenen Sache vorbringen können, die nur heulend zum nächsten Patriarchen laufen können, um dort darum zu betteln, dass ihr Schutzraum, in dem sie weder von Realität noch von anderen Meinungen behelligt werden, wieder hergestellt wird?
Peinlich und lächerlich!
Und deshalb wird sich der Pyrrhus-Sieg in Kürze zum feministischen Supergau entwickeln: Darüber lacht das Land, schon deshalb, weil die Frauenräte es geschafft haben, dass eine Sendung, die fast in Vergessenheit geraten war, eine neue YouTube Karriere gestartet hat und sich viraler Nachfrage erfreut.
Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder (Teil 1)
Bernhard Lassahn 22.08.2015
Wissen deutsche Schriftsteller überhaupt noch, wie sie heißen und was sie sind? Wollen sie wirklich gleichgestellt werden? Warum lügen Sexisten so gerne?
Gibt es Antworten? Es sieht nicht danach aus. Beim diesjährigen Schriftstellerkongress hat der Landesverband Berlin/Brandenburg vorgeschlagen, den „VS Verband deutscher Schriftsteller“ in „VSS Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ umzubenennen.
Warum? Warum nicht?
Schwer zu sagen. Sie konnten sich nicht einigen. Nun wollen sie eine Umfrage durchführen. Ich finde, sie sollten es lassen. Es ist blamabel genug! Wenn die Schriftsteller heute nicht mehr wissen, wie sie sich nennen sollen, schlage ich den Namen ‚Club der toten Dichter’ vor. Oder wenn ihnen das lieber ist: ‚Club der toten Dichterinnen und Dichter’.
Wenn die Schriftsteller aufgrund ihres besonderen Umgangs mit der Sprache, den man eigentlich von ihnen erwartet, nicht in der Lage sind, selbst eine passende Bezeichnung zu finden, dann müssen sie eben eine Werbeagentur beauftragen oder eine Expertin wie der/die/das Profx Hornscheidt von der Humboldt-Universität um Rat bitten, die vermutlich „Schriftstellx“ vorschlagen würde oder aber bei den Abgeordneten der Grünen, der Linken, der SPD oder der CDU/CSU nachfragen, welche Bezeichnung man ihnen entsprechend der aktuellen Gesinnungslage zubilligt.
Warum konnten sie sich nicht einigen? Dagegen sprach unter anderem, dass die Namensänderung mit nicht unbeträchtlichen Verwaltungskosten verbunden ist und dass der Name inzwischen eine gewisse Tradition hat (als wenn es keine wirklich gewichtigen Gründe gäbe, die dagegen sprechen), dafür sprach nur ein einziges Argument: der Gleichstellungsaspekt.
Das sehe ich ganz anders. Der Gleichstellungsaspekt ist kein Argument dafür, sondern dagegen. Gleichstellung und Schriftsteller: das geht gar nicht!
Es ist nicht die Aufgabe der Schriftsteller, Gleichstellungspolitik zu betreiben, sondern vielmehr, sich ihr entgegenzustellen. Schriftsteller sollten die Falschheiten dieser Politik nicht besinnungslos übernehmen, sie sollten sie vielmehr aufdecken. Schriftsteller hätten dazu auch die geeigneten Werkzeuge: ihren Sinn für Sprache.
Menschen sind nicht gleich. Gruppen sind es auch nicht.
Was bedeutet Gleichstellung? Gleichstellung geht von Gruppen aus und geht über Individuen hinweg. Das Zauberwort der Gleichstellung heißt: gruppenbezogen. Das heißt, dass Gleichstellung stets auf „Gruppen bezogen“ erreicht werden soll. Dazu wird zunächst die Existenz einer Gruppe behauptet, die an die Stelle des mündigen Bürgers tritt, der gerade krank geschrieben ist. Er wird von nun an von einem fiktiven Kollektiv vertreten, das über seinen Kopf hinweg gebildet wurde.
Da darf man sich schon fragen, ob es diese Gruppe überhaupt gibt und – falls nicht – ob es sie denn geben sollte. Gibt es diese gigantische Großgruppe „der“ Frauen wirklich oder wird sie nur beschworen? Sollte es sie etwa in Zukunft geben? Und gibt es entsprechend dazu – im Schatten dieser Frauengruppe – die gleichgeschaltete Gruppe „der“ Männer?
Wenn man einen Sinn für Geschichte hat, fragt man sich außerdem: Seit wann gibt es diese Gruppen? Warum gab es sie nicht schon vorher? Worin liegt das Versäumnis der bisherigen Sichtweise, die eine solche Gruppenbildung nicht vorgenommen hat? Ist es überhaupt ein Versäumnis?
Ich will nicht länger um den kalten Brei herum reden: Ich halte die pauschale Unterteilung in Männer und Frauen für grundfalsch. Damit wird nachhaltig Schaden angerichtet. Einen Nutzen sehe ich nicht. Derjenige, der diese Unterteilung durchsetzen und sprachlich deutlich machen will – bzw. diejenige, die das will – ist jetzt gefragt; er – bzw. sie – ist in Beweisnot; er ¬– bzw. sie – soll erklären, warum er ¬– bzw. sie – das sinnvoll findet. Ich finde es nicht sinnvoll.
Falsch finde ich die Unterteilung, weil die Unterschiede innerhalb so einer Pseudo-Gruppe, wie man sie korrekterweise nennen sollte, dermaßen groß sind, dass es sich von selbst verbietet, die vielen verschiedenen Einzelpersonen zu einer Einheit zusammenzufassen, die in Wirklichkeit keine ist. Da wird ein einzelnes Merkmal einer Person (womöglich eins, das dem Betreffenden gar nicht so wichtig ist) rausgepickt und, nur weil sich dieses Merkmal auch bei anderen findet, wird er mit denen in eine Schublade getan, obwohl er mit ihnen so gut wie nichts gemeinsam hat.
Erich Kästner hat einmal ein Gedicht geschrieben, in dem er die Müller-Partei vorstellte – eine neue Partei, bei der jeder Mitglied werden konnte, der zufälligerweise Müller hieß. Ansonsten hatte die Partei kein Programm, keinen gemeinsamen Nenner. Wer sowieso schon Müller hieß und natürlich von dem Projekt begeistert war oder wer in Zukunft den Namen Müller annehmen würde, um auch mit dabei zu sein, gehörte automatisch zur Partei von Max Müller:
Müller liebte alle Klassen.
Politische Meinungen hatte er keine.
Wichtig war ihm nur das eine:
Sämtliche Müllers zusammenzufassen.
Kästner hatte die Machenschaften durchschaut. Er hat sich Fragen gestellt, die wir uns auch stellen sollten: Welche Interessen stehen hinter so einer Gruppenbildung? Wir ahnten es schon. Die Müllers verschafften sich Vorteile. Das war alles. Der faule Zauber beruhte allein auf der willkürlichen Gruppenbildung, bei der das windige, aber zugleich ausschlaggebende Kriterium allein der Nachname „Müller“ war.
Sexismus geht uns alle an. Aber was ist eigentlich Sexismus?
Bei der Gleichstellungspolitik ist das Geschlecht das ausschlaggebende Kriterium. Genau gesagt: das biologische Geschlecht, auch wenn ständig von „gender“ die Rede ist, womit das soziale – neuerdings spricht man auch vom „kulturellen“ – Geschlecht gemeint sein soll. Es kommt jedoch in keiner Statistik vor. Auch bei keiner Quotenregelung.
Das kann es auch nicht; denn ein soziales oder kulturelles Geschlecht ist nicht eindeutig feststellbar. Damit kann man keine Politik machen. Damit kann man keine Gruppen bilden. Das geht nur mit einem klaren Entweder-oder-Kriterium. Es geht also doch immer nur um das biologische Geschlecht, oder volkstümlich gesagt: um das, was man in der Unterhose hat. Während es zur Zeit der Müller-Partei genügte, den Ausweis vorzuzeigen, um das entscheidende Erkennungszeichen zu präsentieren, heißt es heute: Hose runter!
Aber ist die Geschlechtszugehörigkeit wirklich ein brauchbares Kriterium, um Schriftsteller, die bekanntlich mit Sprache arbeiten und nicht etwa im horizontalen Gewerbe tätig sind oder eine Sauna betreiben, in Gruppen einzuteilen und angemessen zu etikettieren? Für Sexisten schon. Für die geht es immer nur um das eine. Sowieso. Für andere wiederum ist es kein geeignetes Kriterium.
Damit drängt sich die Frage auf: Was sind Sexisten? Das sind Leute, für die ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter das entscheidende Kriterium ist, hinter dem alle anderen Aspekte – und zwar alle anderen – zurücktreten. Sehen wir uns so einen Sexisten näher an. Viele halten ihn für einen unangenehmen Zeitgenossen, der von einem übermäßig starken Begehren befallen ist. Er ist in etwa das, was man früher einen Erotomanen nannte. So jemand erzählt womöglich zweifelhafte Witze. So jemand ist sexbesessen, vielleicht sogar sexsüchtig. Das lässt – hoffentlich – irgendwann nach.
Das ist auch nicht weiter schlimm. So jemand hat gewisse Probleme mit seinem Sexleben – und das wird wiederum für Leute, die damit belästigt werden, zum Problem. Doch solche Kleinkriege verbleiben in einem überschaubaren Personenkreis. Solange man so jemanden relativ problemlos meiden und leicht abwimmeln kann, stellt er keine Gefahr dar. Er wird schon merken, wo er Freunde findet und wo nicht.
Schlimmer sind Leute, die vermutlich auch Probleme mit ihrem Sexleben haben, sich aber hauptsächlich um die Intimitäten anderer kümmern, speziell um Leute, die sie gar nicht kennen, deren Leben sie aber regulieren möchten. Es geht ihnen um alle. Und um alles. Sie treten mit dem Anspruch auf, am besten zu wissen, wie Menschen heutzutage ihr Privatleben gestalten müssen und sie versuchen, ihre aktuellen Vorstellungen mit ständig neuen Vorschriften durchzudrücken, wobei sie sich selbst als Gutmenschen und alle anderen als Schlechtmenschen darstellen.
Bei dieser Sorte von Sexisten geht es um Politik. Es geht um einen umfassenden Macht- und Geltungsanspruch. So ein Sexist beansprucht allein schon aufgrund der Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter eine grundsätzliche Überlegenheit, ganz unabhängig davon, ob er selber ein abwechslungsreiches Nachtleben hat oder nicht. Er sieht sich als Mensch erster Klasse, weil bei ihm Sex ganz oben auf der Liste seiner Wertmaßstäbe steht. Danach kommt lange nichts. So sind sie. Sexisten haben alle dieselbe Brille, durch die sie die Welt betrachten.
Es ist doppelt schlimm. Erstens fühlt sich ein Sexist allen des jeweils anderen Geschlechts überlegen. Ohne guten Grund. Auch ohne schlechten Grund. Er fühlt sich grundsätzlich allen vom anderen Ufer überlegen, nur weil er sich zum „besseren“ Geschlecht rechnet („besser“ natürlich in Anführungszeichen, weil es ein besseres Geschlecht nicht gibt). Zweitens fühlt sich so einer auch den eigenen Geschlechtsgenossen überlegen, sofern sie nicht ebenfalls Sexisten sind und – so wie er es tut – die Geschlechtszugehörigkeit als das alles entscheidende Kriterium ansehen. Sexisten sind so etwas wie die Neuen Herrenmenschen.
Der offensichtliche Sexismus der Frauen, den niemand sehen soll
Viele halten Sexismus für eine reine Männerkrankheit. Den Eindruck kann man leicht haben; denn Sexismus begegnet einem zumeist als Vorwurf, der von Frauen gegen Männer erhoben wird. Doch hinter dem Schleier der Empörung verbergen Frauen ihren eigenen, sehr speziellen Sexismus. Frauen sind auch sexistisch. Besser gesagt: Feministen sind es. Sie sind es grundsätzlich. Sie haben damit angefangen.
Wir sollten an dieser Stelle nicht abwinken und uns auf ein voreiliges Unentschieden einlassen, als gäbe es halt auf beiden Seiten Sexisten, und die Sache wäre irgendwie ausgeglichen. Das ist sie nicht. Feministen haben inzwischen die politische Macht und sie haben auch die öffentliche Meinung – und die so genannte Defma (Definitionsmacht) – auf ihrer Seite. Es gibt in dieser Sache keine Gleichverteilung. Wenn wir das auf die politische Ebene übertragen wollen, müssen wir uns zwei Nachbarländer vorstellen, von denen eines von beiden Vernichtungswaffen besitzt das andere aber nicht.
Feministen haben „Sexismus“ zu ihrem Kampfbegriff gemacht und sind nun die Nutznießer in einem abgekarteten Spiel, in dem Männer nicht etwa Täter, sondern ausschließlich Opfer sind. Eine Bemerkung, die als sexistisch verstanden wird, kann die Karriere eines Mannes gründlich ruinieren. Aktuelles Beispiel ist der Nobelpreisträger Tim Hunt, der wegen angeblichen sexistischen Äußerungen* seine Stelle am University College London aufgeben musste. Dabei hat er keiner einzigen Frau etwas angetan, nur der imaginären Gruppe „der“ Frauen. Deshalb konnte es auch keine Entschuldigung oder Richtigstellung geben. Keine Verwarnung. Keine Möglichkeit, Einspruch zu erheben.
Gleichstellungspolitik ist sexistisch. Feministen, die sich per Definition als Sexisten sehen, sind die treibende Kraft hinter der Gleichstellungspolitik, so wie Max Müller die treibende Kraft hinter dem Erfolg der Müller-Partei war. Die Feministen haben Erfolg, sie haben es tatsächlich geschafft, die beiden Pseudo-Gruppen „die“ Männer und „die“ Frauen in die Welt zu setzen und daraus ihre Vorteile zu ziehen.
Am Anfang dieser Entwicklung stand die Einrichtung des Ministeriums für „Frauen“. Damit wurde ein neuer Zuständigkeitsbereich geschaffen, eine neue falsche Verallgemeinerung wurde in Beton gegossen. Sie hatte fortan Gesetzeskraft. Sie ist total, sie ist gnadenlos, sie kennt keine Ausnahmen: Frau oder Nicht-Frau – das ist die Frage. So wurde nach und nach eine Politik etabliert und ausgebaut, die man, wenn man es freundlich formulieren will, als Müllerismus bezeichnen kann – weniger freundlich als neu eingekleideten Rassismus.
Wie soll man sensible mit der großen Axt umgehen?
Natürlich wird ständig betont, dass es „die“ Frauen in Wirklichkeit nicht gibt und dass man keinesfalls verallgemeinern dürfe – und dann wird genau das getan. Gleichstellung geht mit dem Charme einer Planierraupe grundsätzlich gruppenbezogen vor und sorgt dafür, dass die beiden Pseudo-Gruppen überall da, wo man sie beobachtet, gleich groß sind. Wenn nicht, dann sollen sie künstlich angeglichen werden.
Um diesen Prozess voranzutreiben, soll die Gruppe „der“ Frauen bei jeder Gelegenheit erwähnt werden. Daher gibt es Sprachvorschriften für „geschlechtersensible“ Sprache, die eine Doppelnennung wie „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ verpflichtend macht. Es gibt bereits Hochschulen, die Arbeiten von Studenten ablehnen, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen.
Oder sie drohen mit Punktabzug. „Du kannst das Ganze natürlich ignorieren“, schrieb eine Tutorin im Auftrag ihrer Dozentin an der TU Berlin einem Studenten des Studiengangs Verkehrswesen; sollten ihm dann allerdings die entscheidenden Punkte fehlen, dann „ … wirst du dich ärgern“, schrieb sie weiter, „denn da hilft dann auch alles diskutieren nichts.”
Der Student war irritiert, als er die Richtlinien zum Abfassen wissenschaftlicher Arbeiten gelesen hatte, da stand nämlich: „Auch die korrekte Verwendung von männlichen und weiblichen Ausdrucksformen und somit einer gendersensiblen Sprache wird in einer wissenschaftlichen Arbeit erwartet. Allgemein bedeutet Gender Mainstreaming ‚bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.’ BMFSFJ 2012“
Aha. Das steckte also dahinter: das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, kurz BMFSFJ, das Zentrum der weiblichen Sexisten, die Kommandozentrale der gruppenbezogenen Gleichstellungspolitik. In deren Welt gibt es nur zwei große Gruppen, die Gruppe der Müller und die der Nicht-Müller – sorry: die der Frauen, die der Männer. Das Ministerium sieht die Welt als Scheibe. Zweidimensional. Deshalb glauben sie, dass es in der Sprache ausschließlich „männliche und weibliche Ausdrucksformen“ gibt. Nur diese beiden. Mehr nicht. Mehr braucht ein Sexist nicht. Denn er sieht erstens bis zehntens sein eigenes – gutes – Geschlecht und sieht unter ferner liefen das – weniger gute – andere. So einfach.
Doch die Sprache ist nicht so einfach wie die Weltsicht der Sexisten. Die Sprache kennt grammatische Formen, die wir „männlich“ oder „weiblich“ nennen (was nichts mit Menschen zu tun hat, die wir so nennen) und die obendrein übergeschlechtlich sein können. Außerdem kennt die Sprache das Neutrum. Das Ministerium nicht. Das Ministerium verkündet, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. Gibt es nicht. Hamwer nicht. Kriegen wir auch nicht wieder rein. Basta.
Was einen Sexisten nicht interessiert, gibt es nicht. Wenn das Ministerium „korrekt“ sagt, meint es nicht „korrekt“ im Sinne eines korrekten Gebrauchs der Grammatik oder „korrekt“ im Sinne einer richtigen Darstellung eines Sachverhalts, sondern „korrekt“ im Sinne der Gleichstellungspolitik. Die Politik versucht, die vielfältigen Möglichkeiten der Sprache so zu reduzieren, dass damit bloß noch ihre primitive Weltsicht ausgedrückt werden kann.
Also muss unser armer am Verkehrswesen interessierter Student (gemeint ist der Straßenverkehr, nicht der Geschlechtsverkehr), die „Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern“ separat aufführen, auch wenn er es gar nicht will, weil er dafür keinen Grund sieht und er auch keine unterschiedliche Interessen von Frauen und Männer erkennen kann (aber so tun muss, als gäbe es welche und als wären die ganz, ganz wichtig). Er will auch die Verkehrsteilnehmer nicht als zwei von einander Gruppen darstellen, sondern als eine einzige mit einem gemeinsamen Interesse in einer konkreten Lebenssituation, in der es keine Rolle spielt, ob jemand männlich oder weiblich ist. Das darf er nicht. Das gibt Minuspunkte.
Wieso fühlt sich eigentlich das Ministerium mit der Buchstabenkombination BMFSJSF zuständig für den Sprachgebrauch an der TU Berlin? Noch eine Frage: Warum orientiert sich eine Dozentin, die eigentlich die Freiheit der Wissenschaft schätzen müsste, an den Marotten der aktuellen Frauenpolitik, die sie, wenn sie – was wir annehmen dürfen – intelligent ist, leicht als falsch zumindest als fragwürdig erkennen könnte? Warum hat sie ihren kritischen Geist, den sie sicher hat, kurzzeitig ausgeschaltet? Ganz einfach. Weil es eine übergreifende Seilschaft der Sexisten gibt. Da treffen sich Schwestern im Geiste. Für Sexisten ist nun mal die Geschlechtszugehörigkeit das aller- allerwichtigste.
Die Tutorin und die Dozentin sehen die Welt durch die neue 2-D-Sexisten-Brille, die im Ministerium mit den vielen Buchstaben Pflicht ist. Sie teilen dieselbe Weltanschauung. Das richtige Geschlecht hat bei ihnen grundsätzlich Vorfahrt. Glücklicherweise gehören sie selbst dazu. Alles, was sonst noch von Bedeutung sein könnte, ist zweit- oder drittrangig. Zum Beispiel das wissenschaftliche Arbeiten an einer Hochschule. Oder die sprachlich und sachlich korrekte Darstellung in der Hausarbeit eines Studenten (der übrigens nicht zum richtigen Geschlecht gehört). Oder die Wahrheit.
Die Tutorin hat den Studenten angelogen. Sie hat ihm geschrieben: „Bei der gendersensiblen Sprache handelt es sich nicht um eine Empfehlung, sondern um Vorgaben seitens der TU Berlin … Dies hat einfach damit zu tun, dass sich die Gleichstellung von Frau und Mann inzwischen als gesellschaftlicher Konsens auch in wissenschaftlichen Ausarbeitungen niedergeschlagen hat. Und dafür gibt es tatsächlich (im weiteren Sinne) auch rechtliche Vorgaben in verschiedenen Bereichen …“
Stimmt das? Gibt es wirklich einen „gesellschaftlichen Konsens“, der sich auch in wissenschaftlichen Ausarbeitungen „niederschlägt“? Wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir: Die „rechtlichen Vorgaben“, von denen die Tutorin schreibt, gibt es nicht. Das schrieb sie zwar. Doch es stimmt nicht. Der irritierte Student wandte sich an die Rechtsabteilung und erhielt die Auskunft, dass es eine Vorgabe, die so genannte geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, nicht gibt.
Hatte ihn die Tutorin fahrlässig oder vorsätzlich angelogen? Egal. Sie gehört zum richtigen Geschlecht. Wer tatsächlich glaubt, dass sich so jemand irgendwann einmal entschuldigen oder sich auf eine ernsthafte Diskussion über die gendersensible Sprache einlassen würde, der kennt Sexisten nicht.
Sie sind an der Macht. Sie lügen, weil sie es können. Niemand hindert sie. Das trifft sich gut. Denn sie könnten ihre Vorstellungen gar nicht anders – womöglich mit überzeugenden Argumenten – durchsetzen. Es geht nur mit Lügen. Es geht nur ohne Begründungen. Sie haben Erfolg damit. Sie haben inzwischen die Sprache der Bürokratie erobert. Auch die Sprache der Politik. Auch die Sprache im öffentlichen Raum. Nun greifen sie nach der Sprache der Wissenschaft, von der man eigentlich annehmen sollte, dass sie resistent ist. Ist sie das?
Als nächstes ist die Sprache der Schriftsteller dran. Was werden die Schriftsteller tun? Werden sie klein beigeben?
Fußnote*
Tim Hunt hatte überlegt, ob es für die Wissenschaft besser wäre, wenn Männer und Frauen getrennt in Labors arbeiten, weil sie sich ansonsten ineinander verlieben. Das war eine launige Überlegung – ohne Anspruch, das auch umzusetzen. Es war ein Scherz. Warum gilt das als sexistisch? Es ist nicht nur eine Position, die man durchaus vertreten darf, es ist sogar eine, die bei anderer Gelegenheit von Feministen selber vertreten wird. Denn sie sind es, die ernsthaft eine Geschlechter-Apartheid wollen. An jedem Girls’ Day wird eine strenge Geschlechtertrennung vorgenommen.
Und nun?
Im zweiten Teil geht es darum zu zeigen, dass es grundsätzlich leicht möglich ist, mit Sprache zu lügen.
Im dritten Teil schauen wir Schriftstellern über die Schulter, wenn sie sich fragen: Wohin mit Herta Müller?
Im vierten Teil geht es um die Frage, was Sexisten wirklich wollen.
Im fünften und letzten Teil geht es um die grundsätzliche Frage, ob das grammatische und das natürliche Geschlecht eins sind.
Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder (Teil 2)
Im ersten Teil wurde berichtet, dass der Verband der deutschen „Schriftsteller VS“ überlegt, sich in Verband deutscher „Schriftstellerinnen und Schriftsteller VSS“ umzubenennen, um den Gleichstellungsaspekt zu berücksichtigen. Ich habe zunächst erklärt, was Gleichstellung bedeutet: Es setzt ein gruppenbezogenes Denken voraus, bei dem die Gruppenbildung nach einem sexistischen Kriterium erfolgt – nämlich nach dem der nackten Geschlechtszugehörigkeit. Mit der Gleichstellung hat sich ein Sexismus breit gemacht, den man möglicherweise nicht bemerkt und als solchen hat. Sexisten haben ein nicht hinterfragtes Überlegenheitsgefühl, was dazu führt, dass sie ihre Vorstellungen vom richtigen Sprachgebrauch nicht zur Diskussion stellen, sondern mit Macht durchsetzen wollen. Was bedeutet das für Schriftsteller?
Mögen deutsche Schriftsteller Gruppensex? Wollen sie aufklären oder wollen sie betrügen? Sie müssen sich entscheiden.
Menschen sind nicht gleich. Dass man sie nicht gleichstellen kann, ist offensichtlich. Gruppen sind auch nicht gleich und lassen sich genauso wenig gleichstellen. Doch bei Gruppen fällt es nicht auf den ersten Blick auf. Damit es nicht doch irgendwann auffällt, werden bei der Gleichstellungspolitik immer nur Quantitäten gesehen, nie Qualitäten. Quantitäten kann man gleichstellen. Jedenfalls dann, wenn man sich nicht für Qualitäten interessiert. Es zählt dann nicht die Bedeutung der Worte, sondern die Häufigkeit, mit der sie verwendet werden.
Einem Schriftsteller ist das alles fremd. Ihm ist der Sexismus fremd, vor allem aber das gruppenbezogene Denken. Ein Schriftsteller – wie jeder andere Künstler – ist ein individueller Fall. Schreiben ist etwas sehr Persönliches. Ein sexuelles Erlebnis ist es auch.
Wenn sich ein Schriftsteller einer Sichtweise unterwirft, die gruppenbezogen ist, dann verliert er seine Individualität und damit gleichzeitig seine Qualität. Darauf kommt es, wenn er sich der Gleichstellung unterwirft, nicht mehr an. Es ist dann nicht mehr so wichtig, ob sein Text gut oder schlecht, wichtiger ist, ob er die weibliche Form beachtet. Wer so schreibt, ist kein Schriftsteller mehr.
Er muss auch keinen eigenen Text mehr schreiben, es genügt, wenn er den Text der Gruppe, in der er aufgeht wie ein Aspirin in einem Glas Wasser, zusammen mit den anderen Gruppenmitgliedern unterschreibt. Albert Einstein hat es auf die berühmte Formel gebracht: „Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“
Ein unabhängiger Schriftsteller könnte das nicht. Er müsste dem gruppenbezogenen Denken etwas opfern, das er nicht opfern kann, ohne sich dabei aufzugeben. Gruppenbezogenheit ist die Endstation im Lebenslauf eines Schriftstellers, der einst an seine eigene Stimme geglaubt hat.
Sexismus ist auch nichts für Schriftsteller. Sexismus ist Gruppensex der besonderen Art: Es geht immer nur um Sex und um das Bedürfnis der Gruppe. Ein Schriftsteller sollte sein Bekenntnis zu dieser Art von Gruppensex lieber nicht so laut ausposaunen. Wer sich Sexismus auf die Fahne schreibt, dem flattert er wie eine Alkoholfahne voraus. Wir können uns schon denken, wie ein Text von so jemandem aussieht.
Es ist ein zweitklassiger Text. Texte können schlecht lügen und verraten oft mehr, als ein Schriftsteller sagen wollte. Jeder Text, bei dem schriftstellerische Ansprüche hintangestellt wurden, gibt das auch zu erkennen. Das gilt besonders für Texte, die sich einer politischen Mode unterordnen.
Bei Schriftstellern ist es besonders peinlich. Wenn sie sich Sprachvorgaben, die ihnen fremd sind, unterordnen, sind sie wie Soldaten, die vernichtend geschlagen wurden, die bedingungslos kapituliert haben und nun ihre Waffen abgeben. Sie müssen die Uniform des Feindes anziehen und kriegen neue Waffen ¬– Waffen, die ähnlich aussehen, aber anders funktionieren.
Mit dem Feind, der sie besiegt hat, meine ich Politiker. Mit den Waffen, die sie abliefern müssen, meine ich das, was ich als die Werkzeuge der Schriftsteller bezeichnet habe – also: den Sinn für Sprache, die besondere Sensibilität; die liebevolle, aber zugleich kritische Aufmerksamkeit, die Selbstreflexion, das Streben nach Wahrhaftigkeit, das Ideal der adaequatio intellectus et rei. All das muss aufgegeben werden. Sie kriegen neues Werkzeug: die Regeln der geschlechtergerechten Sprache, die neuerdings auch als „faire“ Sprache bezeichnet wird.
Die Bedingungen der Kapitulation
Die Umbenennung von VS zu VSS brächte nicht nur einen Buchstaben mehr in die Abkürzung, es brächte auch ein Bekenntnis zu einem neuen – nämlich zu einem sexistischen – Verständnis von Grammatik mit sich. Wenn sich der VS umbenennt und symbolisch neu taufen lässt, verkündet er damit, dass er zu einem Glauben konvertiert ist, bei dem drei Gebote unbedingt gelten:
Das natürliche und das grammatische Geschlecht sind eins
Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit
Der Plural hat ein Geschlecht
Aber, aber. Wer sich nach diesen Geboten richten will, kann nicht mehr ernsthaft schreiben. Wenn sich Schriftsteller dazu bekennen sollten, dann können sie ihren neuen Namen gleich als Grabinschrift verwenden. Im Ernst: Wer mir widersprechen will, sollte im Anhang Texte beifügen, die er unter Beachtung dieser drei Gebote verfasst hat.
Schriftsteller haben nicht die Möglichkeit, faule Ausreden zu nutzen und zu sagen: „Mir ist das eh wurscht“ oder: „Sprache ist irgendwie nicht so mein Ding“. Politiker stümpern auffallend oft, wenn sie mit Sprache umgehen. Schlimm genug. Wir sollten es ihnen nicht länger nachsehen und uns nicht daran gewöhnen, dass es bei ihnen halt so ist. Und bei Schriftstellern?
Mind the gap!
Augustinus hatte darauf hingewiesen, dass Worte Zeichen sind, die sich von der Sache, die sie bezeichnen sollen, lösen können und das auch tun. Wir können diese Zeichen aber weiterhin benutzen, selbst wenn wir die Sache nicht wirklich kennen und auch nicht in der Lage sind, sie zu definieren. An einer richtigen Übereinstimmung vom Wort mit dem Bezeichneten mangelt es nicht nur in bedauerlichen Einzelfällen, sondern – schlimmer noch – in den allermeisten Fällen. Mehr oder weniger in allen. „So kann man,“ sagt Augustinus, „den Worten nicht einmal die Rolle zugestehen, den Gedanken des Sprechenden wiederzugeben, denn der ist sich ja gar nicht sicher, ob er das, was er sagt, auch weiß.“
Dieses grundsätzliche Problem hat Humboldt zu dem Satz verleitet, dass in jedem Verstehen ein Missverstehen liegt. Auch Cicero, auf den der Begriff von der adaequatio intellectus et rei zurückgeht, sieht, dass im menschlichen Verstande nichts besser, aber auch nichts schlechter ist als die Sprache. Weil eben die wirkliche Übereinstimmung nicht gegeben ist.
Nun kommt es drauf an, wie wir damit umgehen. Es kommt darauf an, was wir wollen. Wenn wir die guten Seiten der Sprache nutzen wollen, um richtig verstanden zu werden, dann müssen wir dieses grundsätzliche Dilemma bedenken. Dann müssen wir bereit sein, über diesen „gap“ – also über die Lücke zwischen den Zeichen und der Sache – zu reden und uns mit unseren Zuhörern und Lesern darüber verständigen.
Dass viele das nicht wollen, wusste schon Augustinus: „Nimm hinzu alle Lügner und Täuscher, und du wirst leicht verstehen, dass die Worte den Inhalt eines Gedankens nicht nur nicht enthüllen sondern ihn sogar verbergen können.“ Hier liegt eine unvermeidbare Gefahrenstelle. Leider, leider. So ist es. Sie lockt alle an, die lügen, täuschen und betrügen wollen. Gelegenheit macht Diebe.
Stellen wir uns vor: Es gibt ein nicht verschließbares Schmuckkästchen an einem öffentlich zugänglichen Ort. Oder denken wir an wertvolle Kunstwerke in einer Kirche, deren Türen stets geöffnet sind. Eine Gemeinschaft kann sich das leisten, wenn diese Schätze von allen respektiert werden; wenn bei allen ein wirklicher Gemeinsinn vorhanden ist und wenn niemand etwas, das allen gehört, zu seinem persönlichen Vorteil verwenden will. Auch die Sprache gehört allen.
Wenn nun jemand auftritt, der Aufsehen erregt, weil er mit teurem Schmuck behängt ist, dann muss er sich die Frage gefallen lassen, woher er den hat. Er muss die Frage beantworten, ob er ihn rechtmäßig erworben hat. Genauso muss sich ein Redner, der mit seiner Sprache als Gesetzgeber auftreten will, die Frage zulassen, wie er das eigentlich meint, was er sagt. Er muss verraten, ob er die Begriffe weiterhin in dem Sinne, wie ihn die anderen verstehen, verwendet oder ob er versucht, den Worten einen neuen Gehalt unterzuschieben. Er muss sagen, warum er Neologismen verwendet und was sie bedeuten.
Jedenfalls muss er mit sich reden lassen und seine Wortwahl zur Diskussion stellen und offenlegen, warum er etwas so und nicht anders formuliert. Schriftsteller schreiben nicht nur, sie interpretieren auch. Das können andere auch. Das können Lehrer. Das können Schüler. So schwer ist es nicht.
Zwar heißt es bei Karl Kraus: „In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache“, aber so schlimm ist es auch nicht. Man kann die Sprache durchaus zur Aufklärung nutzen, mit den allgemein zugänglichen Werkzeugen der Interpretation kann man Manipulationsversuche auffliegen lassen; ja, man kann sich mit der Sprache sogar über die speziellen Fallstricke der Sprache verständigen. Da geht was. In keiner Sprache kann man das so gut wie in der Sprache. Das sollte sich Karl Kraus mal gesagt sein lassen.
Wenn wir akzeptieren, dass Sprache grundsätzlich die beschriebenen Möglichkeiten und Tücken bereithält, dann sind wir wieder bei der Frage angekommen, die sich schon bei Augustinus aufgetan hat, bei der Frage nämlich, wie wir damit umgehen und was wir eigentlich wollen. Wer Erkenntnisse gewinnen und sich verständlich machen will, der lässt Fragen zu, der gesteht Fehler ein, der lässt andere teilhaben an seinen Versuchen, die richtigen Schlüssel auszuprobieren.
Wer dagegen blenden will, wer seine Zuhörer betrügen und täuschen will, der kneift. Der steigt aus. Es gibt zwei Antiquitätenhändler auf dem Bazar. Der eine ist redlich und sagt seinen Kunden ehrlich, woher er seine Stücke hat und wie alt sie sind. Er gibt offen zu, wenn er es nicht weiß. Der andere trachtet nur danach, seinen Kunden übers Ohr zu hauen, er belügt ihn bewusst an und täuscht ihn über den wahren Wert und über die tatsächliche Herkunft seines Angebotes.
Hier scheiden sich die Geister. Glücklicherweise haben wir die Möglichkeit, Sprachbetrüger zu entlarven. Mit Fragen. Ob sie Verantwortung für ihre Formulierungen übernehmen, erkennen wir daran, ob sie Fragen beantworten oder nicht. Die Fragen kommen im dritten und im vierten Teil. Es sind Fragen, die sich redliche Schriftsteller und Antiquitätenhändler sowieso ständig stellen. Ich wette jedoch um eine Jean-Paul-Gesamtausgabe, dass die Befürworter der sprachfeministischen Vorschriften, die mit der Gleichstellungspolitik einhergehen, der Befragung nicht standhalten.
Ich habe mir die Mühe gemacht, den Werkzeugkasten der Schriftsteller auszupacken und die Formulierungen, um die es geht, in seinen Einzelheiten zu beleuchten. Womöglich erinnert es uns daran, wie Deutschunterricht früher einmal war; es erinnert uns an Fragen wie: Was will uns der Dichter damit sagen? Oder an Aufgaben wie: Interpretieren Sie diesen Text im Zusammenhang! Es ist lang geworden – es gibt fünf Teile –, aber es ist leicht zu verstehen. Es ist keine Hexerei. Jeder, der diesen Text bis hier hin lesen konnte, wird keine Schwierigkeiten haben, er kann gerne mitmachen, er kann gerne zu eigenen Antworten und eigenen Erkenntnissen kommen.
Mir reicht es: Ich habe noch einmal schlucken müssen, eh ich mich zu der Formulierung durchgerungen konnte, die nun in aller Deutlichkeit kommt: Ich habe keine Nachsicht mehr mit Falschspielern und Gaunern. Schriftsteller, Politiker und Wissenschaftler können keinen Jugendschutz geltend machen, sie können nicht auf eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit plädieren und mildernde Umstände erwarten. Auch Frauen können das nicht.
Wer in unserem Alter schreibt und spricht, muss wissen, was er tut und er muss es verantworten können. Wir unterscheiden bekanntlich zwischen Totschlag und Mord, weil es bei der moralischen Bewertung eine Rolle spielt, ob jemand vorsätzlich handelt oder nicht. Das gilt auch für das Sprechen, das Sprachhandeln. Wenn ich sehe, höre und lese, wie Sexisten unsere Sprache verunstalten, dann will ich keine Entschuldigungen mehr gelten lassen. Ich sehe die Gralshüter der geschlechtergerechten Sprache nicht mehr als Schlampensäcke, sondern als Sprachmörder.
Die Monster kommen demnächst mit Begleitung
Die feministisch verseuchte Politikersprache hat sich mehr und mehr von der Kultursprache entfernt. Die treibende Kraft dahinter war das Ministerium für „Frauen“, das sich in jeder Saison eine andere Bezeichnung gab, sich jedoch durchgehend als Kultusministerium aufspielte und nach eigenem Bekunden einen Kulturwandel bewirken wollte. Den hat es auch bewirkt. Alle Politiker üben sich inzwischen artig im verordneten Feministen-Deutsch, verneigen sich vor dem Hut von Frau Gessler und sprechen nur noch von „Bürgerinnen und Bürgern“, als wären es zwei Gruppen, die man unbedingt voneinander unterscheiden müsse.
Im Bundesgleichstellungsgesetz heißt es unter § 1 „Ziel des Gesetzes“ unter (2): „Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Bundes sollen die Gleichstellung von Frauen und Männern sprachlich zum Ausdruck bringen. Dies gilt auch für den dienstlichen Schriftverkehr.“
Das gilt auch sonst. Es gilt für alle. Alle sollten die Gleichstellungspolitik sprachlich zum Ausdruck bringen. Am Wahlabend wird nur noch von „Wählerinnen und Wählern“ gesprochen, als wären wir nicht etwa eine Gemeinschaft von Wählern mit gemeinsamen Interessen, sondern missgünstige Konkurrenten, die längst vergessen haben, dass sie zusammengehören. Doch bei einer Wahl geht es gerade darum, darüber abzustimmen, was das Beste für die Gemeinschaft ist. Ein übergeordnetes Gemeinschaftsgefühl ist die Voraussetzung für eine Demokratie – sonst könnte jeder wählen, auch derjenige, der nicht am Wohl der Gemeinschaft interessiert ist, weil er sowieso nicht dazugehört.
Stellen wir uns vor, bei der nächsten Landtagswahl in Stuttgart würden die freundlichen Moderatoren nicht mehr von „Wählerinnen und Wählern“ sprechen, sondern von „Badensern und Württembergern“, als wären es zwei verschiedene Gruppe, bei denen man sich ernsthaft fragen muss, wieso sie einen Landtag wählen, der beide vertreten soll. Die Moderatoren lächeln auch immer so süffisant, weil die Badenser vorher klar und deutlich erklärt haben, dass sie sich ausschließlich für die Interessen der Badenser interessieren und dass die ihnen viel, viel wichtiger sind als irgendein gemeinsames Interesse für ganz Baden-Württemberg.
So verhält es sich mit den „Wählerinnen und Wählern“: Wählerinnen sind ausschließlich für sich selbst und für ihre exklusive Frauenpolitik zuständig, die sich inzwischen dem bekannten politischen System, das verschiedene Parteien mit verschiedenen Farben (rot, schwarz, gelb, grün) hervorgebracht hat, übergeordnet hat. Wenn heute immer wieder zwanghaft von „Wählerinnen und Wählern“ gesprochen wird, dann wird damit verkündet, dass es kein Gemeinschaftsgefühl mehr gibt – was wir daran erkennen, dass unsere Demokratie „die Wähler“ verloren hat.
Nur in der Prosa haben die „Wähler“ überlebt. Noch. Da gibt es sie noch, die alten, bisher gültigen Pluralformen, die neuerdings bei Feministen als „männliche“ Formen – als so genannte generische Maskulina – verschrien sind und abgeschafft werden sollen. Wie lange werden sie durchhalten?
Auch die „Fußgänger“ überleben nur noch in der Prosa und im täglichen Sprachgebrauch. In der neuen Straßenverkehrsordnung – wo sie eigentlich hingehören – kennt man sie nicht mehr, sie wurden durch „zu Fuß Gehende“ ersetzt. Aus Studenten wurden „Studierende“, aus Teilnehmern wurden „Teilnehmende“. Alles im Namen der Gleichstellungspolitik. Sie beschert uns mit dem Rückenwind einer angeblich gültigen gesetzlichen Regelung (von der man nicht genau weiß, wie sie angewendet werden soll und ob sie wirklich Gesetzeskraft hat) eine verkrampfte Propagandasprache, die unsere Muttersprache ersetzen soll, als würde eine neue Datei mit anderem Inhalt aber mit gleichem Namen die alte überschreiben.
Die Übergriffe mehren sich. Den gröbsten leistete sich die scheinheilige Bibelübersetzung (die keine „Übersetzung“ ist, sondern eine Interpretation, was eine gute Übersetzung eben gerade nicht ist) in – wie sie es selbst nennen – „gerechter Sprache“ (die es nicht gibt, Formulierungen sind entweder zutreffend oder nicht, aber nicht gerecht oder ungerecht). Sie hat uns die „Makkabäerinnen und Makkabäer“ und die „Jüngerinnen und Jünger“ auf den Altar gelegt, und hat damit aus dem Wort Gottes die Wahrhaftigkeit herausgefiltert, hat die Christenheit noch nachträglich in Teile zerlegt und hat aus den „Jüngerinnen“ Kampflesben gemacht.
Inzwischen gibt es auch Beispiele an Stellen, wo man sie nicht vermutet. In einem aktuellen Bestseller ist mitten im munteren Plätschern einer gefälligen Prosa von „Dichterinnen und Dichtern“ die Rede. Wir haben auch die Kunde vernommen, dass sich in einigen Fantasy-Romanen die „Zwerginnen und Zwerge“ vorgekämpft haben, und es ist anzunehmen, dass ihnen demnächst die „Monsterinnen und Monster“ folgen werden. Ich höre sie schon schnaufen.
Politiker und Schriftsteller sprechen nicht dieselbe Sprache. Das Nebeneinander schafft eine ständige Unruhe. Das geht nicht lange gut. Das Dilemma offenbart sich bei jeder Pluralbildung. Das Gebot der Gleichstellungspolitik heißt: Jeder Plural soll ein Geschlecht haben. Damit es geschlechtergerecht behandeln werden kann.
Bei so einer Sache macht man mit oder nicht. Eins von beiden. Es gibt keine Kompromisse. Es ist nicht etwa so, dass die Sprache der Politiker, die sich der „gerechten“ Sprache unterordnen, fehlerhaft wäre und dass man nur ein paar Missgriffe korrigieren müsste, schon wäre alles im Lot. Nein. Die feministisch verpestete Sprache der Politiker ist nicht fehlerhaft, sie ist falsch. Sie beruht auf falschen Voraussetzungen.
Viele sehen das nicht so streng, sie bemerken zwar wirre Auswüchse wie die Vorschläge, die der/die/das (im ersten Teil) erwähnte Profx Hornscheidt in die Debatte geworfen hat, sie halten das jedoch für Petitessen, für harmlose Kuriositäten und sehen nicht, dass es die Symptome einer schweren Krankheit sind und dass es nicht hilft, die Symptome gelegentlich zu überpudern und ansonsten alles dafür zu tun, dass sich die Krankheit weiter ausbreiten kann.
Die Sprache der Gleichstellungspolitik folgt unerbittlich den drei Geboten, die ich weiter oben genannt habe. Dazu sagt man entweder Ja oder Nein. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Der Vorschlag, sich in „VSS Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ umzubenennen, ist ein Zeichen, das den Politikern signalisiert:
Wir geben auf. Wir laufen zu euch über. Eine Politikerinnen- und Politikersprache ist uns wichtiger als die Sprache der Schriftsteller, die diesen Verband einst gegründet haben.
Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder (Teil 3)
Was bisher geschah: Die deutschen Schriftsteller überlegen, ob sie ihren Namen ändern sollen oder nicht. Wenn sie sich wirklich, wie vorgeschlagen, in „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ umbenennen, dann reichen sie damit dem Sprachfeminismus den kleinen Finger und kämen in Teufels Küche. Sie müssten dann drei Gebote befolgen: 1. Das natürliche und das grammatische Geschlecht sind eins! 2. Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit! 3. Der Plural hat ein Geschlecht!
Schauen wir ihnen über die Schulter, wenn sie mit Formulierungen ringen. Stellen wir ihnen Fragen dazu. Es geht nicht nur um einen Blick in die Werkstatt. Es geht um mehr. Im zweiten Teil habe ich heftige Worte gewählt und gesagt, dass sich durch Interpretation zeigen lässt, ob Schriftsteller Aufklärer oder Betrüger sind. Das wollen wir sehen:
Deutsche Schriftsteller sind ratlos. Sie leiden an der Innenwelt und wissen nicht wohin mit Herta Müller
Liebe Schriftsteller,
nun mal ehrlich, unter uns: die Formulierung „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ hat einen Haken. Aber wo? Es gibt zwei mögliche Stellen. Es kommt ganz darauf an, was wir zum Ausdruck bringen wollen.
Wenn wir sagen wollen, dass die „Schriftstellerinnen“ zur Gesamtmenge der Schriftsteller dazugehören, dann wäre es eine falsche Aufzählung. Das wäre der Haken an dieser Stelle. Denn etwas, das bereits als Teilmenge in einer Menge enthalten ist, wird in einer Aufzählung nicht noch einmal extra aufgeführt. Die korrekte Formulierung wäre in diesem Fall „Schriftsteller einschließlich der Schriftstellerinnen“. Das klingt banal und überflüssig. Das wollen wir nicht sagen. Frauen waren von Anfang an mit dabei. Das ist nichts Neues.
Neu ist, dass die beiden Gruppen beziehungslos nebeneinander gestellt werden, obwohl das Verhältnis, in dem Männer und Frauen zueinander stehen, keinesfalls ein einfaches Nebeneinander ist. Es ist komplizierter. Auf dem Land sagten wir gerne: „stumpf ist Trumpf!“ Vielleicht war es gerade die Stumpfheit, die Formeln wie „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ so eine enorme Verbreitung beschert hat, auch wenn sie viel zu primitiv sind, um wahr zu sein. Das Verhältnis von Mann und Frau besteht in Wirklichkeit aus wechselseitigen Abhängigkeiten. Es ist ein komplexes Ineinander. Kein Nebeneinander.
Die Gleichstellungspolitik kennt aber nur ein Nebeneinander. Deshalb bringt sie auch so erstaunliche und zugleich verräterische Modeworte wie „Work-Life-Balance“ hervor. Auch hier werden zwei Begriffe – Arbeit und Leben – nebeneinander gestellt, die sich grundsätzlich nicht voneinander trennen lassen und die man deshalb auch nicht nebeneinanderstellen und in eine Balance bringen kann wie eine Wippe auf dem Spielplatz, die stillsteht und gerade nicht wippt, weil an beiden Enden Kindern sitzen, die genau gleich schwer sind.
Die Formulierung evoziert Bilder, die uns eine falsche Vorstellung von der Sache, die bezeichnet werden soll, geben. Wir „begreifen“ sie dadurch nicht richtig; wir machen uns dann einen falschen „Begriff“. Einen falschen Begriff machen wir uns auch, wenn wir das Verhältnis von Männern und Frauen als unverbundenes Nebeneinander beschreiben, das kein Ganzes mehr ergibt.
Es wird dann so getan, als könnte man (es folgt eine Version im Singular für etwas Lebendiges), ein Organ heraustrennen, als wäre es ein Fremdkörper und könnte es außen vor lassen, ohne zu sehen, dass der Körper demnächst abstirbt. Oder (es folgt eine Version im Plural für etwas Mechanisches), als könnte man aus einem Gerät einige Einzelteile herausnehmen und daneben legen. Man hätte dann auf der einen Seite eine defekte Uhr, bei der ein paar Rädchen fehlen und auf der anderen Seite eben diese Rädchen. Wenn wir versuchen, die beiden Seiten in eine Balance zu bringen oder sie gleichzustellen, dann merken wir schnell, dass es nicht geht.
Oder nehmen wir ein anderes Bild: Stellen wir uns eine Einheit als Kreis vor, in dem es gleich viele männliche (schwarze) und weibliche (weiße) Elemente gibt. Wenn wir die getrennt aufführen wollen, wie stellen wir uns das vor? Als getrennt nebeneinander stehende Halbkreise, die gleich auseinanderfallen oder so wie in dem Ying-Yang-Symbol?
Schriftsteller sind es gewohnt, sich ständig zu fragen, warum sie etwas genau so und nicht anders sagen wollen. Wenn es keine Abgabetermine gäbe, würden sie bis ans Ende ihrer Tage redigieren und korrigieren und sich Gedanken darüber machen, wie das, was sie schreiben, verstanden werden kann und wie es wirkt.
Also: Was soll ausgesagt werden? Warum soll es „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ heißen? Wie darf der liebe Leser das interpretieren? Soll er es so verstehen, dass Frauen und Männer in einem leicht zu trennenden Nebeneinander stehen?
Betrachten wir die Möglichkeit etwas genauer: Wenn gesagt werden soll, dass es sich einerseits um die Untergruppe der weiblichen und andererseits um die Untergruppe der männlichen Schriftsteller handelt, die neuerdings separat aufgeführt werden, dann wird die Formulierung „Schriftsteller“ anders verwendet, als wir es bisher getan haben.
Das wäre der Haken an dieser Stelle. Denn bisher waren mit dem Plural „Schriftsteller“ alle gemeint. Nun wird so getan, als würden damit ausschließlich männliche Schriftsteller bezeichnet.
Wenn wir das so sagen wollen, dann müssen wir es auch tun und ausdrücklich von „männlichen Schriftstellern“ reden. Die richtige Formulierung wäre in diesem Fall also „Schriftstellerinnen und männliche Schriftsteller“ oder (was auf dasselbe hinausläuft) „weibliche und männliche Schriftsteller“. Das klingt ebenfalls banal – und überflüssig. Das wollen wir auch nicht sagen. Aber was dann?
Es ist wichtig, den Unterschied zu sehen: „Schriftsteller“ und „männliche Schriftsteller“ sind nicht dasselbe. Böll und Grass sind Schriftsteller. Beide sind Nobelpreisträger. Man kann sie zusammenfassend als „Schriftsteller“ und als „Nobelpreisträger“ bezeichnen.
Dass sie auch noch männlich sind, wissen wir zwar, es wird uns aber nicht explizit mitgeteilt. Ein Außenstehender, der sich nicht mit deutscher Literatur auskennt, wüsste es nicht. Der Plural hat kein Geschlecht. (Oder doch? Das ist eben die Frage).
Politisch korrekt oder poetisch korrekt?
Nun kommt noch Herta Müller dazu. Dass sie auch „Müller“ heißt wie der Parteigründer in einem Gedicht von Kästner, ist reiner Zufall (im ersten Teil habe ich das Gedicht als Beispiel für eine willkürliche Gruppenbildung herangezogen). Prima, prima, prima! Nun haben wir drei Schriftsteller und drei Nobelpreisträger.
Der Plural „Schriftsteller“ ist nach wie vor übergeschlechtlich, er ist, um das erneut zu betonen, nicht exklusiv männlich. Herta Müller gehört mit dazu. Zu den „Schriftstellern“, zu den „Nobelpreisträgern“.
Oder?
Hier stellt sich die Gretchenfrage des Sprachfeminismus: Gibt es einen Begriff, der beide Geschlechter umfasst oder nicht? Sitzen alle Autoren in einem Boot oder haben sie neuerdings zwei Boote – woher auch immer das zweite Boot gekommen sein soll?
Es ist eine Frage, die wir aus der Mengenlehre kennen: Gibt es eine Menge oder zwei? Der Sprachfeminismus sagt: Es gibt zwei. Es muss alles zerteilt werden, so dass überall die Trennung sichtbar wird – die Scheidung, die Scheide.
Hier erkennen wir den Schaden, den uns der Sprachfeminismus eingebrockt hat und weiterhin einbrocken will: Er will uns einen übergeordneten Begriff wegnehmen, mit dem wir – ohne ständig auf das Geschlecht zu verweisen – etwas Gemeinsames bezeichnen können. Der Sprachfeminismus, der von Sexisten propagiert wird, besteht jedoch darauf, dass wir bei jeder Gelegenheit auf das Geschlecht hinweisen. Bei jeder! Er bestreitet sogar, dass es einen Begriff, der alle umarmt, geben könnte. Denn so etwas wäre eine geschlechtsneutrale Wirklichkeit. Die gibt es nicht. (Oder doch? Das wäre die nächste Frage).
Für Sexisten gibt es immer nur die „männliche“ oder die „weibliche“ Form, die stets gegeneinander in Stellung gebracht werden, aber niemals unter einem gemeinsamen Dach Unterschlupf finden können. Nun haben wir den Salat. Wir haben sogar zwei Salate. Wir haben zwei Gruppen statt einer: Schriftstellerinnen und Schriftsteller. In welche von beiden Gruppen gehört Herta Müller? Wohin mit ihr?
Wenn ich sage „Herta Müller ist mir von allen Schriftstellern die liebste“, dann vergleiche ich sie mit allen Schriftstellern, egal ob männlich oder weiblich, beispielsweise mit Böll oder Grass. Wozu brauche ich dann die „Schriftstellerinnen“?
Zu denen gehört Herta Müller nicht. Wenn ich nämlich sage „Herta Müller ist mir von allen Schriftstellerinnen die liebste“, dann vergleiche ich Herta Müller nur mit anderen Frauen, die schreiben. Nicht mit Böll oder Grass. „Schriftstellerinnen“ sind exklusiv weiblich.
„Jelinek und Müller sind Schriftstellerinnen und Nobelpreisträgerinnen“ Wie sieht es damit aus? Im Unterschied zu dem Satz, in dem es um Böll und Grass ging, erfahren wir an dieser Stelle mehr: Jelinek und Müller schreiben Bücher, sie sind vom Nobelpreiskomitee ausgezeichnet worden ¬– und sie sind weiblich! Das wird – anders als es bei den Männern der Fall war – ausdrücklich und unmissverständlich erwähnt. Die angehängten „-innen“ verraten es.
Die haben es in sich, diese „-innen“! Sie sind tückisch. Sie sind überflüssig. Wir sollten sie meiden.
Die Innenwelt gegen den Rest der Welt
Wir dürfen uns nicht einlullen lassen: Die Innen-Form ist eine schlimme Plage. Ein Fluch. Sie ist eine Kampfansage. Sie ist die Flagge der Kampflesben, der Feministen, der männlichen und weiblichen Sexisten, sie ist ihre Marseillaise. Die Innen-Form ist ein bösartiger Virus. Mit ihr wird ohne Rücksicht auf Verluste ein sexistisches Verständnis von Sprache auf die Grammatik übertragen. Damit wird die Sprache geschändet und nach und nach zugrunde gerichtet.
Wir sind inzwischen mit verschiedenen Varianten (SchriftstellerInnen, Schriftsteller(innen), Schriftsteller_innen, Schriftsteller/innen, Schriftsteller*innen, Schriftsteller-innen – und eben auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller) überschwemmt worden – mit Doppelnennungen, Schrägstrichen, Klammern, Unterstrichen und Sternchen, die dazu führen, dass die Sprache unaussprechlich wird. Als Peter Handke im Jahre 1969 den Band ‚Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt’ herausbrachte, konnte man davon noch nichts ahnen. Die Flut kam erst in den siebziger Jahren und bescherte uns zum Beispiel eine BenutzerInnenoberfläche.
Nun haben wir eine Invasion von Pseudo-Gruppen mit angehängten Innen-Schwänzen, selbst an Stellen, an denen wir sie nicht erwartet hätten, wie bei den erwähnten Benutzerinnen. Traurige Berühmtheit erlangten die gefallenen deutschen „Soldatinnen und Soldaten“, von denen Ursula von der Leyen gesprochen hat. In Afghanistan sind jedoch keine weiblichen, deutschen Soldaten gefallen. Dieser Innen-Club hat keine Mitglieder. Und was sind das für Frauen, denen Kulturstaatsministerin Monika Grütters gedachte, als sie im Andenken an das Attentat auf Hitler von den „Frauen und Männern um Graf von Stauffenberg“ sprach? Friedrich Olbricht? Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim? Werner von Haeften? Henning von Treschow? Ludwig Beck? Cuno Raabe? Carl Friedrich Goerdeler? Julius Leber? Wilhelm Leuschner? Albrecht von Hagen? (Habe ich einen vergessen?) Sie hat sogar wiederholt von den „Frauen und Männern um Graf von Stauffenberg“ gesprochen. Sie hat ihre Worte wohl überlegt – und von höchster Stelle bewusst die Unwahrheit gesagt. So wie diese Frauen-Gruppe rund um Graf von Stauffenberg so sind auch andere Innen-Gruppen reine Gespenster-Gruppen, die lediglich im Blubbern der geschlechtergerechten Sprache existieren. Sonst nicht.
Fragen wir nach – erste Frage: Wird mit der Innen-Form eine Gruppe bezeichnet, die es tatsächlich gibt? Bei der Gruppe „Jelinek & Müller“ ist das der Fall. Ausnahmsweise. Aber sonst? Zweite Frage: Falls damit eine Gruppe bezeichnet wird, die sich neuerdings von einer bisher intakten Gemeinschaft abgespalten hat, was war der Grund dafür? Gibt es einen anderen als den, dass jemand nicht über den Tellerrand seiner Geschlechtszugehörigkeit hinausschauen kann? Oder nicht will?
Auf Dauer entsteht der Eindruck, dass der Plural eben doch ein Geschlecht hat: „Schriftstellerinnen“ ist ein Plural. Alle, die damit bezeichnet werden, sind weiblich. Na bitte! Der Plural hat ein Geschlecht. Also doch. So wird es von Frauenseite behauptet, und es sieht auf den ersten Blick so aus, als wären die vielen Innen-Formen auch viele, viele kleine Beweise.
Sie sind es nicht. Unser Beispiel von der Mini-Gruppe „Jelinek & Müller“ war die einsame Ausnahme – die einzige, die mir auf die Schnelle eingefallen ist. Alle anderen Innen-Gruppen, die mir einfallen, sind Luftnummern. Lügen.
Manchmal werde ich wehmütig. Die Sprache in der Zeit der Innenwelt, wie sie Peter Handke beschrieben hat, war schöner und klarer. Die Innen-Formen haben uns mehr Probleme gebracht als Lösungen. Sie gaukeln uns falsche Verhältnisse vor.
Weg mit ihnen. Weg mit den Innen! Wir brauchen sie nicht. Kürzen wir sie. Hier ein Tipp für alle, die sowieso schon genervt sind. Es gibt einen Browser, der ‚Binnen-I-be-gone’ heißt. Damit wird das lästige Binnen-I beseitigt. Aus der BenutzerInnenoberfläche wird wieder eine Benutzeroberfläche. Doppelnennungen – wie bei „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ – werden damit jedoch nicht gelöscht. Schade. Doppelnennungen sind genauso verzichtbar wie das Binnen-I. Sie verstümmeln die Sprache, sie geben ihr Unschärfe und Verkrampfung und nehmen ihr Leichtigkeit und Eleganz.
Das überrascht nicht. Der Feminismus richtet sich nicht nur gegen Männer, gegen Kinder und gegen Objektivität, sondern auch gegen Schönheit. Denken wir an Schlampen-Paraden. Denken wir an Angriffe auf Schönheitsfarmen, auf Schönheitswettbewerbe, auf das Barbie-Haus, auf eine Sendung wie ‚Germany’s Next Topmodel’. Die Ideale hinter solchen Sendungen und Wettbewerben mögen umstritten sein, aber rechtfertigen sie Attacken? Schönheitsideale sind keine Vorschriften, sie sind – das haben sie mit der Kunst gemein – frei verhandelbar. Es genügt, wenn man sich ‚Germany’s Next Topmodel’ nicht anschaut und sich keine Barbiepuppe kauft – aber die Freiheit der anderen respektiert.
Es ist verständlich (aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt), wenn engagierte Frauen Aktionen lostreten, mit denen sie „fat shaming“ (wenn dünne Männer fette Frauen diskriminieren) anprangern oder „lookism“ (wenn Frauen, die sich nicht besonders schön finden, sich von Männerblicken diskriminiert fühlen). Man kann sich gut vorstellen, dass sich da so manche Frau persönlich getroffen fühlt.
Doch was spricht gegen sprachliche Schönheit? Welche Frau könnte sich davon diskriminiert fühlen? Mir fehlt jegliches Verständnis dafür, dass der Sprachfeminismus bewusst etwas Schönes in etwas Hässliches umwandeln will. Doch genau das will er: Er will die Musikalität der Sprache zunichte machen; er will die Architektur gut gebauter Sätze zum Einsturz bringen; er will den Fluss einer fein gestalteten Prosa stören und das Gesamtbild ruinieren, als würde er ein krakeliges Graffiti an einer frisch gestrichenen Hausfassade hinterlassen. Es handelt sich nicht etwa um einen Kollateralschaden, der für einen guten Zweck in Kauf genommen werden muss. Es ist schon der Zweck. Nicht etwa der gute, sondern der schlechte Zweck.
Der Sprachfeminismus ist ein Säureattentat auf die Anmut der Sprache. Das verschafft vielleicht gewissen Frauen eine Art Genugtuung, doch es ist die Genugtuung von Kindern, denen man nie Grenzen gesetzt hat und die sich diebisch freuen, dass sie etwas kaputtgemacht haben. Es bringt ihnen einen Machtschwips, keinen großartigen Machtrausch, aber immerhin einen Schwips: Juhu! Sie haben es geschafft, sie haben den Männern etwas aufgezwungen. Dabei ging es ihnen nicht darum, was sie ihnen aufgezwungen haben, sondern dass sie es geschafft haben, ihnen etwas aufzuzwingen. Als hätten sie Vegetarier genötigt, Fleisch zu essen.
Das vermute ich. Ich habe nämlich den Eindruck, dass der Sprachfeminismus den Feministen selber gar nicht so wichtig ist, wie sie behaupten. Sie schätzen ihn nicht als Wert an sich. Sie schätzen ihn vielmehr als Möglichkeit, mit Männern in negativen Kontakt zu treten. Ich habe mich ein wenig im Internet umgesehen, da ist es mir aufgefallen: Frauen, die das Thema irgendwo eingebracht hatten, berichteten stolz, dass die Männerwelt irritiert war, als läge darin der eigentliche Erfolg, den sie auch ursprünglich angestrebt hatten.
Es ist kein Erfolg, der sie glücklich macht. Jedenfalls nicht lange. Sie wissen selber – was jeder Inquisitor weiß –, dass sie immer nur Lippenbekenntnisse erpressen können. Deshalb ist nie Ruhe in der Kiste. Da ist immer Bewegung. Eine Forderung folgt der nächsten. Und die wieder der nächsten. Die Forderung, nach „VSS Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ ist inzwischen nicht mehr auf dem neuesten Stand der aktuellen Wünsche von Sexisten. Die Schriftstellerinnen hinken der Entwicklung hinterher.
Inzwischen wollen die Feministen den Unterstrich „Schriftsteller_innen“ (mit kleinem i), um damit all denen einen Raum zu geben, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können. Oder sie fordern analog zu den vorgeschriebenen Studierenden die „Schreibenden“, was an die „Kulturschaffenden“ erinnert, die es in der DDR gab. Dann würde es also „VS der Schriftsteller_innen“ oder „VS der/die Schreibenden“ heißen. Wie wäre das?
Frauen, die solche Verunstaltungen einfordern, sind feige Tyrannen. Männer, die sich dem Sprachfeminismus anpassen, sind traurige Gestalten. Wenn sie sich zu Wort melden, klingt es jedes Mal wie das jämmerliche Gestammel von verunsicherten Befehlsempfängern. Sie haben sich die Möglichkeit nehmen lassen, auf eigene Art höflich, rücksichtsvoll und liebevoll zu Frauen zu sein. Sie sollen in Zukunft keine eigene Art mehr haben. Alle müssen es auf ein und dieselbe Art tun. Männern sind die Formulierungen vorgeschrieben, mit denen sie Frauen „gerecht“ werden müssen.
Und wie? Immer Doppelnennungen verwenden. Frauen nicht auf etwas „festnageln“, sie nicht auf etwas „reduzieren“, sie nicht „marginalisieren“, nicht „exkludieren“ oder gar „unsichtbar machen“.
Reicht das? Nein. Männer müssen obendrein sorgfältig auf ihre Wortwahl achten, als hielte man ihnen eine Pistole vor die Brust mit einer Drohung, wie man sie aus Krimis kennt: „Kein falsches Wort!“ (jedes Wort kann falsch sein, nicht nur „Dirndl“ oder „Tanzkarte“). Inzwischen gilt auch das so genannte generische Maskulinum (also die bisher übliche Pluralbildung) als falsches Passwort für den Zugang zur geschlechtergerechten Sprache.
Männer können die immer dringlicher werdenden Offensiven nicht länger ignorieren. Sie müssen sich dazu verhalten. Sie sollen aber nicht etwa nur genervt, gnädig oder womöglich gönnerhaft erdulden, dass Frauen unbeherrscht und schlampig daherreden; sie sollen es nicht länger einfach nur tolerieren, sie sollen es vielmehr akzeptieren; sie sollen selber so sprechen und ihrerseits dazu beitragen, dass die deutsche Sprache zu einem nicht mehr übersetzbaren, kuriosen Provinzdialekt verkommt, den keiner mag.
Schriftsteller wissen, was sie tun. Mit Sprache umzugehen gehört zu ihren täglichen Routinen und Aufgaben. Viele von ihnen beherrschen außerdem eine Fremdsprache. Dann wollen wir doch mal sehen:
Aufgabe. Übersetzten Sie bitte:
Schriftstellerinnen und Schriftsteller lesen gerne
……………
Vergleichen Sie dazu:
Weibliche und männliche Schriftsteller lesen gerne
…………..
Vergleichen Sie dazu:
Schriftsteller lesen gerne
………….
Erläutern Sie die Unterschiede!
………….
Ich bin sicher, dass jeder Politiker, jeder Lehrer, jeder Pastor – kurz jeder, der eine geschlechtergerechter Sprache fordert und anderen vorschreiben will, an dieser simplen Aufgabe scheitert. Mit diesem Test können wir die Sprachmörder überführen. Ich wiederhole mich: Ich habe gezögert, den Ausdruck „Sprachmörder“ zu verwenden. Aber ich bleibe dabei.
Im vierten Teil geht es um die Frage, was Sexisten wirklich wollen.
Im fünften (und letzten) Teil geht es um die grundsätzliche Frage, ob das grammatische und das natürliche Geschlecht eins sind.
Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder (Teil 4)
Worauf kommt es an? Was wollen Schriftsteller? Was wollen Sexisten? Warum ist Sarah sauer?
Was bisher geschah: die deutschen Schriftsteller wissen nicht, ob sie sich weiterhin „Schriftsteller“ oder lieber „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ nennen sollen. Was wäre wenn?
Wir sind alle gleich. Das heißt: Du bist so wie ich
Eine Namensgebung gibt bekannt, worauf jemand Wert legt. Also? Wie ist es? Worauf legen Schriftsteller besonderen Wert?
Wie würde der Name „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ wirken? Wie würde er wirken, wenn wir ihn in „weibliche und männliche Schriftsteller“ umformulierten? Wie würde man das verstehen? Das erkennen wir, wenn wir die Frauen- und Männerfrage kurz beiseite legen und uns die mögliche Wirkung an einem anderen Beispiel klarmachen.
Man könnte sich – und dafür gäbe es aus der Geschichte eine gewisse Berechtigung – eine Vereinigung vorstellen, die sich „Verband ostdeutscher und westdeutscher Schriftsteller“ nennt. Damit wären Schriftsteller bezeichnet, die sich zwar zu einem Dachverband zusammengefunden haben, die aber gleichwohl betonen wollen, dass sie eigentlich aus zwei Untergruppen bestehen und dass sie sehr großen, ja allergrößten Wert auf die Bezeichnung „ostdeutsch“ bzw. „westdeutsch“ legen, weil sie meinen, dass erst damit ihr Schriftstellerdasein richtig und vollständig beschrieben wird, so dass sie nicht ohne diesen Zusatz gesehen werden wollen.
Berechtigt wäre so eine Bezeichnung nur, wenn sich sowohl die ostdeutschen als auch die westdeutschen Schriftsteller in diesem Punkt einig wären und wenn beide den Hinweis auf ihre ost- bzw. westdeutsche Besonderheit ganz, ganz wichtig fänden. Es dürfte nicht so sein, dass beispielsweise nur die Westdeutschen gesteigerten Wert darauf legten, den Ostdeutschen das jedoch egal wäre oder sie es lieber unerwähnt lassen wollten.
Entsprechend verhielte es sich, wenn wir von „männlichen und weiblichen Schriftstellern“ sprächen. Das wäre nur akzeptabel, wenn es sowohl die männlichen als auch die weiblichen Schriftsteller gleichermaßen wollten und beide gleichermaßen Wert darauf legten, ihrer Geschlechtszugehörigkeit auszustellen und zu beleuchten. Wenn also – anders gesagt – beide Seiten gleichermaßen sexistisch wären in dem Sinne, wie ich Sexismus im ersten Teil beschrieben habe.
Frauen haben nicht nur ein anderes, und zwar ein deutlich verschärftes Interesse an einer Gruppenbildung, sie verstehen darunter auch etwas anderes. Es fällt auf: Es sind die Frauen, von denen der Druck ausgeht, Gruppenbildungen, wie sie die Gleichstellungspolitik wünscht, vorzunehmen und es sind andererseits die bockigen Männer, die sich drehen und winden, aber eigentlich schon verführt sind, ohne dass sie es bemerkt haben. Es ist zu spät. In dem Moment, als das unverbindliche Plaudern über Frauen und Männer zur verbindlichen Politik versteinerte – das war im Jahre 1986, mit Rita Süßmuth als erster Bundesministerin für „Frauen“ –, wurde offiziell anerkannt, dass es die Gruppe „der“ Frauen tatsächlich gibt. Damit gab es – Simsalabim – auch die Gruppe „der“ Männer, ob die einzelnen Männer das wollten oder nicht.
Männer neigen auch zur Gruppen- oder Bandenbildung. Doch sie tun es auf eine andere Art als Frauen. Typische Männergruppen finden wir auf Schiffen, beim Sport, beim Militär, in der Musik. In solchen Fällen ist die Gruppe stets mehr als die Summe ihrer Einzelteile; der einzelne ist nicht austauschbar. Der Koch kann nicht Kapitän sein, der Triangel-Spieler nicht Geiger.
Anders sieht es in typischen Frauengruppen aus. Quotenfrauen sind austauschbar. In einem Vorstand sind sie so wertvoll wie ein leerer Stuhl. In einem Orchester könnte der Triangel-Spieler problemlos durch eine Frau ersetzt werden, sofern sie das Instrument beherrscht und ihren Einsatz nicht verpatzt. Eine Frau könnte auch ohne Schwierigkeiten auf einem Schiff den Koch ersetzten, wenn sie kochen kann und nicht seekrank wird. Ein Professor an einer Universität kann jedoch keine Quotenstelle kriegen, die für Professorinnen vorgesehen ist, auch dann nicht, wenn er dafür hervorragend qualifiziert ist. Das ist der Unterschied. Sexismus macht den Unterschied. Für einen Sexisten steht die Geschlechterfrage immer an erster Stelle.
Sexistische Frauen und Männer, die ihre Texte nachsprechen, bewerten die Bedeutung einer Gruppe und die Bedeutung individueller Leistungen anders als es Leute tun, für die Sex nicht das Killerkriterium ist.
Man sagt, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Ich meine, dass tausend Worte etwas anderes sagen als ein einziges Bild. Wie auch immer. Schauen wir mal. Es folgt ein kleines Stückchen Prosa – zur Illustration:
“Es ist wirklich interessant mit Lady Westholme zu reisen”, zwitscherte Frau Pierce zu Sarah.
“Ist es?”, sagte Sarah giftig, aber Frau Pierce entging der raue Ton, also zwitscherte sie munter weiter.
“Ich habe Ihren Namen so oft in der Zeitung gesehen. Es ist so klug von Frauen, in das öffentliche Leben zu gehen und dort zu bestehen. Ich bin immer froh, wenn eine Frau etwas erreicht.”
“Und warum?”, zischte Sarah aufgebracht.
Das traf Frau Pierce unvorbereitet, sie stotterte ein wenig. “Oh, weil…, ich meine…, eben weil…, nun, es ist schön, dass eine Frau in der Lage ist, Dinge zu tun.”
“Das sehe ich anders”, sagte Sarah. “Es ist schön, wenn jeder Mensch etwas in seinem Leben erreicht, wonach es sich zu streben lohnt. Ob ein Mann oder eine Frau etwas erreicht, spielt doch gar keine Rolle. Warum sollte es eine Rolle spielen? “
“Nun, natürlich”, sagte Frau Pierce, “Ja, ich sehe ein…, natürlich, wenn man es in diesem Licht betrachtet …” Dabei wirkte sie etwas entgeistert.
Sarah ergänzte etwas sanfter: “Es tut mir leid, aber ich hasse diese Unterscheidung zwischen den Geschlechtern. ‘Eine moderne Frau hat eine durch und durch geschäftsmäßige Einstellung zum Leben’, diese Art von Weisheit. Das ist einfach falsch. Einige Frauen sind geschäftsmäßig, andere nicht. Manche Männer sind sentimental und zerstreut, andere haben einen klaren Kopf und sind logisch. Es gibt einfach unterschiedliche Arten von Gehirnen. Geschlecht spielt nur da eine Rolle, wo es um Sex geht.”
Bei “Geschlecht” errötete Frau Pierce etwas und dann wechselte sie geschickt das Thema. *
Sie kommen nicht zusammen. Das Wasser ist viel zu tief
Sexisten sollten eigentlich mit der Formel „weibliche und männliche Schriftsteller“ zufrieden sein. Sie genügt dem Gleichstellungsgebot: beide Geschlechter werden ausdrücklich genannt, keine Gruppe ist „nur mitgemeint“. Damit wäre genau das erreicht, was Sexisten – angeblich – wollen; denn sie wollen ja, dass bei jeder Gelegenheit die Duftmarke der Geschlechtszugehörigkeit hinterlassen wird. Und sie wollen, dass die Gruppen „gleich“ sind.
Sie sind aber nicht zufrieden. Sie wollen mehr. Sexisten fühlen sich dem anderen Geschlecht grundsätzlich überlegen und wollen nicht mit zweitklassigen Menschen gleichgestellt werden. Sie wollen die Trennung.
Die frühen Feministen hatten die Formel „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad“. Die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit von Mann und Frau; ja, allein schon die Existenz einer Sphäre, in der sich beide aufhalten und gewinnbringend für beide Seiten aufeinander beziehen, lag damit jenseits ihres Vorstellungsvermögens.
Die späten Feministen bescherten uns den Lesbenfriedhof. Er verkörpert nicht etwa – wie beim Eheversprechen – das Gebot einer Treue „bis der Tod euch scheidet“, sondern im Gegenteil das Beharren auf der Unversöhnlichkeit der Geschlechter über den Tod hinaus.
Deshalb wollen Sexisten die Innen-Form. Sie bringt die Trennung. Sie ist die große Axt, die alles Gemeinsame zerteilt. Sie macht aus einer Gruppe zwei. Das ist der Unterschied zu Formulierungen wie „Schriftsteller einschließlich der Schriftstellerinnen“ oder „weibliche und männliche Schriftsteller“. In beiden Fällen bliebe die Einheit der Schriftsteller erhalten. Mit dem Plural „Schriftsteller“ wären beide Male alle gemeint. Egal ob weiblich oder männlich. Genau das will der Sexist nicht.
Mit der Bezeichnung „weibliche Schriftsteller“ konnte man immer schon – wenn man es unbedingt wollte – eine Gruppe von Schriftstellern bezeichnen, die ausschließlich aus Frauen besteht. Doch wer wollte das?
Dass die Formulierung „weibliche Schriftsteller“ in unseren Ohren fremd klingt, hat einen einfachen Grund: Wir haben bisher nicht so geredet. Dass wir es nicht getan haben, hat ebenfalls einen einfachen Grund: Wir wollten es nicht. Es ging auch so. Wir brauchten so eine Form nicht. Wir brauchen sie heute auch nicht. Wir haben früher nicht von „weiblichen und männlichen Schriftstellern“ geredet, weil es dazu keine Veranlassung gab. Welche gibt es heute?
Stellen wir uns vor, es gäbe eine Studie, die den Arbeitsalltag von Schriftstellern untersucht und der Frage nachgeht, welche Tageszeiten bevorzugt werden. Wenn man dabei – aber warum eigentlich? Eben das ist die entscheidende Frage! – Frauen und Männer getrennt betrachtet, kämen Sätze heraus wie „weibliche Schriftsteller schätzen die Morgenstunden, männliche Schriftsteller neigen eher zu Nachtschichten“. Oder umgekehrt.
Egal. Damit hätte man Belanglosigkeiten korrekt formuliert. So eine Studie wäre nicht besonders aussagekräftig. Sie könnte auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Aber immerhin: In so einem künstlichen Arrangement wären die Formulierungen angebracht. Sonst nicht. Oder fällt jemandem ein Beispiel ein?
So eine Studie gab es nicht. Deshalb wurden solche Formulierungen nicht gebraucht. Wozu? Man hätte damit nur bedeutungslose Nebensächlichkeiten, aus denen nichts folgt, erforschen und beschreiben können. Da gab es nichts zu erforschen und zu beschreiben, das von Belang ist. Da ist immer noch nichts.
Das wird auch nicht anders, wenn wir statt von „weiblichen Schriftstellern“ von „Schriftstellerinnen“ sprechen und statt von „weiblichen Schriftstellern, die im Unterschied zu männlichen Schriftstellern früh aufstehen“ von „Frühaufsteherinnen und Frühaufstehern“. Mehr als bedeutungsloses Geraune gibt es dann auch nicht.
Politiker sehen das anders. Sie gehen davon aus, dass es sehr wohl Unterschiede gibt. So begründen sie die Strategie „Gender Mainstreaming“: Geschlechtergerechtigkeit bedeutet, bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern zu berücksichtigen.
Denn, so heißt es weiter: Die Gleichstellungspolitik „ … basiert auf der Erkenntnis, dass (…) Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen sein können.“
Aha. Es gibt sogar „sehr“ große Unterschiede. Welche mögen das sein? Das ist das große Geheimnis der Gleichstellungspolitik, es sind die nicht vorhandenen Kleider der Kaiserin, die in Wahrheit nackt sind. Benannt werden die Unterschiede nicht. Sie werden nur behauptet. Sie werden als wichtig hingestellt. Als sehr wichtig sogar. Sie begründen und beschwören die Trennung zwischen Mann und Frau. Die haben wir nun. Wir sind getrennt. Wir sind getrennt und sollen nicht wieder zusammenkommen, weil wir so unsagbar und so unüberwindlich verschieden sind in allen unseren Lebenssituationen und Interessen.
Der Hintergrund ist der: Die Gleichstellungspolitik ignoriert Kinder. Eigentlich weiß es jeder: Wenn man Kinder kriegen will, muss man die Unterschiede zwischen Mann und Frau fruchtbar machen, man muss die wunderbaren Seite dieser Unterschiedlichkeit sehen und man muss sich – wie man so schön sagt – voll darauf einlassen. Alles Trennende wird dann einen Moment lang überwunden, auf dass etwas Neues entsteht. Doch das sehen die Gleichstellungspolitiker nicht. Und so erscheinen ihnen die Unterschiede unüberwindlich und sind ein Grund, Mann und Frau grundsätzlich als getrennt voneinander zu sehen.
Die Politiker sollten uns in Ruhe lassen. Wir können uns viel besser über unsere angeblich so unterschiedlichen Lebenssituationen verständigen, als sie sich das vorstellen.
Wir sind getrennt. Jetzt müssen wir die Trennung immer schon gewollt haben
Wenn wir heute die „geschlechtergerechte Sprache“ verwenden sollen, dann ist das kein nett gemeinter Vorschlag mehr, es ist in vielen Fällen schon eine Vorschrift. „Studenten“ soll man nicht sagen, weil es neuerdings als männliche Form gilt (was in den Augen der Feministen eine Benachteiligung der Frauen ist), „Studentinnen und Studenten“ ist mühsam, wie man in der Schweiz sagen würde, und so wird die Bezeichnung „Studierende“ durchgedrückt, obwohl sie sachlich falsch ist. Sie wird verordnet. Koste es, was es wolle.
Wenn da jemand von „weiblichen und männlichen Studenten“ spräche, wäre es den Sprach-Diktatoren nicht recht. Dabei ließe es sich gut zu „w/m Studenten“ oder zu „WM Studenten“ abkürzen, was viel eleganter wäre als die „SchriftstellerInnen“ oder „Schriftsteller/innen“ ¬– und was sich auch besser aussprechen ließe. Was spricht dagegen? Warum steht es gar nicht erst zur Diskussion? Weil es nicht die Einheit der Studentenschaft zerschlägt und nicht die Trennung behauptet. Darum. Es ist verräterisch.
Was ist der Unterschied? Wenn wir sagen „weibliche Schriftsteller“, dann wissen wir, dass es dazu ein Pendant gibt, nämlich die männlichen Schriftsteller. Wenn wir dagegen „Schriftstellerinnen“ sagen, dann gibt es kein passendes Gegenstück. Wenn wir Gleichstellung und geschlechtergerechte Sprache anstreben (ich wiederhole: Ich will das nicht, aber tun wir mal so, als wäre das ein erstrebenswertes Ziel), dann geht das nicht mit der Innen-Form, es geht nicht mit den separatistischen Schriftstellerinnen. Mit weiblichen und männlichen Schriftstellern, ginge es.
Denn da ist die Geschlechtsbezeichnung in beiden Fällen hinzugegeben. Doch bei „Schriftstellerinnen“ ist die Geschlechtsbezeichnung integraler Teil des Begriffes und macht die Aussage, dass es sich dabei um Menschen handelt, die schreiben, zweitrangig gegenüber der Aussage, dass es sich dabei um Frauen handelt. Da hat eine Art Meuterei stattgefunden: das Beiwort hat die Kontrolle über das Hauptwort übernommen.
Also: Wer sagt, dass es ihm um den Gleichstellungsaspekt geht und er deswegen die Form „Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ will, der widerspricht sich: Gleichstellung geht eben gerade nicht mit der Innen-Form. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit sind die falschen Flaggen. Gemeint ist Unterwerfung unter eine sexistische Sichtweise.
Es bleibt dabei. Mit der Innen-Form wird keine Gleichstellung erreicht, sondern die Trennung betont und symbolisch die Möglichkeit einer Vereinigung der Geschlechter abgestritten. Mehr nicht. Die Innen-Form hat keine weiteren Inhaltsstoffe. Für die Trennung werden keine Gründe genannt. Was sollen das auch für Gründe sein? Sie liegen allein in der Befindlichkeit der Sexisten.
Die Schriftstellerin Eva Musterfrau und der Schriftsteller Adam Mustermann haben in Hinblick auf ihre schriftstellerische Arbeit ausschließlich Gemeinsamkeiten. Trennendes gibt es nur jenseits ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Wenn man nachfragen würde, worin die Unterschiede zwischen „den“ Männern und „den“ Frauen bei Schriftstellern liegen, kämen dieselben Banalitäten hervor, die bisher nicht der Rede Wert waren ¬– und es heute auch nicht sind.
Innen-Formen sind die bösen Träume von Sexisten, die sich ständig neue Innenräume wünschen. Doch diese Räume sind hohl. Sie haben keinen Inhalt. Kein Leben. In den vielen, neu geschaffenen Innenräumen ist es kalt und dunkel. Die gespenstischen Innenräume sind nichts weiter als virtuelle Frauenparkplätze, virtuelle Frauenbuchläden, virtuelle Lesbenfriedhöfe.
Sollte „VSS Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ tatsächlich der neue Name des Verbandes werden – was dann? Dann würde damit ein Bekenntnis zur Verlogenheit der Politikersprache abgelegt. Dann würde deutlich gemacht, dass Schriftsteller nicht besonders gut mit Sprache umgehen können. Der Verband würde wie ein Verein wirken, der sich um korrekte Rechtschreibung kümmern will und auf seiner Visitenkarte mehrere Rechtschreibfehler hätte.
Er wirkte wie ein Gesangverein, der sich „Disharmonia“ nennt. Der Verband schriebe sich ein herzliches „Ja“ zu stilistischer Unbeholfenheit auf seine Fahne, die er als Preis für das Bekenntnis zum Sexismus zahlt. Er wäre wie ein Veranstalter von Marathonläufen, der eine Krücke und einen Bikini im Logo führt.
* Der Text ist ein Ausschnitt aus ‚Appointment with Death’ (‚Der Tod wartet’) von Agatha Christie aus dem Jahre 1938. Den Hinweis verdanke ich ‚ScienceFiles’ Kritische Wissenschaft – Critical Science. Im zweiten Teil geht es darum zu zeigen, dass es grundsätzlich leicht möglich ist, mit Sprache zu lügen.
Im dritten Teil schauen wir Schriftstellern über die Schulter, wenn sie sich fragen: Wohin mit Herta Müller?
Im vierten Teil geht es um die Frage, was Sexisten wirklich wollen.
Im fünften und letzten Teil geht es um die grundsätzliche Frage, ob das grammatische und das natürliche Geschlecht eins sind.
Schriftsteller, Gruppensex und Sprachmörder (Teil 5)
Deutsche Schriftsteller in der Krise. Wie sollen sie sich nennen? Wie ist ihr Verhältnis zur Natur und zur Grammatik? Wann stirbt das letzte Einhorn?
Was bisher geschah: Der Verband „VS Schriftsteller“ erwägt, sich umzubenennen in „VSS Schriftstellerinnen und Schriftsteller“. In bisher vier Teilen ging es darum, wie sich schriftstellerische Arbeit und Gleichstellungspolitik verträgt, bzw. eben gerade nicht verträgt: Die Gleichstellungspolitik bringt nämlich eine Vorstellung von Sprache mit sich, die drei Gebote kennt: 1. Das natürliche und das grammatische Geschlecht sind eins! 2. Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit! 3. Der Plural hat ein Geschlecht!
Dieser Teil gipfelt in einem Aufruf an die Schriftsteller, sich nicht umzubenennen. Tut es nicht!
Es soll kein Sammeltaxi geben
Der Sprachfeminismus verlangt große Opfer von uns. Wir müssen unser Sprachempfinden stets aufs Neue überstrapazieren, wenn wir uns den Quälgeisterinnen und Quälgeistern fügen und uns dabei den drei Geboten der sexistischen Sprache unterwerfen wollen. Es gelingt sowieso nicht. Die geschlechtergerechte Sprache, die auf Doppelnennungen oder angehängten Innen-Schwänzen besteht, stellt Ansprüche, die nicht erfüllt werden können. Wie sieht es mit folgendem Satz aus: „Frauen sind die besseren Autofahrer“? Kann man das noch so sagen oder muss es „Autofahrerinnen und Autofahrer“ heißen? Nein? Dann eben nicht. Nicht so schlimm.
Schlimm ist, dass wir der Doppelnennung alle Begriffe opfern sollen, die etwas Gemeinsames bezeichnen. So erklärt sich auch die Feindschaft gegen das so genannte generische Maskulinum („die Schriftsteller“, „die Autofahrer“, „die Fußgänger“ …), das eben nicht nur deshalb ausgerottet werden soll, weil es irgendwie männlich wirkt und deshalb den männerfeindlichen Feministen ein Dorn im Auge ist, sondern auch weil es eine neutrale Sammelstelle sein will. Hier kommen gleich zwei schlechte Gründe zusammen.
Die Frauenbewegung in Tübingen forderte in den achtziger Jahren ein eigenes Frauentaxi. Die Busverbindungen waren nicht ausreichend, ein normales Taxi war ihnen zu teuer. Die Stadt bot schließlich einen Kompromiss an: ein spezielles Sammeltaxi, das in den Nachtstunden verkehren sollte. Das wollten die Frauen nicht. In so einem Taxi könnten ja auch Männer mitfahren. Sie protestierten mit dem Gedicht: „Sammeltaxi, das ist fein -/ der Vergewaltiger steigt mit ein.“
Also kein Sammeltaxi. Keine Sammelstelle für alle. Die sollte es nicht mehr geben. Nicht in Tübingen, nicht im Rest der Welt. Nicht in der Wirklichkeit. Nicht in der Sprache. Neutrale Begriffe sollen durch das zweigeteilte Modell „Innen-Form/nicht-Innen-Form“ ersetzt werden, durch das „duale System“ der so genannten ZweiGenderung, mit der überall der Keil der Trennung in bestehende Gemeinschaften getrieben wird, als sollten wir alle verpflichtet werden, ein Bild von der Welt anzuerkennen, das aussieht wie das zerrissene Foto von einem Ehepaar, das inzwischen geschieden ist.
Zwar werden uns solche verkrampften und sachlich falschen Bezeichnungen wie „Studierende“ und „Teilnehmende“ vorgeschlagen und als „neutrale“ und deshalb auch gerechte Formen angepriesen, als hätte man plötzlich bisher unentdeckte Möglichkeiten der deutschen Sprache in irgendeinem Antiquariat gefunden – aber nichts da. Dass es mit der Neutralität solcher Begriffe nicht weit her ist, merken wir, wenn es wieder um Einzelfälle geht und es beispielsweise heißt: „der oder die Studierende, der oder die das Protokoll geführt hat, möge sich …“ Da haben wir wieder die Geschlechter-Apartheid, die sich die Sexisten wünschen.
Wie sehr uns ein geschlechtsneutraler Sammelbegriff fehlt, haben wir schon im dritten Teil an der Frage gesehen, welche Gruppe wir Herta Müller zuordnen wollen. Wenn sich der Verband der Schriftsteller tatsächlich in VSS umbenennen würde, stünde er wahrlich dumm da. Ich sehe schon vor meinem geistigen Auge die Schlagzeilen der Spötter-Presse:
Die deutschen Schriftsteller haben ihre Gemeinsamkeit aufgekündigt.
Die deutschen Schriftsteller wissen nicht mehr, wie man einen Plural bildet.
Schriftsteller, die noch bei Trost sind, meiden die Innenform in allen Varianten (siehe dazu auch den Teil 4), ein Binnen-I kommt in ihrer Prosa nicht vor. Gar nicht. In Hörbüchern sowieso nicht – kleiner Scherz. Allerdings kein guter. Es gibt tatsächlich Überlegungen, wie man durch besondere Betonungen ein Binnen-I hörbar machen kann. Man könnte sich da an einer Aussprache mit Schnalzlauten, wie man sie von den Xhosa kennt, orientieren.
Scherz beiseite. Es bleibt dabei: Schriftsteller können es grundsätzlich nicht akzeptieren, dass der Plural ein Geschlecht haben soll und dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. Das ist nicht verhandelbar.
Oder doch? Die Überlegung des Schriftstellerverbandes, einen neuen Namen anzunehmen, um damit eine Gleichstellung auch unter Schriftstellern anzuzeigen, zeigt Verhandlungsbereitschaft und signalisiert ein Entgegenkommen an die Politik.
Die Gleichstellungspolitik besteht darauf. Denn so eine Politik kann es nur geben, wenn man sich vorstellt, dass der Plural ein Geschlecht hat. Gleichstellungspolitik arbeitet grundsätzlich gruppenbezogen, sie sortiert die Gruppen nach „männlich“ und „weiblich“ und weist ihnen als erste Maßnahme ein Geschlecht zu. Daraufhin werden die Gruppen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit gleichgestellt.
Es kommt noch schlimmer. Wenn der Plural ein Geschlecht haben soll, muss ein strenges Reinheitsgebot angewendet werden. Es müssen zu 100% reine Gruppen sein – rein männlich oder rein weiblich. Sonst kann man ihnen kein Geschlecht zuweisen. Die Gruppen dürfen keinesfalls gemischt sein.
Wo gibt es solche Gruppen?
In der Utopie der Gleichstellungspolitik. Sonst nicht. Die Gleichstellungspolitik erschafft solche Gruppen erst und verlangt, dass in Zukunft noch mehr davon geschaffen werden – beispielsweise die Gruppe der rein weiblichen Quotenfrauen, die der rein weiblichen Gleichstellungsbeauftragten, die wiederum nur von Frauen gewählt werden dürfen, oder die rein weibliche Gruppe der Nutznießerinnen des Professorinnen-Programmes. Am einflussreichsten war und ist vermutlich der rein weibliche Deutsche Juristinnenbund e.V., der die Zerstörung der Familien in den Gerichtssälen vorantreibt.
Nein. Keine Widerrede: Die „Bürgerinnen und Bürger“ mögen das. Die Politiker wissen das. Sie gehen davon aus. Das tun sie gerne. Sie „gehen davon aus …“ Sie beschreiben uns als verblödete Masse, denen man jedwede sprachliche Dummheit bieten kann. Sie glauben tatsächlich, dass wir beeindruckt sind von der Zielgenauigkeit (!) und von der Qualität (!), die sie an den Tag legen. Dadurch wird sogar, wie sie meinen, die Akzeptanz (!) erhöht. Wenn nicht, dann hilft das Gesetz nach. Sehen wir selber – und achten wir auf die Erkenntnis (!), auf der das alles gegründet ist, sie wird beschrieben in der „Strategie Gender Mainstreaming“:
„Dieses Vorgehen, für das sich international der Begriff ‚Gender Mainstreaming’ etabliert hat, basiert auf der Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt (…) Das Leitprinzip der Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die Politik, Entscheidungen so zu gestalten, dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichberechtigung der Geschlechter beitragen. Ein solches Vorgehen erhöht nicht nur die Zielgenauigkeit und Qualität politischer Maßnahmen, sondern auch die Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern.“
Dazu gibt es auch rechtliche Vorgaben, die lesen sich so: „Verpflichtungen zur Umsetzung einer effektiven Gleichstellungspolitik im Sinne des ‚Gender Mainstreaming’ ergeben sich sowohl aus dem internationalen Recht als auch aus dem nationalen Verfassungsrecht.“
Es soll niemand sagen können, wir hätten es nicht gewusst. Wir wissen es wohl, wollen es aber nicht wahrhaben: Wir werden von einem totalitären, sexistischen Staat regiert, der sich in alle Lebensbereiche einmischt und eine beängstigende Machtvollkommenheit erreicht hat. So eine Politik hat es nicht nötig, sich hinter Schleiern zu verstecken, sie sagt es offen: sie „ … basiert auf der Erkenntnis“! Erkenntnis? Ist das eine Erkenntnis?
Nein. Das wissen die Politiker auch. Es ist keine Erkenntnis. Es ist eine Annahme. Noch dazu eine, die offensichtlich falsch ist. Die Politiker betrügen uns vorsätzlich – mit Ansage. Oder wie der Schwabe sagen würde: mit Fleiß. Sie wissen, dass wir kuschen, und dass es niemand wagen wird, sie zu kritisieren. Ihnen gehört die Sprache. Sie bestimmen, was eine „Erkenntnis“ ist. Sie bestimmen, wie wir in Zukunft zu reden haben. Das machen wir brav und eingeschüchtert und wir erkennen nicht die ansteckende Krankheit, die wir damit verbreiten. Dazu fehlt uns wiederum die Erkenntnis.
Gibt es ein Einhorn im richtigen Leben? Schafft Sprache Wirklichkeit?
Hinter all den Überlegungen zur richtigen Benennung steht die zentrale Frage, die im ersten der drei Gebote formuliert ist: Ist das grammatische Geschlecht mit dem natürlichen Geschlecht gleichzusetzen? Ja oder Nein?
Wenn wir diese Frage mit „Nein“ beantworten, dann ist die Debatte an dieser Stelle beendet, die Schriftsteller hätten keine Sorgen, sie könnten weiterschreiben wie bisher, könnten bei ihrem traditionellen Namen bleiben und könnten zufrieden sein.
Die Politiker wären nicht zufrieden. Denn die Politik der Gleichstellung, die angestrengt versucht, eine künstliche Gleichstellung von Frauen und Männern durch Quotenregelungen und Sprachvorschriften zu erzwingen, funktioniert nur, wenn man das grammatische und das natürliche Geschlecht gleichsetzt und so tut, als ginge es nicht um Worte, sondern um Menschen. Manche können sich das schon nicht mehr anders vorstellen.
Wenn die als „männlich“ definierten Sprachformen ausgemistet werden, dann steckt dahinter nicht etwa ein Gefühl für Sprache, sondern ein Gefühl gegen Männer – gegen Männer aus der wirklichen Welt. Wenn man die weiblichen Formen im Sprachgebrauch verbreiten will, dann wird so getan, als hätte man damit etwas Gutes für Frauen in der wirklichen Welt getan.
So wie in dem Film vom letzten Einhorn den Kindern erzählt wird, dass ein Einhorn stirbt, wenn das Kind nicht mehr an das Einhorn glaubt, so wird den Männern erzählt, dass eine Frau weint, wenn ein Mann nicht konsequent die Innen-Form verwendet. In so schönen Worten wird es nicht gesagt, es heißt vielmehr, dass Frauen „diskriminiert“, dass sie „marginalisiert“, dass sie „unsichtbar gemacht“ werden. Ihnen wird mit Sprache „Gewalt angetan“, sie werden mit Sprache „vergewaltigt“.
Es sind nicht meine Worte. So sagen es Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz. Das klingt, als hätte sich Loriot diese Namen ausgedacht, doch so ist es nicht. Es ist auch nicht lustig. Die Vorwürfe stehen immer noch im Raum. Es sind heftige Vorwürfe. Sie funktionieren nur unter der Voraussetzung, dass man eine Gleichheit von grammatischem und natürlichem Geschlecht annimmt. Daran muss man glauben. Deshalb wird es immer wieder behauptet.
Obwohl es nicht so ist. Arthur Brühlmeier hat schon vor Jahren auf diesen verhängnisvollen Irrtum hingewiesen. Egal. Genau dieser Irrtum ist nach wie vor die Grundlage für den Sprachfeminismus.
(Ich nehme an, dass Schriftsteller den kleinen Text von Brühlmeier kennen, falls nicht, hier ist der link: ‚Sprachfeminismus in der Sackgasse’).
Sexisten sind gefährliche Pantoffelhelden
Was ist los? Wie kann es sein, dass gleichzeitig zwei Auffassungen nebeneinander existieren, obwohl nur eine von beiden richtig sein kann? Und wie kann es sein, dass die Auffassung, das natürliche und das grammatische Geschlecht seien gleich, mehr und mehr Anhänger gewinnt, obwohl sie falsch ist?
Weil es Sexisten sind, die so denken. Besser gesagt: so fühlen. Bei ihnen steht Sex an erster Stelle. Nicht die Suche nach Wahrheit oder ein intellektueller Anspruch. Ein Sexist ist schon fertig mit seiner Weltanschauung. Er will keine andere. Wenn man einem Sexisten erklärt, dass Galileo einst ausgeführt hat, dass zwei Sätze, die sich widersprechen nicht gleichzeitig wahr sein können, dann sagt der Sexist nur: „Galileo? War das nicht ein Mann?“
Man kann nicht mit ihm diskutieren. Wenn man ihm erklärt, dass das grammatische und das natürliche Geschlecht zwei Paar Schuhe sind, sagt er: „Ich will nur ein Paar. Die anderen Schuhe passen mir nicht“. Wenn man ihm mit Objektivität kommt, kommt er mit Subjektivität. Es stört ihn nicht, dass die Schuhe, die er hat, billige Pantoffeln sind. Für seine Innenwelt reicht es.
Der Verband der Schriftsteller ist eine recht geräumige Anlaufstelle, er bietet Platz für Autoren, die hermetische Texte schreiben oder für Künstler, die sich in einfacher Sprache an jugendliche Leser wenden oder für Künstler, die das Ungefähre mögen und sich auf schwer zugängliche Lyrik spezialisiert haben. Das alles gibt es. Das alles soll es auch geben. Wenn nun aber jemand eine Formulierung vorschlägt, die für alle gelten soll, dann muss er seine Eigenwelt verlassen können und sich auf einen allgemeinen Nenner einlassen. Dann muss er in der Lage sein zu argumentieren. Dann reicht ein Satz wie „Ich fühle es aber so“ nicht. Auch nicht: „Ich höre Stimmen von fremden Mächten aus der Politik, denen ich mich fügen muss.“
Wir leben in einer Zeit, in der Sexismus staatstragend geworden ist; in einer Zeit, in der weibliche Sexisten offiziell gefördert werden und männliche Sexisten versuchen, wenigstens eine kleine Scheibe von der Wurst abzukriegen – und Angst haben müssen, andernfalls als Sexisten bestraft zu werden. Deshalb gibt es so viele Sexisten – oder viele, die wenigstens so tun, als wären sie Sexisten. Das heißt jedoch nicht, dass ihre Vorstellung von Sprache richtig ist. Ist sie nicht. Sie ist nach wie vor falsch.
Die Verwechslung von grammatischem und natürlichem Geschlecht bringt einen Rattenschwanz von Problemen mit sich. Es gibt in Wirklichkeit drei grammatische Geschlechter – der, die, das –, jedoch nur zwei biologische. Damit wird aus einer dreidimensionalen Sicht der Welt eine zweidimensionale. Wie wird das Problem gelöst?
Es wird einfach behauptet, dass es „keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt“. Das sagen sie. So sind sie. Sie verkünden es im Brustton der Überzeugung. Sie sagen tatsächlich (und stellen damit Möglichkeit und Wirklichkeit gleich), dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit „gibt“, obwohl sie fairerweise „geben möge“ sagen müssten oder „in Zukunft nicht mehr geben dürfe“, denn noch gibt es gewisse Reste von Neutralität.
Noch. Sie werden nach und nach abgeschafft. Neutralität gilt inzwischen nicht mehr als „neutral“, sondern als typisch männlich. Wie Objektivität. Deshalb werden neuerdings beide Begriffe reflexartig mit dem Beiwort „vermeintlich“ versehen, man spricht also von „vermeintlicher Objektivität“, von „vermeintlicher Neutralität“ oder von „vermeintlichen biologischen Tatsachen“ und nimmt den Begriffen damit ihre Bedeutung. Natürlich darf auch der Plural, wie wir gesehen haben, nichts Neutrales mehr an sich haben und muss entweder weiblich oder männlich sein.
Wenn es keine Neutralität geben darf, dann muss auch das „das“ weg. Dann muss ein Kind, zu dem man früher unbefangen „das Kind“ gesagt hat, so früh wie möglich sexualisiert werden, damit man es entweder als männlich oder als weiblich ansehen kann, es darf jedenfalls nicht länger Neutrum (ne-utrum, also keins von beiden) sein. Dann steht auch Gott nicht mehr jenseits von irdischen Geschlechterfragen, dann ist Gott weiblich und ist eine Freundin von Margot Käßmann.
Früher gab es einen Spruch (das war vor der bemannten Raumfahrt), da sagte man, wenn man gewisse Leute loswerden wollte: „Die müsste man alle auf den Mond schießen“. Daran muss ich immer wieder denken. Man sollte es tun. Dann werden es die Politiker selber merken: Den berühmten Mann im Mond, der als männlich angesehen wird, gibt es gar nicht, es gibt aber – nicht nur da oben – eine geschlechtsneutrale Wirklichkeit.
Die Schriftsteller haben es versäumt, sich von Anfang an gegen die hinterhältigen Angriffe auf die Muttersprache zu wehren. Sie haben sich zurichten lassen wie der berühmte Frosch, der sich bei lebendigem Leibe kochen ließ, der allerdings sofort aus dem Topf gesprungen wäre, wenn er gleich mit dem heißen Wasser in Berührung gekommen wäre. So war es nicht. Das Wasser wurde langsam immer heißer und der Frosch hat den Absprung verpasst. Dann war es zu spät.
Ist es nun zu spät für ein klares „Nein“ gegen die VSS-Form? Trauen sich die Schriftsteller inzwischen nicht mehr, einem Politiker oder gar einer Frau zu widersprechen? Lassen sie sich freiwillig zu Bazillenträgern einer sexistischen Weltanschauung machen, zu der sie sich bei jeder Pluralbildung bekennen müssen?
Als ich im ersten Teil sagte: „Gleichstellung und Schriftsteller – das geht gar nicht“, war das ernst gemeint. Es geht wirklich nicht. Schriftsteller können die drei Gebote nicht akzeptieren, sie können sich dem gruppenbezogenen Denken nicht unterwerfen – und Schriftsteller sollten keine Sexisten sein. Sie sollten ihr Sprachgefühl nicht verraten wie jemand, der aus Angst vor dem Tod Selbstmord begeht.
Schriftsteller sollten weiterhin versuchen, so gut es eben geht, auf eigene Faust die Wirklichkeit mit sprachlichen Mitteln zu beschreiben. Gleichstellungspolitik versucht das Gegenteil. Sie versucht, die Wirklichkeit zu verunstalten, dass sie zu ihrer falschen Sprache passt.
Dem kann ein Schriftsteller, der seinen Hammer noch nicht an den Nagel gehängt hat, entgegentreten, indem er den Sprachfeminismus entlarvt und ihn mit den eigenen Waffen –nämlich mit denen der Sprache – schlägt. Das sollte er tun. Dazu möchte ich ihn ausdrücklich ermuntern und ihm zum Schluss die Worte zurufen, die mein Vater zu mir gesagt hat, als ich drei Jahre alt war und mich nicht traute, die Rutschbahn runterzurutschen:
„Na los! Sei kein Frosch!“
Zum Schluss möchte ich mich mit einem Gedicht aus der Affäre ziehen, in dem es um den achtsamen oder gerade nicht achtsamen Umgang mit Worten geht. Es geht um diejenigen, die keine Fragen mehr zulassen und von unumstößlichen Erkenntnissen ausgehen – und was sie damit anrichten. Es ist eines der frühen Gedichte von Rainer Maria Rilke: Gebet der Mädchen zur Maria
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Deshalb hatte ich mich durchgerungen, im zweiten Teil – und schon in der Überschrift – in aller Deutlichkeit von „Sprachmördern“ zu sprechen. Ein heftiges Wort. Ich weiß. Das ist sonst nicht meine Art. Doch ich stehe dazu: Erst wird das Wort umgebracht, dann das Ding. Im zweiten Teil geht es darum zu zeigen, dass es grundsätzlich leicht möglich ist, mit Sprache zu lügen.
Im dritten Teil schauen wir Schriftstellern über die Schulter, wenn sie sich fragen: Wohin mit Herta Müller?
Im vierten Teil geht es um die Frage, was Sexisten wirklich wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2008, Nr. 236, S. 38 Der Gast, nicht die Gästin Wie der Feminismus das Maskulinum verbreitet hat Wie kann man die Bedeutung deutscher Wörter mit maskulinem sprachlichen Genus angemessen beschreiben? Für Ausdrücke wie Einwohner, Gast, Student oder Kollege stehen mit Blick auf das Geschlecht zwei Möglichkeiten im Raum. Zum einen könnte grundsätzlich gelten, dass sie sich auf männliche und weibliche Personen beziehen; man spricht hier auch von generischer Referenz. Zum anderen lässt sich annehmen, dass sie männliche Personen bezeichnen, sprachliches und biologisches Geschlecht also in eins fallen. Letztere Sicht wurde bekanntlich von der feministischen Sprachbetrachtung favorisiert und zum Ausgangspunkt für ein großes Sprachreformprojekt erhoben. Für die generische Referenz stehen Sätze wie „Berlin hat 3,4 Millionen Einwohner“. Aus einem solchen Satz wird niemand schließen, dass es dann insgesamt fast sieben Millionen sein dürften. Einwohner meint auch -innen. Ähnliches gilt für die Feststellung, dass zu einer Feier viele Gäste anreisten. Ausdrücke wie Filmstar und Liebling zeigen ähnliche Eigenschaften. Sie stehen keinesfalls genau für männliche Personen, sondern können männliche, weibliche oder männliche und weibliche Menschen bezeichnen. Selbst maskuline Pronomina lassen sich auf dieser Linie betrachten. Vernimmt man die Frage „Wer hat denn hier seinen Lippenstift liegen gelassen?“, so bedeutet das nicht, dass wegen des Wörtchens seinen nur ein vergesslicher Mann gemeint sein kann. Aber auch die feministische Betrachtung kann angesichts des gegenwärtigen Sprachgebrauchs gute Befunde für ihre Position geltend machen. Wenn man hört, dass der Student die Prüfung bestanden hat, so wird man ganz überwiegend annehmen, dass eine männliche Person erfolgreich war. Ähnliches kann man am Ausdruck Kollege zeigen. Wenn ein Mann seiner Frau ankündigt, dass er sich abends mit einem Kollegen treffen will, so würde er besondere Gründe haben, wenn es sich bei dieser Person um eine Frau handelte. Und sollte eine Firma per Anzeige einen neuen Mitarbeiter suchen, so wird das bei vielen weiblichen Arbeitssuchenden eine gewisse Irritation, wenn nicht gar Entmutigung auslösen, weil nur männliche Bewerber angesprochen sein könnten. Die Semantik maskuliner Wörter ist also kompliziert. Einen neuen Vorschlag zur grammatischen Beschreibung der Situation hat nun der Bamberger Sprachwissenschaftler Thomas Becker vorgelegt. Er geht in seinem Entwurf grundsätzlich von der generischen Referenz der fraglichen Ausdrücke aus. Den eindeutigen Bezug auf das natürliche Geschlecht leitet er dagegen aus der jeweiligen Kommunikationssituation ab. Demnach schließen Sprecher aus kommunikativen Konstellationen, ob ein maskuliner Ausdruck aktuell nur männliche Personenkreise anspricht. Es wirken „konversationelle Implikaturen“, durch die die generische Lesart durch eine geschlechtsbezogene ersetzt wird. Das gilt vor allem für Situationen, in denen das natürliche Geschlecht besonders relevant ist und auch alternative Formen kursieren. So gibt es beispielsweise keine femininen Gegenstücke zu den Ausdrücken Gast, Star, Liebling. Die geschlechtsspezifische maskuline Lesart liegt deshalb eher fern. Anders bei den Ausdrücken Student, Kollege, Mitarbeiter. Hier existieren Pendants. Weiß man zudem, dass entsprechende feminine Formen in Kontexten wie Stellenanzeigen und Anreden durchaus üblich sind, schließt man als kompetenter Sprecher des Deutschen, dass mit den sprachlich maskulinen Ausdrücken in solchen Zusammenhängen eben männliche Personen angesprochen sind. Das lässt sich generalisieren: Wenn feminine Gegenstücke zu generischen Wörtern gebräuchlich werden, verschiebt sich die ursprünglich neutrale Bedeutung zur maskulinen Semantik. Das kommt dem Umstand gleich, dass ein Ausdruck wie Kollege, mindest übergangsweise, zwei Bedeutungen besitzt: Die erste, fundamentale ist die generische Bedeutung. Sie ist geschlechtsunabhängig. Die zweite entspricht einer besonderen Gebrauchsbedeutung jüngeren Datums in bestimmten Kontexten. Sie entstand durch die Konkurrenz zu Kollegin und transportiert somit spezifisch Männliches, das sich allmählich auch in weitere Kontexte ausdehnt und am Ende möglicherweise die generische Bedeutung zum Verschwinden bringt. Die maskuline Bedeutung wird umso prominenter, je häufiger die entsprechenden femininen Bezeichnungen auftauchen. Zugespitzt gesagt: Je öfter der Ausdruck Kollegin genutzt wird – womöglich noch in unmittelbarem Kontakt zum Gegenstück: „Liebe Kolleginnen und Kollegen“ – desto wahrnehmbarer wird das maskuline Element im Wort Kollege, das ursprünglich kaum vorhanden war. Unter dieser Perspektive lässt sich auch ein Blick auf das sprachkritische Programm des Feminismus werfen. Sein Ausgangspunkt, dass nämlich sprachlich maskuline Wörter Menschen femininen Geschlechts ausschließen, dürfte anfangs an vielen Punkten falsch gewesen sein. Dadurch allerdings, dass dieses Plädoyer die Verwendung explizit femininer Formen faktisch stark förderte, hat sich mittlerweile das semantische Profil der Wörter mit maskulinem sprachlichen Genus verändert. In der Folge stehen ursprünglich generische Ausdrücke nun tatsächlich häufig für männliche Personen. Daraus wiederum resultiert die Konsequenz, dass Geschlechterfragen in Sprache und Kommunikation heutzutage unbestreitbar eine höhere Bedeutung besitzen als vor den feministischen Analysen. Aus der Perspektive der feministischen Zielsetzungen ist diese Änderung vermutlich als Erfolg zu verbuchen. Dass diese Entwicklung mit einer problematischen Bestandsaufnahme ansetzte, hat ihr offensichtlich nichts von ihrer Durchsetzungskraft genommen. Womöglich wurde sie dadurch sogar noch gestützt? Sprachhistorisch ist jedenfalls zu konstatieren, dass sich in der deutschen Sprache das Verhältnis von sprachlichem Genus und natürlichem Sexus jüngst an bestimmten Punkten gewandelt hat. Ursprünglich semantisch eher geschlechtsneutrale Wörter sind mittlerweile geschlechtsspezifisch aufgeladen. Wo sprachlich früher ein Maskulinum und referenziell ein Generikum war, ist heute oft nur noch Maskulines vorhanden. Mit anderen Worten: Nach den feministischen Sprachinterventionen ist das Maskulinum verbreiteter als zuvor, aber sicher nicht mehr das, was es einmal war. WOLF PETER KLEIN Thomas Becker: „Zum generischen Maskulinum: Bedeutung und Gebrauch der nicht-movierten Personenbezeichnungen im Deutschen“, in: Linguistische Berichte, Bd. 213 (2008).
Wir lassen uns die „Bürgerinnen und Bürger“, die „Leserinnen und Leser“, die „Soldatinnen und Soldaten“ und zur Not, aber wirklich nur zur Not auch noch den „Studierendenausweis“ gefallen. Man braucht den femininen Plural genauso wenig wie dieses absurde, verdruckste Partizipialmonster. Dergleichen ist umständlich und war bei der Herstellung der Geschlechtergerechtigkeit wohl auch noch nicht sonderlich hilfreich. Genau genommen wird damit sogar eine neue Ungerechtigkeit begangen. Denn bei den Lehrern und Autoren, den Ärzten und Redakteuren wollen die Frauen begreiflicherweise dabei sein, nicht aber bei den Mördern, Dieben und sonstigen Verbrechern. Diese werden gewissermaßen immer nur mit ihrem männlichen Vornamen angeredet. Von einer Meldung wie „Nach der Mörderin oder dem Mörder wird noch gefahndet“ oder von einer „Verbrecherinnen- und Verbrecherkartei“ hat man jedenfalls noch nichts gehört, obwohl ja eigentlich erst wirkliche Gerechtigkeit hergestellt wäre, wenn bei der Nennung einer bestimmten Personengruppe auch nicht eine einzige Frau unterschlagen wird, was ja bedeuten würde, dass die Frau als solche dadurch quasi schon unterdrückt wäre. Sei es drum. Wenn diese Eseleien, die es in keiner anderen Sprache gibt, dem sozialen Frieden dienen – bitte sehr. Man kann, wie dies an dieser Stelle schon mehrmals, aber wahrscheinlich zu zaghaft versucht wurde, noch so oft darauf hinweisen, dass das grammatische Geschlecht (Genus) mit dem biologischen Geschlecht (Sexus) nicht zwingend etwas zu tun hat und es also den weiblichen Gast genauso gibt wie die männliche Geisel. Und es hilft wahrscheinlich auch nicht viel, daran zu erinnern, dass im Deutschen das primäre grammatische Geschlecht nun einmal männlich ist. Die Leute wollen es einfach nicht begreifen. Sie reden und schreiben mit einer idiotisch-bürokratischen Umstandskrämerei mitsamt diesen hässlichen Schrägstrichen („der/die Wähler/in“), die in seltsamem Kontrast zu dem Bedürfnis nach Bequemlichkeit steht, das sich sonst allenthalben breitmacht. Dies alles lassen wir uns, wie gesagt, noch gefallen. Aber gerade kommt uns Post auf den Schreibtisch, die das Fass zum Überlaufen bringt. Der Deutsche Germanistenverband wendet sich in einem Rundschreiben doch tatsächlich an „Mitgliederinnen und Mitglieder“. Hätte man in diesen Taginnen und Tagen nichts Besseres zu tun, man müsste dieser Vereinin/diesem Verein, wo frau/man es eigentlich besser wissen müsste, glatt die Grammatikpolizei ins Haus schicken. Menschinnenskindnochmal! edo.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.06.2011, Nr. 129, S. 33
Über die Unmöglichkeit poststrukturalistischer Gesellschaftskritik
Alex Gruber
(Aus: Bahamas Nr. 57/2009)
Die Anrufung der Vielheit und der Differenz ist aus der linken Diskussion über Rassismus oder Geschlecht nicht mehr wegzudenken, sodass man geneigt sein könnte, Antirassismus, Anti(hetero)sexismus und Poststrukturalismus zusehends als Synonyme zu betrachten. Dies gilt für gleichermaßen für die undogmatisch-linksradikalen Kommandoerklärungen, wie sie in zahlreichen Internetforen und auf Blogs veröffentlicht werden, wie für die akademische Diskussion, wo der „linguistic“ bzw. „cultural turn“ an den Universitäten seinen Siegeszug längst erfolgreich abgeschlossen hat. So formuliert etwa Christina Thürmer Rohr, Professorin an der TU Berlin, dass Allgemeinbegriffe wie Mann oder Frau nichts anderes darstellen als „ein Ergebnis von Kategorisierungsverfahren, die selbst Ausdruck von Gewalt sind“, Ausdruck „einer gewaltsamen Einteilung der Vielheit der Menschen in zwei Geschlechter“; „Kategorisierungen von Menschen“ also, „die deren Pluralität zerstören.“ (Thürmer Rohr 2005) Und der linke Differenztheoretiker weiß, dass der islamische Raum ein wahres Paradies für homosexuelle Vielheiten wäre, hätte nicht der ‚westliche Diskurs’ gewaltsam seine ‚heteronormative Zwangsidentität’ weltweit durchgesetzt (Vgl. Klauda 2008) – damit auch die dieser Identität entsprechende Denkform – und ihre gewalttätig Einheit stiftende Begrifflichkeit, den durch Differenz charakterisierten Menschen eingeschrieben.
Restitution von Heteronomie
Das poststrukturalistische Bedürfnis, das sich in Aussagen wie den zitierten ausdrückt, versteht sich als Generalangriff auf das, was ihm identitätslogische Denkform oder abendländische Metaphysik heißt. Seine Intention und sein Anspruch ist es, gegen jenes Denken anzugehen, das begriffliche Allgemeinheiten kennt, unter die eine Vielzahl von Einzeldingen subsumiert werden: Gegen die starre Einheit der Logik, deren Gesetz „das der Reflexion ist, das Eine, das zwei wird“ (Deleuze/Guattari 1976: 8), und die so die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache oder von Geist und Natur überhaupt erst produziere und in die Welt setze; gegen diese Einheit soll der lebendigen, jedoch von der Metaphysik und ihrer „Tyrannei des Buchstabens“ (Lyotard 1977: 108) geknechteten Vielheit zu ihrem Recht verholfen werden: „Der Vorrang der Identität […] entspringt der Welt der Repräsentation [durch den Geist, den Buchstaben, usw.; A.G.]. Das moderne [i.e. poststrukturalistische; A.G.] Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken.“ (Deleuze 1992: 11)
Die Vielheit soll von ihrem Bezug auf ein Identisches, auf ein Allgemeines, von dem sie differiert, befreit werden und als eigenes Prinzip erkannt werden: „(N)ur, wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit, behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt.“(Deleuze/Guattari 1978: 13; Hervorhebung des Verfassers) Um die Abhängigkeit der Vielheit von einem ihm durch die Logik aufoktroyierten Allgemeinen aufzulösen, sei es notwendig die einheitlichen und identischen Begriffe zu dekonstruieren; d.h. es sollen alle Bedeutungen „Schicht für Schicht abgetragen werden“ (Derrida 2004: 152), „deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt“ (Ebd.: 23), um so zu einem neuen Denken zu kommen, einem mehrdimensionalen Denken, dem Denken der „Differenz an sich selbst“, für die Jauques Derrida sogar ein eigenes Wort erfindet: das der „différance“.
Diese Vielheit sei die zu sich selbst gekommene Differenz, die nicht der Begrifflichkeit angehört, aber auch nicht der Sinnlichkeit: „(E)s wird also auf eine Ordnung verwiesen, die jener für die Philosophie grundlegenden Opposition zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen widersteht“ (Derrida 1999: 34), und die so den Dualismus der Metaphysik überwinde, weil sie reine Bewegung sei, die aller Bestimmung und Unterscheidung stets schon vorausgehe – die also Bestimmung und Unterscheidung überhaupt erst hervorbringe und ermögliche. Die von Derrida ins Auge gefasste Ordnung, die „différance“ ist dementsprechend als dem Gegensatz zwischen Geist und Natur widerstehend gedacht, den die metaphysische Philosophie aufmacht: Sie widersteht dem Gegensatz und somit dem Dualismus, weil sie ihm quasi zugrunde liegt und ihn trägt, weil sie sein zureichender, wenn auch unbestimmbarer, weil unbestimmter Grund ist, der „immer schon am Werk war“, vom logischen Denken aber „immer wieder neutralisiert, reduziert (wurde): und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte.“ (Derrida 2006: 422) Dieser Versuch, die Differenz zu materialisieren und ihrerseits als Einheit zu hypostasieren, sei die Geburtsstunde und der Kardinalfehler der Metaphysik in einem. Diese ist demnach gedacht als dem Umstand geschuldet, dass „unsere Freunde der métis [der Weisheit; A.G.]“ (Lyotard 1977: 89) der Erkenntnis nicht standhalten können, dass Philosophie zwar einen Urgrund habe, über diesen Urgrund jedoch nichts auszusagen in der Lage ist, weswegen eben jene Unbestimmtheit von ihnen stets wieder vereindeutigt würde und so ein Schöpfer eingesetzt, der Sinn verbürgt.
Das Denken habe jedoch über diese imperiale Setzung hinauszugehen und die vom Poststrukturalismus postulierte Unmöglichkeit einer Grundlage zu ihrer Grundlage zu machen,[1] um so dem Wirken der Vielheit gerecht zu werden. So wie die „différance“ das sei, „was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem. Indem sie sich zurückhält und nie exponiert, übersteigt sie genau in diesem Punkt und geregelterweise die Ebene der Wahrheit“. (Derrida 1999: 34) Die Vielheit ist konzipiert als jener Ort bzw. Unort, der den Phänomenen zugrundegelegt werden muss, aber nicht bestimmt werden kann – jeder Versuch, ihn zu benennen, d.h. etwas qualitatives über ihn aussagen zu wollen, falle in die Aporien der Identitätslogik, in die Metaphysik also zurück.
Die Vielheit ohne Einheit ist als das konzipiert, wodurch das Gegebene als verschiedenes gegeben ist; als jene Spur, die der Präsenz gewissermaßen vorausgeht, aber nicht als Vorausgehendes gedacht werden kann, die ebenso ursprünglich ist, wie nachträglich, die vorhanden ist, aber nicht konkretisierbar, die sich einschreibt, aber kein schreibendes Subjekt sein soll, sondern nur der Prozess des Einschreibens selbst. „Nach den Forderungen der klassischen Begrifflichkeit würde man sagen, daß ‚différance’ die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität bezeichnet, den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkungen die différents oder die différences wären. […] Und wir werden sehen, warum das, was sich durch ‚différance’ bezeichnen lässt weder aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjekts bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken läßt.“ (Ebd.: 37; Hervorhebung im Original) Jede Vermittlung, jeder Gegensatz und jeder Widerspruch wird von diesem Denken kassiert; es darf und kann nichts geben, was außerhalb des Prozesses des Einschreibens liegt und darin nicht restlos aufgeht; alles ist unmittelbar durch die „différance“, die unbestimmte Vielheit, determiniert und konstituiert, die mit Eigenleben ausgestattet ihre Spur durch die Geschichte zieht.
Der Taschenspielertrick, die Vielheit an die Stelle der Einheit zu setzen und zu behaupten, sie firmiere nun als etwas ganz anderes denn als Einheit, ermöglicht es dem Poststrukturalismus als gewitztes und radikal-emanzipatives Denken aufzutreten, das die identitätslogische Philosophie hinter sich lasse und ein Ende der Bevormundung durch repressive Allgemeinbegriffe einleite. Das Denken soll aus der Metaphysik austreten und sich von der „Usurpierung durch die Buchstaben“ lösen, um zu einer „anderen Logik“ zu gelangen als jener, „in welche Platonismus und Judentum mit vereinten Kräften immer noch versuchen […], diese Spasmen [Zuckungen der Vielheit; A.G.] einzusperren und zu neutralisieren.“ (Ebd.: 106 ff.) Was sich in dieser Denkbewegung ausdrückt ist der Wunsch, jedwede Einheit und damit selbst noch den Gedanken einer vernünftigen Allgemeinheit exorzieren zu wollen. Das antiidentitär auftretende Denken erweist sich als gegenaufklärerisches, das die Logik regressiv überwinden möchte und in seiner Verwerfung der Metaphysik zu einer Ontologie der Differenz gelangt, die die herrschaftlichen Momente der traditionellen Logik und des Idealismus bei weitem übersteigt. Die Differenz, die den Ausweg aus der Metaphysik weisen soll, ist gedacht als etwas, das den Erscheinungen zugrunde liegt und sie hervorbringt, das aber selbst nicht wieder festgemacht werden könne und dürfe, das sich jeder Bestimmung entzieht. Die Grundlage, die keine sein soll, aber als solche angenommen werden muss und für die weder ein Subjekt noch ein Substrat angegeben werden kann, erweist sich so als Kategorie, die den poststrukturalistischen Ideologen zu einem Seinsbegriff eigner Qualität gerät, was sie als in der Tradition der Ontologie eines Martin Heidegger stehend ausweist – in der Tradition eines regressiven Denken, das im Besitz des ganzen Rüstzeugs der Philosophie eine Weltsicht restituieren möchte, gegen die die Aufklärung einst angetreten war. (Vgl. Adorno 2008: 54) Das postmoderne Bedürfnis erweist sich so als eines, das mit autonomen geistigen Mitteln das Denken abschaffen und Heteronomie (wieder)herstellen möchte, und das solcherart die gesellschaftlich produzierte Heteronomie durch das Kapital nicht nur verdoppelt und affirmiert, sondern sogar in einem bewussten Akt exekutieren möchte.
Schöpfungsgeschichte ohne Schöpfer
Das durch den prozessierenden Wert vermittelte herrschaftliche wie ideologische Moment, das sich in der idealistischen Denkbewegung äußert, in der das Allgemeine das Einzelne gewaltsam unter sich subsumiert und die identitäre Einheit als konstituierendes Moment des Besonderen auffasst, ist nicht zu leugnen. An kritischer Theorie wäre es jedoch, diese Identität als Reflexionsform repressiver Vergleichung durch Staat und Kapital kenntlich zu machen, also auf eben jenes herrschaftliche Moment zu reflektieren, anstatt der Einheit in abstrakter Negation ein scheinbares Gegenmodell gegenüberzustellen. Vielmehr ist dieses isolierte Gegenüber als eine Denkfigur auszuweisen, die sich aus dem Unmittelbarkeitswahn der poststrukturalistischen Weltanschauung speist und die als logische Unmöglichkeit zu charakterisieren ist: Einheit und Vielheit, Allgemeines und Besonderes sind nur in ihrer Vermittlung zu denken. Die Einheit stellt das Gemeinsame an verschiedenem Besonderen dar; sie ist die Kategorie, vor der das Besondere als bestimmtes Besonderes und nicht als bloß flüchtiger Sinneseindruck überhaupt nur bestehen kann[2]: Schlechterdings Inkommensurables, die „Differenz an sich selbst“, die begriffslose Vielheit als solche wäre nicht einmal benennbar. Diese Verwiesenheit auf Objektivität, die Tatsache, dass das Differente und Besondere in sich durch gesellschaftliche Objektivität vermittelt ist, bricht sich im Poststrukturalismus schließlich auch unreflektiert Bahn, wenn etwa die Begriffe der Metaphysik als identitätslogische verworfen und durch die „différance“ ersetzt werden, die diesen – wie aller Präsenz – vorgängig sei und von ihnen bloß verdrängt werde: „Indem die Vielheit als solche, die „Differenz an sich selbst“, jeden Bezug auf Identität kündigt, wird sie selbst das, womit sie nichts mehr zu tun haben will: Identität par excellence.“ (Türcke 2005: 167; Hervorhebung im Original) „Die différance ist noch eine Umdrehung mysteriöser als dieser Gott [der deus absconditus, der verborgene Gott der Theologie; A.G.]. Sie ist dasjenige, was übrig bleibt, wenn man vom Schöpfungsakt den Schöpfer und das Geschaffene abzieht und auch noch leugnet, daß das was zurückbleibt, ein Schöpfungsakt sei.“ (Ebd.: 187)
Es kann Kritik nicht darum gehen, die Einheit als solche zu verwerfen, sondern vielmehr darum, das Verhältnis in Blick zu bekommen, in dem die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem stattfindet. Die Erkenntnis, dass die Vermittlung von Allgemeinen und Besonderem in der über den Wert vergesellschafteten Gesellschaft eine gewaltsame ist; dass hier das Allgemeine in Form des selbstbezüglich prozessierenden Werts das Besondere als bloßes Durchgangsmoment seiner Bewegung setzt; dass es das Besondere unter sich subsumiert, indem es von seinen Besonderheiten abstrahiert und es als bloßes Anhängsel seines Prozesses setzt; diese Erkenntnis kann nicht davon dispensieren, das Bestehende als gesellschaftliche Totalität, als übergreifende Einheit begrifflich zu entfalten. Vielmehr ist dies geradezu die Voraussetzug jeder Ideologiekritik, die sich die Idee einer vernünftigen Allgemeinheit, die im Besonderen ihre Substanz hat; sprich: die Idee der freien Assoziation der freien Individuen nicht abmarkten lassen möchte.
Sowie die falsche Vermittlung von Allgemeinen und Besonderem zu kritisieren ist, so ist es auch der poststrukturalistische Glaube, man könne mit den metaphysischen Allgemeinbegriffen durch Akte der Dekonstruktion tabula rasa machen und die Differenz unmittelbar dagegensetzen. Gegen solchen Unmittelbarkeitswahn ist auf die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderen im Begriff zu bestehen, der dieser Vermittelheit durch Reflexion innewerden und so seine angemaßte Allmacht durchbrechen kann. Der Begriff wäre zu fassen als Identität von Identität und Nichtidentität: Als Begrifflicher ist er Begriff des Nicht-Begrifflichen, das er unter sich befasst, und dessen er eingedenk werden muss, will er nicht in idealistischer Weise als Geist erscheinen, der Materie aus sich heraus hervorbringt. Jene Selbstreflexivität, jenes „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (Horkheimer/Adorno 1997: 58), das Versöhnung erst ermöglicht, bedarf damit selbst noch des Begriffs und also der Logik, die sich im Zuge der herrschaftlich verfassten Menschheitsgeschichte konstituiert hat. Die Verfahren der Logik, wie etwa die Abstraktion und darüber vermittelt die Bildung von Allgemeinbegriffen, selbst sind es, die Vernunft entbinden und es so ermöglichen, der Unhaltbarkeit des (idealistischen) Totalitätsanspruchs der erkennenden Vernunft gewahr zu werden.
Das Denken ist notwendig auf die Tradition verwiesen, um sie transzendieren zu können und kann nicht dem Herrschenden abstrakt sein scheinbares Antidot gegenübersetzen, etwa die Vielheit der Einheit, die „différance“ der Metaphysik, und dann glauben, damit dem Herrschenden entkommen zu sein und ein ganz neues Denken etabliert zu haben – jenes Denken der ewig währenden „différance“ als einer „Urschrift ohne anwesenden Ursprung“. (Derrida 1999: 45)[3] Insofern ist das poststrukturalistische Philosophieren das Gegenteil von kritischer Theorie: Nicht nur, dass es keinen kritischen Begriff vom falschen Ganzen hat, sondern darüber hinaus sabotiert es auch die Universalität der Emanzipation, die darin bestünde eine Einheit der Vielen ohne Zwang zu sein. Kritik an der falschen Objektivität, am repressiven Allgemeinen bedeutet eben keineswegs, das Hypostasieren der Differenz um ihrer selbst willen, das diese wiederum zur falschen Allgemeinheit macht, sosehr es auch beteuert, über Identitätslogik hinaus zu sein. Kritik zielt vielmehr auf eine vernünftige Allgemeinheit, die vom Besonderen ausgeht, in der es also möglich ist, „ohne Angst verschieden zu sein“ (Adorno 1997: 116) – um einen Terminus aus den Minima Moralia zu zitieren, den die Ideologen des Poststrukturalismus regelmäßig in Anspruch nehmen, um zu suggerieren, die kritische Theorie Adornos sei die Vorläuferin von Foucault, Derrida & Co.[4]
Sprachmagie…
Das poststrukturalistische Denken, will nicht bloß dekretieren, dass es keine Einheit mehr gebe sondern nur noch Vielheit, es will vielmehr selbst diese Vielheit sein, es beansprucht Denken zu sein, das Vielheit macht. Das Denken soll aufhören Bedeutungsträger zu sein, es soll aufhören sich anzumaßen, Einheit und Ordnung in die Vielheit zu bringen und das „Imperium des Signifikanten“ (Lyotard 1977: 63) zu errichten. Es soll vielmehr jenes Wuchern und Sprießen selbst sein, jenes Verknüpfen und Verketten, welches die Wirklichkeit zu einer einzigen großen Vielheit macht, und umgekehrt diese Vielheit zu einer einzigen großen Spur, die sich unablässig ein-, fort- und überschreibt. So wie das Denken, das die Identitätslogik überwinde „Rhizom“ sei, so sei das „Rhizom“ zugleich Denken, Text und Diskurs – die Wirklichkeit also das permanente Schreiben ihrer selbst: „Das Viele (multiple) muß man machen.“(Deleuze/Guattri 1977: 11) „(M)acht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten!“ (Ebd.: 41)
Dieses Denken, will dezidiert hinter die platonische und aristotelische Unterscheidung von Sprache und Gegenstand, von Denken und den Objekten, auf die dieses sich richtet zurückkehren, um endlich der Vielheit gerecht zu werden, die seit der Zeit dieser Philosophen verstellt sei. Es geht ihm um die Überwindung des Platonismus als das „Vorurteil […], es gäbe eine Wirklichkeit zu erkennen“ (Lyotard 1977: 12) sowie um die Erfindung einer „nichtaristotelischen Logik“, d.h. um die Schaffung eines dezentralisierten Diskurses der produktiven Einbildungskraft, der unmittelbar Wirklichkeiten schafft. (Vgl. ebd. 20 f.)
Was Adorno in Bezug auf Heidegger ausgeführt hat (Vgl. Adorno 2008: 40 ff.), gilt auch für dessen poststrukturalistische Adepten: So wie Heidegger den Vorsokratiker Parmenides zum größten Denker der Philosophiegeschichte erklärte, so wollen auch die poststrukturalistischen Denker zurück hinter die Platonsche Ideenlehre, die das Reich des Geistes vom Reich der Natürlichen, das als Erscheinung dieses Geistes gedacht ist, trennt, und auch sie beziehen sich dabei auf ein Moment des parmenidischen Denkens und zwar auf dessen Vorstellung, dass Denken und Sein dasselbe seien – was sie dahingehend interpretieren, dass zwischen dem Denken bzw. dem Diskurs und dem Objekt, auf das dieses Denken sich richtet, nicht zu unterscheiden sei. Das Denken, dass sich als Neustes anpreist, speist sich also aus dem Wunsch nach Regression in die frühesten Sphären der Geistesgeschichte, aus dem Wunsch nach Begriffen, die ihre Aura aus der Tatsache ziehen, dass sie zugleich mehr als bloß faktisch sein sollen und doch etwas von jener Konkretion haben, die sie als anderes denn begriffliche Abstraktionen ausweisen soll. Genau in diesem Zusammenhang begründet sich auch jene eigentümliche Stellung, die Derrida seiner différance zuspricht, jene Stellung jenseits des Intelligiblen und der Sinnlichkeit gleichermaßen, jene Frontstellung gegen eine Philosophie des Begriffs und gegen eine Philosophie der Realität, die Adorno schon als charakteristisch für die Heideggersche Ontologie erkannte (Vgl. ebd.: 55), und die eine begriffliche Verdopplung des Kapitalverhältnisses darstellt.
Die Vorstellung einer nicht greifbaren wie unbegreiflichen Bewegung, die dennoch absolut überdeterminierend ist, ist als Rationalisierung des in seiner Prozession sich totalisierenden Werts zu charakterisieren, der als Realabstraktion einerseits mehr ist als Begriff, anderseits aber selbst keine dingliche Qualität besitzt und sich deswegen vergegenständlichen muss. Der Wert muss sich in den Waren materialisieren, um sich verwerten zu können; zugleich aber widerspricht jede besondere Gestalt seiner Bestimmung als allgemeiner Reichtum, der sich im allgemeinen Äquivalent ausdrückt. Das Kapital ist jenes sinnlich-übersinnliche Wesen, dem die Kraft zukommt, in jedem stofflichen Ding zu stecken, ohne selbst Stoff zu sein;[5] jenes Wesen, das den gesellschaftlichen Zusammenhang als geschichtslose, jeder subjektiven Sinnsetzung vorgeordnete zweite Natur konstituiert. Als Rationalisierung dieses Zwangszusammenhang zu einer Seinslehre erweist sich, dass weder die Existentialontologie eines Heidegger noch die Ontologie der Differenz eines Derrida altertümliches, quasi vorsokratisches Denken sind, das ja zu seiner Zeit einen Fortschritt des Geistes gegenüber dem Animismus bedeutete, sondern modernes Denken, das zugleich antimodern ist, das hinter bereits erreichte Standards des Aufklärung regredieren und dabei das Kapital als zweite Natur, als bloße Herrschaft, die keine Vermittlung mehr kennt, verewigen möchte.
Die erkenntniskritische Aussage, dass ein Begriff sich notwendig auf ein Objekt als sein Substrat bezieht, das in dieser begrifflichen Erfassung nicht aufgeht, wird von den Ideologen des Diskurses verleugnet bzw. als metaphysische Anmaßung betrachtet, mittels derer ein Dualismus von Begrifflichem und Außerbegrifflichem eröffnet werde, der die Vielheit der Herrschaft des Zentrums unterwirft. Im Anspruch, den „Zugang zur Mehrdimensionalität“ (Derrida 2004: 156) zurück zu gewinnen, der aufgrund „der Ethik, der Logik, der Politik des Abendlandes seit mehr als zweitausend Jahren“ (Lyotard 1977: 90) verstellt sei, wird auf das Prinzip der sozialen und diskursiven Konstruiertheit aller Phänomene gesetzt; auf jene tautologische und leere, weil dem Objekt jedwede Einzelexistenz absprechende Rede, in der sich die poststrukturalistische Wertschätzung für das Besondere als Wunsch nach dessen restloser Einverleibung erweist.
Im Glauben, die idealistische Vorstellung zu durchbrechen, jene Vorstellung, der das Subjekt und dessen Geist als das absolute und erzeugende Prinzip und die Natur als qualitätsloses Material gilt, das vom Geist mittels klassifikatorischer Begriffe zugerichtet wird, gehen die poststrukturalistische Sprachspielerei dieser Vorstellung auf den Leim und verdoppelt sie zu einer fugendichten Ontologie, aus der es kein Entkommen geben kann und soll. Die Vorstellung vom Begriff als dem Realität Schaffenden wird nicht kritisiert, sondern übernommen und bloß gegen den „Diskurs der Herrschenden“ gewendet: „Das Wort, das in dieser Mitte [der griechischen Politeia, aus der die Frauen ausgeschlossen sind; A.G.] gesprochen wird, erweist sich als konstituierend für die [abendländische; A.G.] Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.“ (Ebd.: 66) Weit entfernt davon, Kritik der idealistischen Vorstellung vom Geist als dem erzeugenden Prinzip zu sein, wird deren Hybris sogar noch übertroffen, wenn es das gesprochene Wort sein soll, das unmittelbar gesellschaftliche Realität schafft. Dass solch sprachmagische Vorstellung sich zwangsläufig in logische Widersprüche verwickeln muss, reflektiert sich in dem von Lyotard konstruierten Zirkel, der das Ergebnis – die „philosophisch-phallokratische“ Gesellschaft – im Ausgangspunkt – der Frauen ausschließenden Gemeinschaft der Männer – bereits voraussetzt.
… als Glaubenserfahrung
Am Idealismus wird also nicht dessen Hypostasierung des Geistes kritisiert, der seiner Vermittlung durch Natur nicht eingedenk ist und sich so zur übergreifenden Allmacht aufschwingt, die er nicht ist; am Idealismus wird vielmehr bemängelt, dass er überhaupt einen Unterschied zwischen Natur und Geist macht, dass er behauptet, dass „Materie und Vernunft verschieden sind.“ (Ebd. 67) Auch hier das altbekannte Spiel: Vermittlung – in diesem Fall die zwischen Natur und Gesellschaft – soll stillgestellt und abgeschafft bzw. durch ein direktes Bestimmungsverhältnis, das der diskursiven Konstruktion abgelöst werden. In der radikal sich gerierenden Behauptung, dass es keine außerdiskursive Natur gebe, da Natur selbst nur diskursive Konstruktion und damit der Einzelne nichts als „Effekt innerhalb eines Systems, […] der différance“ (Derrida 1999: 46) sei, erweist sich das postmoderne Bedürfnis als Denkbewegung, die die gesellschaftlich produzierte zweite Natur als absolut determinierende und unüberwindbare setzt. Natur ist diesem Denken nur noch der Inbegriff des gesellschaftlich auf sie Projizierten, ein rein gesellschaftliches Konstrukt, keine von Gesellschaft unterschiedene, in ihr nicht aufgehende, aber von Vernunft erkennbare Qualität, weil es Kategorien eigener Qualität nicht mehr geben darf, diese vielmehr in die absolute Immanenz hereingeholt werden sollen.
Jedes Thematisieren einer eigenständigen Qualität von Natur, jedes Räsonieren über das Verhältnis von Begrifflichem und Nichtbegrifflichem, ist dem poststrukturalistischen Denken Anathema bzw. Ausfluss des noch in herrschaftlichen und identitätslogischen Kategorien befangenen Denkens, das nicht erkennen will, dass jeder Versuch einer Reflexion über Natur selbst ein Moment der diskursiven Konstruierung dieser ist. Natur erweise sich so als Kategorie, deren unterstellte eigene und erkennbare Qualität rein aus Projektion erwächst, womit alle Formen der Auseinandersetzung mit Natur als prinzipiell gleichwertig gesetzt sind und qualitative Unterscheidung zwischen spezifischen Formen der Vergesellschaftung nicht mehr möglich ist. Dementsprechend wird der bloße Anspruch, die Menschheitsgeschichte von den Kategorien des Fortschritts, der Emanzipation und der Versöhnung her zu verhandeln, ein Anspruch, von dem Ideologiekritik nicht lassen kann, will sie sich nicht selbst durchstreichen, zu einem usurpatorischen Akt erklärt, der den eigenen gesellschaftlichen Diskurs über den anderer stellt und damit in die alte metaphysische Falle des abendländischen Denkens tappt, das die Minderheiten zu repräsentieren trachtet, indem es sie interpretiert und sich selbst das „Recht [setzt], den Sinn zu geben.“ (Lyotard 1977: 66)[6]
Dagegen gelte es zu erkennen, dass es keine Universalität des Denkens gibt, dass auch hier die Vielheit herrscht. „Wie kennen keine Wissenschaftlichkeit und keine Ideologie mehr. Wir kennen nur noch Verkettungen. Es gibt nur noch maschinelle Wunschverkettungen als Aussageverkettungen.“ (Deleuze/Guattari 1976: 36) Es gehe darum Signifikanz und Subjektivierung zu überwinden, da jeder bedeutungsgebende Wunsch auf unterworfene Subjekte verweise und zwangsläufig in den herrschenden Bedeutungen gefangen bleibe. Stattdessen gelte es, eine Logik zu etablieren, „wo es keine Metasprache mehr gäbe, […] weil Lüge und Wahrhaftigkeit ununterscheidbar sind.“ (Lyotard 1977: 35) Gegen das, was dem Poststrukturalismus Metaphysik heißt, gegen die herrschaftliche Setzung einer Einheit in der „différance“, stellt er das Argument von der Minderwertigkeit identitätslogischer Gesetzmäßigkeiten und die Neigung lieber ein Spiel mit ihnen zu treiben als ihnen zu folgen. Die Rede von der Vielheit beansprucht den Regeln der Logik zu entfliehen, indem sie behauptet, diese gelten für sie nicht mehr. Sie inszeniert sich als Wissen, das den Bruch vollzieht mit einer Denktradition, die auf Kritik und die Kraft des Arguments vertraut und versteht sich als Einspruch gegen den „Rückstrom eines hartnäckigen Glaubens an die Einheit, die Totalität und die Finalität eines Sinns“, als Bruch also mit einer Tradition, die „Tätigkeit und Denken im Glauben daran [hält], daß die Wahrheit das höchste aller Güter ist“. (Ebd. 11 f.) Die Pointe des Poststrukturalismus ist, dass er die Vielheit als das schlechthin andere der Logik postuliert, als dasjenige, das unidentifizierbar und ungreifbar ist, und gerade diese Unbestimmbarkeit bürgt ihm für dessen unhintergehbare Geltung.
Damit ist dieses Denken hermetisch gegen jede Kritik abgedichtet: Jede Nachfrage nach dem durch und durch tautologischen Prinzip, jeder Hinweis darauf, dass der Poststrukturalismus mittels der zur Befreiungskraft hypostasierten Differenz eine ontologische Seinslehre errichtet, wird als noch gänzlich der Identitätslogik und ihrem Glauben an die begründete Rede verhaftetes Denken abgekanzelt, das niemals an die Differenz heranreiche. (Vgl. Türcke 2005: 180 ff.) Letztere ist quasi das Zauberwort, mittels dessen man sich der Identitätslogik enthoben sieht, und das dementsprechend immer wieder wiederholt und variiert wird, ohne dass der Begriff jemals in einem Argumentationsverfahren entfaltet würde, wird doch dem Argument als Instrument der Logik vielmehr mit jener Überheblichkeit begegnet, die sich als Geringschätzung und Abneigung erweist. Und auch hier ist der Zusammenhang mit der vernunftverlassenen Theologie offen zu Tage liegend: Wie diese mit dem Auseinanderfallen von Gottes- und Vernunftbegriff, wie es sich im Universalienstreit reflektiert, die Glaubenserfahrung in den Mittelpunkt rückt, die einer rationalen Begründung nicht zugänglich ist – eben weil sie Erfahrung des Göttlichen ist, die niemand nachvollziehen kann, der sie nicht selbst gemacht hat – so konstituiert der Poststurkturalismus eine Glaubensgemeinde der besonderen Art: Nur der, über den die Erfahrung des „noch nicht Benennbaren, das sich erst ankündigt und dies nur tun kann […] in der Gestalt der Nicht-Gestalt“ (Derrida 1999: 441) wie eine rettende Engelserscheinung gekommen ist; nur wer solcherart die Herrlichkeit der „différance“ geschaut hat, nur der kann teilhaben, weil er erkannt hat. Alle anderen befinden sich noch im Reich der Metaphysik, dem minderen Reich der Identitätslogik, in dem man das mehrdimensionale Denken der Vielheit gar nicht begreifen und so in allen Kritikversuchen stets nur verfehlen kann: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“. (Goethe: Faust I)
Gesellschaft als Usurpation der Vielheit
Allein schon von Gesellschaft zu sprechen und damit mehr zu meinen als das frei Fluten der Vielheiten, das unablässige Wuchern und Gedeihen der Differenz, ist dem poststrukturalistischen Denken eine metaphysische Anmaßung, die auf herrschaftlichen Willen zur Macht verweist. Der Begriff der Einheit ist ihm ein durch und durch pejorativer, gegen die Vielheit gerichteter, der sich herstellt, wenn etwa die „Herren“ und die „Freunde der Weisheit“ qua ihres gemeinsamen herrschaftlichen Willens zur Macht der Vielheit gewaltsam eine Ordnung oktroyieren, indem sie eine Metaaussage installieren, die von sich behauptet, sie sei allen anderen Aussagen vorgeordnet, und die jeden, der sich ihr nicht fügt, des Verstoßes gegen die Rationalität bezichtigt. (Vgl. Lyotard 1977: 32) Überdeutlich wird dieses Ressentiment gegen den Allgemeinbegriff und damit gegen einen Begriff von gesellschaftlicher Totalität, wenn – was selten genug vorkommt – die Theoretiker des postmodernen Bedürfnisses auf den Faschismus zu sprechen kommen: Dieser sei eine Verhärtung gegen das „Rhizom“, mittels derer versucht wird, einem Signifikanten die Macht zu überantworten und ein Subjekt herzustellen, wo doch eigentlich nur Wuchern, Sprießen und unendliche Verkettung sei. „Gruppen und Individuen“, schreiben Deleuze und Guattari, „enthalten Mikrofaschismen, die darauf warten auszukristallisieren.“ (Deleuze/Guattari 1976: 17)[7] Doch bereits der Versuch, einen Allgemeinbegriff des Faschismus zu bilden, gilt den beiden als Ausfluss dieses Mikrofaschismus, der in uns allen steckt: „Man sucht keine gemeinsame Gattung, deren Spezies die Faschismen oder sogar die Totalitarismen wären. Man sucht auch keine besondere Spezies, die den Faschismen oder besser dem deutschen Faschismus zueigen wäre und sich von allen anderen unterscheiden würde. […] (E)s gibt gleichzeitig die verschiedensten Arten von deutschen Faschismen mit rechten und linken ‚Strömungen’, Massenlinien und Fluchtlinien, städtischen und ländlichen Spielarten. […] Fragen der Bedeutung und der Zuordnung sind immer sekundär im Verhältnis zum Begriff, der zunächst als Vielheit betrachtet werden muß […]. Wenn der Begriff wirklich eine Vielheit bezeichnet, wird er den Gesellschaften nach bestimmten Linien, den Gruppen und Familien nach anderen und den Individuen nach wieder anderen Linien zugeordnet; und alles dem er zugeordnet wird, ist selbst eine Vielheit. Andernfalls handelt es sich um einen schlechten Begriff.“ (Ebd.: 43, Fn. 4)
Mit demselben Argument, mit dem in großen Teilen der Linken die Kritik am Islam zurückgewiesen wird, mit dem Argument nämlich, dass es „den Islam“ nicht gäbe, sondern nur viele islamische Traditionen und Lesarten und letztlich wohl so viele Islame wie Muslime selbst, weswegen jeder Versuch einen allgemeinen Begriff des Islam zu bilden nur westliche Überheblichkeit und Orientalismus sei; mit demselben Argument weisen Deleuze/Guattari, einen Allgemeinbegriff des Faschismus und erst Recht einen des Nationalsozialismus zurück. Die Feststellung, dass die Formierung der Volksgemeinschaft über die Vernichtung der europäischen Juden das Spezifikum des Nationalsozialismus ist, das ihn von den Faschismen seiner Zeit qualitativ unterscheidet, gilt den französischen Meisterdenkern als identitätslogische Anmaßung, die dem „mikrofaschistischen“ Wunsch nach Subjektivität, Sinnstiftung und Macht über die Vielheit entspringt. Ihre Weltanschauung erweist sich so als Generalangriff auf die Vernunft; indem sie die Bildung von Allgemeinbegriffen als faschistisch denunziert, arbeitet sie daran, das Denken überhaupt zu perhorreszieren.
So wie es keinen allgemeinen Faschismus gebe, so gebe es auch keinen universellen Kapitalismus, da auch dieser immer im Schnittpunkt von allen möglichen Formationen existiere. So wie der Faschismus eine „Auskristallisierung“ des imperialen Charakters der Logik sei, so ist auch der Kapitalismus als Ausfluss einer Metaaussage gefasst, die sich gewaltsam inthronisiert. Der Kapitalismus verdanke sich, wie Marx herausgefunden habe, „einer Aussage oder Aussagengruppe zweiter Ordnung, die den Wahrheitswert aller Aussagen erster Ordnung, der Gleichungen, die den kapitalistischen Tausch: Waren/Geld regeln, sicherstellen.“ (Lyotard 1977: 34) Doch Marx selbst sei noch Metaphysiker, da er der kapitalistischen Metaaussage nur seine eigene entgegenstellt, welche für wahr erklärt, „daß der Wert jeder Ware in der Menge der zu ihrer Produktion notwendigen durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit besteht.“ Lyotard meint, in dieser Marxschen „Gleichung“ den „Meta-Operator aller anderen“ gefunden zu haben und glaubt darin allen Ernstes, Marx kritisiert zu haben. (Ebd.) Die Setzung eines solchen „Meta-Operators“, der die Wahrheitswerte einer Aussagenmenge festlegt, sei nämlich überhaupt der zentrale Punkt der gesamten Identitätslogik, denn nur durch ihn ist es überhaupt möglich den Anspruch auf Wahrheit aufrecht zu erhalten. Nur wenn es der Instanz einer Macht gelingt, eine Metaaussage zu installieren, die nicht zu der Klasse aller anderen Aussagen gehört, nur dann ist es ihr möglich die Wahrheit oder Falschheit der anderen, dieser Metaaussage untergeordneten Aussagen zu behaupten. Die Instanz der Macht, der dies gelingt setzte sich also widerrechtlich als Souverän, der das Recht hat, Sinn zu setzen und so Einheit herzustellen; widerrechtlich, da seine Aussage eigentlich auch nur derselben Klasse angehört wie alle anderen Aussagen auch und lediglich von der Macht der „Herren“, als autoritäre Ordnung gesetzt wurde, als Ordnung, die alles versucht, um die „Künstlichkeit dieser Konstruktion [zu] verbergen“. (Ebd.: 84)
Der Poststrukturalismus versteht gesellschaftliche Allgemeinheit immer nur als Usurpation, als unerlaubte Machtergreifung eines Diskurses, als Selbstinthronisierung der einheitsstiftenden Logik, als einen Fremdkörper an der Vielheit, der sich gewaltsam als Zentrum zu setze und so die Vielheit vereindeutige und ihres Rechts beraube. Eines der zentralen Instrumente dieser imperialen Bestrebungen sei die Psychoanalyse, die das Unbewusste als zentriertes System betrachte, das interpretiert werden kann. Auf diese diktatorische Konzeption gründe die Psychoanalyse ihre eigene diktatorische Macht, die Macht des Analytikers über den Analysierten, die die Macht der Identität über die Differenz repräsentiert. Das Ziel der Freudschen Theorie sei es, repressiv ein Allgemeines zu setzen und so die Einzelschicksale zu Abziehbildern dieser vorausgesetzten Einheit zu reduzieren, indem sie etwa die Entwicklung des Kindes, seiner Triebe und Partialobjekte als Stadien auf einer genetischen Achse und als Positionen einer Tiefenstruktur betrachtet und nicht als unmittelbare politische Optionen für Probleme, die das Kind mit der ganzen Kraft seines Begehrens erlebt. (Vgl. Deleuze/Guattari 1976: 22) Die Psychoanalyse, die die Wünsche und das Begehren des Kindes nicht in ihrer Unmittelbarkeit annimmt, wähle lediglich das aus und isoliere es, was sie gemäß ihrer vorausgesetzten Ordnung reproduzieren möchte. Sie schaffe sich den von ihr gewünschten Menschen anhand eines Bildes, das sie immer schon gemäß ihrer eigenen Prinzipien der Erfassung und Bedeutungsgebung konstruiert hat, um so die Vielheiten zu organisieren und zu strukturalisieren. Das Triebhafte der Vielheit nämlich „ist das was noch nicht aufgehoben ist, was noch nicht vom Geschwätz der philosophischen Schleiereule aufgenommen, wiederholt und widerrufen ist, was noch nicht auf die Zeitachsen der vernünftigen Erzählungen verteilt ist […], was noch nicht als Bedeutung in der Zeit konstituiert ist.“ (Lyotard 1977: 99) Die Identitätslogik der Freudschen Theorie ziele auf Verwaltung dieser unmittelbaren Urkraft der Vielheit, indem sie ihre eigenen Redundanzen injiziert, überträgt und so weiterverbreitet. Die Logik im Allgemeinen wie die Psychoanalyse im Besonderen zerbreche so unaufhörlich das „Rhizom“, indem sie es verstopft, auf das der Wunsch, nicht mehr strömen kann. Aufgrund dieser Entwurzelung, die am unmittelbaren Begehren vorgenommen wird, stirbt dieses ab und es bleibt nur das Subjekt übrig, das die Neutralisierung und Verwaltung dieses Begehrens darstellt. (Vgl. Deleuze/Guattari 1976: 23 f.)
Zivilisation und damit untrennbar verbundene Triebsublimierung sind dem regressiven Bedürfnis, das sich in solchen Aussagen reflektiert, ein Gräuel. In seinem Unmittelbarkeits- und Ursprünglichkeitswahn, kann es darin nur herrschaftliche Anmaßung sehen, die die Schwachen auch noch um ihr Begehren und damit um ihr Leben bringen will, und es ruft dazu auf, eine libidinöse Kraft zu „entdecken, die vom Ich und seinen Identifizierungen unabhängig ist, die die Rechte und Gewaltsamkeiten der Aneignung, also auch Schuldgefühle nicht kennt; sie wäre einfacher Wille zur Macht, eine unwiderstehliche Überflutung von Zonen geringerer Intensität durch die Triebe.“ (Lyotard 1977: 97) Nicht soll es diesem Denken um die Frage der Vermittlung zwischen Natur und Geist, zwischen Triebwesen und Gesellschaftswesen gehen, welche die Psychoanalyse in den Blick zu bekommen versucht. Stattdessen wird eine Form gesetzt, die die herrschaftlich vergesellschafteten Einzelnen unmittelbar in all ihren Beschädigungen affirmiert[8] und dem „unerhellte[n] Trieb“ (Horkheimer/Adorno 1997: 196) zum direkten Ausbruch verhelfen möchte. Diese Figur ist die Rationalisierung des Wunsches nach Regression, des Wunsches, endlich einmal die Fesseln der Zivilisation abwerfen und so richtig enthemmt ‚die Sau herauslassen’ zu dürfen.
Rebellion gegen die Einheit als kollektive Enthemmung
Während die Differenz einerseits als das Unbestimmbare und Unbeherrschbare gefasst ist, „über dessen Gedächtnis man noch nicht verfügt (Derrida 1992: 18), besitzt sie andrerseits die Konkretion dessen, das immer schon gewesen ist. Derrida versteht sein Denken als eines, das sich sowohl gegen das wiederholende Denken wendet, das nur Altbekanntes anhäuft, wie gegen die Idee des vollkommen Neuen, der „neuen Ordnung“, in der „das Gesepenst des Schlimmsten wiederkehrt“ (Ebd.) und Lyotard konzipiert die Vielheit als eine „Gruppe von heterogenen Räumen, als ein großes Patchwork aus lauter singulären Minoritäten“, denen „die Aufgabe zufällt immer wieder von neuem einen modus vivendi [ihres Zusammenlebens; A.G.] zu finden“ (Lyotard 1977: 37 f.) – also ebenfalls als etwas, das allzeit vorhanden, aber immer im Kommen ist und deswegen stets aufs Neue gemacht werden muss. Die Gesellschaft, die der „différance“ gerecht wird, ist also gedacht, als ein Konglomerat „von Gesetzen und Sitten (heutzutage sagt man Kulturen) ohne Zentrum“ (Ebd.: 8), deren Diskurse und Praktiken per se die gleiche Wertigkeit besitzen, und die ihr Zusammenleben durch den permanenten Dialog regeln; einen Dialog des „wehrlose[n] Sich-Aussetzen[s]“, der kein Allgemeines kennt, da dieses „dem Leib eines Singulären, eines Idioms oder einer Kultur“ gewaltsam Einheit einschreibt. (Derrida 1992: 53) Alles in allem wäre die Welt also ein fröhliches dezentriertes Treiben, wären nur nicht die „Herren“ und die Logiker, die diesem ein Ende setzen möchten, um sich selbst an die Macht zu bringen, ein Imperium zu errichten und Grenzen zu ziehen, die die Vielheit durchschneiden. Auf solche Art werden diejenigen jenseits der Grenze konstruiert: die Wilden, die Barbaren, die das Zentrum einerseits zu seiner als solche zu Selbstvergewisserung braucht,[9] die es aber andrerseits erziehen, zivilisieren, sich selbst gleichmachen möchte, woraus sein imperialer Charakter resultiert. Diese Grenze die das Imperium errichtet, sei aber nicht so sehr die Grenze zwischen einem Innen und einem Außen, als die sie sich darstellt, sondern vielmehr die „Bruchlinie zwischen einem empirisch Gegebenen […] und der transzendenten oder transzendentalen Ordnung, die sich ihm appliziert, um zu versuchen, ihm einen Sinn zu geben.“ (Lyotard 1977: 67)
Jenes empirisch Gegebene ist es dann auch das zum Widerstand bläst, zum Widerstand der Minoritäten, die sich gegen die Usurpation zur Wehr setzen und versuchen, ihre „Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, ohne all die Vermittlungen des Zentrums zu passieren“. (Ebd.: 39) Diese Minoritäten, die sich gegen die Macht auflehnen, seien ihrerseits keine Mächte, keine zentrierenden Subjekte, sondern deren glattes Gegenteil – bloß flüchtige Knoten: „Ihre Einheit entsteht weder durch ein Zentrum, noch durch ein Gesetz, sie ergibt sich aus dem einfachen Zusammenfallen der Triebe, die die Körper aufpeitschen und in eine prekäre anonyme Bruderschaft verwandeln.“ (Ebd.: 106) Worauf die Argumentation hier abzielt ist die Zusammenrottung der sich zu kurz gekommen Fühlenden zum Rudel, das zum Schlag gegen das verhasste vergleichende Prinzip ausholt; die Konstituierung eines Kollektivs „verfolgender Unschuld“ (Karl Kraus), das das Gefühl umtreibt von korrumpierten Mächten systematisch belogen und hintergangen zu werden. Die poststrukturalistische Weltanschauung Lyotards richtet sich die Welt so her, wie sie sie sieht: als Konglomerat von Minoritäten, die gemeinsam die Vielheit bilden und gegen die ihnen angetane Schmach aufbegehren, und erweist sich so als Sehnsucht nach Enthemmung und Ausnahmezustand. „Das ist der Humor des Willens zur Macht: die Ohmacht führt nur in der Zeit der Akkumulation zur Verzweiflung; in der Zeit der kairoi [der hereinbrechenden günstigen Augenblicke, wo der Überschuss die Alltäglichkeit durchdringt; A.G.] ist sie von einer unbekümmerten Heiterkeit begleitet“. (Ebd.: 103)
In der Intensität, die sich in solchen Augenblicken ankündigt, werde deutlich, dass die Trennungen, die das Imperium konstituiert, um zu kontrollieren und zu herrschen, nicht mit den politischen Grenzen zusammenfallen die es oberflächlich zieht, sondern jeden einzelnen Körper durchqueren (Vgl. ebd. 63) – dass also jeder Einzelne ein Opfer des Zentrums ist. Solcherart stellt sich die poststrukturalistische Theoriebildung als Erscheinungsform eines gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisses dar: Die dem Kapitalverhältnis Unterworfenen fühlen sich als permanente Opfer von List und Trug, von finsteren Machenschaften, Verfolgung und Diskriminierung. Dies ist der Hintergrund der inflationär werdenden Rede von Rassismus, der zum Synonym von Ungerechtigkeit schlechthin wird. Das Individuum wird sich selbst zur kleinsten existierenden Minderheit und begreift sich selbst nach dem Muster verfolgter Völker. (Vgl. dazu Nachtmann 2003: 59) Die Einzelnen begreifen sich selbst zusehends nach dem Muster schützenswerter Kulturen, die kein anderer verstehen kann und die deswegen respektiert werden müssen und prinzipiell nicht kritisiert werden dürfen. Kritik wird zusehends als Anmaßung begriffen, als illegitimer Übergriff, mittels dessen dem Einzelnen ein fremder Diskurs als allgemeiner aufgezwungen und damit quasi eine Metaaussage über ihm etabliert werden soll, was nur die Entscheidung eines „Herren“ repräsentiere, die Welt seinem eigenen Sprechort zu unterwerfen. In jener der Vielheit gemäß eingerichteten Welt, die der Poststrukturalismus herbeiführen möchte, gäbe es solche Anmaßungen jedoch nicht mehr, da die „maschinelle Verkettung oder maschinelle Gesellschaft, jeden zentralisierenden und vereinheitlichenden Automaten als ‚asozialen Eindringling’ abweist.“ (Deleuze/Guattari 1976: 28)
Dass solche Formulierungen an die Ausführungen von Islamisten erinnern, die Israel als asozialen Stachel im Fleisch der arabischen Welt bezeichnen, als Eindringling, der abzuweisen und auszusondern wäre, ist alles andere als zufällig, wissen doch auch die poststrukturalistischen Theoretiker, wer an vorderster Front steht, wenn es darum geht, die Vielheit der Welt einem einheitlichen Prinzip zu unterwerfen. „In einer Abstimmung haben die Vereinten Nationen den Zionismus als Rassismus verurteilt – zum großen Entsetzen der Abendländer, die plötzlich in der Minderheit waren. Eines Tages wird die UNO die Vorherrschaft, die man dem theoretischen Diskurs einräumte, als männlichen Sexismus verurteilen, zum großen Entsetzen von… uns allen.“ (Lyotard 1977: 69) Die Ideologen der Differenz liefern die Philosophie für die antisemitische Internationale, die sich unter dem Dach der UNO am 20. 04. 2009 in Genf ihr antirassistisches Stelldichein geben wird.
Literatur:
Adorno, Theodor W. 1997: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt/M.
Ders. 2008: Ontologie und Dialektik. Frankfurt/M.
Deleuze Gilles 1992: Differenz und Wiederholung, München
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix 1976: Rhizom, Berlin
Derrida, Jaques 1992: Das andere Kap. Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen; in: Ders.: Das andere Kap. die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. S. 9-80
Ders. 1999: Die Différance; in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien S. 31-56
Ders. 2004: Grammatologie, Frankfurt/M.
Ders. 2006: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen; in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M., S. 422-442
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. 1997: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente; in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/M.
Klauda, Georg 2003: Globalizing Homophobia. Die Schwulenverfolgung in der islamischen Welt, die sich propagandistisch gegen den Westen richtet, setzt paradoxerweise den Import seines Identitätsmodells voraus; http://gigi.x-berg.de/texte/globalizing
Ders. 2008: Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg
Krug, Uli/Kunstreich, Tjark 1998: Dekonstruktion heißt Domestizierung. Judith Butlers Staatsbürgerkunde für die queer nation, in: Bahamas, Nr. 26; S. 35-42
Lyotard, Jean-François 1977: Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, Berlin
Nachtmann, Clemens 1997: Adornos Orthodoxie. Das Fortbestehen der Revolutionstheorie nach ihrem Ende; in: Bahamas, Nr. 22; S. 44-50
Ders. 2003: Drittes Reich, Dritte Welt, Dritter Weg. Über Rassismus und Antirassismus; in: Bahamas; Nr. 43, S. 53-60
Saharso, Sawitri 2008: Gibt es einen multikulturellen Feminismus? Ansätze zwischen Universalismus und Anti-Esenzialismus; in: Sauer, Birgit/Strasser, Sabine: Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, Wien
Türcke, Christoph 2005: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München
[1] Warum es etwas gänzlich anderes als Grundlagen- bzw. Ursprungsphilosophie sein soll, die Unmöglichkeit einer Grundlage zu eben jener Grundlage zu erklären, wird wohl auf ewig das Rätsel des Poststrukturalismus bleiben; jenes Rätsel aus dem sich die Scheinradikalität dieses Weltbildes speist, die darin besteht, jenen logischen Zirkel par excellence als Königsweg zu verkaufen.
[2] Die ist auch der Grund, warum moderne Individualität als Reflexionsform der Abstraktion und Vergleichgültigung zu kritisieren ist, die das Kapital an den Einzelnen vornimmt, aber gleichzeitig gegen jeden regressiven Angriff, wie etwa die Verkündigung des ‚Todes des Subjekts’, zu verteidigen ist. Der freie Einzelne wäre Resultat selbstrefllexiv gewendeter Vernunft, die das überschießende Moment von Individualität gegen deren eigene Konstitution, zur Geltung brächte und nicht die Verwerfung der Subjektform als bloßes „Produkt einer epistomologischen Falte“, die „verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird.“ (Klauda, Georg 2003)
[3] Hierin erweist sich die poststrukturalistische Schöpfungsgeschichte als jeder klassischen Theologie hoffnungslos unterlegen: Insofern die biblische Schöpfungsgeschichte Gott als jenes Prinzip ansieht, in dem die Einheit realisiert ist, die auf Erden mit der Vertreibung aus dem Paradies – also der Menschwerdung – zerfallen ist, erhält die Religion im Wissen um die Unerlöstheit der Welt den Wunsch nach Transzendierung der schlechten Verhältnisse, also den Wunsch nach Versöhnung aufrecht – ein Gedanke der in der jüdischen Idee des Messias wohl am schlagendsten vor Augen tritt, und der im Christentum durch die Vorstellung der Erlösung durch den Tod Jesus’ ins Jenseits verlagert wurde. Diese Idee der Versöhnung wird von der poststrukturalistischen Ideologie als Onto-Theologie verhöhnt und dagegen wird eine Transzendenz gesetzt, die keine mehr sein möchte, und die schon gar kein transzendierendes Moment mehr kennen möchte und sich damit gleichzeitig als reine Immanenz erweist.
[4] Dass die Adepten des Poststrukturalismus erfolgreich die Behauptung verbreiten, die von ihnen aufgemachte Ontologie der Differenz bzw. des Anderen sei die logische Weiterentwicklung des Adornoschen Begriffs des Nichtidentischen und damit auch bei kritisch sich wähnenden Zeitgenossen offene Türen einrennen, verweist auf das allumfassend gewordene Bedürfnis, das durch solcherart Theoriebildung befriedigt wird, sowie auf die Geistverlassenheit noch von Theoretikern, die sich selbst in der Tradition der kritischen Theorie stehend betrachten. Zum Begriff des Nichtidentischen und dessen Verhältnis zur poststrukturalistischen Differenz vgl. Nachtmann, Clemens 1997
[5] Dieser Tatsache ist auch die Scheinplausibilität des poststrukturalistischen Arguments geschuldet, dass Sprache ein abstrakt-selbstreferentielles System sei, ein stoffloses Vermittlungssystem, das aus nichts als der zeitlosen Unendlichkeit der ‚Signifikantenkette’ besteht – eine Rationalisierung der permanenten Akkumulation des gegen seine stoffliche Gestalt gleichgültigen Kapitals, die sich als unendliche Kette von Tauschakten darstellt. (Vgl. Krug, Uli/Kunstreich, Tjark 1998) Lyotard etwa gesteht dies auch ganz offen ein, wenn er sagt, dass es keine „Identität gibt, die von den jeweiligen Umständen unabhängig ist, […] keine Prädikate, die wichtiger sind als andere“, und dass es immer „ebensoviele qualifizierte Subjekte [gibt] wie Situationen“, „was auf eine Zerstörung der Absoluta, der Substanzen“ hinausläuft, die sich der „Zirkularität des Kapitals“ verdankt. Die „Herren“ hätten Angst vor diesem „allgemeinen Tausch der Werte“ gegen den sie versuchen, den absoluten Wert zu instituieren. (Lyotard 1977: 80 f.) Ähnlich wie Habermas rationalisiert Lyotard also den Warentausch zu nichts als herrschaftsfreiem Diskurs, Austausch von Werten, der dem herrschaftlichen Gebaren der „Herren“ entgegenzusetzen ist.
[6] Der Schamanismus ist diesem Denken genau so eine Form der Auseinandersetzung mit der in den Riten konstruierten menschlichen Natur, wie die moderne Medizin; der Animismus genau so eine Auseinandersetzung mit der Welt, wie die Newtonsche oder die Quantenphysik – qualitative Unterscheidung zwischen ihnen sei dementsprechend nur um den Preis von Herrschaft, Abwertung und Diskriminierung zu haben. Als pars pro toto sei hier auf den Aufsatz Sawitri Saharsos verwiesen, in dem sie ausführt, dass es rassistisch sei, die Entfernung der Klitoris als Verstümmelung (Mutilation) zu bezeichnen und zu verbieten: „Das Problem eines solchen Verbots ist aber, dass viele Lebensweisen mit Praktiken der Geschlechterdiskriminierung verbunden sind. […] Eine Praktik aufgrund von Geschlechterdiskriminierung zu untersagen, würde bedeuten, dass all diese Praktiken nicht mehr länger rechtens wären. Dies würde aber unzulässigerweise persönliche Freiheiten einschränken.“ (Saharso, Sawitri 2008: 19)
[7] Diese Mikrofaschismen sind zu betrachten als der Wunsch nach „der Kontrolle des ‚Gegebenen’, die weit über die Idee der Repression hinausgeht […]. Man braucht nicht das Waffenarsenal eines Hitler, das alles kann in einem demokratischen System bewerkstelligt werden.“ (Lyotard 1977: 19) Der Nationalsozialismus wird so seiner Spezifik beraubt und über die gesamte Geschichte ausgedehnt, damit auch der poststrukturalistische Ideologe sich als dessen Opfer fühlen kann.
[8] „Liebe Deine Symptome wie Dich selbst!“ nennt Slavoj Žižek sein Buch über „Jaques Lacans Psychoanalyse und die Medien“.
[9] Hier ist der Anschlusspunkt für den Prozess des „Othering“, der in den antirassistischen Diskursen eine so zentrale Rolle spielt.
Im Brief „Es gibt nicht ,die‘ Gender-Theorie“ (F.A.Z. vom 20. März) schreibt Leserin Dr. Regina Frey, es gebe nicht eine Gender-Theorie, sondern bloß Gender Studies und daher theoretische Vielfalt. Da verharmlost sie die Hegemonie einer bestimmten Richtung aber sehr, wie jeder weiß, der an einer philosophischen Fakultät oder in einem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Fach lehrt oder studiert. Doch nicht etwa aus taktischen Gründen? Durchgesetzt hat sich in den letzten etwa zwanzig Jahren eine Kulturtheorie, nach der es keine Eigenschaften, sondern nur Zuschreibungen gibt. Alles ist kulturell. Das heißt bekanntlich „Anti-Essentialismus“ und hat sich zum Ziel gesetzt, die Kategorie Sexus zu entnaturalisieren. Der Biologismus des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts soll durch einen Soziologismus abgelöst werden. Diesen Siegeszug der Gender-Theorie in den Geisteswissenschaften und darüber hinaus sollte Dr. Frey nicht verkleinern. So hieß zum Beispiel schon 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking das Labor, in welchem es um die Identifizierung von x- und y-Chromosomen ging, „Gender Verification Lab“. Da kann man im Moment wohl nur abwarten, ob ein Sieg, der zu total ausfällt, nicht eine Niederlage ist, denn wenn es keinen Sexus mehr gibt, dann gibt es auch keinen Genus mehr – dann ist alles gleich. PROFESSOR DR. ROLF BREUER, PADERBORN
Ein Übergangsritus wird korrekt und professionalisiert
Sattsam bekannt, dass Kafka arge Schwellenbeschwerden anfielen, so sich ihm eine Ehe-Eventualität disponierte; beizeiten verengte er dann den möglichen Übergang, blieb listig und briefelang auf Verlobungsabstand bedacht und schob die jeweils angängige Heirat, sogar auch literarisch, ganz weit hinaus – notfalls aufs Land: Der Verlobte reist dann zwar artig hin zur Braut, kommt aber (typisch kafkaesk) nimmer an. Ein Musterfall der Schwellenangst.
Die Theoretiker der Übergangsriten wissen so gut wie erfahrene Menschen (diese mitunter sogar bewährter) von den Nöten und Eigenarten der Umschwünge und Hürdenläufe durchs Menschenleben. Obendrein bewältigen Soziologen, Anthropologen und Ethnologen (diesbezüglich etwa: Arnold van Gennep, Victor Turner) die Verzwicktheiten solcher „Liminalitäten“ (lat. limen, Schwelle) auch terminologisch, spekulativ und, auf ihre Weise, schriftlich. Zu den zentralen Schwellenkalamitäten gehört die Hochzeit; auch die hiesige ist ebendarum hilfreich ausgerüstet mit allerhand Brauchtum und Passagehilfen, darunter Überkommenes wie Polterabend, Brautentführung und Wadenraten (Braut und Bräutigam müssen einander an den entblößten Waden erkennen); zudem wird das Traufest liturgisch mit schlichten Plausibilitäten versorgt, wozu eingebaute Mutmacher, Vorsatzfestiger und allerlei Kniffs zählen: Eide, Ringe, Schnäpse, Mitgift und Paten. Früher vollzog man diese Hochzeitsbräuche einfach nach alter Sitte; neuerdings freilich lässt man die Hochzeitsfeier, wie lange schon die Bestattung, oder zuweilen sogar den Urlaub, professionell arrangieren. So jedenfalls liest man.
Ebendiese Neuheit, in Österreich und Deutschland, behandelt ein Buch (besser: ein Buch zur Studie) Hilde Schäfflers („Ritual als Dienstleistung. Die Praxis professioneller Hochzeitsplanung“, Dietrich Reimer Verlag Berlin 2012). Es ist das Resultat eines Forschungsprojektes im „DOC-Team am Gender-Kolleg der Universität Wien“ und verheißt Aufklärendes zur „Praxis professioneller Hochzeitsplanung“, und dies „unter Berücksichtigung gegenwärtiger Gesellschaftsentwicklungen des Neoliberalismus, der Individualisierung sowie Re-Privatisierung“. So jedenfalls setzt die Schrift den Leser in Erwartung.
Folglich verspricht der Text auch für Betriebsfremdlinge nicht nur lehrreich, sondern nebenbei auch amüsant zu werden, denn die Schrift macht sich hochauf im Spreiz zwischen Sozio-, Anthropo- und Methodologie einerseits und banalem Hochzeitsbrauchtum nach neu-österreich-wiener Art andererseits. Sogleich auch bevölkert den Text ein seltsam korrekt gekleidetes, obzwar gefiedert wirkendes Personal von „HochzeitsplanerInnen“, „StandesbeamtInnen“ und „ProfessionalistInnen“; auch „OrganistInnen“, „PyrotechnikerInnen“ und „FreundInnen“ defilieren vorbei, ja sogar noch mit „HändchenhalterInnen“ und „BrautentführerInnen“ ist die Studie bestückt, und es amtiert einmal sogar auch ein ganz sachlich quotierter „ExpertInnenstatus“. Etwas erstaunlich, ob ihres Mangels an (den irgendwie immer furchtbar phallisch wirkenden) Binnenmajuskeln, kommen vereinzelt „Diakone“, „Seelsorger“, „Verwandte“ und „Bekannte“ vor. „NachbarInnen“ sorgen sodann und abermals in Doppel- und Überzahl für tadelmeidende Vollausstattung. So jedenfalls nimmt’s allenthalben wunder.
Diese vorderhand für einen arglosen Leser (hier Genus, nicht Sexus, ,der Leser‘ also bilateral oder neutral gemeint), die für diesen Leser (mich) also schrullig oder gar „ludisch“ wirkenden „Elemente“, meinen es gleichwohl sehr ernst. Und so möchte beim Lesen der Studie ins Auge fallen, dass diese selbst und ihr Forschungsergebnis sowohl seltsam wie beiläufig auf eins hinauslaufen – auf Risiko- und Fehlervermeidung. Aus Furcht vor Kontrollverlust und Unsicherheiten, aus Angst vor familiärer Einmischung, rituellen Desastern und peinlichem Altbrauchtum, so die Thesen der Schäfflerschen Studie, gäben akut zahlreiche Paare die Trauung in professionelle Obhut. Die Außeninstanz vereinfache und entlaste den verzwickten Passageritus. Gut, aber: Die Studie selbst rangiert ja ebenso besorgt innerhalb eines heiklen, hier wissenschaftspraktischen Rituals: Es will scheinen, dass Studien, Veröffentlichungen und Dissertationen heute selbst brisante „Übergangsriten“ sind und, Übel zu meiden, sicherer als auch gedeihlicher in „Teams“ diskutiert, korrekt formuliert und beaufsichtigt werden. Mithin auch hier nun eine absichernde Außeninstanz. Das Unvorhergesehene, Riskante und den Unfall zu meiden, lässt das Paar seine Trauung arrangieren – und auch die Forschung sichert sich neuerdings ebenso institutionell (im Kolleg, im Team) ab. Schiefgehen kann’s trotzdem: Angemerkt sei, dass die Korrektschreibung die Binnenmajuskel jetzt durch einen leeren Substrich, die „Low line“, ersetzt: derzeit wäre also „Florist_innen“ satt „FloristInnen“ ziemlich.
Überdies: ein unbetreutes Hochzeitsfest gewöhnlicher Art möchte wahrscheinlich beseelender anschlagen, selbst oder gerade wenn es tumultös ausartete und ebendarum Funken, gar Fetzen flögen. Die betreute Hochzeit ist, wie die zeitgemäße Beisetzung, ein von Veränderungen stark befallenes, vermutlich sogar ein sich zersetzendes Traditionsgefüge. Bleiben uns künftig nur fade Feste noch? und kontrollierte Empfänge? Die Ergebnisse der Studie bleiben hierzu schmal und sonst auch wenig überraschend, und ihre Sprache weilt tuchtrocken. Irgendwie schlägt eben die „Tabakprävention“ durch, welche die Autorin noch nebenamtlich zu betreiben scheint, was alles nicht weiter schlimm wäre, beschenkte einen die Studie mit frisch dargereichtem Frappantem.
Zu verblüffen weiß immerhin der abermals tugendhafte Schluss: Die professionell arrangierte Hochzeit „für eine Elite“ wird in Differenz gesetzt zur „binationalen“, „sogenannten“ Scheinehe. So die Moral von der Geschicht. Was täte Luhmann dazu sagen? Und was hat das Buch mit Kafka zu schaffen? Gar nichts.
Zum Leserbrief „Ein Zeichen von philologischer Halbbildung“ (F.A.Z. vom 9. Januar): Der vom Leser Professor Dr. Reinhart Staats beklagte Gebrauch des Begriffs „Studierende“ verdankt seine Einführung dem Sprachfeminismus, der selbst gern von „geschlechtergerechter Sprache“ spricht und der sich an dem Begriff „Studenten“ stieß, weil hierin das weibliche Geschlecht nicht zum Ausdruck kommt. Wesentliche Forderung der feministischen Linguistik ist, Frauen nicht nur mitzumeinen, sondern ausdrücklich zu erwähnen. So kommt es dann zur Doppelnennung, worin sich besonders unsere Politiker gefallen. Die Doppelnennung findet ihre ideologischen Grenzen, denn von einer Warnung vor Taschendiebinnen und Taschendieben wird man wohl nichts hören.
Inkonsequent ist doch aber auch das Ausweichen auf den Begriff Studierende. Denn auch hier wird das weibliche Geschlecht nicht ausdrücklich genannt. Abgesehen davon, dass Studenten und Studierende nicht dasselbe sind, sträubt sich auch die Sprachästhetik bei den Komposita, den Wortzusammensetzungen (Fußgängerinnen-und-Fußgänger-Überweg, vom Studierendenausweis bis zum Studierendenfutter) und mehr noch bei der Koppelung zweier Funktionen (Schülervertreter). Es dürfte konsequenterweise auch keine Dozenten mehr geben, keine Wanderer, Spaziergänger, Marktforscher, Bäcker oder Mitarbeiter. Dass es hier einen Unterschied gibt, zeigt beispielsweise, dass ein Mitarbeitender kein Angestellter oder ein Backender kein Bäcker sein muss.
Alle die sprachlichen Verrenkungen beruhen auf der Gleichsetzung der biologischen Geschlechtlichkeit (Sexus) mit dem grammatischen Geschlecht (Genus): Es gibt aber nur zwei Geschlechter, in der deutschen Sprache jedoch drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum), zum anderen wird auch Ungeschlechtlichem ein grammatisches Geschlecht zugeordnet (der Löffel, die Gabel).
Es ist tröstlich, dass wenigstens unsere Zeitungen diesem Zeitgeist nicht frönen, die Doppelnennung würde nicht nur die Lesbarkeit stören, wie viel mehr Bäume müssten durch Aufblähen der Texte abgeholzt werden! Und bei Ausbreitung der Partizipialmonster hätten es die Zeitungsverkaufenden sicher nicht leichter, ihre Blätter an die Lesenden zu bringen.
Zuweilen weiß jemand nicht mehr, ob er Männlein oder Weiblein ist, zumal dann, wenn er der deutschen Sprache und ihren Redeweisen vertraut. Die Genderforschung mit ihrer Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht sorgt dagegen eher für Klarheit, so auch die feministische Linguistik, wenn sie Schreibungen wie „StudentInnen“ etabliert, die zuverlässig beide Geschlechter markieren. Schwierigkeiten bereiten per se schon die drei Genera im Deutschen. Wenn Tische oder Uhren männlich oder weiblich sein sollen statt, wie man erwarten könnte, sächlich, wird klar, dass zwischen Semantik und Grammatik kein direkter Zusammenhang besteht. Wo ein solcher vermutet wird, müssen auch regionalsprachliche Lautungen wie „das Inge“ irritieren, welche die Frau zum Neutrum verkehren.
„Das Mädchen“ ist auch in der Hochsprache normal, ebenso „das Rotkäppchen“. Das neutrale Geschlecht folgt hierbei aus der Verkleinerungsendung „-chen“, die auch den verkleinerten Mann, das Männchen, zum Neutrum macht. Wen besucht Rotkäppchen aber nun, seine oder ihre Großmutter? Dem geht Elke Donalies in einem Aufsatz nach („Wen besucht Rotkäppchen, seine oder ihre Großmutter? Korrespondenz zwischen Genus und Sexus“, in: Sprachreport Jg. 25, Heft 2, Mannheim 2009). Die Frage stelle sich, so die Autorin, weil ein Zusammenhang zwischen Sexus und Genus naheliegend erscheine – nur darum ist ja von Maskulinum (von lateinisch masculus für Männchen), Femininum (femina, die Frau) und Neutrum (von neuter, also keiner von beiden) die Rede. Dennoch ist der Zusammenhang nicht gegeben, wie auch „die Drohne“ belegt, die männliche Biene. Herkömmlicherweise wird das grammatische Geschlecht konsequent verwendet, ungeachtet des Sexus, weswegen Rotkäppchen „seine“ Oma besuchen müsste. Donalies findet indessen zahlreiche Belege, in denen das biologische Geschlecht dominiert, so dass Rotkäppchen etwa „ihren Korb“ auspackt. Donalies folgert: „Beides ist gebräuchlich“, beide Schreibungen müssten daher als korrekt gelten.
Immer mehr orientiert sich die grammatische Forschung an tatsächlichen sprachlichen Verwendungsweisen. Dass der Bezug des Pronomens nicht ohne weiteres deutlich ist, wenn es sich nach dem biologischen Geschlecht richtet, dürfte einsehbar sein. So kann Klarheit durchaus auch mit Unübersichtlichkeit erkauft werden. Und die Irritation bleibt.
Einst versammelte sich das Volk um die Schamanen und die Altäre, um sich in der Vertreibung der bösen Geister zumindest kurzzeitig als stark und geeint zu erfahren. Heute versammelt sich eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die ohne gesicherte Wahrheit auskommen muss und deren Mitglieder einander fremd geworden sind, um das Recht – das symbolische Recht.
In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen haben soll, versammelte sich die Gemeinschaft des Stammes in bestimmten, meist genau bemessenen Abständen am zentralen Platz des Dorfes, um dort die höheren Mächte um Beistand gegen die Fährnisse des Alltags wie zur Bewältigung des Kommenden anzurufen. Man huldigte einem Baal oder einem anderen Götzen des Dorfes, holte das Totem hervor, beschwor die bösen wie die guten Geister, sich der Geschicke der Gemeinschaft anzunehmen und die großen Plagen fernzuhalten. Aus solchen äußeren Zeichen und Handlungen schöpfte der Stamm neue Kraft und erfuhr sich selbst zugleich als ein Wille, gerüstet für kommende Herausforderungen.
Seit alters erfüllen so bestimmte Riten und Symbole die Aufgabe der Sinnund Gemeinschaftsstiftung, bieten Halt gegen die tägliche Erfahrung von Kontingenz, bannen die Furcht vor der eigenen Machtlosigkeit und Vergänglichkeit. Auch spätere Ordnungen mochten auf solche bildhaften Versicherungen gegen das eigene Scheitern lange nicht verzichten. Das Auge des Gesetzes, die Waage der Gerechtigkeit, das Szepter des Herrschers als Inbegriff der im Amt verkörperten Würde: Noch weit in die Neuzeit hinein wiesen solche Bilder und Zeichen über die Profanität des Alltags und seine vielen Gewöhnlichkeiten hinaus. Dass das Auge des Gesetzes nicht alles sieht, die Waage der Gerechtigkeit sich manchmal zur falschen Seite neigt, die Inhaber der Ämter sich nicht selten unwürdig verhalten, dies alles kommt nicht an gegen die Wirkung des Bildes, in dem die Möglichkeit eines Besseren jederzeit wie in einem Kelch aufbewahrt ist.
Mit dem Siegeszug einer kausalwissenschaftlich fundierten Rationalität schienen solche rituellen Handlungen für die gesellschaftliche und politische Integration zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Statt der beständigen Vergewisserung der metaphysischen Urgründe rückte nun die praktische Bewältigung des Alltags in den Mittelpunkt des Interesses, während die eigene Darstellung als Gemeinschaft und die rituelle Beschwörung eines Höheren, dem diese sich unterwarf, eher suspekt wurden. Seit einiger Zeit lässt sich allerdings beobachten, wie auch die Bewältigung der Alltagsprobleme durchsetzt wird mit Elementen, die in manchem wieder an die alten Beschwörungen erinnern. Zum bevorzugten Mittel wird ausgerechnet das Recht, das mehr und mehr nicht nur als Mittel rationaler Problemlösung, sondern als Träger höherer Bedeutungen in Anspruch genommen wird.
Entdeckt und in seinen Wirkungen erstmals beschrieben wurde dieses Phänomen Anfang der sechziger Jahre von dem norwegischen Rechtssoziologen Vilhelm Aubert, der ein in seiner Heimat erlassenes Gesetz zur Verbesserung der Lage der Haushaltsgehilfinnen auf seine Wirksamkeit hin untersucht hatte. Das Gesetz war entstanden, nachdem verschiedene Berichte über schreiende Missstände in diesem Bereich die Öffentlichkeit aufgewühlt hatten. Wie Aubert zeigte, war es jedoch von vornherein so konstruiert, dass seine Anwendung von niemandem gefürchtet werden musste; es diente lediglich dazu, die Wogen der allgemeinen Empörung zu glätten und – stellvertretend für die Gesellschaft – das Mitgefühl des Parlaments mit den Betroffenen zum Ausdruck zu bringen. Diesen Zweck erfüllte das Gesetz allerdings vollkommen; nach seinem Inkrafttreten verstummte die gesamte Debatte so schnell, wie sie aufgekommen war.
Etwa um dieselbe Zeit versuchte der Amerikaner Joseph Gusfield zu zeigen, dass der Sinn des Rechts nicht notwendig in der wirksamen Problemlösung bestehen müsse. Als Beleg diente ihm ausgerechnet die Prohibitionsgesetzgebung in den Vereinigten Staaten der zwanziger Jahre. Statt den Alkoholkonsum dauerhaft zu unterbinden, hatte sie ein neues Betätigungsfeld für das organisierte Verbrechen eröffnet. Für Gusfield selbst war die Prohibition dennoch nicht vergebens: Im Akt der Gesetzgebung hatte der demokratische Souverän in einer die Gesellschaft wesentlich berührenden Frage emphatisch Stellung bezogen und bestimmte Werte – die Werte der Pflicht, der Abstinenz, der Ordnung – stellvertretend für die Gesamtheit bekräftigt.
Spätestens seitdem weiß man, dass Recht immer auch symbolische Wirkung hat. Jeder Strafprozess dient nicht zuletzt dazu, das Vertrauen in die Geltung der Norm, das durch die voraufgegangene Tat erschüttert war, wiederherzustellen, den Normbruch als solchen zu isolieren und die verletzte Norm symbolisch auf der öffentlichen Bühne zu bekräftigen. Man kann sogar das Recht insgesamt als eine symbolische Form ansehen, die neben den sichtbaren Wirkungen immer auch etwas Unsichtbares oder Ungesagtes transportiert, eine Art Subtext, der nicht selten religiöse oder zivilreligiöse Qualitäten hat.
Mittlerweile hat sich das symbolische Recht zu einer eigenen Kategorie ausgebildet. Sein prägender Zug ist eine Diskrepanz zwischen Expressivität und Instrumentalität, also zwischen dem, was mit dem Recht nach außen hin bekundet werden soll, und seinem praktischen Nutzen: Immer behauptet das symbolische Recht mehr, als es von seinen spezifischen Wirkungen als Recht her am Ende einlösen kann. Die Übergänge sind dabei fließend; es gibt Regelungen, die überhaupt nur symbolischen Charakter haben, so wie es andererseits auch Regelungen gibt, in denen das symbolische Element eher Beiwerk ist, die äußere Zutat zu einem realen Regelungskern.
Ein gutes Beispiel für reine Symbolik bildet das, was um die Definition der „Sache“ in Paragraph 90 des Bürgerlichen Gesetzbuchs herum geschehen ist. Die Definition lautet heute wie vor hundert Jahren: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.“ Dass darunter auch Tiere fielen, so dass man an diesen wie an toter Materie Eigentum erwerben, sie verkaufen oder verpfänden konnte, wurde allerdings von Nichtjuristen zunehmend als zynisch empfunden. Um ihren Protesten Rechnung zu tragen, wurde dem Gesetz daher vor einiger Zeit ein neuer Paragraph 90a eingefügt. Dieser legt nunmehr in Satz 1 ausdrücklich fest, dass Tiere keine Sachen sind. Auf sie werden allerdings, so sagt es Satz 2, in aller Regel die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend angewendet. Bei oberflächlicher Betrachtung ist die Neuregelung damit ganz offenbar überflüssig: Rechtlich gilt nichts anderes als vorher auch. Verstehen kann sie nur, wer ihre Entstehungsgeschichte kennt. Aus dieser geht hervor, dass es dem Gesetzgeber in erster Linie darum ging, die Tierschützer zu beruhigen und ihnen zu signalisieren, dass man ihrem Anliegen aufgeschlossen gegenübersteht.
Vergleichbares lässt sich dem kürzlich neu geschaffenen Paragraphen 105a BGB bescheinigen, nach dem nun auch Geschäftsunfähige Geschäfte des täglichen Lebens rechtswirksam abschließen können, wenn diese mit geringwertigen Mitteln bewirkt werden und Leistung und Gegenleistung sofort erfolgen. Auch hier geht es damit in erster Linie darum, Empathie zu bekunden, für ein soziales Anliegen, für die Benachteiligten und Entrechteten, für das unendliche Projekt einer besseren und humaneren Welt. Der Gesetzgeber zeigt sich darin nicht nur als eigenschaftslose Abstraktion, sondern als einer von uns, als Mitmensch mit eigenen Gefühlen, einem Herzen für die vom Schicksal Geschlagenen.
Regelungen dieser Art sind vergleichsweise harmlos; mag ihnen auch kein messbarer Erfolg beschieden sein, so richten sie andererseits auch nicht viel Unheil an. Man sollte daher meinen, dass es sich eher um eine Randerscheinung handelt, die die Realität des heutigen Rechtslebens nicht wesentlich bestimmt. Das Gegenteil ist der Fall. Hat man die symbolische Geste im Recht als eigenständige Kategorie erst einmal entdeckt und den neueren Rechtsstoff darauf mit dem geschulten Blick durchforstet, ist man beinahe überrascht, wie oft man fündig wird. Nicht immer ist es ein ganzes Gesetz, das symbolische Geste ist. Aber fast jedes Gesetz enthält heute – oft schon im Titel – eine solche Geste, die Prätention eines besseren und höheren Zieles, dem es zu dienen bestimmt ist.
Beispielhaft dafür stehen die inflationär zunehmenden Bekämpfungsgesetze: die Gesetze zur „Bekämpfung“ der organisierten Kriminalität, des Terrorismus, der Schwarzarbeit, der Steuerunehrlichkeit, die allesamt schon durch ihre Benennung eine Entschlossenheit und ein Aufräumen suggerieren, die sie von ihren tatsächlichen Wirkungen her oft gar nicht einzulösen imstande sind. Und bei jedem Gesetz, das etwas auf sich hält, erklärt der Gesetzgeber heute in einem ersten Paragraphen „Zweck des Gesetzes“, wozu sein Werk eigentlich gut sein soll. Juristisch ist das weitgehend folgenlos; wahrscheinlich muss kein einziges praktisches Problem anders entschieden werden, als es ohne einen solchen Vorspruch der Fall wäre. Aber der Gesetzgeber demonstriert seine lauteren Absichten: Mag das Gesetz selbst auch nicht viel helfen, so war es doch wenigstens gut gemeint.
Ähnlichen Proklamationscharakter hat die geschlechtsneutrale oder besser geschlechtergerechte Formulierung, auf die beim Erlass neuerer Gesetze, Verordnungen oder Satzungen vermehrt zu achten ist. Statt „jeder“ soll es deshalb fortan „jede Person“ heißen, statt „Studenten“ nun „Studierende“, statt „der Kandidat“ jetzt „der Kandidat/die Kandidatin“. In der Sache selbst ist damit für die Gleichberechtigung noch nicht viel gewonnen, so wie das Projekt überhaupt auf einer unzutreffenden Gleichsetzung von grammatikalischem und biologischem Geschlecht, von Genus und Sexus, beruht. Beide müssen sich aber nicht notwendig decken. Im Nichtraucherabteil durften deshalb seit jeher auch Frauen nicht rauchen, und der Bürgersteig war immer auch schon für die Bürgerinnen da. Es geht im Grunde nur um eine sprachliche Konvention, die nun öffentlichkeitswirksam aufgekündigt wird, und der praktische Effekt ist gleich null. Die geschlechtergerechte Formulierung einer Promotionsordnung bewirkt ja zunächst nur, dass diese selbst schwerer lesbar wird, leistet aber nicht das Mindeste dafür, dass am Ende genauso viele Frauen wie Männer promovieren. Allenfalls das alte, noch unveränderte Recht klingt plötzlich seltsam verloren, wenn es in einem Umfeld geschlechtlicher Neutralität weiter am grammatikalischen Maskulinum festhält. Der „Mörder“ im Strafgesetzbuch etwa ist wie eh und je noch männlich, vielleicht ja auch das eine symbolische Aussage.
Über die Bewertung des Phänomens gehen die Ansichten auseinander. Sieht man den prägenden Charakterzug des Rechts in seiner Durchsetzbarkeit, ist das rein symbolische Recht möglicherweise auch gar kein echtes Recht, sondern bloß ein Recht minderer Güte, ein Scheinrecht, ähnlich wie der Scheinriese aus dem Kinderbuch, der nur von ferne bedrohlich und groß aussieht, aber immer kleiner und harmloser wird, je näher man ihm kommt. Oft geht es dann auch nur darum, in der Fülle der Aufgaben, die dem Staat mittlerweile übertragen sind, das Unvermögen zu wirklicher Steuerung zu kaschieren. Allerdings kann man immer häufiger beobachten, dass die symbolische Geste im Recht sich nicht mehr selbst genügt und vermehrt dazu drängt, handfest zu werden. Sichtbar geworden ist dies in der Vergangenheit vor allem im Recht der inneren Sicherheit, das sich zusammen mit dem Umweltrecht als besonders anfällig für symbolische Gesetzgebung erwiesen hat. Vieles, was hier in den letzten Jahren zum Schutz vor der organisierten Kriminalität, dem Terrorismus, den Kinderschändern auf den Weg gebracht worden ist, hat in Bezug auf das Übel, das es vorgeblich kurieren soll, von vornherein nur palliativen oder sedierenden Charakter; es dient bestenfalls einer Verunsicherung möglicher Täter einerseits und der Beruhigung der restlichen Bevölkerung andererseits, der immerhin signalisiert wird, dass der Staat sie mit ihren Ängsten nicht alleinlässt.
Andererseits ist es eben auch nicht völlig folgenlos; es gibt, wie die kürzlich vom Bundesverfassungsgericht kassierte Rasterfahndung gezeigt hat, immer auch Betroffene, die von der Maßnahme erfasst werden, in ein Raster oder das Visier einer Ermittlung geraten, während die an sich Gemeinten weitgehend unbehelligt bleiben. Wahrscheinlich wird man Ähnliches bald von dem Verbot gewaltverherrlichender Computerspiele sagen können. Ob ein solches Verbot je durchzusetzen sein wird oder ob damit nur die jetzt schon enorme Menge der Vollzugsdefizite wächst, steht ebenso dahin wie die Frage, ob man damit die Ursache des Übels wirklich trifft. Aber Taten wie die von Erfurt oder Emsdetten, die Erkenntnis, dass das Unheil mitten unter uns ist und jederzeit hervorbrechen kann, erzeugen Verstörung, Unsicherheit, Angst, sie rühren an die Tiefenschichten des kollektiven Gemüts, und obwohl im tiefsten Innern jeder weiß oder doch ahnt, dass mit gesetzgeberischen Schnellschüssen gegen sie nicht viel auszurichten ist, verlangen sie doch nach einer Reaktion. Es kehrt dann erst einmal Ruhe ein, bis der nächste Amoklauf erneut verstört und nach weiteren Reaktionen ruft, um deren spätere Durchsetzung sich ebenfalls niemand ernsthaft kümmert. Das Problem liegt so gesehen nur darin, dass es am Ende doch den einen oder anderen Dummen treffen wird, der sich bei der Nutzung solcher Spiele erwischen lässt und dann völlig zu Recht die Frage stellt, warum gerade in seinem Fall zum Anlass für ein Durchgreifen wird, was in so vielen anderen Fällen sanktionslos bleibt.
Überhaupt ist man von der Warte traditioneller Rechtsbetrachtung aus geneigt, das symbolische Recht in erster Linie als Verfallserscheinung wahrzunehmen. Sieht man die innere Bestimmung des Rechts in der praktischen Bewältigung der tatsächlichen Probleme einer Gesellschaft, so wirkt es geradezu wie die Karikatur eines solchen Rechts, die nachträgliche Verhöhnung des bekannten Satzes von Montesquieu, der gegen die Gesetzgebungsflut unserer Tage oft bemüht wird: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.
Vor allem aber scheint das symbolische Recht eine Beziehung aufzukündigen, die für das moderne, von Menschen gesetzte Recht prägend und für dessen Siegeszug ausschlaggebend war. Dies war die Beziehung zwischen Gesetz und Vernunft, so wie sie schon in Ciceros berühmter Formel vom Gesetz als „ratio scripta“, als geschriebener Vernunft, angelegt war. In ihrer ursprünglichen Verwendung sollte sie noch auf das Wirken eines ewigen, gleichsam göttlichen Naturrechts verweisen, von dem das menschliche Gesetz bloß der Abglanz und Widerschein war. Spätestens mit der neuzeitlichen Entkoppelung von weltlicher und geistlicher Ordnung wird die Formel aber zum Motor einer Entwicklung, in deren Verlauf das Recht selber aller metaphysischen Bezüge entkleidet und schließlich zum Inbegriff einer Rationalität wird, die alles Jenseitige abgestreift hat.
Demgegenüber zieht mit dem symbolischen Recht in den Prozess der Rechtserzeugung wieder ein irrationales Moment ein. Statt um sachliche Angemessenheit geht es nun auch um Selbsttröstung und Selbstberuhigung, um Solidaritäts- und Verständnisadressen, um Zeichenhaftigkeit und Wertbekundung, um Prädikate also, die in der klassischen Theorie der Gesetzgebung gar nicht vorgesehen sind. Auch von den Grundannahmen der liberalen Demokratietheorie bleibt auf diese Weise wenig übrig: Dass sich in der öffentlichen Diskussion, im Wettstreit der Meinungen, in Rede und Gegenrede am Ende das Richtige vom Falschen, das Notwendige vom Überflüssigen sondere – all dies trifft auf die symbolische Gesetzgebung ja nur sehr bedingt zu. Stattdessen könnte es gerade dies unmittelbar Demokratische sein, das in den Rationalitätsanspruch des Rechts einbricht: in der Art und Weise, wie die Aufgeregtheiten der öffentlichen Meinung, die ganzen medial verstärkten Stimmungen aufgesogen und sie dem Handauflegen des Schamanen gleich in die politische Tat umgesetzt werden.
Was in der zunehmenden Tendenz zu symbolischer Gesetzgebung so gesehen zum Ausdruck käme, wäre ein neuartiger Versuch demokratischer Gesellschaften, mit dem eigenen Ungenügen umzugehen, es als Herausforderung anzunehmen und sich gleichzeitig nicht ganz einzugestehen. Damit einher geht auf der anderen Seite ein nicht weniger neues Bedürfnis nach Expressivität und Wertbekundung, nach einzelnen verbindlichen Orientierungs- und Haltepunkten in einem Ozean der Unverbindlichkeit. Man sehnt sich offenbar wieder wie früher nach der Vereinigung in bestimmten sinn- und einheitsstiftenden Ritualen, nur dass es jetzt oft die fragilen, von heute auf morgen schon wieder änderbaren Anschauungen einer zufälligen Mehrheit sind, die an die Stelle einer abgelegten Gemeinschaftlichkeit getreten sind und sich nun selber feiern.
Das eigentlich Beunruhigende läge dann viel eher darin, dass in diesem Spiel mit der symbolischen Geste leicht das Gespür für das rechte Maß verlorengehen kann. Je stärker die Entscheidungen der maßgeblichen Stellen mit solchen Gesten aufgeladen werden, desto eher erscheinen sie nicht mehr nur als fallibler Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen, sondern immer zugleich auch als Ausdruck eines Wahren, Guten und Richtigen, das darin als ihr eigentlicher Kern unaufhebbar beschlossen liegt.
Ein Recht, in dem die rhetorische Bekräftigung der eigenen Gewissheiten als ständige Begleitung mitläuft, ist deshalb beständig in Gefahr, zu überdrehen und in seinem Furor über das Ziel hinauszuschießen. Studieren lässt sich das derzeit schon im Strafrecht, das unter der Welle der Bekämpfungsgesetze und Antiterrorpakete von manchen bereits in Richtung auf ein neues Freund-Feind-Recht weiter- und fortgesponnen wird, mit dem Schädling im Visier, der sich selbst durch sein Handeln außerhalb der Gemeinschaft stellt. Aber auch unterhalb dieser Schwelle ist am Beispiel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes oder der staatlichen Mobilmachung gegen das Rauchen zu beobachten, wie selbst die ehrenwertesten Pläne durch moralische Überfrachtung leicht einen unangenehm rechthaberischen, volkserzieherischen Zug bekommen, aus dem heraus sie dann gar keine Grenzen mehr kennen. Aber das Grundmuster ist seit der Prohibition gleich und kann dann problemlos auf immer neue Gruppen wie jetzt etwa die Raucher angewandt werden, mit denen man sonst gar nicht viel Mitleid haben muss: Wo es um Wertbekräftigung geht, befinden sich der Staat und sein Recht immer latent auf dem Kreuzzug, und wehe dem, der erst einmal als möglicher Gegner entdeckt ist. Das symbolische Recht wird dann schnell zum militanten Recht, zum Recht der moralisch Untadeligen, der Blaukreuzler oder der Bigotten, das häufig nur durch seine eigene Ineffektivität in Schach gehalten wird, und diese Ineffektivität wäre so gesehen wohl noch das Beste, was man ihm nachsagen kann.
Selbst wo dieser Gefahr entgangen wird, erhält das Recht im Zuge dieser Entwicklung nun selber etwas von einem Glaubensbekenntnis, wenn nicht einer kultischen Handlung. Es war deshalb offenbar verfrüht, wenn man von dem modernen Staat gesagt hat, er sei solcher Handlungen wie überhaupt einer geistigen Selbstdarstellung als Staat nicht mehr fähig. Das Bedürfnis nach einer solchen Selbstdarstellung ist nach wie vor da, es sucht sich nur andere Formen als die früheren Versammlungen und Feste, wechselt vom Sakralen ins Profane, vom Feiertag in den Alltag über. Eine Gesellschaft, die wie die heutige ohne gesicherte Wahrheit auskommen muss und deren Mitglieder einander fremd geworden sind, muss sich nun selber ihrer schmalen, noch vorhandenen Wertgrundlagen wie ihrer Problemlösungsfähigkeit im täglichen Handeln beständig vergewissern, als fürchtete sie, beides könne ihr sonst entgleiten. Möglicherweise liegt darin nur eine sublimierte Form des früheren Wunderglaubens, des Vertrauens auf die heilsame Kraft der Zeichen und Beschwörungen, und man brauchte dies alles nicht, wenn wir uns noch wie einst um die Schamanen und die Altäre versammeln könnten, wo man sich in der Vertreibung der bösen Geister zumindest kurzzeitig als stark und geeint erfuhr. Aber dieser Weg ist auf Dauer versperrt.
* Der Verfasser lehrt Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Universität Mainz.
Nichts gegen „Doctrix“ (F.A.Z. vom 9. März), auch nichts gegen „Dx. rer. nat.“ – nur sind wir damit noch weit entfernt von dem „geschlechtsgerechten“ Deutsch, das uns die Frauenbeauftragte der Technischen Universität Berlin und andere Spracherneuerinnen verheißen. Die bange Frage bleibt: Wie kriegen wir grammatisches und natürliches Geschlecht (genus und sexus) über einen Leisten?
Was machen wir zum Beispiel mit dem geschlechtslosen Neutrum, wenn doch das natürliche Geschlecht „real vorkommt“: das Weib, das Mannsbild, das Mannequin? Und was mit dem offensichtlich „falschen“ Geschlecht: der Backfisch, die Drohne? Wie tilgen wir die vielen „sexistischen“ Ungerechtigkeiten, bei denen „Mann“ grammatisch alles vereinnahmt, während ihm doch nur die Hälfte zusteht: der Embryo, der Feigling, der Mensch? Dürfen wir dulden, daß sich umgekehrt das grammatische Femininum breitmacht: die Person, die Fachkraft, die Leiche? Ist dann der Kadaver eine männliche Leiche? Schmerzt bei Männern der Brust und bei Frauen die Busen? (Oder der Prostata und die Uterus?) Muß auch im Plural Apartheid herrschen: Gäste und Gästinnen? Hat München eine Million Einwohner und Einwohnerinnen – oder eine halbe Million Einwohner plus eine halbe Million Einwohnerinnen – oder eine Million Einwohner/innen?
Ja, der/die Gerechte muß viel leiden. Was halten wir beispielsweise von bürger/ innen/nahem Politiker/innen/gehabe? Oder von der amtlich erwünschten „Ergreifung des unbekannten Täters“: des/der Täters/in oder Täter(s)/in – oder noch anders? Und machen wir uns die Trennschärfe des Saarländischen Krankenhausgesetzes von 1987 zu eigen? „Der/Die sterbende Patient/Patientin hat . . . Anspruch auf eine seiner/ihrer Würde entsprechende Behandlung . . . Hierzu gehört auch, ihm/ihr auf seinen/ihren Wunsch hin das Sterben zu Hause zu ermöglichen.“
Ist schließlich, nach Abschaffung des bisherigen geschlechtsungerechten Prinzips, der/die poeta laureatus ein androgynes Sprachgenie, ein/e dichtende/r Zwitter/ in? Benutzen wir die Anrede „collega“ nur noch für die Frau Doctrix – und der Herr Doktor geht leer aus? Oder sollten wir vielleicht doch mal in einer deutschen Grammatik nachlesen? Womöglich steht da was über genus und sexus. Wer immer strebend sich bemüht, den/die können wir erlösen.
Eine der gängigsten Floskeln bei jung und mittelalt lautet: „Keine Ahnung!“ Und dann legt man trotzdem irgendwie los. Egal was man sagt. „Keine Ahnung“ ob’s stimmt oder nicht. Nur Politiker sagen nie: „Keine Ahnung.“ Das dürfen sie wahrscheinlich nicht. Muss wohl irgendwo in den Dienstverträgen stehen. Dabei gibt es ein großes Thema, bei dem „keine Ahnung“ die einzig korrekte Antwort wäre: den nicht enden wollende Flüchtlingsstrom.
Der Strom der Zuwanderer zeigt gnadenlos die Grenzen der Politik auf. Die „Gestalter“ in Parlamenten und Regierungen stehen hilflos da wie fremde Reisende vor den U-Bahn-Karten-Automaten deutscher Großstädte.
Ich jedenfalls kenne keinen, der eine überzeugende Antwort auf die moderne Völkerwanderung hat. Ausnahmen sind die Neonazis. Doof bumst nicht nur gut, doof schreit, schlägt und zündelt auch gut. Aber Leute mit einem Funken Gehirn kratzen sich ratlos an dem Körperteil, in dem sich die grauen Zellen befinden. Wo soll man überhaupt ansetzen?
Der Ärger beginnt ja damit, dass die Länder, aus denen die Millionen fliehen, von brutalen Fanatikern und korrupten „Staaten“-Lenkern zur Hölle auf Erden gemacht worden sind. Wer da nicht das Weite sucht, ist entweder zu arm, zu blöd oder zu stolz um zu gehen! Wäre ich dort, ich würde sagen: Nichts wie weg. Der pfiffige Rat vieler westlicher Politiker, man müsse in der Heimat der Fliehenden für Ordnung sorgen, ist allerdings so billig wie ein indisches Kinderarbeits-T-Shirt. Wann und wie bitte soll das geschehen? Wer soll es tun? Ähnlich realistisch war das Versprechen der Altkommunisten, dass alles gut wird, wenn erst einmal das Arbeiter- und Bauernparadies verwirklicht ist.
Das andere Problem ist, dass es sich in West- und Mitteleuropa so unverschämt gut leben lässt. Wir selber haben es vergessen. Nicht aber die, die draußen vor der Tür stehen. Wohin geht man, wenn man aus der Hölle kommt? Dorthin wo es vergleichsweise paradiesisch ist. Der Flüchtlingsstrom, diese Abstimmung mit den Füßen, ist ein großes Kompliment an Europa und eine schonungslose Verurteilung der Verhältnisse im Nahen Osten und Teilen Ostafrikas und ihrer Verursacher. Was denen allerdings wurscht zu sein scheint.
Es gibt aber auch Flüchtlinge, die nicht aus der Hölle kommen, sondern aus Gegenden, die halt nur ein bisschen unbequem sind. Die könnte man schnell wieder nach Hause schicken, wenn man keine politische Angst vor den Übergütigen hätte, die jede, aber auch jede arme Seele aufnehmen wollen.
Aber der Migrationsdruck wird so sehr wachsen, dass diese politische Angst nach und nach in den Hintergrund tritt. Wer aus dem Osten Europas als Asylsuchender kommt, wird wohl nicht mehr lange auf die Langsamkeit der Mühlen unserer Bürokratie hoffen können. Aber noch traut man sich nicht. Es ist wie mit den langen Hamburger Nächten. Sie fangen gaaanz langsam an, aber dann, aber dann … . Immerhin ein Hoffnungsschimmer.
Die Flüchtlinge aus Syrien und Co aber sind nun mal echte Flüchtlinge und gehören hereingelassen, was ja auch geschieht. Dass sich die einzelnen europäischen Länder wie die Kesselflicker darüber streiten, wer wie viele beziehungsweise wie wenige aufnimmt beziehungsweise nicht aufnimmt, ist ein klassisches Stück EU: Wenn es darauf ankommt, ist sich jeder selbst der nächste. Die Folge wird sein, dass die unkontrollierte Reisefreiheit an den Grenzen, eine der schönsten Errungenschaften der Europäischen Union, einen stillen Tod sterben wird. Die alten Warteschlangen werden wieder auferstehen. Die Flüchtlinge bauen so sich selbst und auch für uns neue Mauern.
Und dann sind da die Schlepperbanden, die die Leute zu hunderten verrecken lassen, weil es sich bezahlt macht. Es macht sich bezahlt, weil Europas Polizeien kaum in der Lage sind, ihnen das Handwerk zu legen. So ist es ja auch mit den Einbrecherbanden aus Osteuropa, die als Wanderräuber mal schnell vorbeischauen, klauen und wieder abdampfen. Es wäre eine schöne polizeiliche Aufgabe, diesen rasenden Verbrechern, ob Schlepper oder Panzerknacker, das lukrative Leben wirklich schwer zu machen. Vorerst fehlt da wohl noch der grenzüberschreitende politische Wille. Und damit das Personal. In England gab es zeitweise die Situation, dass die Polizei wechselweise nur noch auf Einbruchsmeldungen bei geraden oder ungeraden Hausnummern reagierte. Aus Personalmangel wurde die Polizeiarbeit zur Lotterie.
Und dann ist da noch die vertrackte Sache, die alles auf den Kopf stellt. Oder vom Kopf auf die Füße. Und das ist die Tatsache, dass wir vor allem in Deutschland ja dringend Einwanderer brauchen, damit wir auch in der nächsten Generation unsere Wirtschaft und unsere Sozialsysteme am Laufen halten.
Wir brauchen sie, aber wir wollen sie nicht. Oder die, die wir brauchen, kommen nicht, weil wir sie nicht willkommen heißen. Also kommen nur die, die wir nicht brauchen. Oder die, die wir nicht wollen, brauchen wir eigentlich doch, aber wir können nicht über unseren Schatten springen und sie doch wollen, weil wir sie brauchen, auch wenn wir sie eigentlich lieber doch nicht wollen. Also lassen wir sie zwar rein, lassen sie aber nicht das tun, was wir dringend von ihnen bräuchten. Alles klar?
Wenn ja, warum ist das so? Weil wir „kein Einwanderungsland“ sind, obwohl die Leute zu hunderttausenden in unser Nichteinwanderungsland kommen. Auch da stoßen sich die Dinge hart im Raum. Denn eines von beiden muss eine Fata Morgana sein: „Kein Einwanderungsland“ oder die Einwanderer. Aber was von beiden ist die Fata Morgana? Tja, was wohl. Will man es wirklich wissen? Nein, lieber nicht. Die Antwort könnte peinlich sein.
Wo man also hinschaut, nichts als Probleme, Vertracktheiten, Ungereimtheiten, Ärgernisse. Was macht man, wenn alles ein bisschen zu viel wird? Na klar: Augen zu und durch. Durch was? „Keine Ahnung.“ Wenn es doch einer sagen würde.
Ach, früher … ich weiß nicht, wie lange es schon her ist, doch ich erinnere mich, als wäre es vorgestern gewesen: Ich kam übermüdet mit der Bahn in der Statione di Venezia Santa Lucia an. Da sah ich es. Nicht weit davon auf der anderen Seite des Canal Grande liegt das große Parkhaus für die, die mit dem Auto gekommen sind. Da war es. Da hing ein riesiger Werbebanner mit der Aufschrift: „CinZano“. Für mich war es ein gutes Omen, ein heiterer Willkommensgruß, das Zeichen eines gütigen Gottes, der Beweis, dass ein besseres Leben möglich ist, ein Schimmer vom Goldstaub des Paradieses.
Na, gut – ich übertreibe. Aber das tun viele, die von Venedig schwärmen. Was war da los? Ich glaube, dass das, was mich so stark beeindruckt hat, das herausragende Z mitten in dem Zauberwort CinZano war. Ich entdeckte dieses steile Z in dem verheißungsvollen Wort „CinZano“ auch hier und da auf dreieckigen Aschenbechern in den Bars von Venedig. Toll. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Doch. Hatte ich. Ich kannte so etwas. Ich kannte den herausragenden Großbuchstaben, den es eigentlich nur am Anfang eines Wortes geben darf – und nur bei Hauptwörtern oder nach einem Punkt – auch aus Deutschland. Ich kannte das von der Abkürzung „GmbH“.
Zumindest in meiner Erinnerung waren „GmbH“ und „CinZano“ lange Zeit die einzigen Beispiele für einen herausragenden Grußbuchstaben mitten im Wort. Zwei sehr unterschiedliche Beispiele, wie ich sagen muss. Der Unterschied könnte kaum größer sein: Das eine steht für eine lockere Lebensart, das andere für bürokratische Rechthaberei, das eine steht für einen italienischen Wermut, das andere für deutsche Wehmut.
Ich erinnere mich, dass damals in Deutschland eine generelle Kleinschreibung zur Diskussion stand. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft GEW propagierte das für den Unterricht, um die Sprache zu vereinfachen, die Fehlerquote bei Diktaten zu senken und so den Notendurchschnitt für schlechte Schüler zu verbessern. Die Gewerkschaft ging selber mit gutem Beispiel voran: in ihren mitteilungsblättern wurde die kleinschreibung vorgemacht, da konnte jeder mit eigenen augen sehen, ob es wirklich eine erleichterung mit sich brachte.
Aber dann. Dann kamen sie, die Großbuchstaben
Man fand die Kleinschreibung auch in zeitgenössischer Lyrik und bei der Bahn, die damals die Parole ausgab: „fahr lieber mit der bundesbahn“ (alles klein geschrieben, das „fahr“ am Anfang des Satzes und die „bundesbahn“ am Ende). Aber dann. Dann kamen sie, die Großbuchstaben. Sie kamen an Stellen, wo sie nicht hingehörten. Ich glaube „interRent“ war der Wegbereiter dieser Mode. Das Wort fiel auf: Obwohl es ein Hauptwort war, fing es lässig mit einem kleinen Buchstaben an, überraschte dann aber mit einem großen R in der Mitte. So kam der Großbuchstabe auf die Räder – oder unter die Räder. Noch lange vor der „BahnCard“.
Die Mode breitete sich fix aus. Verschiedene Kleinkunstbühnen boten nun ein neues „ProGramm“, das nicht etwa eine Alternative zur Diät sein sollte (nach dem Motto: Sie können getrost ein paar Gramm zunehmen), das Programmangebot sollte damit allein von der graphischen Anmutung her irgendwie interessanter wirken – und an der falschen Stelle zum Nachdenken anzuregen. Das Binnen-I kam wenig später. Zunächst galt die Doppelnennung: „Leserinnen und Leser“. Die Doppelnennung machte den Eindruck, als ginge es lediglich um eine Ausweitung der Höflichkeitsform „Damen und Herren“. Viele verstehen das immer noch so. Sie haben nicht erkannt, dass die feministische Forderung nicht etwa darauf abzielte, männliche Höflichkeit, die es sowieso schon gibt, einzufordern und zu strapazieren, sondern etwas Neues einzuführen. Besonders neu wirkte es nicht. Jedenfalls nicht in den Anfängen.
Die Formulierung „Wählerinnen und Wähler“ gab es schon auf historischen Wahlplakaten. So alt sind die Plakate wiederum nicht. Vor 1918 wird es die nicht gegeben haben. Doch die „Leserinnen und Leser“ sind alt. Die Formulierung wurde aber nicht durchgehend verwendet. Sie findet sich in frühen Publikationen, die man unabhängig von der aktuellen Währung als „Groschenromane“ bezeichnet. Es gibt sie also nicht in der Hochkultur, sondern da, wo speziell eine weibliche Leserschaft angesprochen werden soll; eine Leserschaft, der man, so gut es ging, Honig um den Bart schmieren wollte. Offenbar war das erfolgreich. Auch wenn die Leserrinnen keinen Bart haben.
Die „Leserinnen und Leser“ und die „Wählerinnen und Wähler“ wurden aber nur einmal aufgerufen. Nur am Anfang. Das reichte. Wenn man eine Doppelnennung konsequent durchführen will, wird es anstrengend. Dann verliert die Sprache Geschmeidigkeit und Eleganz. So dachte man noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Deshalb wurde die Doppelnennung nicht durchgängig angewendet und nach Möglichkeit abgekürzt, indem man Klammern verwendete wie in „Leser(innen)“. Klammern waren aber nicht sehr bliebt, weil Frauen nicht nur in Klammern erwähnt werden wollten, als wären sie nicht so wichtig. Es gab ersatzweise die Version mit einem Schrägstrich: „Leser/innen“. Doch die Version war ebenfalls unbeliebt, weil Frauen, wie sie selber sagten „nicht auf den Schrägstrich geschickt werden“ wollten.
Da wirkte das Binnen-I – wie in „LeserInnen“ – als idealer Kompromiss, auch wenn es Klagen gab, dass dieses I irgendwie „phallisch“ in die Höhe ragt (wenn Sigmund Freud das erleben könnte, er würde noch im Grab eine Erektion kriegen). Dennoch verbreitete sich das Binnen–I wie eine Seuche. Es wurde zum Fähnlein der aufrechten Frauenfreunde.
Es schien alle Vorteile auf sich zu vereinen: Es war praktisch, leicht anzuwenden, gut zu verstehen und es tat so, als wären damit keinerlei Risiken und Nebenwirkungen verbunden, nach denen man sich bei einem Arzt oder bei einem Apotheker erkundigen müsste. Damit kamen gleich die nächsten Probleme: Müsste es nicht „Ärztin und Arzt“ und „Apothekerin und Apotheker“ heißen? Viele dachten noch, dass es nur eine Höflichkeitsformel ist, die man zur Begrüßung aufsagt. Damit hätte man dann seine Pflicht und Schuldigkeit getan und könnte weiterreden wie bisher. Pustekuchen. Mehr und mehr wurde deutlich, dass es kein Halten gibt, wenn man sich auf den Sprachfeminismus einlässt.
Auf Schönheit und Eleganz kam es inzwischen auch nicht mehr an. Schön musste die Sprache längst nicht mehr sein. Die neue Frauenbewegung kämpfte gegen Schönheitsfarmen, protestierte gegen Miss-Wahlen und gegen repressive Schönheitsideale. Später sollten noch Schlampen-Paraden das Bild abrunden. Unter solchen Umständen waren Geschmeidigkeit und Anmut bei der Sprache auch nicht mehr nötig. Die Sprache durfte – jedenfalls wenn es nach Feministen geht – getrost verunstaltet werden.
Wir kriegten es nun mit „BürgerInnenmeisterInnenkandidatInnen“ zu tun. Die Marotte, einen Großbuchstaben zu verwenden, um so die Geschlechterperspektive in die Sprache zu zwingen, machte das Schriftbild flächendeckend hässlich. Doch das verstand nicht jedeR, oft bemerkte es keineR und insgesamt hatte man oder frau oder mensch (klein geschrieben) den Eindruck, dass es sowieso keineR mochte. Damit wurde nebenbei bemerkt auch der Schreibfluss verdorben, den eine gepflegte Handschrift braucht und auch die Musikalität der Sprache ging flöten.
Verständnisprobleme gab es auch bei der „PorNO-Kampagne“
Verständnisprobleme gab es auch bei der „PorNO-Kampagne“ der späten achtziger Jahre. Da reichte es nicht, wenn man irgendwie mal was davon gehört hatte. Um richtig zu verstehen, wie die Kampagne der ‚Emma‘ gemeint war, musste man schon hingucken. Hier zeigte sich wieder, dass man Pornographie schlecht definieren kann, sie aber sofort erkennt, wenn man sie sieht. Wenn sie sich nur durch Hörensagen verbreitet hätte, hätte die Kampagne leicht das falsche Publikum erreicht und falsche Unterstützer angelockt. Das ist eben das Problem bei so einer Schreibweise: Großbuchstaben sind wie schlafende Hunde. Sie geben nicht Laut. Sie sehen nur gut aus. Man hört sie nicht.
Heute gibt es einen „Sex positiven“ Feminismus, der ein entspanntes Verhältnis zur Pornographie hat, solange Frauen nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera stehen, sitzen oder liegen. Man spricht auch von „Porn“, statt von „Porno“, so dass sich eine Kampagne, die feministische Pornofilme bewerben will, „PornOh!“ nennen könnte – mit Ausrufezeichen. Tatsächlich nennt sie sich „PorYes“. Wer nicht weiß, worum es geht und jemanden fragen hört „Wie wäre es zur Abwechslung mit ein bisschen Poryes?“, denkt womöglich, es handele sich um eine vegane Delikatesse oder um eine Entspannungsübung.
Es ist also, wie wir sehen, nicht so einfach. Das arme, kleine i ist mit den neuen Aufgaben oft genug überfordert. Das große auch. Nicht nur, dass man den Unterschied, den ein hervorragender Großbuchstabe markieren soll, nicht hört, man sieht ihn auch schlecht. Man kann ein großes I (ih) oft nicht von einem kleinen l (el) unterscheiden, bei einem kleinen i (ih) muss man schon sehr genau hingucken, ob es wirklich ein kleines oder nicht vielmehr großes I (ih) sein soll oder eben doch ein l (el). Zwei kleine i (ih) hintereinander, sehen aus wie ein ü (üh). Vielleicht haben wir deshalb noch nie von einem Yeti und einer Yetiin (Yetün) gehört, was aber auch daran liegt, dass beide nur selten anzutreffen sind und es kaum einen Anlass gibt, sie zu erwähnen.
Die iranische Revolution von 1978/79 wurde erwähnt. Allerdings. Darüber wurde ausführlich berichtet und die Berichterstattung dazu brachte so manchen Fachausdruck in die Printmedien. Da sich die Korrekturleser (vielleicht waren es auch damals schon Korrekturprogramme) nicht so schnell auf die neuen Begriffe einstellen konnten, wurde gelegentlich noch vom „Schlittenführer“ Ajatollah Chomeini berichtet. Wenn auch selten. Das kann passieren. Das i wird leicht zum Stolperstein. Es wird leicht missverstanden.
Facebook veranstaltet ein bescheuertes Wischiwaschi
Auf facebook ist das Stolpern Pflicht. Das Binnen-I ist vorgegeben. Wenn sich ein Lokalpolitiker eine eigene Seite einrichten will, damit jeder sehen kann, was er für Bücher und Filme mag, wird er als „PolitikerIn“ geführt, egal ob er männlich oder weiblich ist, obwohl es leicht möglich wäre, einen Seitenbetreiber in die Lage zu versetzen, eine korrekte Angabe über sein Geschlecht zu machen. Nicht bei facebook. Bei einer Politikerin ist das phallisch herausragende I nicht gerade grob falsch, es ist jedoch überflüssig und fehl am Platz. Ein kleines i reichte. Bei einem Politiker ist es falsch.
Die Tücke liegt darin, dass das Binnen-I für den Singular genutzt wird – es geht ja auch um die Seite einer Einzelperson, auf der individuelle Vorlieben vorgezeigt werden. Wir nutzen das Binnen-I aber nur für den Plural. Es leitet die Form „-innen“ ein, nicht die Form „-in“. Es bezeichnet eine Gruppenzugehörigkeit. Wer einer Gruppe angehört, deren Bezeichnung mit „-innen“ endet, ist weiblich. Das ist der Sinn der Sache. Das soll damit gesagt sein.
Im Singular wird es kompliziert. Es geht eigentlich nicht. Ich kann sagen „Das wissen alle Leserinnen und Leser“ oder – kurz mit Binnen-I – „Das wissen alle LeserInnen“. Im Singular würde ich sagen „Das weiß jeder Leser und jede Leserin“. Wenn ich hier das Binnen-I anwenden will, habe ich Pech. Dann müsste es heißen: „Das weiß jedeR LeserIn“. Im Singular gibt es eine Rückkoppelung, die sich auswirkt. (Übrigens hat der Satz „Das wissen alle Leserinnen und Leser“ im Unterschied zu der Version im Singular eine Macke, die man nicht sofort bemerkt: siehe dazu diesen Text).
Es ist auch nicht nötig. Wenn sich eine Politikerin schon durch die Endung „-in“ unbestritten als weiblich identifiziert hat, muss das i nicht auch noch groß sein. Einem Politiker, der männlich ist, ein „In“ anzuhängen (ob mit großem oder kleinem i) und ihn damit ausdrücklich weiblich zu machen, ist Quatsch.
Das große I geht unter
Facebook macht solchen Quatsch. Facebook veranstaltet – warum auch immer – ein bescheuertes Wischi-Waschi mit der Geschlechtszughörigkeit seiner UserInnen, was sich auch daran zeigt, dass man neuerdings zwischen 60 verschiedenen sexuellen Identitäten wählen kann, in England zwischen 58, in den USA zwischen 76 (die Zahlen variieren je nach Tageslaune), als ginge es bei der Frage nach der Sexualität um Geschmacksrichtungen bei Eiscreme. Da ist, wenn man Glück hat, die Bandbreite des Angebotes manchmal erstaunlich groß (zum Beispiel bei der einen Eisdiele in meiner unmittelbaren Nähe).
Nun kommen neue Probleme auf das Binnen-I zu: Unterstrich und Gender-Star machen das große I wieder klein, es heißt neuerdings „Wähler_innen“; es heißt auch „Leser*innen“ oder „Teilnehmer_innen“. Auch „Jüdinnen_Juden“ gibt es heute. Jeweils mit kleinem i. Das große I hat bei solchen Schreibweisen ausgedient. Mit dem Unterstrich oder mit dem Sternchen sollen Menschen berücksichtigt werden, die transsexuell sind. Speziell für diese Leute, sowie für alle Menschen, die sich nicht eindeutig einer der beiden Geschlechter (weiblich oder männlich) zuordnen können und die unter der Zwangsheterosexualität leiden, soll damit „Platz geschaffen“ werden.
Wie kam es dazu? Ein Transsexueller, der womöglich in Bielefeld lebt (vielleicht auch in Karlsruhe), der seinen Namen lieber nicht nennen will, hat die Fraktionen der Piraten, der Grünen, der Linken und auch der SPD angeschrieben und ihnen sein Leid geklagt: Er fühle sich nicht genug beachtet und möchte anregen, dass man ihm, sowie allen anderen missachteten Transsexuellen, einen Platz in der politischen Sprache schaffen möge. Nach Möglichkeit in jedem Satz. Sonst wäre er sehr, sehr traurig.
Die Grünen, die schon lange überlegt haben, wie man die Sprachzerstörung noch weiter vorantreiben kann, haben den Vorschlag begeistert aufgegriffen und beschlossen, bei allen zukünftigen Treffen auf Bundes- und auf Landesebene zuerst gemeinsam das Lied ‚Ein Stern, der deinen Namen trägt‘ anzustimmen. Der Gender-Stern soll damit ganz groß rauskommen, er soll verpflichtend werden und in seinem Glanz sollen alle erstrahlen, die bisher im Schatten standen.
Der Bundesvorstand der Grünen begründet seinen Vorstoß so: „Transsexuelle, transgender und intersexuelle Personen werden so nicht mehr unsichtbar gemacht und diskriminiert.“ Gesine Agena, die frauenpolitische Sprecherin der Grünen erklärt: „Wir halten den Gender-Star für geeignet, weil er das gesamte Spektrum von Geschlechtern und Identitäten berücksichtigt.“ Na dann. Hoffentlich wird der Gender-Stern nicht so verstanden, dass damit das gesamte Spektrum von Geschlechtern und Identitäten zur bloßen Fußnote gemacht wird.
Ein Genderstar am grünen Horizont
Doch es muss dringend aufgeräumt werden. Deshalb haben die Grünen bei der letzten Bundesdelegiertenkonferenz im November 2015 folgendes beschlossen: „Wir gendern, indem wir im Regelfall den Gender-Star verwenden (Bürger*innen, Student*innen …)“ und „die weibliche Form explizit mit nennen (Bürgerinnen und Bürger, Studentinnen und Studenten …)“
Damit lichtet sich der Nebel, den die Grünen selbst geschaffen haben. Im Jahre 2013 schrieben sie noch von „BildungsverliererInnen“ und „StromverbraucherInnen“, im Jahre 2014 machten sich aber schon die „Miesmacher*innen“ und „Überwacher*innen“ bemerkbar. Der Stern setzte sich schließlich durch. Die Großschreibung wurde gekippt. Damit war das Aus gekommen für den _Unterstrich – auch „gender-gap“ genannt – („mind the gap“). Es war auch das Aus für das Binnen-I. Traurig bin ich nicht. Mir hat das Binnen-I nie gefallen. Ich empfehle weiterhin den Browser ‚Binnen-I-be-gone‚. Damit wird das lästige und überflüssige Binnen-I beseitigt. Aus der BenutzerInnenoberfläche wird wieder eine Benutzeroberfläche.
Es ist aber nicht besser geworden. Mir geht es übrigens auch so, dass ich immer, wenn ich aufgeräumt habe, anschließend erst rechts nichts wiederfinde. So auch hier. Es wurde aufgeräumt – und damit wurde gleich ein neues Chaos erschaffen. Denn die allseits gefürchtete „-innen“-Form ist geblieben. Doch jetzt wird sie nicht mehr durch ein steil aufragendes, großes I als Neuerung kenntlich gemacht. Damit ist die ursprünglich exklusiv für das Weibliche vorgesehene „-innen“-Form unauffällig zur Grundform geworden, die alles umfasst, wie das bei den berühmten Professorinnen von Leipzig, die in Wirklichkeit Männer sind, der Fall ist.
Neulich habe ich gehört, dass die „Wählerinnenschaft der AfD hauptsächlich aus Männern besteht“. Ich habe auch schon von Rechtspopulistinnen, Wutbürgerinnen und Rassisten gehört, wenn ausschließlich alte, weiß, heterosexuelle Männer gemeint waren. Anton Hofreiter erzählt stolz von seinen „weiblichen Freundinnen“, die er hoffentlich gut von seinen männlichen Freundinnen unterscheiden kann. Aber womöglich kommt es darauf längst nicht mehr an.
Bei den Studentinnen kommt es drauf an. Die können ein „Studentenwerk“ nicht länger ertragen und bestehen auf der „neutralen“ Form „Studierendenwerk“. Jeder, der behauptet, dass so eine Umbenennung überflüssig ist, weil die Form „die Studenten“ genauso neutral ist wie die Form „die Studierenden“, wird sofort exmatrikuliert und darf sich der Universität nicht mehr nähern.
Der grassierende Wunsch nach Umbenennung
Die Wissenschaftssenatorin Sandra Scheeres erklärte dazu, dass der Wunsch nach der Umbenennung von den Studierenden selber und – was in dem Fall ausschlaggebend ist – von der Frauenbeauftragten gekommen sei. Die ‚Berliner Morgenpost‘ zitiert sie: „Die Bezeichnung ‚Student‘ schließe weibliche Studentinnen aus.“ Das scheint sie ernst zu meinen.
Wenn das so ist, muss das schnell geändert werden. Man sollte noch wissen, dass Sandra Scheeres früher einen Ponyhof geleitet hat und sich da schon sehr engagiert für Pferde-Gerechtigkeit eingesetzt hat. So hat sie immer wieder betont, dass die Bezeichnung „Pferde“ die „weißen Schimmel“ ausschließe. Daraufhin haben ihr enge Freundinnen empfohlen, in die Politik zu gehen. Gerade in der SPD würde man solche Frauen brauchen. So weit ist es gekommen. Was wird nun werden? Ob uns jemals ein/e Retter*in auf einem Pferd-seienden Wesen reitend die Erleuchtung bringen – oder wenigstens die Beleuchtung für alle, die immer noch im Dunkel kauern? Wir wissen es nicht.
Ja, ich sehne mich, ehrlich gesagt, nach alten Tagen zurück. Ich sage es offen: Ich würde sie nicht vermissen: nicht den Gender-Star, nicht den Unterstrich, nicht die Klammer mitten im Wort, nicht den Schrägstrich, nicht den hervorragenden Grußbuchstaben, nicht die überflüssige „-innen“-Form.
Für mich hat das immer die Tristesse von GmbH, nie den Charme von CinZano.
Be patient, work hard, follow your passions, take chances and don’t be afraid to fail.
»Die Psychoanalyse ist eine Panne für die Hierarchie des Denksystems« – Pierre Legendre
»Sie wissen, daß der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung nicht zu Ende gekommen ist, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab … Die erste Einwendung, die man hört, lautet, … die Wissenschaft ist zur Beurteilung der Religion nicht zuständig. Sie sei sonst ganz brauchbar und schätzenswert, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt, aber die Religion sei nicht ihr Gebiet, da habe sie nichts zu suchen … Die Religion darf nicht kritisch geprüft werden, weil sie das Höchste, Wertvollste, Erhabenste ist, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, weil sie den tiefsten Gefühlen Ausdruck gibt, allein die Welt erträglich und das Leben lebenswürdig macht … Darauf braucht man nicht zu antworten, indem man die Einschätzung der Religion bestreitet, sondern indem man die Aufmerksamkeit auf einen anderen Sachverhalt richtet. Man betont, daß es sich gar nicht um einen Übergriff des wissenschaftlichen Geistes auf das Gebiet der Religion handelt, sondern um einen Übergriff der Religion auf die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens. Was immer Wert und Bedeutung der Religion sein mögen, sie hat kein Recht, das Denken irgendwie zu beschränken, also auch nicht das Recht, sich selbst von der Anwendung des Denkens auszunehmen … Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (Freud, 1933, S. 182 ff. und S. 197).
„Freuds »Religions«-Kritik galt den »Neurosen« genannten Privatreligionen (Heiraten, romantische Liebe, Gier, Ethik und Moral, etc. Anm. JSB) ebenso wie den kollektiven (Nation, Gutmenschen, Sport, etc. Anm. JSB);“ – Helmut Dahmer
Freud prognostizierte, die bestehende Gesellschaft werde an einem Übermaß nicht absorbierbarer Destruktivität zugrundegehen. (sofern nicht »Eros« interveniere (Eros ist nicht Ficken, sondern Caritas. Anm. JSB)).
„Wer dem Kult der »Werte« frönt, kann unsanft erwachen, wenn im Kampf der Klassen und Parteien, von dem er sich fernhält, Gruppen obsiegen, auf deren Programm eine »Umwertung der Werte«, z. B. die Aufwertung von »Unwerten« steht.“ – Helmut Dahmer
»Hinsichtlich der allgemeinen nervlichen Belastung wirkte die Lage im Dritten Reich auf den psychischen Zustand des Volkes ziemlich ambivalent. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Machtergreifung zu einer weitverbreiteten Verbesserung der emotionalen Gesundheit führte.Das war nicht nur ein Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs, sondern auch der Tatsache, daß sich viele Deutsche in erhöhtem Maße mit den nationalen Zielen identifizierten. Diese Wirkung ähnelte der, die Kriege normalerweise auf das Auftreten von Selbstmorden und Depressionen haben. (Das Deutschland der Nazizeit verzeichnete diese Erscheinung zweimal: nämlich 1933 und 1939.) Aber gleichzeitig führte das intensivere Lebensgefühl, das von der ständigen Stimulierung der Massenemotionen herrührte, auch zu einer größeren Schwäche gegenüber dem Trinken, Rauchen und Vergnügungen« – Richard Grunberger
Von Anfang an hatte Hitlers Regime auch den Anstrich der Rechtmäßigkeit
„Die psychiatrischen Truppen der »kaiserlichen deutschen Psychiatrie« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 214) jedoch, die 1914 ins Feld zogen, bekriegten immer noch die Krankheit, den äußeren Eindringling in ein gesundes System, und nicht die Neurose, das innere Ungleichgewicht zwischen Psychodynamik, Umwelt und Geschichte.“ – Geoffrey C. Cocks (Diese Einstellung herrscht bis heute in der deutschen Psychotherapie und findet explosionsartige Vermehrung im KOnzept der sog. „Traumatisierung“. Anm- JSB)
Der Plural hat kein Geschlecht.
„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“ -Albert Einstein
„Der psychoanalytische Beitrag zur Sozialpsychologie der jüngsten Vergangenheit (und Gegenwart Anm.JSB) und ihrer Verarbeitung ist heute ebenso unerwünscht wie die Libidotheorie zu Anfang des Jahrhunderts.“ – I.Kaminer
»Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom >freien Ausleben< der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit.« – Sigmund Feud, Gesammelte Schriften«, Band XI, S. 201 ff.)
Liebe: nur bestenfalls eine Mutter akzeptiert ihr Kind, so wie es ist, ansonsten muß man Erwartungen anderer erfüllen, um akzeptiert zu werden.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein soziales Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein soziales Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
„Ich bin eine Feministin. Das bedeutet, daß ich extrem stark behaart bin und daß und ich alle Männer haße, sowohl einzelne als auch alle zusammen, ohne Ausnahmen.“– Bridget Christie
„Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv.“ – LeoTrotzki 1923
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.
„We needdamagedbuildings, so you can seethroughtheircrackedwallsto winat least one viewpoint to startto begin to think.“ –VictorTausk
„What good is health if you are an idiot then?“ – Theodor Adorno
„What one must be judged by, scholar or no, is not particularised knowledge but one’s total harvest of thinking, feeling, living and observing human beings.“ (…) „While the practice of poetry need not in itself confer wisdom or accumulate knowledge, it ought at least to train the mind in one habit of universal value: that of analysing the meanings of words: of those that one employs oneself, as well as the words of others. (…) what we have is not democracy, but financial oligarchy. (…) Mr. Christopher Dawson considers that “what the non-dictatorial States stand for today is not Liberalism but Democracy,” and goes on to foretell the advent in these States of a kind of totalitarian democracy. I agree with his prediction. (…) That Liberalism is something which tends to release energy rather than accumulate it, to relax, rather than to fortify. (…) A good prose cannot be written by a people without convictions. (..) The fundamental objection to fascist doctrine, the one which we conceal from ourselves because it might condemn ourselves as well, is that it is pagan. (..) The tendency of unlimited industrialism is to create bodies of men and women—of all classes—detached from tradition, alienated from religion and susceptible to mass suggestion: in other words, a mob. And a mob will be no less a mob if it is well fed, well clothed, well housed, and well disciplined. (…) The rulers and would-be rulers of modern states may be divided into three kinds, in a classification which cuts across the division of fascism, communism and democracy. (…) Our preoccupation with foreign politics during the last few years has induced a surface complacency rather than a consistent attempt at self-examination of conscience. (…) What is more depressing still is the thought that only fear or jealousy of foreign success can alarm us about the health of our own nation; that only through this anxiety can we see such things as depopulation, malnutrition, moral deterioration, the decay of agriculture, as evils at all. And what is worst of all is to advocate Christianity, not because it is true, but because it might be beneficial. (…) To justify Christianity because it provides a foundation of morality, instead of showing the necessity of Christian morality from the truth of Christianity, is a very dangerous inversion; and we may reflect, that a good deal of the attention of totalitarian states has been devoted, with a steadiness of purpose not always found in democracies, to providing their national life with a foundation of morality—the wrong kind perhaps, but a good deal more of it. It is not enthusiasm, but dogma, that differentiates a Christian from a pagan society.“ (…) It would perhaps be more natural, as well as in better conformity with the Will of God, if there were more celibates and if those who were married had larger families. (…) We are being made aware that the organisation of society on the principle of private profit, as well as public destruction, is leading both to the deformation of humanity by unregulated industrialism, and to the exhaustion of natural resources, and that a good deal of our material progress is a progress for which succeeding generations may have to pay dearly. I need only mention, as an instance now very much before the public eye, the results of “soil-erosion”—the exploitation of the earth, on a vast scale for two generations, for commercial profit: immediate benefits leading to dearth and desert. I would not have it thought that I condemn a society because of its material ruin, for that would be to make its material success a sufficient test of its excellence; I mean only that a wrong attitude towards nature implies, somewhere, a wrong attitude towards God, and that the consequence is an inevitable doom. For a long enough time we have believed in nothing but the values arising in a mechanised, commercialised, urbanised way of life: it would be as well for us to face the permanent conditions upon which God allows us to live upon this planet. And without sentimentalising the life of the savage, we might practise the humility to observe, in some of the societies upon which we look down as primitive or backward, the operation of a social-religious-artistic complex which we should emulate upon a higher plane. We have been accustomed to regard “progress” as always integral; and have yet to learn that it is only by an effort and a discipline, greater than society has yet seen the need of imposing upon itself, that material knowledge and power is gained without loss of spiritual knowledge and power. “ – T.S.Eliot
“I am a feminist. All this means is that I am extremely hairy and hate all men, both as individuals and collectively, with noexceptions.” – Bridget Christie
„Durch die Suche nach Halt im Sturz nach vorn entsteht das Paradies der Überregulierung. (…) In der überlegitimierten Gesellschaft kann es keine Fehler mehr geben, sondern nur Sabotagen.Zweite Meinungen sind nicht mehr vorstellbar, nur konterrevolutionäre Pläne. Auch freie Zusammenkünfte sind nicht plausibel, nur noch Verschwörungen. Ein Animismus zweiten Grades durchdringt die revolutionäre Logik: Aus ihrer Sicht sind neutrale Ereignisse inexistent, sie sind vielmehr allesamt Taten von agierenden Subjekten. Es gibt keine objektiven Schwierigkeiten, sondern allein die Wirkungen eines feindlichen Willens. Wichtiger als die Lösung von Problemen wird die Frage, wer an ihrem Auftreten schuld sei – weswegen sich jeder Problem-Melder in Lebensgefahr begibt. “ Peter Sloterdijk„Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“
Der Nigerianer J. M., einst unter falschem Namen als Asylbewerber in die Schweiz eingereist, handelte mit kiloweise Kokain. Daneben bezog er jahrelang Sozialhilfe. In seiner Heimat besass er Luxusimmobilien. Nur durch Zufall flog der Betrug auf.
Von Philipp Gut
Die Sozialhilfe ist bloss das Taschengeld.Bild: Bildmontage Weltwoche (Vorlage: Getty Images, Image Source)
J. M. kam vor rund zehn Jahren als Asylbewerber in die Schweiz. Bald begann er als Kleindealer in den Gassen einer mittelgrossen Schweizer Stadt sein Geld zu verdienen. Mit seiner Laufbahn ging es rasch aufwärts, auch sein Aufenthaltsstatus verbesserte sich. J. M., damals Mitte zwanzig, heiratete eine Prostituierte. Die gebürtige Thailänderin war zwar dreissig Jahre älter als er, aber sie besass einen Schweizer Pass. So erhielt J. M. eine sogenannte B-Bewilligung, also eine Aufenthaltsgenehmigung für Bürger aus Drittstaaten. Eine offizielle Erwerbstätigkeit ist nicht Voraussetzung für den Erhalt eines solchen Titels.
Um die B-Bewilligung zu bekommen, musste J. M. seinen Pass hinterlegen, wobei es sich herausstellte, dass er ursprünglich mit falschen Papieren und unter einem Fantasienamen in die Schweiz eingereist war. Konsequenzen hatte das nicht, im Gegenteil. Ausgestattet mit der B-Bewilligung, baute der Nigerianer seine Dealerkarriere zügig aus. Ums Jahr 2009 geriet J. M. in den Fokus der Kriminalpolizei. Die Ermittlungen zeigten, dass er Kokainhandel im grossen Stil betrieb. Er galt als der grosse Koksdealer der Stadt und trat unter vielen verschiedenen Identitäten auf. Die Polizei fand auch heraus, dass der Nigerianer in seiner Heimat Luxusimmobilien mit Wohnungen und einem Laden besass, die er vermietete.
Zahlungen sogar im Gefängnis
2011 wurde J. M. rechtskräftig verurteilt, für Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz, namentlich Handel im Mehrkilobereich mit Kokain, und zusätzlich Geldwäscherei. Nach Abzug der Untersuchungshaft musste er zwei Jahre ins Gefängnis.
Das ist die eine Seite des Falls: die Falschaussagen und gefälschten Papiere im Asylverfahren, die mutmassliche Scheinehe zur Erlangung der Aufenthaltsbewilligung und die Laufbahn als Drogenhändler. Doch J. M. war nicht nur ein Fall für die Migrationsbehörden sowie für Polizei und Justiz, er ist auch ein Sozialfall. Mehrere Jahre lang bezog er Fürsorge, wie übrigens auch seine thailändisch-schweizerische Ehefrau.
Die übertriebene Auslegung des Datenschutzes verhinderte, dass die Sozialbehörde über die Erkenntnisse der Ermittler und das Gerichtsurteil informiert wurde. Dass der Sozialhilfebezüger J. M. gleichzeitig ein erfolgreicher Drogenkrimineller war, hohe illegale Einkünfte erzielte und in Nigeria eine Zwanzig-Zimmer-Villa sowie eine Eigentumswohnung samt Laden besass, erfuhr das Sozialamt nur durch Zufall. Es stoppte zwar die Zahlung der Fürsorgegelder, aber viel zu spät. Denn es bezahlte auch dann noch eine Zeitlang munter weiter, als J. M. im Gefängnis sass und nur schon deshalb gar keinen Anspruch mehr auf die Leistungen gehabt hätte.
Nach seiner Haftentlassung scheute sich J. M. nicht, erneut beim Sozialamt vorstellig zu werden und wieder Fürsorgeleistungen zu beantragen, als hätte er nie solche erschlichen und als hätte er nie illegale Einkünfte erzielt, die er verschwieg. J. M. kannte den Schweizer Rechts- und Sozialstaat genau. Er wusste, dass seine kriminelle Vergangenheit keine Grundlage bildete, um ihn von neuerlichen Sozialhilfebezügen auszuschliessen. Im konkreten Fall wurde der Antrag zwar abgewiesen, weil J. M. gemäss den Gerichtsakten über umfangreiche finanzielle Mittel in der Heimat verfügte.
Bei Bedarf kann der Abgewiesene aber Nothilfe geltend machen (300 Franken pro Monat). Und es steht ihm auch in Zukunft jederzeit frei, ein weiteres Gesuch um Sozialhilfe einzureichen. Wenn er glaubhaft geltend machen kann, dass er mittellos sei, muss das Gesuch erneut geprüft werden. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass J. M. dereinst wieder Fürsorgegelder vom Schweizer Staat beziehen wird.
Auch ausländerrechtlich braucht der Nigerianer kaum etwas zu befürchten. Da er offiziell mit einer Schweizerin verheiratet ist, konnte er davon ausgehen, dass die Behörden ihn nicht ausweisen – auch als verurteilter Drogenhändler und Schwerkrimineller. Denn Ausschaffungen von Personen, die mit einem Schweizer oder einer Schweizerin verheiratet sind, werden nach geltender Praxis kaum vorgenommen.
Der verurteilte Kokaingrosshändler geniesst seit seiner Haftentlassung den Wohlstand, den er sich mittels seiner kriminellen Aktivitäten und dank der Sozialleistungen aus der Schweiz aufgebaut hat. Er kann frei hin- und herreisen, zwischenzeitlich lebte er in Nigeria. Heute soll er sich wieder bei seiner Frau in der Schweiz aufhalten.
Das Geld der Steuerzahler bleibt verloren
Obwohl die Fakten bekannt und gerichtlich festgestellt sind, haben die Schweizer Steuerzahler das Nachsehen. Die Sanktionsmöglichkeiten der Sozialbehörde sind beschränkt. Eine Anzeige wegen Sozialhilfebetrugs ist nicht möglich, da J. M. bereits aufgrund des Betäubungsmittelgesetzes verurteilt worden ist. Damit gelten seine illegalen Einkünfte gewissermassen als gesühnt. Er kann also juristisch nicht für den Sozialhilfebetrug zur Rechenschaft gezogen werden, obgleich ein solcher zweifelsfrei vorliegt.
Und es kommt noch besser für den Täter. Die unrechtmässig erworbenen Fürsorgegelder wird Drogenmillionär J. M. wohl kaum je zurückbezahlen. Da er gemäss eigenen Angaben nun mittellos ist und eine Betreibung im Heimatland aussichtslos wäre, wird er sie mit grösster Wahrscheinlichkeit behalten können. Dass Sozialleistungen zurückbezahlt werden, komme praktisch nie vor, sagt ein Insider. Im Normalfall bleibt das Steuergeld verloren.
Der Fall J. M. ist kein Einzelfall. «Es ist ein offenes Geheimnis, dass Nigerianer oft Scheinehen eingehen, um sich ein Bleiberecht zu sichern», sagt ein Spezialist der Kriminalpolizei. «Sie mischen gross im Kokainhandel mit und beziehen nebenbei noch Sozialhilfe oder IV. Dabei sind monatliche Einnahmen durch den Kokainhandel im hohen vier- bis fünfstelligen Bereich die Normalität. Mit dem Geld aus der Schweiz kaufen sie im Heimatland Immobilien und Ländereien», so der Insider.
Der Fall J. M. erinnert fatal an den Fall Jeton G. Der mutmassliche Todesschütze im Zürcher «Türstehermordfall» bezog ebenfalls jahrelang Sozialhilfe, obwohl er illegale Einkünfte erzielte. Und auch bei Jeton G. zahlte die Gemeinde zu allem Überfluss noch fleissig weiter, als der «Klient» im Gefängnis sass. In beiden Fällen erwies sich der Datenschutz als Täterschutz.
Die staatliche Fürsorge wird von einer Interessengemeinschaft der Sozialbranche gesteuert. Sie hat ähnliche Interessen an einer Ausweitung der Zahlungen wie ihre «Klienten». Die Gemeinden sollten sich von diesem Diktat lösen.
Von Beat Gygi
«Im Grunde genommen ist seit langem klar, welches die grundlegenden Mängel in der Sozialhilfe sind, wir haben dem Kanton die Probleme aus Sicht der Gemeinden immer wieder dargelegt.» Hans-Peter Hulliger wirkt nicht aufgebracht, eher fast etwas resigniert, wenn er auf all die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Sozialhilfe zu sprechen kommt. Früher lag diese eher noch in der Gemeindekompetenz, heute dagegen lassen gesamtschweizerische Richtlinien der Fachorganisation Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) und kantonale Gesetze, die für die Gemeinden die Skos-Ansätze verbindlich machen, viel weniger Spielraum. Hulliger ist ein altgedienter Milizpolitiker mit mehr als drei Jahrzehnten Erfahrung in Gemeindepolitik, von 1986 bis 2014, also 28 Jahre lang, war er Gemeindepräsident von Bäretswil im Zürcher Oberland. Zudem präsidierte er von 2006 bis 2014 den Gemeindepräsidentenverband (GPV) des Kantons Zürich, der oft als Hebel dient, um Anliegen der Gemeinden gegenüber dem Kanton zu vertreten. Umso ernüchternder ist für ihn heute die Einschätzung, es sei «nicht viel passiert», um die Mängel im gesamten Sozialhilfebereich zu beheben.
Auf der Suche nach Linderung
Dabei hätten sich die Zürcher Gemeindepräsidenten seit Jahren intensiv mit dem Thema Sozialkosten beschäftigt und bei den jährlichen Treffen mit dem Regierungsrat sowie Kontakten mit der kantonalen Verwaltung mindestens seit 2010 immer wieder auf die unkontrollierte Ausgabenentwicklung hingewiesen, die Fehler benannt und auf Gegenmassnahmen gedrängt. Die Mängel seien klar: Erstens sei heute für viele Sozialhilfeempfänger die Schwelle zur Aufnahme einer Arbeit zu hoch, weil der Lohn kaum höher oder manchmal gar geringer sei als das Geld vom Staat. Das Prinzip «Arbeit kommt vor Sozialleistungen» werde nicht überall angewendet, oft gälten bestimmte Arbeiten als unzumutbar. Zweitens sei die Skalierung der Unterstützung falsch, indem diese pro zusätzlich unterstützte Personen in der Familie so stark steige, dass Arbeitslöhne erst recht nicht mithalten könnten. Und drittens werde missbräuchlicher Bezug zu wenig geahndet; in Behörden und Verwaltung gebe es zu viel Toleranz gegenüber Renitenten. Dabei handle doch eine Behörde widerrechtlich, wenn sie einem Klienten die Sozialhilfe auszahle, obwohl dieser gesetzliche Auflagen nicht erfülle und beispielsweise nicht alle Belege vorweisen könne. Bei Steuern etwa werde das ja auch so gehandhabt.
Hulliger sieht die Kostenprobleme allerdings nicht nur im Zusammenhang mit Sozialhilfe, auch bei Ergänzungsleistungen im Alter, bei Einweisungen in Heime oder bei all den speziellen Schulsozialleistungen müssten die Gemeinden immer mehr bezahlen. Er findet dies umso tragischer, als beispielsweise die aufwendige integrative Schule eine Fehlkonstruktion sei, denn das Zusammennehmen von schlechteren und besseren Schülern bremse der Tendenz nach die Besseren und lasse die Schwächeren der Klasse erst recht in ungünstigem Kontrast erscheinen – was wiederum zu mehr teuren Einweisungen in Sonderschulen führe. Für Jörg Kündig, Gemeindepräsident von Gossau ZH und Hulligers Nachfolger im Präsidium des GPV, stehen die steigenden Sozialkosten im weiteren Sinn denn auch ganz oben auf der Traktandenliste, wenn es um die finanzielle Zukunft der Gemeinden geht.
Die kommunalen Rechnungen mit gestiegenen Sozialposten sprechen eine deutliche Sprache, und die Politiker stehen praktisch im Bann der steigenden Sozialkosten. Auf der Suche nach Linderung ist man vor allem in stärker belasteten Gemeinden auf die Idee gekommen, im kantonsinternen Finanzausgleich einen neuen Topf einzurichten, der einen Teil der Soziallasten quer über die Gemeinden ausgleichen soll. Politiker von SP, BDP und Grünen reichten im Zürcher Kantonsrat Mitte 2014 eine parlamentarische Initiative ein, die einen speziellen Soziallastenausgleich fordert: Die besonderen Lasten einer politischen Gemeinde sollen ausgeglichen werden, soweit es nicht beeinflussbare Soziallasten sind. Gemeint ist damit mehr oder weniger die Quote der Sozialhilfeempfänger.
Ausserhalb demokratischer Strukturen
Debatten über Lastenumverteilung lenken allerdings nur vom Hauptproblem ab. Der zentrale Konstruktionsfehler der Schweizer Sozialhilfe besteht darin, dass die landesweit tonangebende Organisation, die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos), als privater Fachverband sozusagen ausserhalb der demokratischen Strukturen arbeitet und entsprechend schwach kontrolliert wird, zugleich aber die Anwendung der Hilfe in den meisten Gemeinden wie von einer Zentrale aus steuert. Das Gremium setzt sich aus rund fünfzig Vertretern von Mitgliedern zusammen, darunter alle 26 Kantone sowie Abgeordnete von kommunalen Sozialdiensten (Städte, Regionen, Gemeinden) und privaten Organisationen des Sozialbereichs. Mit beratender Stimme sind Bundesämter, kantonale Sozialkonferenzen und die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) vertreten. Die von der Skos erlassenen Richtlinien werden in vielen Kantonen via kantonale Sozialgesetze automatisch zu verbindlichen Vorgaben für die Gemeinden. Anliegen von Bürgern und Steuerzahlern sind sehr indirekt vertreten, oder pointierter ausgedrückt: Das Rückgrat der Sozialhilfe ist im Grunde eine wenig demokratische und wenig föderalistische Interessengemeinschaft der Sozialbranche.
Die Skos gibt es schon seit 1906, aber warum sind die Ausgaben für Sozialhilfe erst seit jüngerem stark am Wachsen? Dies hängt zum einen damit zusammen, dass es 2005 einen Regimewechsel in den Vergabekriterien gab: Man wechselte vom sogenannten Sanktionsmodell auf ein Anreizsystem, das mehr mit Belohnungen als mit Auflagen operieren sollte. Zum andern ist die «Kundschaft» zunehmend auf die Optimierung ihrer Bezüge ausgerichtet, auf das «Abholen des Maximums», zumal ein wachsender Teil der Klienten aus dem Ausland stammt, wo andere soziale Normen gelten als in der Schweiz. Sozialhilfe ist ein Beispiel dafür, dass Solidarität in der kleineren, überschaubaren Gruppe funktionieren mag, wird sie aber im grossen Massstab organisiert und erzwungen, führt sie leicht dazu, dass «Profis» die Gutgläubigen ausnehmen. Andere formulieren es so: Es ist nicht einmal der Missbrauch, sondern der einfache Gebrauch der Sozialhilfe, der die Kosten in die Höhe schnellen lässt.
Nach der Ansicht von Linda Camenisch, Gemeinderätin mit Ressort Soziales in Wallisellen, ist dies ein Anreizsystem, das sich zum eigentlichen Fehlanreizsystem entwickelt hat. Wenn man alle Leistungen wie Grundbedarf, Wohnkosten, medizinischen Grundbedarf mit Krankenkassenprämie, Franchise und Selbstbehalt, Zahnarztkosten, sämtliche situationsbedingten Leistungen wie Kinderbetreuung et cetera zusammenzähle, komme man bei einem Vierpersonenhaushalt rasch einmal auf ein «Jahreseinkommen» von 70 000 bis 80 000 Franken, und dies steuerfrei. Ein Paradigmenwechsel sei dringlich.
Dass die Skos nicht mehr um eine Reform herumkommt, hat man in der Organisation selber eingesehen. Soeben wurde eine Vernehmlassung zu möglichen Anpassungen abgeschlossen. Nach Kündigs Beurteilung, der mit dem GPV Druck macht, wird nun immerhin in einer Umfrage versucht, eine Gesamtschau zu erarbeiten, diese sei aber nicht wirklich umfassend. Eine Reduktion des Schwellen- effektes etwa sei nur damit zu erreichen, dass der Einkommensfreibetrag deutlich reduziert werde, der GPV habe beispielsweise 200 Franken postuliert. Und um den Skaleneffekt zu kontrollieren, sollten die Leistungen für Haushalte ab vier Personen reduziert werden. Vor allem aber müsse auch die Umstellung auf das Anreizmodell damals im Jahr 2005 in Frage gestellt werden.
Kurt Spillmann, Stadtrat und Sozialvorstand in Dübendorf, formuliert es noch schärfer. Nach der Logik der Skos müsse heute ein Sozialhilfebezüger belohnt werden, damit er seine Arbeitskraft zur Linderung seiner Notlage verwende. Auf eine solche Idee komme nur, wer die Einstellung vertrete, dass die Sozialhilfe ein vom Staat bedingungslos geschuldetes Grundeinkommen darstelle. Sozialhilfe müsse aber ein Einkommensersatz sein, der in einer Arbeitsgesellschaft fühlbar unter dem Minimaleinkommen liegen müsse, wenn die Grundwerte der Selbsthilfe gelten sollen. Das absolute Existenzminimum nach Art. 12 der Bundesverfassung bestimme, dass jeder in der Schweiz Anspruch auf die Mittel habe, die für ein menschenwürdiges Überleben wichtig sind, also auf Nahrung, einen Schlafplatz und die medizinische Grundversorgung. In der Praxis bedeute das ungefähr zwölf Franken pro Tag, die Grundversicherung einer Krankenkasse und einen Schlafplatz.
Zweifel sind angebracht, ob die Skos überhaupt grundlegend reformierbar ist. Linda Camenisch erwartet, dass es nach der laufenden Vernehmlassung marginale Anpassungen geben werde, aber nicht im erforderlichen Umfang. Es seien immer noch zu viele Vertreter aus der Verwaltung und den Fachverbänden im Vorstand und in der zuständigen Richtlinienkommission, und die Linke strebe letztlich ein Sozialversicherungsgesetz analog zur AHV/IV an.
Es gibt jedoch einen zweiten Hebel, der zuverlässiger wirken dürfte: die verbindliche Wirkung der Skos-Regeln auf die Gemeinden aufheben und Richtlinien wieder unverbindlich machen. Heute, so Camenisch, hätten die Gemeinden im Kanton Zürich keinen Spielraum, die Skos-Richtlinien seien ohne Wenn und Aber verbindlich anzuwenden. Die Entscheidungskompetenz müsse deshalb den Gemeinden zurückgegeben werden. Die heutigen verbindlichen und einklagbaren Richtlinien seien ein grundsätzlicher Irrweg, denn diese hätten nicht die Bekämpfung von Armut zum Ziel, sondern eine Art materieller Gleichheit. Im vergangenen Oktober hat Camenisch im Kantonsrat eine Motion eingereicht, die eine Aufhebung der Rechtsverbindlichkeit der Skos-Richtlinien bei Sozialleistungen und beim Erlass kantonaler Regeln fordert. Der Regierungsrat stellt sich dagegen, unter anderem mit dem Argument, «eine Insellösung für den Kanton Zürich durch Ausscheren aus diesem System der Skos-Richtlinien würde von anderen Kantonen als Ausdruck mangelnder Solidarität gewertet». Damit macht der Regierungsrat klar, dass er bei der Sozialhilfe nicht die echte Solidarität zwischen Menschen im Mittelpunkt sieht, sondern die hoheitlich befohlene Umverteilung über weite Distanzen, der man eine sozial erwünschte Etikette umhängt.
Die in der Schweiz aufgenommenen Syrer sind kaum integrierbar und bleiben fast alle bei der Fürsorge hängen.
Von Alex Baur
Wir befinden uns in einer typischen Zürcher Agglomerationsgemeinde. Gegen sechzig «vorläufig Aufgenommene» – also abgewiesene Asylbewerber, die man nicht ausweisen kann oder will – werden von der kommunalen Sozialhilfe versorgt. Ein Sozialarbeiter, der anonym bleiben muss, weil er sonst seinen Job verlieren würde, sagt unter diesem Vorbehalt offen, was er über die Aufnahme von zusätzlich 3000 Syrern in die Schweiz denkt: «Die allermeisten von ihnen werden bei der Sozialhilfe bleiben – und sie werden noch mehr Landsleute nachziehen.»
Der Sozialarbeiter, selber einst ein Einwanderer, arbeitet seit Jahrzehnten in der Asylbranche. Die Illusion von der humanitären Schweiz ist ihm dabei längst abhandengekommen. Das Asylwesen ist für ihn ein Business wie jedes andere. Es gebe ein Heer von Anwälten, Betreuern, Übersetzern, Beamten und Sozialarbeitern, die vorerst einmal ihren eigenen Lebensunterhalt sichern. Und solange Bund und Kantone bezahlten, kümmere es sie wenig, ob sie ihren Klienten auch wirklich hälfen.
Richtig schmerzhaft wird es für die Gemeinde aber erst, wenn die letzten Zahlungen aus Bern und Zürich nach zehn Jahren auslaufen und sie selber für die ungebetenen Fürsorgegäste aufkommen muss. Doch dann ist es für einen Regimewechsel zu spät.
Mit Laissez-passer eingeflogen
Syrer machen in dieser Gemeinde bereits heute über zwei Drittel der fürsorgeabhängigen Asylanten aus. Die zweite wichtige Gruppe sind die Kriegsdienstverweigerer aus Eritrea sowie Somalier, gefolgt von Afghanen und neuerdings wieder von Kosovaren. Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass sie zumeist in ganzen Clans angereist und kaum integrierbar sind. Gemessen an früheren Generationen von Asylbewerbern ist die Kriminalitätsrate zwar gesunken – allerdings auch die Bereitschaft, etwas zu leisten oder auch nur eine Landessprache zu lernen. «Sogar zum Klauen sind sie zu faul», witzelt der Sozialarbeiter.
Der moderne Flüchtling begnügt sich vollauf mit dem Dasein eines Sozialrentners. Und das ist nach der Meinung des Insiders kein Zufall, sondern «die Folge einer Negativselektion». Der Sozialapparat liefert den Zuwanderern alles, was sie brauchen, Übersetzer inklusive. Die finanziellen Leistungen nach den Richtlinien der Skos bringen ihnen für ihre Begriffe geradezu astronomische Einkünfte. Das hat sich herumgesprochen. Diese Migranten wissen genau, warum sie sich die Schweiz aussuchen. Entsprechend gross ist die Erwartungshaltung.
Unser Gewährsmann kennt die Lebensgeschichten seiner Klienten. Die wenigsten entsprechen dem Klischee des Flüchtlings, der mit letzter Not seine Haut gerettet hat und für jedes Stück Brot dankbar ist. Die meisten Syrer, die der Gemeinde zugeteilt wurden, lebten zuvor in der Türkei – wohl unter Entbehrungen, aber nicht bedroht an Leib und Leben. Die meisten von ihnen haben Angehörige in der Schweiz und anderswo in Europa, viele reisten unter dem Titel des Familiennachzugs ganz offiziell ins Land ein, mit dem Flugzeug, in einzelnen Fällen sogar mit einem Laissez-passer der Eidgenossenschaft. Das Blutvergiessen in Syrien ist eine schreckliche Tatsache, die uns nicht gleichgültig sein kann. Millionen von Menschen wurden vertrieben, Hilfe vor Ort ist eine Selbstverständlichkeit. Doch die Aufnahme von Vertriebenen, die sich hier nicht integrieren lassen, trägt kaum etwas zur Linderung des Elends bei und schafft stattdessen neue soziale Probleme. Sie dient allein einer heuchlerischen Imagepflege – und dem Unterhalt eines Asylapparates, der längst in erster Linie der Erhaltung seiner selbst dient.
Politiker und Richter verschaukeln die Bürger. Kommt der Aufstand?
Von Philipp Gut
Die Schweizer Sozialhilfe ist aus den Fugen. Es ist ohne weiteres möglich, dass ein Fürsorgebezüger Jaguar fährt, in einer überteuerten Wohnung lebt, permanent kriminell ist und illegale Einkünfte bezieht. So war es im Fall Jeton G., dem mutmasslichen Mörder beim «Türstehermord» von Zürich. Wie wir in der letzten Ausgabe gezeigt haben, sind solche Zustände Alltag im Schweizer Sozialstaat. Sanktionen? Gibt es kaum. Dafür hegen die Sozialarbeiter ein Verständnis für ihre renitenten Kunden, das für Aussenstehende an Masochismus grenzt.
Die Reaktionen von der Front auf unseren Artikel zielten alle in dieselbe Richtung: «Ja, die Realität ist so, wie Sie sie beschreiben. Wer im Sozialbereich arbeitet, weiss das schon lange.» Das System ist todkrank, der Patient liegt auf der Intensivstation, aber die Beteiligten wursteln einfach weiter. Verantwortung will offenbar niemand wirklich übernehmen. Weder die Politiker noch die Betreuer, noch die Richter, die oft auch die dreistesten Rekurse der «Anspruchsberechtigten» gutheissen.
Dabei müsste man sich bei einer ehrlichen Analyse längst eingestehen, dass die Missstände nicht in erster Linie auf oberflächlichen Schlampigkeiten beruhen. Die Ursachen liegen in einer fundamentalen Dysfunktion des ganzen Systems. Die Fürsorge ist heute keine Hilfe in existenzieller Notlage mehr, sondern vielmehr eine eigene Existenzform, von der eine neue Klasse von Sozialrentnern besser lebt, als wenn sie arbeiten würde.
Insidern mag das Ausmass der Misere bekannt sein. Aber die Bürger ahnen es höchstens, wenn sie sehen, wie der fürsorgebeziehende Nachbar den neuen Flachbildschirm aus dem Mercedes hievt. Armut wird heute eben nicht mehr absolut definiert, sondern als arm gelten einfach die einkommensschwächsten zehn Prozent der Bevölkerung. In einer Gesellschaft von Milliardären ist gemäss dieser Definition auch ein Millionär bedürftig.
Ein Aspekt fehlt bisher in der Debatte: Es ist letztlich ein Verrat am Bürger und ein Missbrauch der vom Wähler verliehenen Macht, wenn die Behörden ein solch marodes System unterhalten. Das wird auch staatspolitische Folgen haben: Das Vertrauen schwindet. Jeder, der Steuern zahlt, muss sich verschaukelt vorkommen. Es kann doch nicht sein, dass sich der Staat eher auf die Seite eines Jeton G. schlägt als auf die Seite des ehrlich arbeitenden Bürgers, der diesen ganzen Wahnsinn finanziert.
Die SP-Bundesrätin holt Tausende Syrer ins Land und bläht den Asylapparat künstlich auf. Die auf Aussenwirkung bedachte Aktion wird enorme Probleme und Kosten verursachen. Die Schweiz importiert künftige Sozialfälle. Das weiss sogar der Bundesrat.
Von Hubert Mooser
Einmal nicht die Musterschülerin hervorkehren fällt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (SP) offenbar schwer: Das zeigte sich wieder beim Treffen der EU-Justiz- und -Innenminister am 12./13. März in Brüssel. Die Schweiz beteiligt sich unter dem Titel Schengen/Dublin seit Dezember 2008 an der Zusammenarbeit der europäischen Staaten in den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Visa. Deshalb darf Sommaruga beim Treffen dabei sein. Ganz oben auf der Agenda standen diesmal die Themen Migration und Asyl. Die EU-Staaten planen die Aufnahme von 5000 Flüchtlingen aus Syrien, einigen konnten sie sich aber noch nicht. Stolz konnte dagegen die übereifrige Sommaruga verkünden, der Schweizer Bundesrat habe schon am 6. März beschlossen, innerhalb von drei Jahren weiteren 3000 besonders verletzlichen Kriegsflüchtlingen aus Syrien Asyl zu gewähren.
Hier die 25 Schengen-Staaten, die sich über die Aufnahme von 5000 Flüchtlingen streiten, da die kleine Schweiz, die in vorauseilendem Gehorsam 3000 Syrer bei sich aufnimmt. Dieses Missverhältnis und das Vorpreschen Sommarugas kamen bei den anderen Bundesräten nicht gut an. Vorbehaltslose Unterstützung fand sie nur bei Aussenminister Didier Burkhalter (FDP), der den Syrien-Antrag mitunterzeichnet hat und seine persönliche internationale Agenda verfolgt. Burkhalters Entourage geht seit Tagen bei Medienleuten mit der Geschichte hausieren, der Neuenburger sei als Nachfolger von Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon im Gespräch.
Entscheid unter Druck
Sommaruga will der EU, Burkhalter der Uno gefallen, am 6. März musste dafür auf Biegen oder Brechen ein Entscheid zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge herbeigeführt werden. Zwei Wochen danach sprechen Bundesräte im kleinen Kreis von Druck und Zwängerei, weil der Doppelantrag Sommaruga/Burkhalter vorher schon in der NZZ ausgebreitet worden ist. Mehr noch: Einzelne Departemente hätten Anfragen von Journalisten erhalten, noch bevor die vertraulichen Unterlagen zu Syrien bei ihnen eingetroffen seien, monieren Bundesräte.
Und Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (FDP) sprach das aus, was andere dachten: So könne man nicht mehr frei entscheiden. Man solle aber doch wenigstens nicht den Eindruck erwecken, die Schweiz habe die Türen für Flüchtlinge weit aufgesperrt. «Das EJPD gibt keine vertraulichen Informationen weiter», sagt Sommarugas Sprecherin, Agnès Schenker. Es sei unhaltbar, dass durch Indiskretionen Informationen vor einem Bundesratsentscheid an die Öffentlichkeit gelangten.
Der eigentliche Skandal ist jedoch ein anderer: Aus den schriftlichen Ausführungen Sommarugas geht der wahre Grund für die humanitäre Aktion mit den 3000 Syrern hervor. Die Asylzahlen steigen nicht ganz so dramatisch an, wie dies die Justizministerin noch im Dezember im Bundesrat darstellte. Sommaruga ging für 2015 von 29 000 bis 31 000 Asylgesuchen aus. Und der Bundesrat stockte vorsorglich das grosszügige Asylbudget noch einmal kräftig auf. Gut drei Monate später erklärte nun die gleiche Sommaruga im Bundesrat, aufgrund der im Januar (1424) und im Februar (1560) eingegangenen Asylgesuche präsentiere sich die Situation besser als erwartet. Deshalb könne man problemlos ein paar zusätzliche syrische Flüchtlinge aufnehmen. Mit anderen Worten: Anstatt die Budgets den neuen Asylrealitäten anzupassen, bläht die Justizministerin die Asylstrukturen künstlich auf. «Und das nur, damit sie selber gut dasteht», sagt Aussenpolitiker und Nationalrat Gerhard Pfister (CVP).
Schon mehr als 7000
Auch ohne Indiskretion und Winkelzüge wäre die Diskussion über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge schwer genug gewesen. Eine Woche vor der Bundesratssitzung hatte sich in der Sporthalle der Freiburger Gemeinde Giffers wegen des geplanten Bundesasylzentrums für 300 Asylsuchende ein Gewitter der Entrüstung entladen. Der Bund plant in sechs Regionen über ein Dutzend solcher neuen Zentren. In diesen sollen die Verfahren schneller abgewickelt werden. Bisher wurde nur Giffers als möglicher Standort vom Bundesamt für Migration bestätigt. Bundesbern tut sich schwer bei der Suche, obwohl man dafür eigens den umstrittenen früheren Chef des Inlandgeheimdienstes, Urs von Däniken, holte. Parlamentarier finden inzwischen: Von Däniken koste die Eidgenossenschaft viel, bringe aber im Gegenzug wenig.
Sommaruga wiederum kämpft, wie es ihre Art ist: Monat für Monat meldete ihr Amt die steigenden Asylzahlen, und die Justizministerin tut so, als wäre das kein Problem. Wenn es ihr politisch nützt, gibt sie wieder Entwarnung. Fakt ist, dass unter der SP-Bundesrätin die Asylzahlen Höchstmarken erreichen wie zum Beispiel im Juli 2014. Seit 1999 seien noch nie so viele Gesuche eingegangen, meldete das Staatssekretariat für Migration. Ausbaden müssen Sommarugas Asylpolitik die Kantone. Sie sind ständig auf der Suche nach Wohnraum und Unterkünften für die ihnen zugewiesenen Asylsuchenden, wie die Freiburger Sozialdirektorin Anne-Claude Demierre (SP) gegenüber den Freiburger Nachrichten klagte. «Wir finden keine Unterkünfte für die Leute», sagt der Walliser Polizeidirektor Oskar Freysinger (SVP) und kritisiert: Die Konferenz der kantonalen Justiz-und Polizeidirektoren (KKJPD) segne einfach alles ab, was Sommaruga ihr vorlege. Niemand wolle halt der Böse sein.
Der syrische Bürgerkrieg hat über 200 000 Tote gefordert, 15 Millionen Syrer sind auf der Flucht, die Uno agiert hilflos. Als 2013 Bilder vom Flüchtlingselend die Schweizer Seelen aufwühlten, beschloss der Bundesrat, innert dreier Jahre via Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ein Kontingent von 500 besonders verletzlichen Syrien-Flüchtlingen aufzunehmen. Der Öffentlichkeit verkaufte Sommaruga die Hilfe als Pilotprojekt. Dieses Programm ist noch nicht einmal zur Hälfte abgespult, und jetzt sollen noch einmal 3000 Personen aus Syrien dazukommen. Dabei haben seit Ausbruch des Krieges in Syrien nebst den vom Bundesrat 2013 und 2015 beschlossenen Flüchtlingskontingenten über 7000 Syrer auf dem regulären Weg in der Schweiz Asyl erhalten. Das bedeutet, dass sie in die Schweiz einreisen durften, ein Asylgesuch deponierten und Aufnahme fanden.
Vor diesem Hintergrund zeichnete sich schon früh ab, dass die Bundesratssitzung vom 6. März für Sommaruga und Burkhalter kein Spaziergang werden würde. Wie erwartet, ging Bundesrat Ueli Maurer (SVP) auf Konfrontationskurs. Maurer verfasste einen Mitbericht, in dem er eine Reihe von Fragen aufwarf. Ob das Vorgehen abgestimmt sei mit den anderen europäischen Staaten? Ob es nicht gescheiter sei, den Leuten vor Ort zu helfen? Denn mit dem Geld, das die Versorgung der Syrer in der Schweiz kostet, könne man in den Flüchtlingslagern erheblich mehr erreichen. Maurer wollte auch wissen, ob die Kantone Unterkünfte dafür bereitstellen würden und ob sie überhaupt informiert worden seien.
Sommarugas Antworten: Nein, die Aktion sei nicht eingebettet in die Syrien-Politik der europäischen Staaten. Ja, die Hilfe vor Ort sei prioritär, die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge müsse man jedoch als Unterstützung dieser Hilfe vor Ort begreifen. Und ja, die Kantone seien informiert und einverstanden.
Tatsächlich? So eindeutig ist das aber nicht mit den Kantonen. Am 29. Januar informierte Sommarugas Staatsekretär für Migration, Mario Gattiker, die involvierten kantonalen Sozial- und Polizeidirektorenkonferenzen. Die Kantone meldeten dabei prompt Bedenken an in Sachen Unterbringung der Syrer. Justizdirektoren-Präsident Hans-Jürg Käser (FDP) gibt sich zwar zuversichtlich: Gestützt auf die Erfahrungen mit dem Pilotprojekt des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) aus dem Jahr 2013 gehe er davon aus, dass in diesem Jahr «wohl nur 600 bis 700 kommen» würden. Diese Zahl könnten die Kantone stemmen. Der Rest wird in den kommenden Jahren einreisen. Aber man muss auch wissen: Der Berner Polizeidirektor steht nicht gerade im Ruf, Sommaruga beim Asyldossier auf die Füsse zu treten. Er begleitete die SP-Bundesrätin auch schon zu Ministertreffen nach Brüssel. Bei anderen Vertretern der KKJPD spürt man mehr Skepsis: Man habe die Erklärungen von Staatssekretär Gattiker zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Dies könne man jedoch nicht als Einverständnis betrachten.
Eines steht heute schon fest: Die Aktion könnte für die Kantone happige Folgekosten mit sich bringen, wie dies auch Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) in ihrem Mitbericht durchblicken liess. Sie machte geltend, dass es sich bei den syrischen Flüchtlingen um traumatisierte Menschen handle. Diese müssten aufgrund der bisherigen Erfahrungen sehr lange betreut werden. Und sie könnten wahrscheinlich nie durch Arbeit für sich selber aufkommen. Widmer-Schlumpf verwies dabei auch auf die zwei uigurischen Guantánamo-Häftlinge, denen die Schweiz 2010 Asyl gewährte.
Stellt der Bund die finanzielle Unterstützung wie üblich nach fünf Jahren ein, müssen die Kantone die Kosten für Unterhalt und Betreuung bezahlen. Doris Leuthard (CVP) wollte deshalb fürs Erste statt der geplanten 3000 nur 1000 schutzbedürftige syrische Flüchtlinge ins Land holen. Sie bekam dafür die Unterstützung von Schneider-Ammann, musste sich jedoch von Burkhalter vorwerfen lassen, dies sei eine Rappenspalter-Mentalität. Eine Rappenspalter-Mentalität? Weiss es Burkhalter nicht besser, oder tut er nur so: Der Asylapparat kostet die Steuerzahler inzwischen pro Jahr weit über eine Milliarde Franken. Das ist alles andere als ein Klecks, dieses Geld fehlt für andere Aufgaben.
Widerwillig segnete das Siebnergremium trotzdem die Aufnahme von weiteren 3000 Syrern ab. Konkret soll das so ablaufen: 2015 will man maximal 1000 Personen aufnehmen. Laut Käser werden 2015 aber nicht so viele einreisen. Im Herbst soll der Bundesrat dann die Situation im Syrien-Konflikt erneut analysieren und beurteilen. Spätestens in drei Jahren sollen alle hier sein. Die Flüchtlinge werden vor Ort vom Uno-Hilfswerk UNHCR ausgelesen. «Bundesrätin Sommaruga zeichnet schöne Konzepte, aber in der Praxis funktionieren diese nicht», sagt der Bündner Nationalrat Heinz Brand (SVP). Stattdessen werden sie die Kantone auf Jahre hinaus finanziell belasten.
Sommarugas auf positive Aussenwirkung bedachte, aber übereilte und letztlich unsinnige Flüchtlingspolitik wird zu enormen Problemen und Kosten führen. Statt wirksam und effizient vor Ort zu helfen, importiert die Schweiz freiwillig ein Heer von zukünftigen Sozialfällen. Da hat Finanzministerin Widmer-Schlumpf für einmal recht.
In Bern leben vierzig Prozent der Fahrenden von der öffentlichen Fürsorge. Ist die Quote auch anderswo derart hoch? Wer nachfragt, beisst auf Granit. Behörden und Betroffene schweigen.
Von Alex Reichmuth
Auf dem Standplatz Buech in Bern sind 116 Fahrende gemeldet. Etwa vierzig Prozent dieser Personen beziehen Sozialhilfe, sagt Felix Wolffers, Leiter des Sozialamts der Stadt Bern. Er bestätigt damit eine Meldung des privat betriebenen Bundeshaus-Radios. Die Quote ist horrend hoch, denn im landesweiten Durchschnitt beziehen nur 2,9 Prozent aller Einwohner Fürsorgegeld. Für Wolffers scheint klar, warum umherziehende Jenische so oft auf Sozialhilfe angewiesen sind: «Nach unserer Einschätzung können die Fahrenden ihren Lebensunterhalt in ihren traditionellen Geschäftsbereichen immer weniger decken.»
Schätzungsweise 3000 der Schweizer Jenischen pflegen die traditionelle Lebensweise als Fahrende und reisen im Sommer mit ihren Fahrzeugen umher. Einige von ihnen wohnen im Winter auf einem festen Standplatz und sind in der jeweiligen Gemeinde als Einwohner gemeldet. Andere haben keinen festen Wohnsitz. Viele Fahrende leben von wenig lukrativen Geschäften wie Altmetallhandel oder Scherenschleifen.
Es ist kaum anzunehmen, dass nur Fahrende in Bern so häufig Sozialhilfe beziehen. Die Weltwoche wollte von Gemeinden mit Standplätzen wissen, welcher Anteil der Fahrenden von der Fürsorge lebt und wie viel dies die Gemeinden insgesamt kostet. Nur wenige Gemeinden konnten – oder wollten – die Fragen beantworten. Dietikon ZH meldet, dass auf der Anlage mit sechs Standplätzen zeitweise eine Person Sozialhilfe bezogen habe. Kloten ZH schreibt, dass es unter den zwölf gemeldeten Fahrenden «einen Unterstützungsfall mit zwei Personen und jährlichen Kosten von rund 30 000 Franken» gebe. In Aarau ist die Sozialhilfequote derzeit angeblich null. Einsiedeln SZ bezahlt pro Jahr zwischen 100 000 und 200 000 Franken Unterstützung für Fahrende, die Einsiedeln als Heimatort haben.
Einige Gemeinden liefern keine Informationen, weil die entsprechenden Daten fehlten. Man erhebe nicht, ob Sozialhilfebezüger sesshaft oder fahrend sind, schreibt Winterthur. Auch Chur und Wil SG können keine Angaben machen. Eine andere Gemeinde bestätigt, dass die Sozialhilfequote unter den ansässigen Fahrenden weit über dem Durchschnitt der Gemeinde liegt, nämlich zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Wegen des Datenschutzes dürfe man den Namen der Gemeinde aber nicht nennen.
Auch die Stadt Zürich, die in Seebach einen grossen Standplatz betreibt, tut sich mit einer Antwort schwer. Die Sozialen Dienste der Stadt versichern zwar, die Sozialhilfequote unter den Fahrenden liege «absolut im Stadtzürcher Durchschnitt». Das wären etwa fünf Prozent. Trotzdem will man nichts zur Höhe der Bezüge sagen. Denn solche Angaben würden «die Persönlichkeitsrechte dieser Menschen ritzen». Diese Haltung ist schwer nachzuvollziehen, da ja Hilfsbedürftige nicht namentlich genannt werden müssten.
Fahrende mit schlechter Schulbildung
Die Recherche hinterlässt den Eindruck, dass man über Sozialhilfe für Fahrende höchstens dort etwas erfährt, wo die Bezüge gering sind. Ratlos gibt man sich auch bei der Radgenossenschaft der Landstrasse, dem Zusammenschluss der Schweizer Fahrenden. Man habe punkto Fürsorgebezüge «keine Ahnung», heisst es hier. Ebenso kennt man bei der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, die jährlich 150 000 Franken vom Staat bekommt, keine Zahlen. Geschäftsführer Urs Glaus hält es für unzulässig, Statistiken über Sozialhilfebezüge für Fahrende zu erstellen, geschweige denn zu veröffentlichen. Denn dafür fehle eine Rechtsgrundlage.
Immerhin finanziert die Öffentlichkeit aber die Sozialhilfe. Die Frage nach Fürsorgegeld ist auch darum brisant, weil viele Fahrende einen sehr schlechten Bildungsstand haben. Einige von ihnen verhindern, dass ihre Kinder in die Lage kommen, später für sich sorgen zu können. Fahrende haben das Recht, ihre Kinder während des Sommers, wenn sie umherziehen, für bis zu sieben Monate aus der Schule zu nehmen. Daneben halten aber einige Fahrende ihre Kinder auch während der Wintermonate vom regelmässigen Schulbesuch ab – meist mit dem Argument, diese lernten im Kreis der Familie alles, was für die traditionelle jenische Lebensweise nötig sei.
Die öffentliche Hand finanziert Stand- und Durchgangsplätze für Fahrende in der ganzen Schweiz. Sie bezahlt auch zusätzlichen Aufwand, um den Kindern von Fahrenden trotz ihrer vielen Abwesenheiten eine minimale Schuldbildung zu ermöglichen. Die Stadt Bern etwa hat vor kurzem beschlossen, zwei zusätzliche Lehrkräfte anzustellen, die jenische Kinder schulen – im Sommer wie im Winter. Sind Fahrende tatsächlich überaus häufig von Sozialhilfe abhängig, muss man sich fragen, ob es auch an der Öffentlichkeit ist, eine Lebensweise zu finanzieren, die immer weniger existenzsichernd ist. Die Fahrenden geniessen als staatlich anerkannte Minderheit zwar besonderen Schutz. Wo aber beginnt der Schutz der Steuerzahler?
Siebeneinhalb Monate nach ihrer Einreise bringt die Nigerianerin Ese M. in der Schweiz ein Kind zur Welt. Ein Aargauer erklärt sich zum leiblichen Vater, obschon das offensichtlich nicht stimmt. Eine Justizposse, die den Steuerzahler viel Geld kosten wird.
Von Christoph Landolt
Ein Kind bei der Farbe zu nennen, könnte heute schnell einmal das Karriereende bedeuten.Illustration: Jonas Baumann
«Warum haben Sie das Kind anerkannt?» – «Ich habe in meinem ganzen Leben immer die Liebe gesucht. Das Kind hat mir Liebe gegeben.»
«Haben Sie sich nie gefragt habe, ob Sie wirklich der Vater sind?» – «Marvellous hat mich als Vater gesehen. Das reicht.»
Lange sah es so aus, als ob diese Antwort auch dem Staat reichen würde. Im Jahr 2010 wurde Philipp G. vom Zivilstandsamt im aargauischen Brugg als Vater des damals dreijährigen Marvellous M. eingetragen. Dies, obschon die Beamten hätten sehen müssen, was alle sahen: dass der kleine Junge mit dem Mann, der sich als sein Vater ausgibt, so verwandt ist wie Kofi Annan mit Adolf Ogi oder Robinson mit Freitag.
Nun aber, vier Jahre später, musste sich Philipp G. doch noch Fragen zu seiner Vaterschaft gefallen lassen. Die Staatsanwaltschaft hatte ihn zusammen mit Kindsmutter Ese M. wegen Erschleichung einer falschen Beurkundung angeklagt. Er habe gewusst, dass er nicht der leibliche Vater von Marvellous sei, so der Vorwurf.
Philipp G., 48, ist ein grosser, athletischer Mann mit rasiertem Schädel. Vor dem Brugger Bezirksgericht gab er sich als gelernter Maler aus, der zurzeit aber nicht arbeitet. Er lebe von einer Erbschaft und von einigen tausend Franken, die er als Nachwuchs-Hockeytrainer verdiene, erklärte G.
Als die Richterin ihn zu seiner Vaterschaft befragte, wurden seine Angaben vage. Wann er Ese M. zum ersten Mal getroffen hat, vermochte Philipp G. nicht zu beantworten. Auch an den Ort des Kennenlernens konnte er sich nicht richtig erinnern: «Irgendwo im Welschland.» Zum Sex gekommen sei es beim ersten oder zweiten Treffen.
Aus den Akten geht folgender chronologischer Ablauf hervor: Ese M., Jahrgang 1987, betrat am 27. August 2007 in Genf-Cointrin erstmals Schweizer Boden. Die Asylbewerberin aus Nigeria gelangte zunächst ins Empfangszentrum Vallorbe VD, dann wurde sie dem Kanton Aargau zugeteilt, welcher sie in der Gemeinde Birr unterbrachte.
Siebeneinhalb Monate nach ihrer Einreise, am 18. April 2008, gebar die attraktive Afrikanerin einen Sohn. Diesen taufte sie auf den Namen Marvellous – also «wundervoll» oder «blendend». Auf die Frage nach dem Erzeuger antwortete sie der Vormundschaftsbehörde: «He’s in Africa.»
Der Bund trat nicht auf ihr Asylgesuch ein. Dennoch verweigerte Ese M. die Ausreise. Mehrfacher illegaler Aufenthalt steht in ihrem Strafregister, aber nicht nur. Auch wegen Hausfriedensbruchs und Diebstahls wurde sie mehrfach verurteilt.
Ihr Sohn Marvellous wurde am 20. April 2011, kurz vor seinem dritten Geburtstag, von Philipp G. anerkannt. Der Bub wurde dadurch mit einem Federstrich zum Schweizer Staatsbürger.
Doch dann wendete sich für Ese M. das Glück. Als sie sich wieder einmal wegen illegalen Aufenthalts verantworten musste, geriet sie an die Falsche. Die zuständige Richterin des Bezirksgerichts Brugg misstraute den amtlichen Angaben, laut denen Marvellous Sohn eines Schweizers sei.
Ihre Anzeige landete auf dem Schreibtisch von Nicole Burger, einer jungen Staatsanwältin, die sich mit ihrer konsequenten Linie einen Namen geschafften hat («Staatsanwältin ausser Rand und Band», schimpfte das linke Netzwerk Asyl Aargau in seiner Mitgliederzeitschrift). Burger vernahm die Beteiligten ein und studierte die Akten. Für sie war klar: Philipp G. war nicht der Erzeuger. Er hatte sich als Vater nur zur Verfügung gestellt, weil Ese M. in der Schweiz bleiben wollte und er ihr ein Aufenthaltsrecht verschaffen konnte.
Der Plan des Paars war zunächst aufgegangen: Ese M. bekam eine B-Bewilligung. Wie sie dazu kam, verraten die Behörden nicht – Datenschutz. Dass Frauen, die mit einem Schweizer ein Kind haben, eine Aufenthalts- bewilligung bekommen, ist aber durchaus üblich. Man kann keine Mutter eines Schweizers ausschaffen, so der Leitgedanke in den Migrationsämtern.
Eigentlich, so würde man meinen, wäre es heute ein Leichtes, eine Vaterschaft festzustellen. Ein DNA-Test genügt. Das aber lehnten Ese M. und Philipp G. partout ab. Ihre Anwälte argumentierten, eine Genanalyse stelle einen unverhältnismässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar. Das Aargauer Obergericht entschied, dass keine DNA-Probe angeordnet werden darf. Es sei «kein dringender Tatverdacht gegeben», so das Urteil.
Der Richterspruch erstaunt, denn der Tatverdacht ist offensichtlich. Zwar müssen Kinder eines weissen und eines schwarzen Elternpaars nicht unbedingt eine mittelbraune Hautfarbe haben. Die einen sind heller, die anderen dunkler. Wenn der Sohn einer Nigerianerin und eines Aargauers aber so gar kein bisschen nach Aargauer aussieht, müsste dies auch Oberrichtern auffallen.
Überraschende Urteilsverkündung
Doch die Justiz hat sich angewöhnt, farbenblind zu sein. Niemand wagt, die Hautfarbe anzusprechen – nicht die Anzeigeerstatterin, nicht die Anklägerin, nicht die Richter. Ein Kind bei der Farbe zu nennen, könnte in Zeiten der rasch niedersausenden Rassismus-Keule schnell einmal das Karriereende bedeuten.
Bezirksgerichtspräsidentin Gabriele Kerkhoven, eine Grünliberale, hatte keine Lust, sich an dieser Sache die Finger zu verbrennen. Sie wollte den Fall ohne Verhandlung einstellen, mit Verweis auf das Obergericht, das «keinen dringenden Tatverdacht» feststellen wollte. Staatsanwältin Nicole Burger aber kündigte an, gegen eine Einstellungsverfügung auf jeden Fall vorgehen zu wollen. Also kam es trotzdem zur Verhandlung. Das ehrlichste Beweismittel aber, die DNA-Probe, liess die Richterin nicht zu.
Folgte man den Verteidigern der Angeklagten, ist die biologische Vaterschaft aber auch gar nicht entscheidend. «Pater semper incertus est» (der Vater ist immer ungewiss), zitierte G.s Anwalt Wilhelm Boner einen Grundsatz aus dem römischen Recht, der «immer gelten wird». Deshalb gebe es Rechtsvermutungen wie etwa jene, dass der Ehemann als Vater des während der Ehe geborenen Kindes gilt. Folglich verlange das Gesetz nicht, dass der rechtliche Vater auch der biologische Vater sein müsse.
Sei es, weil ihr die Schwangerschaftsdauer von maximal siebeneinhalb Monaten zu kurz vorkam, sei es, weil ihr die Widersprüche in den Aussagen auffielen – zur allgemeinen Überraschung sprach Gerichtspräsidentin Kerkhoven die Angeklagten schuldig. Philipp G., der bei der Urteilsverkündung ausfällig wurde, verurteilte sie zu 600 Stunden gemeinnütziger Arbeit und einer Busse von 1000 Franken. Ese M. muss eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 60 Franken bezahlen.
Massnahmen gegen Deutschdefizite
Die Verurteilung wegen Falschbeurkundung bedeutet noch nicht, dass die Vaterschaft von Philipp G. aberkannt wird, und auch nicht, dass Ese M. des Landes verwiesen wird. Dazu müssten nun die Behörden aktiv werden. Weder die kantonale Aufsichtsbehörde über die Zivilstandsämter noch das Aargauer Migrationsamt – beide sind Regierungsrat Urs Hofmann (SP) unterstellt – wollten sich auf Anfrage der Weltwoche äussern. Datenschutz.
Man muss davon ausgehen, dass die Geschichte die Aargauer Steuerzahler noch teurer zu stehen kommt, als sie ohnehin schon ist. Carmen Emmenegger, die amtliche Verteidigerin von Ese M., hat auf Anfrage angekündigt, das «Fehlurteil» an die nächste Instanz weiterzuziehen. «Das Bezirksgericht stellt den biologischen Vater über den rechtlichen Vater.»
Ese M. arbeitet gemäss eigenen Angabe zwar seit einigen Monaten in einer Fabrik, für 3400 Franken Monatslohn. Philipp G. gibt an, er bezahle Kindesunterhalt. Wenn die Erbschaft dereinst aufgebraucht ist und sich am Aufenthaltsstatus von Ese M. nichts ändert, steht der Scheinfamilie der Gang aufs Sozialamt jederzeit offen. Der junge Marvellous, der die erste Klasse besucht, nimmt bereits Fördermassnahmen in Anspruch, um seine Deutschdefizite zu beheben.
Der Fürsorgestaat bringt die meisten Probleme, die er lösen will, selber hervor. Das System ist nicht reformierbar. Man sollte es auflösen.
Ein gebürtiger Kosovo-Albaner, heute 31, wird eingebürgert, obwohl er bereits als Jugendlicher ein sogenannter Intensivtäter war. Er bricht die Lehre ab und lebt seither samt seiner wachsenden Familie auf Staatskosten. Er fährt einen Jaguar, verweigert sich jeder ordentlichen Arbeit, ist auch sonst renitent. Aus krimineller Tätigkeit erzielt er illegale Einkünfte, was den Behörden bekannt ist. Folgen indes hat das alles kaum. Die Sozialleistungen fliessen weiter.
Diese Beschreibung ist keine Fiktion eines bösartigen rechtsgerichteten Satirikers. Sie ist Realität. Im Fall des Papier-Schweizers Jeton G., der verdächtigt wird, einen Rivalen aus der Kampfsportszene in Zürich auf offener Strasse erschossen zu haben, spiegeln sich die Probleme des Fürsorgestaats wie in einem Brennspiegel. Man reibt sich die Augen und fragt sich: Wie ist das nur möglich?
Im Zuge unserer Recherchen sind wir zur ernüchternden Einsicht gelangt, dass der zufällig ans Licht der Öffentlichkeit gelangte Fall ein Beispiel unter vielen ist (siehe Artikel Seite 22). Er illustriert, auf welch abschüssige Bahn das Fürsorgewesen geraten ist.
Einst als vorübergehende Hilfe für wirklich Bedürftige geschaffen, hat sich die Sozialhilfe längst zu einer eigenen Lebensform entwickelt, die sich selber reproduziert. Der Staat offeriert ein Angebot, auf das ein Rechtsanspruch besteht. Es steht jedem offen, der es nützen will. Der Schweizer hat über Jahrzehnte in der Regel nur dann auf die Fürsorge zurückgegriffen, wenn er in echte Notlage geriet. Und auch dann nur vorübergehend. Man schämte sich, auf Kosten der arbeitsamen Nachbarn und Mitbürger zu leben, von denen man viele noch persönlich kannte.
Niemand schaut genau hin
Heute ist das ganz anders. Gegen drei Viertel der Fürsorgebezüger haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Einem zugereisten Eritreer, Türken oder Montenegriner kommt es nicht im Traum in den Sinn, sich für die Inanspruchnahme von Leistungen zu genieren, die man ihm auf dem Silbertablett serviert. Und falls doch jemand zu stolz dafür sein sollte, so steht garantiert ein Schweizer Sozialarbeiter oder Anwalt bereit, der ihm einbläut, er solle doch unbedingt seine Rechte wahrnehmen.
Hinzu kommt die wachsende Anonymität in Städten und Agglomeration, wo die meisten Sozialhilfeempfänger leben. Niemand hat den Überblick, niemand schaut genau hin. Den Rest erledigen die Akteure selber: die Sozialarbeiter, die Verwaltung, die Gerichte, die Politiker. Die Mechanik des Systems ist grundlegend falsch eingestellt. Die Leistungen sind derart hoch, dass es sich für viele gar nicht lohnt, zu arbeiten. Eine vierköpfige Familie erhält im Schnitt staatliche Zuwendungen, die einem Einkommen von 70 000 bis 80 000 Franken entsprechen, steuerfrei.
Dann die Umsetzung. Es ist ein offenes Geheimnis, dass eine wirksame Überwachung und Kontrolle gerade der ausländischen Sozialrentner kaum stattfindet. Wer beispielsweise auf dem Balkan ein Haus besitzt oder über legale oder illegale Einnahmequellen verfügt, müsste das theoretisch angeben, und die Leistungen würden entsprechend reduziert. Das geschieht aber höchst selten. Darauf angesprochen, verwerfen Behördenvertreter und Sozialdetektive bloss die Hände. Mission impossible.
Und wenn dennoch ein beherzter Sozialarbeiter oder Exekutivpolitiker durchgreift und Leistungen kürzen oder streichen will, kann er sicher sein, dass die Betroffenen alle möglichen juristischen Mittel anwenden, um keines ihrer Privilegien preisgeben zu müssen. Die verschiedenen Rekursinstanzen schlagen sich erfahrungsgemäss lieber auf die Seite derer, die selbstbewusst auf ihre weitreichenden Ansprüche pochen, als auf die Seite jener, die den Sozialstaat mit ihrer Arbeit und ihren Steuern finanzieren.
Die Politik schliesslich geht offenbar vielfach noch vom veralteten Bild aus, es gebe hierzulande noch bittere Armut. Doch die grosse Masse der Sozialhilfeempfänger befindet sich heute nicht in einer existenziellen Notlage, Auto, Flachbildschirm, Auslandferien sind weitverbreitet. Die Sozialhilfe funktioniert vielmehr wie ein Magnet, der eine bestimmte Kundschaft anzieht und sie nicht mehr loslässt. Es sind Familien bekannt, in denen bereits die dritte Generation vom Staat lebt.
Mit ein paar Schraubendrehungen ist dieses kranke System nicht reformierbar. Wer nicht will, dass es sich weiter ausbreitet und dass auf Dauer eine neue Klasse von Sozialrentnern herangezüchtet wird, der sollte ernsthaft über eine Abschaffung der Sozialhilfe in heutiger Form nachdenken.
Man könnte etwa den Kreis der Empfänger einschränken auf Personen, die mindestens dreissig Jahre hier gelebt und gearbeitet haben. Oder man könnte eine degressive Fürsorge einführen, bei der die Leistungen mit jedem Jahr zurückgehen. Vielleicht aber wäre es noch besser, die Sozialhilfe gleich ganz zu streichen. Verhungern muss in der Schweiz niemand. Und bei Notfällen könnten sich immer noch die vielen karitativen und gemeinnützigen Organisationen profilieren, auch die Kirchen. Der Staat müsste sich dann nicht mehr als Ernährer aufspielen und könnte die Bürger, die er teilweise bereits auf Generationen hinaus von sich abhängig gemacht hat, in die Freiheit und Selbstverantwortung entlassen.
Er ist seit der Jugend kriminell und wurde trotzdem eingebürgert. Er hat nie gearbeitet, verfügt über illegale Einkünfte, fährt einen Jaguar und bekommt Sozialhilfe. Der Fall des mutmasslichen Mörders Jeton G. zeigt die Systemfehler im Fürsorgestaat.
Von Philipp Gut
Verkehrte Welt: Sozialhilfebezüger Jeton G. auf einem Bild, das er im September 2014 auf Facebook veröffentlichte.Bild: facebook
Für die Linke und die Verteidiger der real existierenden Sozialhilfe ist klar: Der Fall Jeton G. ist ein Einzelfall, ein bedauerlicher Unfall in einem ansonsten bewährten System. Schuld seien allenfalls die lokalen Behörden. Grundsätzliche Fragen stellten sich nicht, Reformbedarf bestehe keiner – so der Tenor der Links- bis Mitteparteien in der Debatte des Zürcher Kantonsrats vergangene Woche. «Weder die Gesetze noch das System sind das Problem», sagte SP-Fraktionspräsident Markus Späth.
Jeton G., Anfang dreissig, eingebürgerter Kosovo-Albaner, verheiratet mit einer Landsfrau, zwei Kinder, wohnhaft im zürcherischen Regensdorf, mehrfach vorbestraft, sorgt zurzeit für Schlagzeilen. Er wird verdächtigt, am 1. März in Zürich Affoltern einen Türsteher aus Montenegro auf offener Strasse erschossen zu haben. Das mutmassliche Tötungsdelikt ist das eine. Das andere, was letztlich noch mehr irritiert, sind die Abgründe des Schweizer Sozialstaats, die zwischen den Zeilen aufblitzten. Das Verrückte an diesem Fall ist nämlich, dass er ganz normal ist. Es gilt der Satz aus Shakespeares «Hamlet»: «Ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode.»
Überteuerte Wohnung à 1901 Franken
Jeton G. konnte sich alles erlauben. Und er hat immer alles bekommen. Es fing schon bei der Einbürgerung durch das Stadtzürcher Parlament 2003 an. Aufgrund des Datenschutzes wussten die Parlamentarier nicht, dass sie einen Intensivtäter einbürgerten. Auch die SVP stimmte zu. Seither lebt Jeton G. vom Staat.
2009 zog er mit seiner vierköpfigen Familie nach Regensdorf, wo diese in den letzten Jahren Hunderttausende Franken an Sozialhilfe bezog. Im Durchschnitt waren es gegen 5000 Franken im Monat, netto und steuerfrei. Der sogenannte Grundbedarf beträgt 2110 Franken. Hinzu kommen Krankenkassenprämien, eine grosszügige Wohnung sowie sogenannte situationsbedingte Leistungen – eine Art Vollkaskodeckung, die den Sozialhilfebezüger von der Zahnarztrechnung über Selbstbehalte bis zu Abos von jeder Eigenverantwortung befreit.
Für die Unterkunft der Familie bezahlten die Steuerzahler jeden Monat 1901 Franken. Dieser Betrag übersteigt sogar die internen Höchstwerte. Dennoch wurde er während zweier Jahre bezahlt. Begründet wird die Finanzierung der nach eigenen Massstäben zu teuren Wohnung mit dem Hinweis, dass Jeton G. sich in verschiedenen Sozialprogrammen engagiere. Die Sozialarbeiter beantragten sogar, ihn und seine Frau vorübergehend von der Pflicht zu entbinden, sich nach einer günstigeren Wohnung umzusehen, solange sie an der Abklärung und der möglichen späteren Umsetzung von sogenannten berufsintegrativen Massnahmen teilnähmen.
Bloss: Diese Massnahmen – das war aufgrund des bisherigen Lebenslaufs von Jeton G. absehbar – fruchteten nichts. Jeton G. hat seit dem Abbruch seiner Lehre nie legal gearbeitet. Der Staat fütterte ihn seit dem 18. Lebensjahr durch und stellte ihm ein ganzes Karussell von Beratungen, Kursen, Hilfeleistungen zur Verfügung. Nicht nur die Gemeinde, auch der Kanton kümmerte sich um ihn.
Das bürokratische Gebilde nennt sich Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ), beteiligt ist eine Armada von Behörden: das Amt für Wirtschaft und Arbeit, das kantonale Sozialamt, das Amt für Jugend und Berufsberatung, die Sozialversicherungsanstalt Zürich sowie die Sozialdienste der beteiligten Gemeinden. Die IIZ führt eine eigene Geschäftsstelle, welche die Bemühungen der verschiedenen Ämter und Stellen koordiniert. Ziel ist es, die «Klienten», wie es im Sozialjargon heisst, in den Arbeitsmarkt oder den Scheinarbeitsmarkt (den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt) zu integrieren.
«Arbeitsmarktfern»
Die Behörden beugten sich mit offensichtlich durch nichts zu erschütternder Duldsamkeit und Geduld über Jeton G. und seine gleichaltrige Frau Valentinë, als wären diese unmündige Kinder. Zwar seien sämtliche arbeitsintegrativen Massnahmen bei Herrn G. bis dato ohne Erfolg geblieben, schrieb der zuständige Sozialarbeiter der Gemeinde Regensdorf im September 2013 hoffnungsvoll, aber umso mehr sei nun der Weg über das IIZ zu unterstützen. Auch Frau G. sei «arbeitsmarktfern». Zu diesem Zeitpunkt lebte die Familie bereits mindestens zehn Jahre auf Kosten der Allgemeinheit, ohne dass auch nur einer der Ehepartner je einer legalen Arbeit nachgegangen wäre.
Doch die Hoffnungen und Erwartungen erfüllten sich – einmal mehr – nicht. Auch das Grossaufgebot des Kantons konnte Jeton G. nicht dazu bringen, sich für eine ordentliche Arbeit zu interessieren. Das IIZ-Verfahren wurde im folgenden Jahr ohne Resultat eingestellt, aufgrund «unklarer Zusammenarbeit» und «keiner ersichtlichen Motivation des Klienten», wie es in den Akten heisst. Jeton G. sabotierte alle Bemühungen. Er sagte Termine jeweils kurzfristig ab und führte sowohl die Gemeinde- wie auch die Kantonsbehörden an der Nase herum.
Dabei wussten die zuständigen Behörden nur zu gut, mit wem sie es zu tun hatten. Belege dafür finden sich in der Sozialakte der Familie G. zuhauf. Die betroffene Gemeinde und der Kanton halten selber fest, dass sich Jeton G. und seine Frau systematisch querstellten. Es sei schwierig bis unmöglich, mit den «Klienten» ein konstruktives Gespräch zu führen. Konkreten Fragen weiche Jeton G. aus. Auch Ehefrau Valentinë erscheine nicht wie abgemacht zu Terminen. Jeton G. verhalte sich unkooperativ bis infantil. Ein ehrliches Gespräch sei mit ihm nicht möglich. Entweder sage er das, wovon er annehme, «dass wir es hören wollen», oder er sage nicht die Wahrheit.
Dennoch zahlte der Staat pünktlich immer weiter. Warum sollte sich Jeton G. auch ändern? Sein ganzes Erwachsenenleben lang haben Gemeinden und Kanton umfassend für ihn und seine wachsende Familie gesorgt. Seine Ausflüchte wurden stets mit Erfolg belohnt.
Zu dumm, um ehrlich zu sein
Die Behörden wussten nicht nur, dass Jeton G. einen Jaguar fuhr. Sie bezahlten nicht nur zeitweilig eine überteuerte Wohnung. Sie wussten auch, dass Jeton G. ein Krimineller war, dass er Waffendelikte beging, dass er Einkünfte aus kriminellen Quellen hatte. Seinen Betreuern sagte Jeton G. ganz offen, er beschaffe sich illegale Mittel, unter anderem durch Hanfanbau. Doch sanktioniert wurde er kaum. Bloss ein einziges Jahr lang wurde der Grundbedarf wegen mangelnder Kooperation um fünfzehn Prozent gekürzt.
Am Ende zahlten die Regensdorfer sogar zu viel: Weil das Amt für Justizvollzug aus Datenschutzgründen die Inhaftierung verschwieg, entrichtete die Wohngemeinde überflüssigerweise auch Sozialhilfe, während Jeton G. im Gefängnis sass. Diese ungerechtfertigten Zahlungen hat sie bis heute nicht zurückverlangt. Juristisch wäre das heikel, sagt ein Gemeindevertreter.
Die Sozialarbeiter zeigten weiterhin Verständnis und Zuversicht. Sie hoffe, dass sich Jeton G. von seinen illegalen Aktivitäten lösen könne, schrieb die zuständige kantonale Betreuerin an die Gemeinde. Sie merke, dass er grundsätzlich einen anderen Weg einschlagen wolle. Dazu sei er jedoch aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, «kognitiv, aber auch fehlender Ausbildung wegen». Im Klartext: Jeton G. sei zu dumm, um ehrlich zu sein. Eine erstaunliche Diagnose.
Wie weit man der renitenten Familie entgegen kam, zeigt auch folgende Episode. Sollte Jeton G. inhaftiert werden, sei die überhöhte Miete auch für einen Dreipersonenhaushalt zu übernehmen, um die Familiensituation möglichst stabil halten zu können, forderte ein fallbetreuender Sozialarbeiter.
Was musste Jeton G., der angeblich zu einer legalen Tätigkeit «kognitiv» nicht fähig war, aus all dem lernen? Der Schluss wurde ihm geradezu aufgedrängt: «Egal, wie du dich benimmst, ganz gleich, ob du sogar kriminell handelst, der Schweizer Sozialstaat zahlt und sorgt für dich.» Jede noch so dreiste Entgleisung wird toleriert, ja sogar belohnt. Die Leistungen werden nicht gekürzt, sondern in Relation zu den Profiteuren noch erhöht, wenn das Familienoberhaupt erklärtermassen kriminelle Geschäfte treibt. Verkehrte Welt.
Der Familienvater, der es sich in der sozialen Hängematte bequem eingerichtet hatte, Jaguar S-Type inklusive, handelte aus seiner Sicht völlig rational. Der Mensch ist ein Jäger und Sammler. Er nimmt, was er vorfindet und was man ihm zur Verfügung stellt. Jeton G. hat schlicht keinen Anreiz, zu arbeiten oder sich auch nur einigermassen korrekt zu verhalten. Er kann beliebig über die Stränge hauen – sein Lebensmodell, auf Kosten der Mitbürger zu leben, die redlich arbeiten und Steuern abliefern, funktioniert so oder so. Der Staat garantiert ihm und seiner vierköpfigen Familie mittels Sozialhilfe und weiterer Transferzahlungen einen Lebensunterhalt, der einem Jahreseinkommen von rund 70 000 bis 80 000 Franken entspricht, steuerfrei. Ein solches Einkommen könnten der ungelernte Jeton G. und seine ebenfalls ungelernte Frau Valentinë durch Arbeit kaum erzielen.
Ein Fall unter vielen
Die Erkenntnis bleibt beunruhigend: Wäre Jeton G. nicht als Verdächtigter im sogenannten Türstehermordfall verhaftet worden – seine aufsehenerregende Sozialkarriere wäre wohl nie ans Licht gekommen. Datenschutz und Amtsgeheimnis sind zuverlässige Komplizen. Das hermetisch gegen aussen abgeschottete Sozialsystem bewahrt nicht nur sich selber, sondern auch seine Klienten vor jeder Kritik. Das zeigte auch die Tatsache, dass Behörden und Justiz nicht etwa gegen Jeton G. vorgingen, sondern lieber Anzeige gegen unbekannt erstatteten wegen eines vermuteten Lecks. Es ist ein fataler Kreislauf: Der Weg des geringsten Widerstandes zahlt sich für alle aus. Das zeigen Recherchen auch in anderen Kantonen und Gemeinden.
Wohnen — Theoretisch gibt es Höchstbeträge für Mieten, doch grosszügige und überteuerte Wohnungen gehören zum Sozialalltag. Der Weltwoche liegt ein ganz ähnlich gelagerter Fall aus einer anderen Gegend vor. Nur, dass hier die «Luxuswohnung» (Zitat aus den Fallakten) die an sich zulässige Obergrenze der Kosten noch viel deutlicher übertraf als im Fall G. Auch die Familiensituation ist vergleichbar: eine ausländische Frau mit zwei Kindern, der ebenfalls ausländische Gatte sitzt im Gefängnis. Die Wohnung kostete mehr als 2000 Franken, die Limite lag bei 1500 Franken – was einer Kostenüberschreitung von 25 Prozent entspricht.
Die Sozialbehörde wollte eigentlich handeln und wies die Frau an, eine günstigere Wohnung zu suchen. Doch dagegen legte die Betroffene, die lieber in der Luxuswohnung bleiben wollte, Rekurs ein. Und sie bekam recht. Die Auflage der Gemeinde, eine günstigere Wohnung zu suchen, sei «nicht verhältnismässig», urteilte die Rekursinstanz. Als Argument «für die Beibehaltung der aktuellen Wohnsituation» fügte sie unter anderem an: «Mit der Auflage, eine günstigere Wohnung zu suchen (und letztlich auch zu beziehen), würde die Chance anderer Sozialhilfebezüger auf eine günstige Wohnung eingeschränkt.» Was für eine Begründung!
Auto — Der Fall Jeton G. ist auch kein Einzelfall, was den Besitz von Autos, ja von Luxuskarossen betrifft. Die Weltwoche hat schon vor Jahren anhand von Beispielen aus der Stadt Zürich aufgedeckt, dass Sozialhilfebezüger auch schnittige Cabriolets und imposante Offroader steuern («BWM-Fall»). Dass Jeton G. einen Jaguar fahre, habe ihn nicht gewundert, sagt ein Sozialdetektiv. Es sei überhaupt kein Problem, als Fürsorgefall auch teure Autos zu besitzen. Eine griffige Kontrolle sei kaum möglich. Oft seien die Wagen auch auf Drittpersonen eingelöst.
Arbeit — Der Fall Jeton G. ist auch kein Einzelfall in Sachen Arbeitsverweigerung. Der Fehler liegt im System: Die von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) vorgegebenen Ansätze sind so hoch, dass sich Arbeit vor allem für Bezüger mit Kindern gar nicht lohnt. Sie bekommen alles gratis und franko: Grundbedarf, Wohnung, Krankenkasse, Franchise, Selbstbehalt, Zahnarzt, Brille, Möbel, Kinderbetreuung und so fort. Steuern? Null. Betreibungen? Müssen abgeschrieben werden, da offiziell ja kein Geld vorhanden ist. Und wie die zum Teil recht teuren Autos zeigen, kommt das grosszügig ausgeschüttete Kindergeld auch nicht unbedingt jenen zugute, für die es gedacht ist.
Einkünfte und Vermögen — Der Fall Jeton G. ist schliesslich auch kein Einzelfall, was illegale Einkünfte und verschwiegenes Vermögen betrifft. Eigentlich müssten sämtliche Einkünfte, Zuwendungen und Geschenke deklariert und ab einer bestimmten Höhe auch angerechnet werden. Aber wer kann das schon kontrollieren? Wie Jeton G. haben viele Fürsorgebezüger illegale Nebeneinnahmen, die, vor allem wenn sie aus dem Drogenhandel stammen, astronomische Höhen erreichen können. Berufskriminelle nutzen die Sozialhilfe gern als Alibi, um das Fehlen legaler Einkünfte zu verdecken.
Dass die Verantwortlichen oft lieber wegschauen als nachforschen und sanktionieren, zeigt das Beispiel eines Serben aus einer mittelgrossen Gemeinde.
Der Mann deklarierte die Leistungszahlung einer Sozialversicherung in der Höhe von 40 000 Franken nicht. Auch zusätzliche Einnahmen von 52 000 Franken verschwieg er. Er steckte das Geld in Konsum und verwendete es zur Rückzahlung privater Schulden. Die Gemeinde stand vor der Wahl: den Grundbetrag um 15 Prozent kürzen, Überwachung und allfällige Strafanzeige oder beide Augen zudrücken und nichts tun. Bei einer Kürzung des Grundbetrags dauerte es Jahrzehnte, bis die Betrugssumme wieder eingespielt wäre. Würde der Serbe angezeigt und auch verurteilt, würde er – da offiziell mittellos – die Busse oder Strafe nicht bezahlen. Am Ende riet die Ausländerberatungsstelle der Gemeinde, auf die Rückforderung wie auch auf die Kürzung zu verzichten. Der Serbe machte also die gleiche Erfahrung wie Jeton G.: «Du kannst dir alles erlauben.» Der Schweizer Staat toleriert und deckt sogar Betrug.
Ein weiteres Problem, das die Behörden nicht in den Griff kriegen, ist der verbreitete Immobilienbesitz im Ausland. Fachleute gehen davon aus, dass sogar die grosse Mehrzahl der Sozialfälle aus Ex-Jugoslawien Land und Haus in der alten Heimat besitzt. Auch hier sei eine Kontrolle schwierig bis unmöglich. Meist finde gar keine Überprüfung statt. Und wenn, dann ende sie meist ergebnislos: Es fehlen Einträge im Katasteramt, wenn es ein solches überhaupt gibt. Oder die Häuser sind pro forma auf Verwandte oder Bekannte überschrieben.
Den Mechanismus illustriert der Fall eines bosnischen Ehepaars, welcher der Weltwoche zugetragen wurde. Die Sozialbehörde verfügte über Bilder, die das Einfamilienhaus des Paars in seiner Heimat zeigen, und erstattete Strafanzeige. Doch auch dies nützte nichts. Das Ehepaar brachte daraufhin eine amtliche Bescheinigung bei, dass es keine Immobilie besitze. Wahrscheinlich ist diese Bescheinigung für ein paar Dutzend Euro gekauft worden. Aber das Schweizer Gericht musste sie akzeptieren. Die Gemeinde hatte das Nachsehen. Es liessen sich noch zahllose weitere Fallbeispiele anführen, die stets auf denselben Grundmissstand hinweisen: Die Sozialhilfe schafft erst ein Problem, das sie zu lösen vorgibt. Sie stellt ein Angebot zur Verfügung, samt Rechtsanspruch und vielfältigen Rekursmöglichkeiten, das für eine wachsende Zahl von «Klienten» nicht nur bequemer, sondern auch lukrativer ist als ehrliche Arbeit.
Das hat auch kulturelle Ursachen. Rund 50 Prozent der Fürsorgebezüger sind Ausländer, zählt man die Eingebürgerten dazu, dürften über 70 Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund haben (genaue Statistiken existieren nicht, die Schätzung beruht auf Stichproben in Zürcher Agglomerationsgemeinden). Auch wenn die «Klienten», wie Jeton G., offiziell Schweizer sind, haben sie ihre mediterrane Mentalität bewahrt. Von der Sozialhilfe zu leben, erfüllt sie nicht mit Scham. Die Staatsrente ist für sie vielmehr ein Anspruch, den sie selbstbewusst einfordern. Darauf freiwillig zu verzichten, empfänden sie geradezu als absurd. Das hat kürzlich auch die St. Galler Ökonomieprofessorin Monika Bütler hervorgehoben, die von einer «tickenden Anstandsbombe» sprach. Irgendwann wird dieses feudalistische System, bei dem eine wachsende leisure class von Sozialrentnern auf Kosten der arbeitenden Klasse lebt, nicht mehr finanzierbar sein.
Der Bundesrat will 3000 weitere Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Damit droht ein bürokratisches, ungerechtes und vor allem teures Auswahlverfahren. Mit dem Geld könnte an Ort und Stelle viel besser geholfen werden.
Von Kurt Pelda
Dreissig Millionen Franken hat die reiche Schweiz letztes Jahr ausgegeben, um die Folgen der syrischen Flüchtlingskatastrophe zu lindern. Inzwischen sind rund elf Millionen Syrer auf der Flucht – in Syrien selbst oder im Ausland. Die offizielle Hilfe aus der Schweiz belief sich damit auf weniger als drei Franken pro Flüchtling und Jahr – eine Schande für die humanitäre Schweiz. Im laufenden Jahr will der Bundesrat die humanitäre Hilfe deshalb aufstocken, auf fünfzig Millionen Franken beziehungsweise Fr. 4.55 pro Flüchtling und Jahr.
Prioritäten der Hilfsplanwirtschaft
Auch wenn der Bundesrat gerne darauf verweist, dass die Schweiz seit Ausbruch der syrischen Revolution 2011 insgesamt rund 130 Millionen Franken für die Minderung der Krise ausgegeben hat, wissen alle, dass dieser Betrag beschämend klein ist. Lieber kümmern sich unsere staatlich besoldeten Profi-Helfer um die Probleme in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Das Jahresbudget der Osthilfe bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) beträgt etwa so viel, wie Bern in vier Jahren für die gesamte syrische Tragödie ausgegeben hat, immerhin die grösste humanitäre Katastrophe der letzten Jahrzehnte. Und in Nordkorea, China und Sri Lanka gab die Deza insgesamt mehr Geld pro Jahr aus als für alle syrischen Flüchtlinge zusammen. Das sind die Prioritäten der staatlichen Hilfsplanwirtschaft.
Um das eigene Versagen zu kaschieren, hat der Bundesrat nun die Schnapsidee, 3000 zusätzliche Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Dabei ist ein seit eineinhalb Jahren laufendes Pilotprojekt für 500 Syrer noch nicht einmal zur Hälfte abgeschlossen. Und nun sollen also 3000 Flüchtlinge dazukommen. Sollte das neue Programm im Schneckentempo des Pilotprojekts abgewickelt werden, würde die Schweiz schätzungsweise noch in zwölf Jahren damit beschäftigt sein, die letzten Syrer aufzunehmen. Bis dahin stehen die Chancen vielleicht aber gar nicht so schlecht, dass der Bürgerkrieg in Syrien zu Ende gegangen ist und die Leute endlich wieder zurück in ihre Heimat gehen können.
Kosten soll das neue Programm maximal 42 Millionen Franken pro Jahr – also 14 000 Franken pro Flüchtling und Jahr. Das ist das 3000-Fache von dem, was dem Bundesrat derzeit ein syrischer Flüchtling in Nahost wert ist. Dass in diesem Betrag auch die Kosten der Unterbringung und der Sozialhilfe enthalten sind, die viele der Flüchtlinge benötigen werden, ist zu bezweifeln. So viel Geld für so wenig Menschen auszugeben, ist zutiefst unmoralisch. Auch in der humanitären Hilfe sollte der ökonomische Grundsatz gelten, mit einem gegebenen Betrag möglichst vielen Menschen zu helfen. Bern will nun offenbar genau das Gegenteil. Dabei sollte sich die Schweiz lieber darauf konzentrieren, an Ort und Stelle zu helfen und die Flüchtlinge in Ländern ihres Kulturkreises unterzubringen, in Staaten, in denen Arabisch gesprochen wird und wo Muslime die Mehrheit bilden. Aufnehmen sollten wir Schwerverwundete und Traumatisierte, denen das Schweizer Gesundheitswesen das bieten kann, was es in Syriens Nachbarländern an Hilfe und Therapien nicht gibt. Und dafür sollte insgesamt sehr viel mehr Geld budgetiert werden. So könnte die Deza die Balkan- und Osthilfe drastisch kürzen und die Einsparungen für Syrien aufwenden. 2013 pumpte die Deza sagenhafte 120 Millionen Franken in den Balkan, die Hälfte davon ins Kosovo. Wofür genau?
Falsche Anreize
1000 der 3000 zusätzlichen Flüchtlinge sollen durch Familienzusammenführung in die Schweiz kommen. Einer, der jetzt auf das grosse Los spekuliert, ist der kurdische Syrer Dilshad (Name geändert), der bereits zwei Geschwistern mit einer ganzen Reihe von Lügengeschichten in der Schweiz zu Asyl verhalf. Bei einer seiner Schwestern fälschte er das Geburtsdatum, und er liess sie ein Märchen erzählen, laut dem ihr Verfolgung aus den eigenen kurdischen Reihen in Syrien drohe. Vom Rest der Familie fehle jede Spur, behauptete er während des Asylverfahrens. Dabei spricht er via Skype fast täglich mit seinen Eltern, die an einem sicheren Ort in Syrien leben.
Die anderen 2000 Menschen sollen im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms des Uno-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in die Schweiz geholt werden. Das UNHCR trifft dabei die Vorauswahl in den syrischen Nachbarländern, bevor die Kandidaten in Bern vom Staatssekretariat für Migration und vom Nachrichtendienst des Bundes unter die Lupe genommen werden. Unter Millionen Flüchtlingen 3000 auszuwählen und mit einem Ticket ins Paradies auszustatten, ist immer ungerecht. Und es schafft falsche Anreize in Aufnahmeländern wie Libanon, Jordanien und der Türkei. Ein Helfer im Libanon erzählt zum Beispiel: «Wenn die Syrer glauben, dass alleinerziehende Frauen bessere Chancen auf Aufnahme haben, dann gibt es plötzlich ganz viele Mütter mit verschollenen Ehemännern.»
Schon beim Titel der gestrigen Talkshow bei Maybritt Illner, zu der ich eingeladen war, hätte ich gewarnt sein müssen. Thema verfehlt, fünf, hätte es in der Schule geheißen, denn mit den gegenwärtigen dringenden Problemen, unter denen unser Land ächzt, hat diese Fragestellung nichts zu tun.
Es ist ja keineswegs so, dass irgendjemand entscheiden kann, wer hierher kommen darf und wer nicht, sondern wir haben es mit einem wachsenden Strom von Zuwanderern zu tun, die aufgenommen werden müssen.
Nehmen wir Rosenheim als Beispiel, wo täglich bis zu 600 / 800 oder 1000 Leute aus dem Kosovo ankommen. Ein Drittel der dortigen Bevölkerung hat sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Der Exodus ist so schlimm, dass sich die Regierung des Kosovo an die deutsche Regierung gewandt und gebeten hat, ihre Landsleute wieder zurück zu schicken. Besonders die Fachkräfte werden im Land dringend gebraucht. Vorher müssen aber alle Asylanträge bearbeitet werden. Das dauert auch im beschleunigten Verfahren Wochen. Die von professionellen Schleuserbanden beförderten Menschen sind gut unterrichtet, was sie wie beantragen müssen. In Rosenheim sind alle nur denkbaren Unterbringungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Turnunterricht an den Schulen ist kaum noch möglich, denn die Hallen sind besetzt, Schwimmbäder geschlossen. Das Vereinsleben der Stadt ist fast zum Erliegen gekommen, denn die Vereinsheime sind belegt, sowie Kasernen , Gaststättensäle, Hotels. Die freiwilligen Sozialhelfer, egal ob Caritas , Diakonie oder Rotes Kreuz sind am Ende ihrer Kräfte. Die Stadt ist pleite. Geplante Renovierungen von Schulen, Kindergärten und Straßen nach dem Hochwasser, sind auf unbestimmte Zeit wegen finanzieller Schwierigkeiten verschoben.
Rosenheim ist nur ein Beispiel von vielen, aber von Problemen war in Illners Sendung nicht die Rede. Zwei Drittel der Sendung bestritt die Moderatorin mit den Vertretern der Großen Koalition Thomas Oppermann von der SPD und Andreas Scheuer von der CSU, die heile Welt spielten.
Oppermann durfte ausführlich über das kanadische Einwanderungsmodell referieren, das er vor Ort studiert hatte, wobei er der Frage auswich, ob ein Einwanderungsgesetz nach diesem Muster die bestehenden Zuwanderungsregeln ersetzen, oder auf sie draufgesattelt werden soll.
Scheuer vertrat die Ansicht, dass Deutschland über drei funktionierende Systeme verfüge ( Asylgesetz, Zuwanderungsgesetz, Blue- Card). Es gäbe keinen Bedarf für eine neue Regelung.
Es gelang mir einwenden, dass die Systeme eben nicht funktionieren. Es gibt mindestens sechzig Vorschriften, nach denen bei der Bearbeitung eines Asylantrags verfahren werden soll. Auch der erfahrenste Bearbeiter kann nicht zusätzlich zu den Gesetzestexten noch sechzig Ausführungsbestimmungen im Kopf haben. Das macht das Asylverfahren zum bürokratischen Hindernislauf.
Am Ende kommt heraus, dass höchstens zehn Prozent der Eingereisten durch das Asylverfahren anerkannt werden kann, um die dreißig Prozent erhalten aus unterschiedlichen Gründen Abschiebeschutz. Die restlichen sechzig Prozent verharren, so sie nicht freiwillig das Land verlassen oder abgeschoben werden, was immer seltener der Fall ist, in einem undefinierten Duldungsstatus.
Inzwischen ist die Zahl dieser Menschen auf geschätzte 600 000 angestiegen. Einen solchen Zustand als „funktionierendes System“ zu beschreiben, ist blanke Realitätsverweigerung.
Das Drehbuch der Sendung war sichtbar darauf angelegt, solche Probleme nicht zu diskutieren.
Stattdessen förderte Illner nach Kräften den üblichen öden Politiker- Schaukampf, in den ab und zu auch MP Ramelow einbezogen wurde, wobei es nicht um Inhalte, sondern um Apercus ging. Je weiter die Sendung fortschritt, desto prächtiger amüsierten sich Oppermann und Scheuer, bis im Studio eine schenkelklopfende Stammtischatmosphäre herrschte.
Am Schluss kam durch eine Zuschauerfrage doch noch mal ein Problem zur Sprache. Ob die zugewanderten Fachkräfte nicht zum Lohndumping eingesetzt werden würden. Sogar in der ARD hatte es, wenn auch zu mitternächtlicher Stunde, eine Sendung gegeben, die genau das bewies.
Aber die Vertreter der Gorko waren sich sofort einig, dass dies gar nicht sein könne, weil mit Mindestlohn und Tarifvertrag so etwas ausgeschlossen sei. Wenn sich die Politiker die Mühe machen würden, die Zuschauermeinungen zur Sendung zu lesen, würden sie feststellen, wie sehr ihnen widersprochen wird und wie satt die Wähler ihre selbstverliebten Darstellungen haben.
Weil die Einwanderung aber ein drängendes Problem ist, das einer dringenden Debatte bedarf, werde ich in einem nächsten Beitrag veröffentlichen, was ich für Illner vorbereitet hatte, aber nicht vortragen konnte.
Weltweit vernetzt und mit modernsten Mitteln betreibt die organisierte Kriminalität das Schleusergeschäft. Wer das eindämmen will, muss diese Strukturen zerschlagen – alles andere nützt nichts.
Sie erhofften sich Frieden und Freiheit in Europa. Vergebens. Diese Bilder der sizilianischen Polizei von 2014 zeigen den leidvollen Weg afrikanischer Flüchtlinge. Bis ins Massengrab. Quelle: Die Welt
Das größte Reisebüro der Welt ist die Mafia. Hunderttausende von Armutsmigranten und Kriegsflüchtlingen aus aller Welt kommen über illegale Kanäle in Europa an. Wenn die Fernsehnachrichten ausgemergelte Boatpeople beim Anlanden in Lampedusa zeigen und wir über die schrottreifen Kähne erschaudern, wenn wieder einmal Hunderte von Leichen Verzweifelter in Sizilien angespült werden, dann zeigt uns das nur, wie umtriebig die Branche längst agiert.
Gewöhnlich gelingt die kriminelle Einreise nach Europa nämlich, und das ist auch ganz im Interesse der Schleuser. Wenn in afrikanischen Dörfern die glücklichen Auswanderer anrufen oder syrische Großfamilien einen der Ihren in Deutschland unterbringen konnten, dann bedeutet das neue Geschäfte für die Bosse: Der große Exodus geht weiter – und zugleich das große Geschäft.
Wir, die wir im befriedeten Sozialstaat unser Leben außergewöhnlich sicher verbringen, können über diese Verhältnisse schimpfen oder die Toten betrauern; wir können betroffen Geld für Hilfsorganisationen spenden; oder wir können Parteien mit knallharten Losungen gegen Zuwanderung wählen. Das ist alles nur Therapie für unsere sensible Seele.
Foto: AFP Bergung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer – die Schleuser arbeiten hochprofessionell mit GPS und weltweiten Strukturen
Täter sind sehr einfallsreich
Ändern werden wir die Misere der Flüchtlinge damit genauso wenig wie den Strom von Millionen. Die italienischen Autoren Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci ermöglichen in ihrem soeben erschienenen Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ Einblicke ins internationale Schleusergewerbe. Der Einfallsreichtum und die Flexibilität der Täter sind staunenswert.
Bis in Weiler des Senegal kann man in Agenturen gegen einen horrenden Preis seine Passage nach Europa buchen. Aus Pakistan sind täglich Bataillone vorgeblicher Erntearbeiter mit echten Papieren nach Italien unterwegs. Türkische und griechische Grenzbeamte verdienen dreifache Gehälter mit dem Durchwinken Verzweifelter, und in den Häfen blüht der Bootsverkauf.
Steigert ein Land, wie kürzlich Albanien, die Grenzkontrollen, ändert sich die Route geschmeidig. Erkennen Holland oder Deutschland plötzlich Eritreer als Kriegsflüchtlinge an, sitzen mit Zauberschlag plötzlich ausschließlich Menschen mit gefälschten Pässen von Eritrea in den Seelenverkäufern.
Wer genug Geld – mindestens 7000 Euro – aus den kargen Volkswirtschaften im Irak oder im Jemen abzweigen konnte, der kann auch als Familienurlauber mit gefälschten saudischen Pässen in Mitteleuropa landen, Hawaiihemd und Fotoapparat inklusive. Oder die Gruppenreise geht in der gecharterten und dann geklauten Luxusyacht an allen Grenzkontrollen vorbei vom Peloponnes nach Apulien – und weiter über die Alpen.
Steuerfreie Blutgelder
Selbst sechsstellige Summen für ein Großboot ohne Rückfahrkarte sind für die Schleuserbosse kein Problem, wenn mit einem Schiff steuerfreie Blutgelder von über fünf Millionen Euro hereinkommen. Zum Vergleich: Frontex, die europäische Agentur zur Bewachung der Außengrenzen, verfügt über einen Jahresetat von 90 Millionen Euro.
Das alles mag zynisch klingen, aber es ist unser Alltag. Als 2013 mehrere Hundert Schwarzafrikaner vor Lampedusa im winterlichen Mittelmeer ertranken, sah die Polizei das nicht nur als humanitäre Katastrophe, sondern als Kollateralschaden: Die Schwarzen, die bei den libyschen Schleuserbossen wenig gelten, seien als reiner Testlauf ins stürmische Meer getrieben worden.
Wer sich aus Schwarzafrika auf den langen Treck nach Europa macht, weiß meist schon vorher: Wenn das spärliche Geld aufgebraucht ist, muss der Migrant unterwegs Drecksarbeit machen, muss sich von den Schleusern schlagen und demütigen lassen; Frauen werden oft vergewaltigt.
Und doch ist die Verzweiflung größer. Befragt nach ihren Motiven, antworten viele Reisende, dass sie den Tod nicht fürchten, denn sie hoffen auf ein Leben ohne Angst und ohne Hunger. Solange diese Kluft bestehen bleibt, können einzelne Schleuserbosse wie der Türke Moammar Küçük in ihrem Gewerbe zu Multimillionären aufsteigen, ohne je ein Boot zu betreten. Als Küçük 2011 von internationalen Fahndern verhaftet wurde, hatte er offenbar bereits allerbeste Kontakte, denn über seinen weiteren Verbleib ist nichts bekannt.
Die Fahnder wissen, dass für jede zerschlagene Schleuserbande mindestens eine neue nachrückt. Vom Anwerber in den „failed states“ in Afrika und Nahost über die Quartiermacher in Istanbul, Kairo oder Tripolis bis zu den Kapitänen und den Kontaktpersonen in Italien oder Deutschland – alles ist vorbereitet und technisch ausgestattet.
Täglich sind Migranten mit GPS-Geräten in der Sahara unterwegs oder peilen direkt die Routen der Handelsschiffe an, von denen sie dann gerettet werden. Die Geldflüsse – man schätzt die Einnahmen des Migrationsbusiness auf rund 20 Milliarden Dollar jährlich – werden oft über islamische Kleinhändler nach dem „Hawala“-System über gegenseitige Verrechnung abgewickelt und sind für die Finanzbehörden unauffindbar.
Viele Tausend Tote dieses Geschäftsmodells haben die Bosse, die sich als Dienstleister für Menschen in Not verstehen, ohnehin eingepreist. Und haben wir Europäer das nicht auch? Solange die Nachfrage für ein Ticket nach Europa für fast jede Summe besteht, solange ganze Dorfgemeinschaften auf die Überweisungen eines Migranten hoffen und solange ganze Staaten wie Irak, Syrien, Libyen oder Afghanistan in Bürgerkriegen kollabieren, die oft genug auf westliche Kriegshandlungen folgen – so lange wird auch der Exodus der Verzweifelten weitergehen.
Größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg
Erst wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich, Rechtlosigkeit und Gesetz, Dritter Welt und Europa ein wenig schlösse, würde die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg abflauen – und den Schleusern das Geschäft vermiest. Doch wann werden sich die Bürgerkriegsgebiete in Afrika und Nahost wohl stabilisieren?
Wer sich wundert, wieso die zivilisierte Welt vor 1940 nicht ein paar Millionen jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollte, die von der Vernichtung durch die Nationalsozialisten akut bedroht waren, der braucht nur in die Tagesnachrichten zu schauen. Die Todesnot in den Kriegsgebieten steht nun einmal in keinem Verhältnis zur bedrohten Saturiertheit in den friedlichen und reichen Ländern.
Wer will schon, dass Millionen Traumatisierte zu uns flüchten? Aber eine Wahl haben sie nicht. Syrer und Afghanen können einen Asylstatus in unserem sozialstaatlichen Paradies erwerben, aber vorher müssen sie dafür durch die Hölle gehen. Die Multimillionäre vom größten Reisebüro der Welt hören das gerne.
So gefährlich leben Flüchtlingskinder in Melilla
Jeden Tag versuchen hunderte Flüchtlinge, die Grenze der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika zu überwinden. Sie träumen von einem besseren Leben in Europa. Vor allem Kinder landen stattdessen auf der Straße. Quelle: Zoomin.TV
Weltweit vernetzt und mit modernsten Mitteln betreibt die organisierte Kriminalität das Schleusergeschäft. Wer das eindämmen will, muss diese Strukturen zerschlagen – alles andere nützt nichts.
Sie erhofften sich Frieden und Freiheit in Europa. Vergebens. Diese Bilder der sizilianischen Polizei von 2014 zeigen den leidvollen Weg afrikanischer Flüchtlinge. Bis ins Massengrab. Quelle: Die Welt
Das größte Reisebüro der Welt ist die Mafia. Hunderttausende von Armutsmigranten und Kriegsflüchtlingen aus aller Welt kommen über illegale Kanäle in Europa an. Wenn die Fernsehnachrichten ausgemergelte Boatpeople beim Anlanden in Lampedusa zeigen und wir über die schrottreifen Kähne erschaudern, wenn wieder einmal Hunderte von Leichen Verzweifelter in Sizilien angespült werden, dann zeigt uns das nur, wie umtriebig die Branche längst agiert.
Gewöhnlich gelingt die kriminelle Einreise nach Europa nämlich, und das ist auch ganz im Interesse der Schleuser. Wenn in afrikanischen Dörfern die glücklichen Auswanderer anrufen oder syrische Großfamilien einen der Ihren in Deutschland unterbringen konnten, dann bedeutet das neue Geschäfte für die Bosse: Der große Exodus geht weiter – und zugleich das große Geschäft.
Wir, die wir im befriedeten Sozialstaat unser Leben außergewöhnlich sicher verbringen, können über diese Verhältnisse schimpfen oder die Toten betrauern; wir können betroffen Geld für Hilfsorganisationen spenden; oder wir können Parteien mit knallharten Losungen gegen Zuwanderung wählen. Das ist alles nur Therapie für unsere sensible Seele.
Foto: AFP Bergung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer – die Schleuser arbeiten hochprofessionell mit GPS und weltweiten Strukturen
Täter sind sehr einfallsreich
Ändern werden wir die Misere der Flüchtlinge damit genauso wenig wie den Strom von Millionen. Die italienischen Autoren Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci ermöglichen in ihrem soeben erschienenen Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ Einblicke ins internationale Schleusergewerbe. Der Einfallsreichtum und die Flexibilität der Täter sind staunenswert.
Bis in Weiler des Senegal kann man in Agenturen gegen einen horrenden Preis seine Passage nach Europa buchen. Aus Pakistan sind täglich Bataillone vorgeblicher Erntearbeiter mit echten Papieren nach Italien unterwegs. Türkische und griechische Grenzbeamte verdienen dreifache Gehälter mit dem Durchwinken Verzweifelter, und in den Häfen blüht der Bootsverkauf.
Steigert ein Land, wie kürzlich Albanien, die Grenzkontrollen, ändert sich die Route geschmeidig. Erkennen Holland oder Deutschland plötzlich Eritreer als Kriegsflüchtlinge an, sitzen mit Zauberschlag plötzlich ausschließlich Menschen mit gefälschten Pässen von Eritrea in den Seelenverkäufern.
Wer genug Geld – mindestens 7000 Euro – aus den kargen Volkswirtschaften im Irak oder im Jemen abzweigen konnte, der kann auch als Familienurlauber mit gefälschten saudischen Pässen in Mitteleuropa landen, Hawaiihemd und Fotoapparat inklusive. Oder die Gruppenreise geht in der gecharterten und dann geklauten Luxusyacht an allen Grenzkontrollen vorbei vom Peloponnes nach Apulien – und weiter über die Alpen.
Steuerfreie Blutgelder
Selbst sechsstellige Summen für ein Großboot ohne Rückfahrkarte sind für die Schleuserbosse kein Problem, wenn mit einem Schiff steuerfreie Blutgelder von über fünf Millionen Euro hereinkommen. Zum Vergleich: Frontex, die europäische Agentur zur Bewachung der Außengrenzen, verfügt über einen Jahresetat von 90 Millionen Euro.
Das alles mag zynisch klingen, aber es ist unser Alltag. Als 2013 mehrere Hundert Schwarzafrikaner vor Lampedusa im winterlichen Mittelmeer ertranken, sah die Polizei das nicht nur als humanitäre Katastrophe, sondern als Kollateralschaden: Die Schwarzen, die bei den libyschen Schleuserbossen wenig gelten, seien als reiner Testlauf ins stürmische Meer getrieben worden.
Wer sich aus Schwarzafrika auf den langen Treck nach Europa macht, weiß meist schon vorher: Wenn das spärliche Geld aufgebraucht ist, muss der Migrant unterwegs Drecksarbeit machen, muss sich von den Schleusern schlagen und demütigen lassen; Frauen werden oft vergewaltigt.
Und doch ist die Verzweiflung größer. Befragt nach ihren Motiven, antworten viele Reisende, dass sie den Tod nicht fürchten, denn sie hoffen auf ein Leben ohne Angst und ohne Hunger. Solange diese Kluft bestehen bleibt, können einzelne Schleuserbosse wie der Türke Moammar Küçük in ihrem Gewerbe zu Multimillionären aufsteigen, ohne je ein Boot zu betreten. Als Küçük 2011 von internationalen Fahndern verhaftet wurde, hatte er offenbar bereits allerbeste Kontakte, denn über seinen weiteren Verbleib ist nichts bekannt.
Die Fahnder wissen, dass für jede zerschlagene Schleuserbande mindestens eine neue nachrückt. Vom Anwerber in den „failed states“ in Afrika und Nahost über die Quartiermacher in Istanbul, Kairo oder Tripolis bis zu den Kapitänen und den Kontaktpersonen in Italien oder Deutschland – alles ist vorbereitet und technisch ausgestattet.
Täglich sind Migranten mit GPS-Geräten in der Sahara unterwegs oder peilen direkt die Routen der Handelsschiffe an, von denen sie dann gerettet werden. Die Geldflüsse – man schätzt die Einnahmen des Migrationsbusiness auf rund 20 Milliarden Dollar jährlich – werden oft über islamische Kleinhändler nach dem „Hawala“-System über gegenseitige Verrechnung abgewickelt und sind für die Finanzbehörden unauffindbar.
Viele Tausend Tote dieses Geschäftsmodells haben die Bosse, die sich als Dienstleister für Menschen in Not verstehen, ohnehin eingepreist. Und haben wir Europäer das nicht auch? Solange die Nachfrage für ein Ticket nach Europa für fast jede Summe besteht, solange ganze Dorfgemeinschaften auf die Überweisungen eines Migranten hoffen und solange ganze Staaten wie Irak, Syrien, Libyen oder Afghanistan in Bürgerkriegen kollabieren, die oft genug auf westliche Kriegshandlungen folgen – so lange wird auch der Exodus der Verzweifelten weitergehen.
Größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg
Erst wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich, Rechtlosigkeit und Gesetz, Dritter Welt und Europa ein wenig schlösse, würde die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg abflauen – und den Schleusern das Geschäft vermiest. Doch wann werden sich die Bürgerkriegsgebiete in Afrika und Nahost wohl stabilisieren?
Wer sich wundert, wieso die zivilisierte Welt vor 1940 nicht ein paar Millionen jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollte, die von der Vernichtung durch die Nationalsozialisten akut bedroht waren, der braucht nur in die Tagesnachrichten zu schauen. Die Todesnot in den Kriegsgebieten steht nun einmal in keinem Verhältnis zur bedrohten Saturiertheit in den friedlichen und reichen Ländern.
Wer will schon, dass Millionen Traumatisierte zu uns flüchten? Aber eine Wahl haben sie nicht. Syrer und Afghanen können einen Asylstatus in unserem sozialstaatlichen Paradies erwerben, aber vorher müssen sie dafür durch die Hölle gehen. Die Multimillionäre vom größten Reisebüro der Welt hören das gerne.
Einer der letzten Oppositionellen unter deutschen Politikern hat sich im Zorn verabschiedet. Wer weiß, wer Peter Gauweiler noch folgen wird, der spät, aber gerade noch rechtzeitig gemerkt hat, dass er nur mehr Feigenblatt im lauen Wind der geseehoferten CSU war. Wolfgang Bosbach könnte der nächste sein, er hat ja bereits erkennen lassen, dass es wenig Spaß macht, das einzige Pferd im Stall zu sein, das noch zu wiehern vermag. Eurokritik ist in den im Bundestag vertretenen Parteien, nachdem jüngst auch „Die Linke“ eingeknickt ist, nicht mehr erwünscht, wer sie dennoch übt, macht sich verdächtig. Denn der Bundestag stimmt nicht erst seit dem Auszug der FDP in einer Einmütigkeit ab, die schon unheimlich ist: war nicht irgendwann einmal das Parlament als legitimer Ort gedacht, in dem stellvertretend für den Rest der Gesellschaft der Streit um die Belange und Interessen der Bürger ausgefochten wird?
Das ist entweder immer schon graue Theorie gewesen oder lange vorbei. Ein großer Teil der Bürger hierzulande, nicht nur als Nichtwähler, findet sich von keinem der weit nach links gerückten politischen Kombattanten mehr repräsentiert. Und was heißt schon Kombattanten? Sie streiten ja kaum noch, höchstens, wenn ein Wahlkampf nahe rückt, und auch dann wird nicht wirklich gestritten, das Absondern einschlägiger Vokabeln ersetzt keine gepflegte Argumentation. Die Groko verfährt nach dem Motto ‚Brot und Spiele’: viel Weltrettungspathos, dazu hier eine soziale Wohltat und dort ein bisschen Symbolpolitik.
Wofür sich insbesondere das Frauenthema anbietet, mitsamt all den Bizarrerien, die in der Frauenbewegung der 70er Jahre Mode waren, von deren Verwirklichung selbst ihre Erfinderinnen nur in schlechten Momenten geträumt haben dürften. Als frau nach „Gold, Liebe, Abenteuer“ rief, hat sie jedenfalls gewiss nicht an Aufsichtsratsposten gedacht.
Die Eurorettungspolitik hat schon jetzt unzählige Opfer zu verzeichnen, eines ist der deutsche Bundestag, der allerdings seiner Entmachtung mit satter Mehrheit selbst zugestimmt hat, und das, obwohl Bundestagspräsident Lammert in wünschenswerter Deutlichkeit bereits 2011 darauf hingewiesen hat, dass sich das deutsche Parlament des Herzstücks seiner Macht begibt, nämlich des Budgetrechts, wenn es in Sachen Euro-Rettungsschirm auf sein Votum verzichtet.
Aber was soll man machen, wenn die Kanzlerin etwas für alternativlos hält? Da wird dann eben herrschende Beschlusslage zu Makulatur erklärt oder Recht und Gesetz gebogen, das gebieten gefühlter Notstand und gefühlte Volksstimmung. Das Parlament wurde übergangen und ließ sich übergehen. So kann man sich auch überflüssig machen: Wer braucht schon Repräsentanten, wenn es auch mit Volksabstimmung á la Angela Merkel geht?
„Populistisch“ im Wortsinn sind hierzulande nicht Protestparteien und –bewegungen, sondern die Wohlfühlpolitiker der GroKo, die sich ganz und gar nicht redlich darum bemühen, alles in die rechte Ecke zu stellen, was nicht Gefolgschaft gelobt. Dass es rechts von der CSU keinen Platz für eine andere Partei geben dürfe, das einstige Versprechen von Franz-Josef Strauß, gilt schon lange nicht mehr. Rechts gähnen gleich mehrere Fußballstadien, und nur mit dem schärfsten Geschütz, das es hierzulande gibt, nämlich der Nazikeule, lässt sich noch verhindern, was in vielen anderen europäischen Ländern längst normal geworden ist: dass eine Partei entsteht, die eurokritisch und konservativ zugleich ist.
Die „Alternative für Deutschland“, die angetreten ist, das Vakuum zu füllen, das durch den Linksruck der Altparteien entstanden ist, bemüht sich derzeit, sich selbst zu erledigen. Verwunderlich ist das nicht: jede neue Partei sammelt erstmal ein buntscheckiges Milieu ein, man braucht nur an die Grünen der frühen Jahre denken, die lange Zeit eine der nachgesuchtesten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nachkriegszeit darstellten, von dem auch jene Journalisten profitierten, deren Kerngeschäft darin bestand, die neuesten Anekdoten aus den Flügelkämpfen der Grünen zu kolportieren. Stets war die Partei kurz vorm Auseinanderbrechen, eine Meldung, die sich ebenso regelmäßig als Ente erwies und doch jedem Beobachter nichts als plausibel war. Der Ton in den innerparteilichen Auseinandersetzungen war an Schärfe kaum zu überbieten, die Intrige blühte, persönliche Gemeinheiten waren an der Tagesordnung. Dagegen scheint es bei der AfD noch immer bürgerlich-gesittet zuzugehen.
Und doch ist der Konflikt dort womöglich schärfer als der bei den Grünen in den 80er Jahren dominierende Kampf zwischen „Fundis“ und „Realos“, also zwischen radikalen Systemgegnern und machtbewussten Pragmatikern. Die AfD müsste die liberale Kritik an der Eurorettungspolitik, der sich die FDP versagt hat, mit der Eroberung des Terrains verbinden, das CSU und CSU rechts freigelassen haben. Dabei darf sie jedoch nicht auf jene Nachsicht der Medien hoffen, die man einst den Grünen entgegengebracht hat, obwohl deren Demokratieverständnis in mehr als einem Punkt fragwürdig war.
Doch die AfD ist heute mindestens so nötig wie die Grünen es damals waren: schon aus hygienischen Gründen. Ein Parlament ohne Opposition ist eine furchtbare Vorstellung, und sie nähert sich der Realität von Tag zu Tag.
Die Grünen haben lange gebraucht, bis sie als Partei der Moralisierer mindestens so langweilig geworden sind wie all die anderen Altparteien. Die AfD sollte sich daran kein Vorbild nehmen, höchstens in einem Punkt: sie muss sich auf eine lange Durststrecke einstellen. Es sei denn, der Eurexit kommt früher als gedacht.
Letzte Woche starben im Mittelmeer wieder über tausend Flüchtlinge. Die Migrationsströme reissen nicht ab. Sie schwellen an. Afrika hat über eine Milliarde Einwohner, in Europa leben 733 Millionen Menschen. Der demografische Überdruck im Süden bricht sich gegen den wohlhabenden Norden Bahn. Im Jahr 2050, schätzt die Uno, werden zwei Milliarden überwiegend junge Afrikaner rund 691 Millionen alternden Europäern gegenüberstehen. Die Antwort unserer Politiker lautet, dass wir immer noch mehr Flüchtlinge aufnehmen sollen. Das freundliche Angebot wird die Nachfrage weiter verstärken.
Offen wie ein Scheunentor
Die europäische Südgrenze ist offen wie ein Scheunentor. Die Festung Europa gibt es nicht. Im letzten Jahr landeten 220 000 illegale Migranten an der italienischen Küste an. In diesem Jahr rechnet allein Deutschland mit einer Verdoppelung der Asylgesuche auf 500 000. Niemand fühlt sich verantwortlich für den verfassungsmässig verankerten Schutz der Aussengrenzen. Die Italiener wissen, dass die illegalen Migranten lieber in den reichen Norden ziehen und stecken sie in Züge, ohne sie zu registrieren. «Die Flüchtlinge verschwinden eben», erklärte uns kürzlich ein Römer Diplomat charmant und gestenreich.
Im Grunde ist es allen klar, aber niemand traut sich, es zu sagen: Was sich hier abspielt, ist ein grossräumig angelegter Missbrauch unseres Asylrechts durch illegale Wirtschaftsflüchtlinge. Es ist ein behördlich geduldeter Rechtsbruch im grossen Stil. Das Dubliner Flüchtlingsabkommen funktioniert nicht. In einem Europa der offenen Grenzen haben die überlasteten Italiener keinen Anreiz, die bürokratischen Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Ohnehin ist es eine Illusion, bei Hunderttausenden von hereinströmenden Migranten ordentliche Asylverfahren einzuleiten.
Junge Schwarze
Die Absurdität zeigt sich bereits in den Bildern und Statistiken. Die Medien berichten von «Kriegsflüchtlingen aus Syrien». Auf den Fernsehschirmen sehen wir hingegen Schiffe voller junger Schwarzer. Von Politikern wird uns eingeredet, man lasse nur Verfolgte aus dem Nahen Osten rein. Den aktuellen Zahlen entnehmen wir, dass die am schnellsten wachsende Asylantengruppe in der Schweiz die Kosovaren sind, in deren Heimat die Schweizer Armee und die Bundeswehr auf Kosten unserer Steuerzahler doch angeblich für Ordnung sorgen.
Mitleidlos zeigt der Rechtsstaat seine Klauen gegen Verkehrssünder und Steuerbetrüger. Wenn es darum geht, die Aussengrenzen abzuriegeln gegen illegale Einwanderer, ist auch die Toleranz fast grenzenlos. Asyl verdienen gemäss Uno-Definition nur Menschen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind, politisch durch den Staat Verfolgte. Selbst das liberale deutsche Asylrecht schreibt fest, dass Bürgerkriegsflüchtlinge, Armutsmigranten und Menschen in perspektivloser Situation kein Anrecht auf Asyl geltend machen können. Ein Asylrecht, das seinen eigenen Missbrauch toleriert, schafft sich ab.
Die Australier machen es richtig. Sie haben der illegalen Zuwanderung den Kampf angesagt. In einem Demonstrationsvideo verkündet ein uniformierter Offizier, dass man die gesetzwidrige Migration nicht dulden werde. Alle anlaufenden Schiffe werden von der Marine abgeblockt, auf Inseln abgeschoben, zum Teil in Partnerländer, denen die Australier dafür Geld bezahlen. Das ist nicht unmenschlich, sondern ein Gebot der Ethik: Wer dem moralischen Grössenwahn erliegt, allen Armen Zuflucht zu gewähren, zerstört seine Lebensgrundlagen.
Asyl, einst und heute
Unser modernes Asylrecht ist ein Produkt des Zweiten Weltkriegs. Es wurde geschaffen für einzelne spezifisch Verfolgte nach den von Deutschen, Russen, Chinesen und Türken verübten Völkermorden des letzten Jahrhunderts. Es wurde nicht gebaut als Einfallsschleuse für Menschenmassen, die dem wirtschaftlichen und politischen Elend ihrer Heimatländer aus verständlichen, aber eben nicht legalen Gründen entfliehen wollen. Unter dem Rechtstitel des Asyls werden bald Millionen Richtung Norden marschieren, wenn wir nicht die Kraft aufbringen, unsere Rechtsordnungen endlich durchzusetzen. Jeder Flüchtling, der es nach Europa geschafft hat, ruft mit seinem Handy Kollegen und Verwandte an, die ihm baldmöglichst folgen werden. Was ist zu tun?
Erstens: Man muss den Todeskanal übers Mittelmeer schliessen. Die illegalen Zuwanderer sind sofort aufs afrikanische Festland zurückzuschaffen, die Schlepperboote umgehend zu zerstören. Man muss den Leuten unmissverständlich klarmachen, dass der Weg übers Mittelmeer die Investition nicht lohnt und dass die Menschenhändler Märchen erzählen, wenn sie ihre Kunden auf die Kähne locken. Niemand wird Tausende von Franken bezahlen für eine aussichtslose Überfahrt. Mit dieser Massnahme hatten die Italiener Erfolg, als zu Beginn der neunziger Jahre der ganze Staat Albanien nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf Schiffen über die Adria strebte. Sie schickten die Schiffe einfach zurück. Es gab damals allerdings noch kein Dubliner Flüchtlingsabkommen und keine offenen Schengen-Grenzen. Die Italiener waren selber für ihr Territorium verantwortlich. Heute herrscht die organisierte europäische Verantwortungslosigkeit, entsprechend gibt es an den Grenzen keine Ordnung mehr.
Zweitens: Die Europäer, und damit sind die Schweizer mitgemeint, müssen die humanitären Infrastrukturen, wo nötig und sinnvoll, in den Krisenregionen ausbauen. Mobile Anlagen eignen sich am besten. In den Lagern finden die Verfolgten Schutz und Zuflucht. Sie können den Häschern entfliehen, die es auf sie abgesehen haben. Sie bleiben allerdings in ihren Herkunftsregionen, eingebettet in die vertraute Kultur. Sobald die Konflikte enden, können sie in ihre Heimat zurückkehren, um beim Wiederaufbau zu helfen. Das hat zudem den Vorteil, dass der Brain-Drain aus den ohnehin schon armen Staaten nicht noch asylpolitisch verschärft wird. Der linksliberale britische Entwicklungsökonom Paul Collier spricht sich entschieden dafür aus, die Dritte Welt nicht weiter «auszubluten».
Drittens: Die Rettungslager sind im Umfeld der Konfliktherde zu bauen, nicht etwa an der nordafrikanischen Grenze, wie jetzt auch von Bundespräsidentin Sommaruga gefordert wird. Man muss alles daran setzen, dass die echten Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimatstaaten geschützt werden und dort bleiben. Flüchtlingslager in Nordafrika würden nur weitere illegale Migranten aus Afrika anziehen und den Druck auf Europa konstant erhöhen.
Islam und Nächstenliebe
Ziel muss sein: Rettung der wirklich Verfolgten vor Ort. Nicht Migration, Schutz ist das Wesen des Asylgedankens. Es braucht keine Flüchtlingstrecks über Tausende von Kilometern. Wenn die Uno in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, den Regionalmächten und, wenn es sein muss, auch mit dem Westen in den Krisenzonen die humanitären Infrastrukturen für die echt Verfolgten zur Verfügung stellt – in vielen Fällen gibt es sie schon –, dann ist das Ziel erreicht.
Gewiss: Es ist nicht verboten, dass sich die reichen Industriestaaten weltweit humanitär engagieren. Neben dem Herz braucht Hilfe aber auch Verstand. Nehmen wir den Syrienkrieg. Wieso mischt sich der Westen derart ein? Der Libanon und Jordanien, das ist ehrenhaft, beherbergen Flüchtlinge. Aber was ist mit den steinreichen Saudis, den fussballverrückten Katarern und dem Multimilliarden-Emirat Oman? Sie rühren keinen Finger für ihre Glaubensgenossen. Dabei hätten die saudischen Förderer des Fundamentalismus nun endlich die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass der Koran eine Religion der Nächstenliebe formuliert und nicht nur Alibis für Terroristen.
Europa ist nicht schuld an allem
Selbstverständlich darf der Westen helfen, aber er sollte die Regionalmächte nicht von ihrer eigenen Verantwortung befreien. Seit Jahrzehnten pumpen wir Milliarden in die Entwicklungshilfe. Trotzdem geht es den meisten afrikanischen Staaten seit dem Ende der Kolonialzeit schlechter. Ghana, Nigeria, und Burkina Faso hatten einst das höhere Pro-Kopf-Einkommen als China oder Südkorea. Selbst der Kongo verfügte zur Zeit seiner Befreiung über eine exportorientierte Landwirtschaft und einen konkurrenzfähigen Bergbau. Umgekehrt waren einige der ärmsten Regionen der Welt nie westliche Kolonien: Afghanistan, Tibet oder Liberia. Europa ist nicht schuld am wirtschaftlichen Elend in den Flüchtlingsstaaten. Was eigentlich unternehmen die afrikanischen Regierungen, um die tödliche Migration übers Mittelmeer zu stoppen?
Gute Absichten produzieren oft schlechte Ergebnisse. Der von Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy mit Feuereifer betriebene Sturz seines früheren Freunds Gaddafi war ein grosser Fehler. Natürlich war Gaddafi ein übler Diktator, aber zusammen mit Berlusconi hielt er das Mittelmeer wenigstens einigermassen von Menschenhändlern frei. Nach dem Einsturz Nordafrikas stellen wir fest, dass es im Süden Europas nur noch eine grosse offene Grenze gibt. Die EU wird von ihrem aussenpolitischen Leichtsinn eingeholt.
Nicht die Schlepper, nicht die Flüchtlinge, die europäischen Regierungen sind hauptsächlich schuld am Massensterben im Mittelmeer. Weil sie ihr Asylrecht nicht umsetzen, senden sie lockende, mitunter tödliche Signale aus. Die europäische Vollzugsmisere im Migrationsbereich produziert die Leichen im Mittelmeer, aber sie belohnt eben auch Hunderttausende von illegalen Armutsmigranten, von denen 80 bis 90 Prozent lebenslang in den europäischen Sozialsystemen landen.
Deshalb ist es nicht nur ein Gebot des Rechts, sondern auch der Ethik, die Gesetze endlich umzusetzen und den Todeskanal im Mittelmeer für die illegale Migration zu schliessen. Indem wir die Südgrenze abriegeln, retten wir Leben.
Jeder Migrant, der es nach Italien schafft, bringt dem Schleuser zehn Neukunden: Schlepperbande in Zuwara, Libyen, 2014.Bild: Nathan Beck
Wenn es um den Anstrom von Migranten und Flüchtlingen geht, sprechen die Medien gerne von der «Festung Europa». Das mag stimmen, wenn man an den Grenzzaun zwischen Bulgarien und der Türkei denkt, mit dem das EU-Land Bulgarien vor allem syrische Flüchtlinge fernhalten will. Doch wer Europa die Schuld an den jüngsten Schiffskatastrophen im Mittelmeer gibt, bei denen schätzungsweise 1200 Migranten umgekommen sind, macht es sich zu leicht. Selbsternannte Experten sind nun dabei, die europäische Flüchtlingspolitik an den Pranger zu stellen, und fordern grossangelegte Rettungsaktionen auf hoher See.
Es versteht sich dann natürlich auch von selbst, dass den so dem Ertrinkungstod Entronnenen quasi automatisch Asyl gewährt werden soll. Allerdings müsste sich die EU dazu erst einmal auf einen Schlüssel einigen, nach dem die Migranten auf die Mitgliedsländer verteilt würden. Denn es kann ja nicht sein, dass man Italien und Griechenland im Regen stehenlässt, wenn es um die Aufnahme Hunderttausender geht. Genau so sieht allerdings die derzeitige Regelung aus: Verantwortlich für ein Asylgesuch ist jenes Land, in dem der Migrant erstmals europäischen Boden betritt. Und das sind im Fall der Bootsflüchtlinge in erster Linie Italien und Griechenland. Zurücklehnen können sich wegen ihrer geografischen Lage dagegen Staaten wie Schweden. Stockholm gewährt zwar jedem Syrer Asyl, der es aus eigener Kraft bis zur schwedischen Grenze schafft. Doch dafür müssen die Flüchtlinge erst einmal die Fahrt übers Mittelmeer überleben und dann unentdeckt – wieder mit Hilfe von professionellen Schleusern – quer durch Europa bis nach Skandinavien gelangen. Was Stockholm wohl entgangen ist: Seine grosszügige Asylpolitik wirkt wie ein Magnet auf syrische Flüchtlinge. Fast alle Syrer, mit denen ich in den letzten drei Jahren inner- und ausserhalb Syriens gesprochen habe, geben Schweden und Deutschland als bevorzugte Zielländer an. In Italien, Griechenland oder Bulgarien will dagegen niemand enden. Sie dienen nur als Durchgangsländer. Allein das zeigt schon, dass es hier nicht nur um Schutz vor Verfolgung oder Bürgerkrieg geht, sondern eben auch um wirtschaftliche Motive.
Letztes Jahr gelangten rund 220 000 Migranten übers Mittelmeer nach Europa. Ein grosser Teil von ihnen wurde von der italienischen Marine und von Handelsschiffen aus dem Meer gefischt. Wäre etwas dran an der Mär von der «Festung Europa», dann hätte man die Geretteten schnurstracks zurück nach Nordafrika gebracht, zum Beispiel nach Libyen, ins wichtigste Ausgangsland für die gefährliche Reise nach Europa. Doch was hat die italienische Marine in Wirklichkeit mit den Migranten getan? Sie wurden allesamt nach Sizilien gebracht und aufgepäppelt. Danach verschlossen die Behörden beide Augen, denn man wollte sich nicht um die Ankömmlinge kümmern, sondern sie so schnell als möglich loswerden: Von Sizilien mit dem Taxi zur Fähre, dann aufs Festland und danach mit dem Zug nach Milano Centrale. Dort warten Schleuser in der Bahnhofshalle auf Kunden und bieten Autofahrten zum Beispiel nach Hamburg für 1500 Euro pro Person an. Das Ganze ist ein Bombengeschäft.
Von den 220 000 Bootsflüchtlingen des letzten Jahres kamen rund 3500 um. Das entspricht einer Mortalität von 1,6 Prozent. Von tausend Migranten riskieren im Schnitt also sechzehn den Tod durch Ertrinken. Im laufenden Jahr haben es bereits etwa 23 000 Menschen nach Italien geschafft, doch wegen der beiden jüngsten schrecklichen Unglücke schnellte die Zahl der Toten auf ein trauriges Rekordhoch. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind schätzungsweise bereits 1600 Migranten ertrunken – dies obwohl der Winter wegen der schlechten Witterung und der hohen Wellen Niedrigsaison für das Schleppergeschäft ist. Die Mortalität schoss damit auf rund sieben Prozent, also im Schnitt auf siebzig Tote von tausend Bootsmigranten. Viele «Experten» machen jetzt das Ende der italienischen Marineaktion «Mare Nostrum» für diese Tragödie verantwortlich, ohne jedoch die wahren Gründe für das Hochschnellen der Flüchtlingszahlen zu recherchieren. Dazu muss noch gesagt werden, dass kaum einer dieser sogenannten Fachleute jemals in Libyen war und die Verhältnisse an Ort und Stelle kennt.
Die Geldnöte der Milizen
Es sind weder die chaotischen Zustände in Libyen noch ist es das Ende von «Mare Nostrum», was den Flüchtlingsstrom anschwellen lässt und die Zahl der Ertrunkenen sogar überproportional nach oben katapultiert. Erst gerade von einer Reise durch Libyen zurückgekehrt, kann ich nur Folgendes konstatieren: Es ist das zynische Kalkül einer Kriegspartei, das in erster Linie für die vielen Toten verantwortlich ist. Ein Schlepperboss aus der westlichen Hafenstadt Zuwara berichtet, dass die Milizen der «Operation libysche Morgenröte» dringend Geld für ihren Krieg benötigen und dazu übergegangen sind, mit den Schleusern zusammenzuarbeiten.
Die «Morgenröte»-Milizen kontrollieren praktisch die gesamte Küste im westlichen Libyen, also jenen Landesteil, der den italienischen Mittelmeerinseln geografisch am nächsten gelegen ist. Vor dem Bürgerkrieg, der im Sommer 2014 zwischen der «Morgenröte» und den Truppen der international anerkannten Regierung im östlichen Tobruk ausbrach, hatten auch die Milizen in den westlichen Landesteilen dafür gesorgt, dass der Menschenhandel nicht ausser Kontrolle geriet. Es gab ein paar Patrouillenboote der libyschen Marine, und regelmässig wurden mit Migranten überfüllte Schlauchboote und Fischerkähne bei der Überfahrt nach Italien erwischt und von den Libyern zur Küste zurückgebracht. Nun aber ist es zur Kollusion zwischen den Milizen und dem organisierten Verbrechen gekommen.
Der erwähnte Schlepperboss, der aus verständlichen Gründen anonym bleiben will, erzählt, dass er direkt von den «Morgenröte»-Milizen in der Hafenstadt Misrata Aufträge erhalten habe. Die leeren Fischkutter sollen aus Misrata nach Westen der Küste entlangfahren und dabei mit Flüchtlingen «gefüllt» werden, die von Sandstränden im Schlauchboot zu den im offenen Meer wartenden Schiffen gebracht werden. Dabei kommen nicht nur mehr Kähne als früher zum Einsatz, sondern sie werden auch stärker überladen als in der Vergangenheit. Noch vor einem Jahr waren Passagierzahlen von 250 bis maximal 400 üblich bei Fischkuttern. Nun wollten die Milizen die Schiffe mit jeweils 600 bis 800 Migranten vollstopfen, sagt der Schlepper. Das massive Überladen spült zusätzliches Geld in die Kassen der Milizen, ist zugleich aber direkt für die beiden letzten Katastrophen mit zusammen ungefähr 1200 Toten verantwortlich. Und da kein Ende des Bürgerkriegs abzusehen ist, sind weitere Desaster programmiert.
Die Finanznöte der «Morgenröte»-Milizen sind nicht nur auf den Krieg gegen die international anerkannte Regierung zurückzuführen, sondern auch auf das Auftauchen der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) in Libyen. Die wenigen hundert IS-Kämpfer in der zentrallibyschen Stadt Sirte binden Milizionäre und Ressourcen der «Morgenröte»-Truppen. Wer also wirklich den Migrantenstrom eindämmen will, sollte dafür sorgen, dass die Friedensgespräche zwischen den beiden rivalisierenden Regierungen Libyens endlich vorankommen und diese sich am Ende auf den Kampf gegen den IS konzentrieren, statt sich gegenseitig zu zerfleischen.
Omar ist ein junger Schleuser, vom Format her nicht vergleichbar mit dem erwähnten Schlepperboss. Aber er weiss, wovon er spricht. Um Platz zu sparen, dürfen die Flüchtlinge eigentlich nur ihre Handys mitnehmen. Denn wenn sie in Italien ankommen, rufen sie als Erstes ihre Verwandten an und erzählen von der erfolgreichen Überfahrt. Sie alle hätten seine Nummer und gäben sie bereitwillig weiter, erzählt Omar. Jeder Migrant, der es nach Italien schaffe, bringe ihm so zehn Neukunden. Das bedeutet: Je mehr Migranten die Überfahrt schaffen und in Europa aufgenommen werden, desto mehr Menschen werden nachkommen und im Mittelmeer ihr Leben riskieren. Nur ein konsequentes Zurückweisen aller Bootsflüchtlinge könnte – wenn man die rechtlichen Bedingungen anpassen würde – die Anreize drastisch senken, die gefährliche Reise überhaupt zu wagen.
Vergleich mit Vietnams Boat-People
Verbinden könnte man dies mit dem Recht jedes Zurückgewiesenen, bei der Rückfahrt mit der italienischen Marine einen Asylantrag zu stellen. Wo dies nicht möglich ist, könnte man den Migranten die Möglichkeit geben, in Nordafrika bei diplomatischen Vertretungen oder speziell dafür eingerichteten Stellen Asylanträge zu stellen. Denn es sollte wieder einen legalen Weg geben, Asyl in Europa zu beantragen, ohne dass man in Nussschalen übers Meer fahren muss.
Oft werden in letzter Zeit auch Parallelen zu den vietnamesischen Boat-People von Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gezogen. Doch dieser Vergleich hinkt. Die Vietnamesen, viele aus dem im Bürgerkrieg unterlegenen Süden, flüchteten vor einem repressiven Regime. Viele von ihnen wurden wirklich verfolgt. Von den 220 000 Bootsflüchtlingen im letzten Jahr waren aber nur gerade dreissig Prozent Syrer. Vom Rest stammte der grösste Teil aus Schwarzafrika. Das einzig wirklich repressive Senderland war dabei Eritrea, mit einem Anteil von knapp sechzehn Prozent.
Aber selbst bei den Syrern spielt nicht nur die Angst vor Bürgerkrieg und Verfolgung eine Rolle. Die meisten Flüchtlinge reisen nicht direkt aus Syrien via Libyen nach Europa, sondern verbringen Zeit in Flüchtlingslagern, zum Beispiel in der Türkei oder in Jordanien. Dort sind sie den Gefahren bereits entkommen. Wenn sie weiterreisen, tun sie das also primär aus wirtschaftlichen Überlegungen und nicht, weil sie in den Flüchtlingslagern verfolgt wären. Mehr humanitäre Hilfe in Syriens Nachbarländern könnte somit ebenfalls dazu beitragen, die Zahl der Todesfahrten übers Mittelmeer zu senken.
Der Massentod im Mittelmeer schockiert Europa. Allein in diesem Jahr hat die Flüchtlingstragödie bereits dreissigmal mehr Opfer gefordert als in den ersten Monaten des Jahres 2014. Politiker bekunden ihre Solidarität mit den Flüchtlingen. Die «europäische Apathie» sei nicht länger tolerierbar, meint zum Beispiel Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes. In europäischen Städten werden Mahnwachen für die Toten organisiert, die Medien berichten ausführlich und mit grosser Anteilnahme über die Tragödie im südlichen Mittelmeer. Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon ruft die EU zur Solidarität und zu einer Beschleunigung der Hilfe auf.
Interessanterweise stösst das Schicksal der Flüchtlinge ausgerechnet in ihren Heimatländern auf kein grosses Interesse. In den arabischen und afrikanischen Medien wird die Katastrophe im südlichen Mittelmeer unter «ferner liefen» abgehandelt. Kritische Fragen, weshalb Tausende von Menschen das Risiko der Flucht übers Meer auf sich nehmen, werden nicht gestellt. Länder wie Jordanien, der Libanon und die Türkei bieten zwar denjenigen Asyl, die dem Bürgerkrieg in Syrien oder im Irak entkommen sind. Die Hilfe ist aber nicht das Resultat von Nächstenliebe. Vielmehr sind diese Länder nicht in der Lage, ihre Grenzen effizient abzuschirmen. Auf die Menschen, die sich im Libanon oder in Jordanien in Sicherheit gebracht haben, warten denn auch keine Integrationsprogramme, sondern Ausgrenzungsmassnahmen. Solidarität mit Verfolgten sieht anders aus.
Obwohl ein Ende der regionalen Flüchtlingstragödie nicht in Sicht ist, lässt jetzt die Hilfsbereitschaft im Libanon oder in Jordanien nach. Deren Flüchtlingspolitik besteht neuerdings darin, den geflohenen Syrern die Zukunft auch im Asyl zu verbauen. In Jordanien dürfen sie nicht arbeiten. Deshalb müssen sich viele Kinder auf dem Schwarzmarkt verdingen, damit die Eltern und die Geschwister wirtschaftlich überleben. Ähnlich ist es im Libanon. Dort müssen syrische Flüchtlinge neuerdings schwören, keinen Job anzunehmen, sobald sie sich bei den Behörden registrieren. Die reichen Staaten am Persischen Golf unternehmen nichts, um die Not der Araber zu lindern. Die sonst immer gerne und schnell angerufene panarabische Solidarität entpuppt sich einmal mehr als das, was sie ist: eine Floskel ohne Substanz.
Die meisten arabischen Regime tun so, als ginge sie das Elend der flüchtenden Araber nichts an. Sie weigern sich, Verantwortung zu übernehmen. Sie schauen weg, weil sie sonst zugeben müssten, dass die Not der Flüchtlinge durch die Unfähigkeit der Regierungen verursacht worden ist, und weil sie befürchten, das Chaos könnte auch in ihrem Land ausbrechen. Denn auch dort, wo noch Ordnung herrscht und die staatlichen Strukturen intakt sind, fehlt es oft an legitimen Institutionen. Transparenz und Respektierung der Menschenrechte bleiben für viele ein Traum. Wer nur von Europa, nicht aber von den arabischen Regime Taten fordert, nennt die Dinge nicht beim Namen.
Stossend ist es auch, dass ausgerechnet diejenigen Regime, die aufgrund ihrer Energieeinkommen über Milliardenvermögen verfügen, keine Solidarität zeigen. Im Staatsfonds der Vereinigten Arabischen Emirate liegen 773 Milliarden, in denjenigen Saudi-Arabiens, Kuwaits und Katars jeweils 757 Milliarden, 548 und 256 Milliarden Dollar. Aber niemandem kommt es in Doha, Abu Dhabi, Riad oder Kuwait in den Sinn, auch nur einen Mikro-Bruchteil dieser Gelder den Brüdern in Not zukommen zu lassen.
Wenn Sie derzeit in Deutschland punkten wollen, sei es bei Günther Jauch im Fernsehen oder bei einem Nachtmahl in einem Sterne-Restaurant, dann müssen Sie nur sagen: «Wir sind schuld!» Wir sind schuld, dass Millionen von Afrikanern aus Afrika flüchten – weil wir deren Fischbestände leergefischt haben. Wir sind schuld, dass Tausende im Mittelmeer ertrinken, weil wir uns abschotten und Europa zu einer Festung ausgebaut haben. Wir sind schuld an den Zuständen in Somalia, am Bürgerkrieg in Syrien, am Zerfall Libyens, an den vielen Toten im Irak – weil wir uns überall einmischen. Oder weil wir uns eben nicht einmischen.
Nun, es mag etwas dran sein, dass «wir» uns besser im Irak und in Libyen rausgehalten hätten. Dann wären Saddam Hussein und Muammar Gaddafi noch immer an der Macht, und «wir» hätten in diesen Ländern weiter «stabile Verhältnisse» statt Chaos, Gewalt und Verbrechen. Oder auch nicht. Denn kein Mensch kann retrospektiv sagen, wie sich die Dinge entwickelt hätten. In jedem Fall aber gilt das neue «mea culpa»: Wir sind schuld! Und deswegen müssen wir alle, die zu uns kommen wollen, aufnehmen, es sei unsere «christliche Pflicht», unsere Herzen und Türen weit aufzumachen und unseren Reichtum zu teilen, wie es vor kurzem ein bekannter deutscher Journalist forderte, der selbst nicht einmal daran dachte, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Was in diesem Zusammenhang nicht zur Sprache kommt: Was ist aus den vielen Milliarden Euro, Dollar und Schweizer Franken geworden, die «wir» nach Afrika gepumpt haben? Und man muss sehr lange warten, bis jemand mal die Frage stellt, warum die reichen arabischen Staaten nicht intervenieren, die Flüchtlinge aufnehmen und für Ordnung vor der eigenen Tür sorgen. Sie haben genug Platz, viel Geld, allein, es fehlt der Wille. Wo bleibt die muslimische Solidarität, die sich immer dann machtvoll entfaltet, wenn Mohammed beleidigt wird? Man kann nicht tatenlos zusehen, wie Tausende ertrinken. Man muss nur wissen: Je mehr wir zu uns kommen lassen, umso mehr werden ihr Leben riskieren und verlieren, um zu uns zu kommen. Und daran sind wir tatsächlich schuld.
Das Bild erinnert an jüngst ausgestrahlte TV-Aufnahmen vom Mittelmeer, und es spricht eine deutliche Sprache: Es zeigt eine zerbrechliche Nussschale von einem Boot inmitten einer rauen See. Aber das Bild zeigt keine tatsächliche Flüchtlingstragödie, sondern es will solche Dramen überhaupt verhindern. Denn das Foto illustriert ein Plakat, mit dem Australien Flüchtlinge abschrecken will. Sie sollen sich erst gar nicht gewissenlosen Menschenschmugglern und ihren seeuntüchtigen Seelenverkäufern anvertrauen und zu einer lebensgefährlichen Reise ins vermeintlich gelobte Land aufbrechen.
«Keine Chance – ihr werdet Australien nicht zu eurer Heimat machen», lautet der Titel der Kampagne, die seit Ende 2014 online, mit Anzeigen, Plakaten und Videos in vielen Ländern Asiens und Afrikas geführt wird. Sie wurde von der seit anderthalb Jahren amtierenden konservativen Regierung von Premierminister Tony Abbott initiiert und zeigt, was man tun kann, wenn man den Flüchtlingstod auf hoher See stoppen will: Nicht hilflos die Hände ringen wie die Europäer, sondern hart, konsequent und vor allem unmissverständlich durchgreifen.
In siebzehn Sprachen – von Albanisch und Arabisch bis Urdu und Vietnamesisch – verbreitet die australische Einwanderungs- und Grenzschutzbehörde eine einfache Botschaft: Australien wird jedes Schiff, das illegal in seine Hoheitsgewässer eindringt, abfangen und es zu seinem Herkunftsort zurück eskortieren. Wo dies nicht möglich ist, werden die Flüchtlinge in Lagern in den Inselstaaten Papua-Neuguinea und Nauru untergebracht, wo sie sich auf unbestimmte Wartezeiten einstellen müssen, bevor ihre Anträge bearbeitet werden können.
Schonungslos räumen die Fernsehspots mit den Lügen und Legenden auf, die die Menschenschmuggler aus eigenem finanziellen Interesse verbreiten: Nein, es gibt keine Ausnahmen, nicht einmal für alleinreisende Kinder, nicht für Gutausgebildete, nicht für Menschen, deren Angehörigen schon in Australien leben. Auch den Versprechungen, man werde schon durch das um Australiens Küsten gezogene Netz schlüpfen, wird widersprochen: Kein Boot werde durchkommen. «Verschwendet nicht euer Geld, setzt nicht das Leben eurer Familien und Freunde aufs Spiel», warnt die Behörde. «Die Verbrecher stehlen nur euer Geld.»Menschenrechtsorganisationen haben Australien erwartungsgemäss für diesen harten Kurs kritisiert. In den Medien brach weltweit ein veritabler Shitstorm gegen die «Menschenverachtung» und «Grausamkeit» dieser Massnahme aus. Allerdings geniesst eine unnachgiebige Flüchtlingspolitik in Australien quer durch das Parteienspektrum Zustimmung. Schon Abbotts Labour-Vorgänger Julia Gillard und Kevin Rudd hatten Flüchtlinge in Nachbarstaaten untergebracht.
Der Erfolg der jüngsten Abschreckungskampagne gibt der Regierung in Canberra offensichtlich recht: Seit Anfang 2014 hat es kein einziges Schiff mehr an die Küste des fünften Kontinents geschafft. Im Jahr 2013 waren noch 20 000 Illegale an Land gegangen.
Obwohl sich die Behörden mit konkreten Angaben über die Operation zurückhalten, scheint aber auch die Zahl der Flüchtlingsboote zurückgegangen zu sein. Nach den Worten von Einwanderungsminister Peter Dutton wurden in den vergangenen zwei Jahren nur noch fünfzehn Schiffe mit insgesamt 429 Passagieren an Bord aufgebracht. Offensichtlich spricht sich die harte Botschaft schnell herum.
Die jüngste Flüchtlingskatastrophe vor der libyschen Küste hat eine heftige Debatte ausgelöst. Kann Europa tatenlos zusehen, wie Menschen vor unseren Augen ertrinken, nur weil sie Krieg und Elend zu entfliehen versuchen oder für sich und ihre Familien schlichtweg ein besseres Leben anstreben? Die ebenso brisante Frage lautet: Macht Europa sich durch seine als „Abschottung“ gebrandmarkte Politik nicht mitschuldig am Tod von Menschen? Aber ist eine Massenflucht nach Europa die Lösung und was wären die Konsequenzen? Darauf gibt es viele emotionale Reaktionen – und kaum Analyse. Deshalb einige Fragen über den Tag und die Betroffenheit hinaus.
1. Die EU-Politik: Humanität oder Empörungs-Management?
Wann immer im Mittelmeer ein Seelenverkäufer oder ein Schlauchboot voller Migranten havariert oder sinkt, entfaltet sich ein Schauspiel von beschämender Vorhersehbarkeit, schreibt die Neue Zürcher Zeitung in einer Klarsichtigkeit, die es in Deutschland nicht mehr gibt: „Der betroffene Anrainerstaat verlangt Geld aus EU-Töpfen, die Brüsseler Kommission will ihre Zuständigkeiten ausbauen, und die Minister der Mitgliedstaaten erklären mit sorgenvollem Timbre, nochmals dürfe sich eine solche Tragödie nicht ereignen, während sie doch hauptsächlich ihre nationalen Interessen im Auge haben. Nirgendwo wird so viel geheuchelt und vernebelt wie in der Flüchtlingspolitik. Natürlich enthält die gegenwärtige Vorgehensweise ein Element der Abschreckung. Man stellt nicht genügend Schiffe bereit, um allen Schiffbrüchigen zu helfen, weil man keinen Anreiz zur Flucht über das Mittelmeer bieten möchte. Damit nimmt man den Tod von Menschen in Kauf, die nichts anderes wollen als ein besseres Leben. Dies ist, wer könnte es leugnen, ein zynisches Kalkül. Anderseits müssen die Regierungen die Aufnahmebereitschaft in ihren Ländern berücksichtigen. Es ist niemandem geholfen, wenn Populisten Zulauf erhalten, weil die Bürger fürchten, dass die Einwanderung ausser Kontrolle gerät…
Zwischen dem Anspruch auf Humanität und der Notwendigkeit, die europäische Identität zu bewahren, herrscht ein unlösbarer Zielkonflikt. Zur Ehrlichkeit gehört, dass sich hier keine einfachen Rezepte finden lassen – und dieses Dilemma wird nicht kleiner, wenn man gegen die «Festung Europa» und deren angebliche Unmenschlichkeit polemisiert oder das Totalversagen der europäischen Flüchtlingspolitik beklagt. Für die Kritiker gibt es das Hochgefühl moralischer Überlegenheit gratis; verantwortungsvolle Entscheidungen hingegen sind immer mit dem Wissen um die Unzulänglichkeit der getroffenen Massnahmen verbunden. Die EU wird nie eine für jeden Flüchtling sichere Brücke über das Mittelmeer bauen, schliesslich errichtet sie auch zu Lande Barrieren. Zäune schützen die Aussengrenzen der Union. Im Hinterland wiederum versuchen die Staaten mit bürokratischer Akribie zu verhindern, dass Flüchtlinge Asyl beantragen. Daran wird sich nichts ändern, und deshalb ist der von der Kommission vorgestellte Zehn-Punkte-Plan Augenwischerei. Etwas mehr Finanzmittel, ein paar zusätzliche Schiffe dienen vor allem dem Empörungs-Management in den Mitgliedsländern, in denen die Fernsehbilder der um ihr Leben kämpfenden Migranten Konsternation auslösen – bis dann eine andere Katastrophe die Aufmerksamkeit beansprucht.
Die Politik befindet sich in einem Dilemma: Die öffentliche Erregung pendelt zwischen Mitleid und Ablehnung von Flüchtlingen; sie ist in jedem Fall radikal und emotional. Die Kühle der Notwendigkeit aber erzwingt eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen – und nimmt damit massenhaften Tod in Kauf. Kurzfristige Lösungen gibt es nicht, alles andere ist Augenwischerei.
2. Sind Fähren aus Nord-Afrika die Lösung?
Immer wieder wird gefordert, Menschen direkt aus Afrika nach Europa und insbesondere nach Deutschland zu bringen. Insbesondere die Grünen fordern in jeder Nachrichtensendung „sichere Fluchtwege nach Europa“. Das würde bedeuten: Da schon heute die massenhafte Flucht von den Behörden nicht bearbeitet werden kann und abgelehnte Bewerber ohnehin in den allermeisten Fällen in Deutschland bleiben, wäre es der Beginn einer wirklichen Masseneinwanderung. Nach Informationen der Berliner Zeitung sind beispielsweise die Mitarbeiter der Berliner Ausländerbehörde so überlastet, dass sie Duldungen für Asylsuchende jetzt für 18 Monate ausstellen, damit die Antragsteller nicht so schnell wiederkommen. Aber ist das wirklich die Lösung?
Derzeit sind weltweit 50 Millionen Menschen auf der Flucht; die Allermeisten in den jeweiligen Ländern oder in den Nachbarstaaten. Aber kann Deutschland wirklich mehrere Millionen von Flüchtlingen aufnehmen? Ob wir es wollen oder nicht, es gilt auch die Aufnahmebereitschaft zu berücksichtigen.
Europa kann gar nicht anders, als den Zustrom zu steuern, und das heisst: ihn zu beschränken. Das mag grausam klingen. Aber wer unbegrenzte Einwanderung fordert, sollte sich schon mal dazu äußern, wo die Flüchtlinge wohnen sollen, welche Arbeitsplätze es für sie gibt, oder woher die Sozialleistungen kommen sollen, wer sie leistet und wie die unvermeidlich notwendige Integration organisiert wird. Oder hört die Debatte schon auf, wenn wir neue Slums am Rande der Großstädte einrichten mit faktisch ausgegrenzten Einwanderern, die dann Bürger 2. Klasse sind? Und sind wirklich alle Flüchtlinge lieb im Sinne der grünen Ideologie? Schon jetzt zeigen sich massive Folgen der Nicht-Integration von Jugendlichen aus dem arabischen Kulturraum. Jagd auf Schwule, Angriffe auf Frauen, aggressive Jugendliche, die mit der IS in den Krieg zum Köpfe-Abschlagen ausreisen und es auch für Deutschland ankündigen – solche Nachrichten dürfen ja in Deutschland nicht mehr verbreitet werden, um ja keine rassistischen Untertöne zuzulassen – aber sie sind Folge eines Weltbildes, das nicht dem unserer “Wertegemeinschaft” entspricht, wenn es die denn noch außerhalb des Mainstreams gibt. Die viel beschworene rotgrüne Zivilgesellschaft bleibt dann als allererstes in immer größeren Stadtvierteln auf der Strecke. Auf eine derart massive Einwanderung ist Deutschland nicht vorbereitet, und es gibt kein mir bekanntes Land der Welt, das auch nur auf die Kontrolle so weitgehend verzichtet: Geprüft wird inzwischen nicht einmal mehr, ob Straftäter oder militante Dschihadisten ins Land kommen, schreibt die Berliner Zeitung in dem oben zitierten Bericht weiter. Denn wegen des hohen Arbeitsaufkommens wird auf die obligatorische Anfrage an die Sicherheitsbehörden verzichtet, bevor einem Bewerber die Erlaubnis zur Niederlassung erteilt wird.
3. Sind die Deutschen Rassisten?
Es gibt kaum ein Land in Europa, das in den letzten Jahrzehnten derart viele Einwanderer und Flüchtlinge aufgenommen hat wie Deutschland. Bei jedem Zwischenfall kommt dann wieder der Rassismus-Vorwurf. Aber das ist absurd. In Großbritannien, den Niederlanden oder Frankreich gibt es wesentlich härtere und massivere rassistisch motivierte Vorfälle. Und es ist das Recht jeden Bürgers, sich gegen eine derart massive Veränderung der Kultur und des gesellschaftlichen wie staatlichen Lebens auszusprechen, die hier faktisch stattfindet. Dabei ist die Aufnahmebereitschaft nach wie vor überwältigend groß. Jeder zweite Deutsche will mehr Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufnehmen. Das ist eines der Ergebnisse des DeutschlandTrends des ARD-Morgenmagazins. Mit 44 Prozent der Befragten sind aber auch viele Deutsche gegen eine verstärkte Aufnahme.
Die beste Hilfe bei der Bekämpfung künftiger Flüchtlingskatastrophen ist nach Ansicht der großen Mehrheit der Deutschen, die Beseitigung der Fluchtursachen in den Heimatländern. Dazu sei mehr finanzielle Hilfe nötig. Mehr als zwei Drittel der Deutschen (70 Prozent) sind laut der Befragung dafür, weitere legale Möglichkeiten zur Einwanderung nach Europa zu schaffen. Etwa jeder Vierte (27 Prozent) lehnt diese Idee ab. Mehr Geld für Rettungsschiffe finden 62 Prozent der Deutschen richtig. Seeblockaden für Flüchtlingsboote nach australischem Vorbild stoßen indes bei 63 Prozent auf Ablehnung, 32 Prozent finden diese Maßnahme richtig.
Der Deutschlandtrend ist eine Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des ARD-Morgenmagazins. Befragt wurden vom 20. bis 22. April 1.000 Bundesbürger. Rassismus sieht anders aus. Aber mit dem Rassismus-Vorwurf wird versucht, die kritische Diskussion zu vermeiden. Es ist ein widerlicher Tabuisierungsversuch, um demokratische Prozesse zu blockieren.
4. Wer profitiert von der Einwanderung?
So lange es eine wachsende Kluft zwischen armen und reichen Ländern gibt, wird es auch Wanderung geben – und den Versuch der Reichen, diese zu beschränken. Wobei “reich” sich eher auf diejenigen bezieht, die in der Wohlstandspyramide in den reichen Ländern relativ weit unten rangieren. Es ist ja nicht so, dass es nur eine begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen gäbe. Es hängt nur vom Preis der Arbeit ab: Niedrige Löhne ermöglichen mehr Beschäftigung. Generell sind beispielsweise die deutschen Arbeitgeberverbände extrem zuwanderungsfreundlich; klar, das drückt die Löhne und erhöht das verfügbare Arbeitskräftepotential. Der Wettbewerb um Arbeitsplätze wird am unteren Ende der Einkommenshierarchie ausgetragen; die Mieten billiger Wohnungen steigen, nicht so sehr in den Villenvierteln. Es sind die Schulen in den prekären Stadtvierteln, die zusammenbrechen, weil sie die Integrationsaufgabe nicht leisten können – nicht die teuren Privatschulen. Auch die Dienstmädchen werden wieder billiger. Deutschland hat sich in seinem Wohlstand wohlig eingerichtet. Wir haben Mindestlöhne, die aus globaler Sicht phantastisch hoch sind. Wir begrenzen wirtschaftliche Aktivität – gerade lese ich von einem Gewerbegebiet in einer Kiesgrube, das nicht gebaut werden darf, weil drei nicht sehr seltene Salamander gesichtet wurden. Wir schalten funktionierende Kraftwerke ab und investieren in Neue – das alles habe ich hier nicht zu kritisieren.
Aber: Der unfassbare gesellschaftliche Wohlstand wird in unfassbar hohen privaten Konsum investiert – und in gewaltige Sozialleistungen, riesigen Staatsverbrauch mit hohen Gehältern, alles im internationalen Vergleich. Der Wohlstand wird künstlich durch Wachstumsbeschränkungen und gewollte Ineffizienz reduziert; Bauvorschriften, Regulierungen, Mindeststandarts, was weiß ich. Das klappt ganz gut in einer stagnierenden Wirtschaft. Eine auch bevölkerungsmäßig wieder wachsende Gesellschaft müsste anders reagieren, robuster, wachstumsorienterter; mit mehr Beton statt Burn-Out. Wer umverteilen will, muss auch sagen: Wo wird weggenommen, wem wird weggenommen? Um es konkret zu machen: Flüchtlinge müssen irgendwo wohnen.
Wird dann das riesige, brachliegende Tempelhofer Feld in Berlin verbaut für neue Mietskasernen einfacher Wohnungen? Treiben wir die Baukosten weiter künstlich hoch durch irgendwelche gutgemeinten Auflagen für das Weltklima – oder bauen wir schnell und billig für die neuen Millionen? Oder halten wir das Feld frei für die, die bereits da sind und es für sich als zusätzliche Grünfläche und Schrebergarten nutzen? Das sind schmerzhafte Fragen, wie alle Verteilungsfragen. Dieser Wohlstand funktioniert nur, weil eine hocheffiziente Wirtschaft für immer mehr ineffiziente oder versorgte Bürger sorgt, sorgen kann. Aber auch das findet ein Ende. Mit Mietpreisbremsen werden die Wohnungen nicht gebaut, die wir brauchen, wenn wir die unmenschlichen Massenlager auflösen. Und das gilt auch für alle anderen gesellschaftlichen Luxus-Bereiche einer alternden Gesellschaft. Die natürlich auch ihren Charakter ändern wird. Hungrige Einwanderer könnten sich möglicherweise nicht an die flauschigen Regeln halten, die Deutschland so gemütlich machen. Die zornigen, jungen Männer werden sich holen, worauf sie glauben, Anspruch zu haben. Eine Einwanderungsgesellschaft ist von harten Konflikten geprägt zwischen denen, die schon lange da sind und das haben, was die dazukommenden erst wollen. Und das gilt nicht nur materiell; es gilt auch kulturell. Die rasante Veränderung in eine echte multikulturelle Gesellschaft wird anders aussehen, als sie in Sonntagsreden beschönigend beschworen wird.
5. Flüchtling ist kein Beruf. Oder doch?
Deutschland wird in diesem Jahr voraussichtlich 400.000 Flüchtlinge aufnehmen – so viele Einwohner, wie in Münster oder Bochum leben, oder in Saarbrücken und Potsdam zusammen. Viele wollen, dass wir noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Das klingt gut. Aber wer rettet, muss auch sagen, wie es weitergeht. Genau da werden die Empörten schnell leise. Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland wirklich aufnehmen? Antwort: Fehlanzeige. Wie werden sie in Lohn und Wohnung gebracht? Fehlanzeige. Heute dürfen Flüchtlinge meist nicht arbeiten. Das schützt Deutsche vor schwarzer Konkurrenz um Arbeitsplätze. Aber bei so vielen Flüchtlingen kann es so nicht bleiben. Keine Arbeit – das demotiviert, verhindert echte Integration. Anwohner ärgern sich über herumlungernde Asylbewerber – aber wer sie auch nur zum Schneeschaufeln beschäftigt, macht sich strafbar! Deshalb musste die Bahn ihren Pilot-Versuch stoppen: Kofferträger für 1 €. Von Beruf Flüchtling – das kann nicht sein, sagt der Arbeitsmarktforscher Klaus Zimmermann.
Aber wie bringt man Menschen in Arbeit, die nicht deutsch sprechen, keine Berufsausbildung haben oder die nicht nachweisen können, dass sie eigentlich Ärzte oder Ingenieure sind? Völlig neue Konzepte sind gefragt: Sie könnten bei „Handwerkern und Betrieben eine Lehre machen“, fordert der frühere Oberbürgermeister von Stuttgart, Wolfgang Schuster, der sich intensiv mit Integration befasst: „Aber weil wir alles können außer Hochdeutsch, sollen diese Lehrlinge intensiv mit Sprachlehrern im Betrieb und in der Berufsschule deutsch lernen“. Das klingt nach einem guten Vorschlag. Aber er scheitert am starren System der Besitzstandswahrung. Deutschland fehlen einfach die einfachen Arbeitsplätze für Unqualifizierte; dazu sind die tariflich und per Mindestlohn durchgesetzten Löhne einfach zu hoch.
Wollen wir wieder eine Billig-Lohn-Industrie? Flüchtlinge könnten etwa in der Landwirtschaft arbeiten; auf den Spargelfeldern Arbeitskräfte aus der Ukraine und Polen ersetzen. Ist das eine gesellschaftlich akzeptable Lösung? Weil sie nicht sehr produktiv sind, müssten allerdings die Mindestlöhne entfallen, damit unqualifizierte Arbeit ihr Geld wirklich wert ist. Das treibt die Gewerkschaften schnell auf die Palme. Flüchtlinge sollen massenhaft kommen – aber wovon sollen sie leben? Sollen sie immer als „Beruf Flüchtling“ angeben und von öffentlicher Unterstützung leben? Mit niedrigen Anfangslöhnen könnten Flüchtlinge ihren Unterhalt wenigstens teilweise verdienen, statt als Berufsflüchtlinge nur auf Hilfe angewiesen zu sein. Wer sich qualifiziert – steigt auf. Menschen mit Berufsausbildung gehen oft wieder zurück in ihr Herkunftsland; beobachtet Klaus Zimmermann, um sich dort eine Existenz aufzubauen. „Das würde Deutschland entlasten“. Aber dafür müßte das Lohnsystem aufgebrochen werden – und das hätte auch Folgen für den “White Trash”, um einen amerikanischen Ausdruck schonungslos zu verwenden – die wenig einsatzbereiten und einsatzfähigen Deutschen würden schnell endgültig verdrängt und schneller in den neuen Prekariatsvierteln landen, als wir uns das so vorstellen.
Und was vernünftig klingt, ist umstritten. Arbeitsverbote sollen Wirtschaftsflüchtlinge abschrecken. Wirtschaftsflüchtlinge haben kein Asylrecht und werden nur „geduldet“. Dabei sind gerade sie hoch motiviert und könnten den Fachkräftemangel beheben, den Bevölkerungsinfarkt lindern, weil die Deutschen zu wenig Kinder haben. So kommen die, die Deutschland nicht braucht und so wird ausgesperrt, wen Deutschland brauchen könnte. Deutsch lernen, Schulabschluss und Integrationskurse für Flüchtlinge allerdings sind teuer. Deshalb fordert der Professor Hermann Heußens (lehrt in Osnabrück „Recht der sozialen Arbeit“) eine „Demografie-Abgabe zu Gunsten der Flüchtlinge“: Die sollen Menschen bezahlen, die keine Kinder haben. „Wer keine Kinder hat, spart pro Kind im Jahr durchschnittlich 4.500 €.“ Mindestlöhne aussetzen, Demografie-Abgabe, Integrationskurse? Das klingt für viele radikal, riecht nach Ausbeutung von Flüchtlingselend. Aber wer Flüchtlinge rettet, muß auch sagen, wovon sie leben sollen – und wer für ihre Integration zahlt.
6. Ist Europa besonders grausam?
Es gibt Grenzzäune in den USA gegen Mexiko; Australien, das berühmte Einwanderungsland, schottet sich massiv ab. Die arabischen und muslimischen Flüchtlinge werden in den reichen Öl-Scheichtümern am Golf und Saudi-Arabien nicht akzeptiert, obwohl dort Millionen von Wanderarbeitern aus Asien die eigentliche Arbeit machen. Aufnahme der Flüchtlinge in diesen Ländern wäre sicherlich in jeder Hinsicht besser. Es ist schon seltsam, dass das immer noch christlich geprägte Europa, und dort das so rassistische Deutschland, plötzlich das Ziel der Migration ist – und die muslimischen und arabischen Staaten sich die Hände in Unschuld waschen.
7. Muß Europa eingreifen?
Wenn Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann, müssen die Fluchtursachen bekämpft werden.
Aus dem Schwarzpeterspiel aller Beteiligten wird erst dann Politik, wenn es Europa gelingt, an drei zentralen Parametern des Flüchtlingselends anzusetzen: bei der Lage in den Herkunftsstaaten, den Transitrouten und der Politik der Aufnahmeländer; auch der arabischen. Die Europäer machen gerade die Erfahrung, dass man von einer Krise nicht verschont bleibt, nur, weil man diese wie in den vergangenen Jahren einfach ignoriert. In Syrien, wo derzeit die meisten Flüchtlinge herkommen, wurde durch Nichtstun die Chance verspielt, im Bürgerkrieg früh zu intervenieren. Heute herrscht dort ein grösserer humanitärer Notstand als in den neunziger Jahren auf dem Balkan. In Libyen, der wichtigsten Drehscheibe des Menschenhandels, folgte auf die Luftangriffe gegen Ghadhafi kein Engagement am Boden. Tatenlos schauten Nato und EU dem Zerfall des Landes zu. In diesem rechtsfreien Raum finden die Flüchtlingsströme ihren Anfang.
Allerdings wird der Aufbau funktionierender Staaten nicht einfach sein. Bekanntlich kriegt Europa ja nicht einmal Griechenland zu einem halbwegs funktionierendem Staat gewendet, weil die alten Klaukratien sich nur an den EU-Milliarden bedienen, statt zu reformieren. Viel Spaß mit Lybien! Willkommen in Syrien! Europas Beamte und Politiker – reformiert den Sudan? Wie wäre es gleich mit Somalia, einem der Länder mit dem massivsten Flüchtlingsexport? Wer hier eingreift, scheitert – oder ist zu einer Härte gezwungen, die in Europa niemand mehr vertreten kann. Sehr schnell werden die Kritiker von Neo-Kolonialismus sprechen. Denn darum geht es, wenn Sonderzonen für Flüchtlinge errichtet werden. Trotzdem muss Europa eingreifen. Aber schnelle Lösungen sind nicht in Sicht. So lange wird das Drama weitergehen – und sich verschärfen.
Neulich sagte mir eine junge Frau, daß sie das Buch „Der kastrierte Mann“ lesen möchte. Sie meinte damit zwar „Der dressierte Mann“ von Esther Vilar, aber in der Sache lag sie schon richtig. Aber nicht nur die Männer werden zunehmend von Institutionen kastriert, die Frauen und alle anderen Geschlechter, die es heute schon gibt, werden ebenso entmündigt, durch eine wachsende Schar von Pädagogen, Psychologen, Soziopathen, Psychotherapeuten, und, und, und… Schon im Kindergarten wird gegen den Krieg demonstriert, und natürlich wird von klein auf Israelkritik geübt, was sonst. Das Land verwandelt sich zurück in eine wogende Brabbelblase von Teletubbies, die nur noch Fressen, Saufen und Ficken im Sinn haben, was sie Selbstverwirklichung dann nennen, oder die Suche nach ihrem Selbst. Zwei Beiträge illustrieren im Folgenden diesen offenbar unaufhaltbaren Trend, von Alex Bauer und von Penelope Meyer. Viel Vergnügen beim Lesen! Und nicht vergessen: der Gutmensch hat immer recht!
Der dressierte Bürger
Laien im Sozialwesen werden zunehmend durch Profis ersetzt. Das System wurde damit nicht besser, nur teurer. Denn Lebenserfahrung kann man an keiner Hochschule lernen.
Von Alex Baur
Bevor sich die Bundesversammlung in die wohlverdienten Weihnachtsferien verabschiedete, brachte sie am 19. Dezember 2008, zusammen mit fünfzehn anderen Vorlagen zwischen Tabaksteuer, Musikförderung und Güterverkehr, noch schnell die Revision des Vormundschaftsrechts ins Trockene. Der Ständerat nickte das Gesetzeswerk einstimmig ab, an dem seit 1993 gewerkelt wurde. Im Nationalrat votierten lediglich zwei SVP-Vertreter (Christian Miesch, BL, und Pirmin Schwander, SZ) gegen eine Phalanx von 191 Ja-Sagern. Selbst Christoph Blocher, der die Vormundschaftsvorlage als Justizminister vorübergehend mit betreut hatte, unterstützte diese seinerzeit – was ihm der Blick letzte Woche genüsslich um die Ohren schlug.
Denn mittlerweile ist die grosse Eintracht in eine allgemeine Ernüchterung umgeschlagen. Während Journalisten mit Klagen über Amtsschimmel und Willkür bei den neugeschaffenen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) überschwemmt werden, ächzen die Gemeinden unter einer Kostenexplosion, die sie auf das neue Vormundschaftsrecht zurückführen. Seit die Laien entmachtet wurden, so der Tenor, würden realitätsferne Fachteams in ihren Amtsstuben die «Sozialindustrie» mit teuren und oft fragwürdigen Aufträgen füttern.
In Basel-Stadt zum Beispiel stieg der Aufwand für vormundschaftliche Massnahmen in den letzten vier Jahren um satte 34 Prozent, auch im Baselbiet laufen die Kosten gemäss einer Recherche der BAZ unter dem neuen Regime aus dem Ruder. Professionalität habe eben ihren Preis, kontern Vertreter der KESB, das Problem liege auch bei den Gemeinden. Diese würden schwierige Klienten heute gerne an die Profis abschieben, selbst wo dies nicht nötig wäre.
Trügerische Botschaft des Bundesrates
In der Botschaft des Bundesrates zum neuen Abschnitt «Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht» im Zivilgesetz – der Begriff «Vormundschaft» wurde aus dem Vokabular gestrichen, da «stigmatisierend» – war von Geld keine Rede. Die Schrift vermittelt den Eindruck, dass es im Wesentlichen darum gehe, «das Selbstbestimmungsrecht zu fördern» und die Rechte der Betroffenen auszubauen. Eher beiläufig wird gegen Ende der Botschaft moniert, das Vormundschaftswesen sei «heute uneinheitlich und unübersichtlich organisiert». Die «politisch gewählten Laien ohne einschlägige fachliche Aus- bildung» sollten, wie von der Fachwelt schon lange gefordert, deshalb durch Profis ersetzt werden.
Was am Rande erwähnt wurde, erweist sich nun als Herzstück der Reform. Das Vormundschaftsrecht reiht sich damit ein in die Galerie der Gesetzesrevisionen, die als sanfte Modernisierung verkauft worden sind, tatsächlich aber tiefgreifende Systemänderungen nach sich zogen. Augenfällig ist die Analogie zum Strafrecht. Auch hier wurde vorweg der Geist des Gesetzes vernebelt, in dem man verständliche Begriffe («Zuchthaus», «Gefängnis») durch politisch korrekte Wortkreationen («Freiheitsentzug») ersetzte; auch hier urteilen heute Fachgremien in ihren Kabinetten unter Ausschluss der Öffentlichkeit; auch hier wurden die Laien aus dem Recht verbannt.
Dabei ging sträflich vergessen, dass das Laienelement im Staatswesen keineswegs ein Manko ist, sondern ganz bewusst herbeigeführt wurde. Historisch gesehen, handelt es sich um eine Errungenschaft der Aufklärung und der Französischen Revolution, welche das Institut der Geschworenen hervorbrachte. Die Laien sollten ein Brücke schaffen zwischen Regierung und Regierten, die Öffentlichkeit des Prozesses sollte vor Willkür schützen. Der Obrigkeit und der Beamtenschaft wurde damit das Privileg entzogen, selbstherrlich über Recht und Unrecht zu entscheiden. Juristen haben wohl über die Rechtssicherheit zu wachen, doch was nicht nur recht, sondern auch gerecht ist, das entscheidet das Volk.
Fachleute nur, wenn alle Stricke reissen
Anders als die Medizin oder die Physik, die man getrost den Ärzten und Ingenieuren überlassen darf, sind Justiz und Politik keine exakten Wissenschaften. Das gilt erst recht für den sozialen Bereich. Wie man Kinder am besten erzieht, den Alltag bewältigt und mit anderen Menschen umgeht, das liegt in der Kernkompetenz eines jeden mündigen Bürgers. Es sind dies Fähigkeiten, die man nicht an einer Universität, sondern nur durch praktische Erfahrung erlernen kann. Fachleute haben auf diesem Feld höchstens eine beratende Funktion, und auch das nur, wenn alle Stricke reissen.
Jede soziale Institution, und sei sie noch so gut gemeint, untergräbt die natürliche Solidarität in der Gesellschaft. Wo der Staat die Verantwortung übernimmt, tritt der Bürger zurück, wird vom handelnden Subjekt zum passiven Objekt. Die öffentliche Wohlfahrt ist gleichsam eine sanfte Art der Dressur: Dem Individuum wird Sicherheit geboten, dafür soll es sich dem gutgemeinten Rat der Fachleute unterwerfen. Vom gesunden Essen (vegan wäre auch gut fürs Weltklima) über Gender-Mainstreaming (Puppen auch für Buben) und Sexualkunde (nur mit Gummi) bis zur täglichen Mobilität (ÖV gut, Auto böse) leiten sie den Bürger auf den Pfad der Tugend.
Bis Weihnachten 2008 galt für den mündigen Bürger gleichwohl das Prinzip: Wo eine formale Bevormundung unausweichlich ist, hat diese, wenn immer möglich, durch Freiwillige im nahen und vertrauten Umfeld zu erfolgen – in der Familie, im Quartier, in der Gemeinde. Das neue Gesetz degradiert die freiwilligen Helfer nun selber zu Bevormundeten. Und das ohne Not, obwohl sich das historisch gewachsene System leidlich bewährt hatte – und (fast) ohne lästige Widerrede. Die Dressur zeitigte offenbar bereits Wirkung.
Jahrelang lebte ich glücklich mit meinem Kind im Kanton Schwyz. Bis ich plötzlich bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) antraben musste. Damit begann ein nicht enden wollender Albtraum. Ein Erfahrungsbericht in zwei Teilen
Von Penelope Meyer*
Sie wollen sich an Ihrem oder Ihrer Ex rächen, mit dem oder der sie ein Kind gezeugt haben, um das Sie sich aber nicht kümmern, weil Sie freiwillig irgendwo anders leben, zum Beispiel auf Bora Bora? Wenn Sie mit einem Schweizer oder einer Schweizerin verheiratet waren, dann haben Sie Glück: Sie gehen einfach zur Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB).
Sie müssen sich dafür nicht einmal in die Schweiz bewegen, Sie können bequem auf Bora Bora bleiben und weiterhin Ihren Hobbys frönen. Alles, was Sie brauchen, ist Geld für einen Anwalt, der die Behörde mit Anträgen zuschüttet, vom Antrag auf Urlaub bis hin zum Antrag auf Erziehungsbeistand. Damit machen Sie Ihrem Ex-Partner, der sich Tausende von Kilometern von Ihnen entfernt tagtäglich um Ihr Kind sorgt, garantiert die Hölle heiss. Manchmal ist die Kombination von zu viel Zeit und zu viel Geld der Anfang von grossem Übel. Zu viel Zeit und Geld hat in diesem Fall nicht nur der auf Bora Bora weilende Antragsteller, sondern – was noch bedenklicher ist – die Schweizer Behörde, die in diesem Bericht im Fokus stehen soll.
Vor wenigen Monaten erhielt ich eine Einladung vom Schweizer Fernsehen, um mich als Gast einer Diskussionsrunde zu einem Thema zu äussern. Das Thema interessierte mich, und ich wollte schon zusagen, da bekam ich – nur Minuten später – eine von meiner Anwältin weitergeleitete E-Mail von der KESB. Es hiess darin, es seien verschiedene Anträge eingegangen und ich solle sofort vorbeikommen, damit man mir «die Sachlage» erklären könne. Ich rief meine Anwältin an. Sie winkte ab: Die KESB sei juristisch nicht zuständig, aber vielleicht könne man das ja im Rahmen eines Vermittlungsgesprächs klären. Vor allem sollte man verhindern, dass immer wieder Anträge eingehen, denn das könnte der Antragsteller immer wieder tun, wenn er erst mal Spass daran gefunden habe. Das wäre dann gewissermassen staatlich anerkannter und finanzierter Psychoterror.
«Unverzüglich!»
Man geht davon aus, dass in einer Behörde, die den Begriff «Schutz» im Namen trägt, vernünftige Menschen sitzen. Menschen mit Sach- und gesundem Menschenverstand. Mit anderen Worten: Ich ahnte nichts Böses.
Ich rief an, um einen Termin zu vereinbaren. Es hiess, ich müsse sofort kommen. Aus beruflichen Gründen gehe das erst die kommende Woche, erklärte ich, überrascht über die Dringlichkeit. Man beharrte: «Unverzüglich!» Mir entging nicht der drohende Ton. Kurzerhand sagte ich die Fernsehsendung ab und fuhr hin. Aber es machte mich doch stutzig: Hat die KESB wirklich nichts Besseres zu tun, als sich mit dem fragwürdigen Antrag auf einen massgeschneiderten Urlaub eines Elternteils auseinanderzusetzen, der sich zwanzig Flugstunden weit weg befindet und – aus meiner Sicht – vollkommen unangemessene Sonderwünsche äussert? Aber auf den Schweizer Sozialbehörden hat man ja bekanntlich gerade für Sonderwünsche besonders viel Verständnis. Vielleicht beschäftigen sie sich einfach lieber mit Luxusproblemen von Leuten, die zu viel Zeit und Geld haben, als mit dem realen Elend, für das eine Kinderschutzbehörde eigentlich zuständig wäre.
Im oberen Stock eines modernen Gebäudes führt mich ein Mann in kariertem Hemd in ein Zimmer, eine Art Klassenzimmer mit Projektor. Eine Wandtafel ist da, unbenutzt, und alles ist neu. Die Möbel und der Teppich riechen, als wären sie gerade erst geliefert worden.
Sie sind zu zweit. Herr T. und Frau K. Die Frau fragt mich als Erstes, wie ich auf die Idee komme, einen Termin verschieben zu wollen. Überrascht von der Frage und dem abstrafenden, vorwurfsvollen Ton, erkläre ich, dass ich freiberuflich tätig bin. Manchmal müsse ich kurzfristig Entscheidungen treffen, zum Beispiel die Einladung in eine Fernsehsendung wahrnehmen. Ich hätte die jetzt aber abgesagt, damit ich hier mit ihnen reden könne. Herr T. und Frau K. nicken einmütig, irgendwie zufrieden und als wäre das selbstverständlich.
Dann lehnt sich Herr T. zurück und packt einen Kaugummi aus. Kauend mustert er mich und beginnt Notizen zu machen. Innerlich schüttle ich den Kopf: Macht man das – Kaugummi kauen –, während man in einer Anhörung einer Mutter gegenübersitzt? Ist das jetzt mangelnde Erziehung, mangelnder Respekt, Machtgehabe oder alles zusammen? People skills, davon hat man bei der KESB offenbar noch nichts gehört.
Aber Herr T. hat keine Bedenken. Er ist sich sehr sicher. Genau genommen habe ich in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen getroffen, der sich so sicher war wie Herr T., und ich habe einigen begegnen dürfen, und deshalb bin ich verblüfft und frage mich, wie es möglich ist, dass ein Herr T. sich wichtiger fühlt als – sagen wir – Prince Charles?
Herr T. ist ein Sozialarbeiter, Frau K. eine ehemalige Kindergärtnerin. So stellen sie sich vor. Ist das alles? Braucht man keine kinderpsychologische Ausbildung, eine gewisse Fachkenntnis, um auf einem Amt für Kinderschutz zu arbeiten? Offenbar nicht.
Irgendwo habe ich mal gelesen, die Leute, die für die KESB arbeiten, seien professioneller als diejenigen, die früher arbeiteten, als die Institution noch Vormundschaftsbehörde hiess – eine unrühmliche Behörde, die man mit Verdingkindern und grausamen, menschenverachtenden Aktionen in Verbindung bringt. Alles soll jetzt besser sein, nicht nur der neue Teppich.
Im Kreuzverhör
Schon kommen Zweifel auf. Noch keine drei Minuten sind vergangen, und ich merke, dass hier etwas massiv nicht stimmen kann. Aber ich habe in diesem Moment keine Zeit, darüber nachzudenken. Herr T. und Frau K. sind im Element. Sie müssen zumindest ziemlich gut geschult sein im Fragenstellen, denn was folgt, ist kein Gespräch und schon gar kein Vermittlungsversuch. Ich fühle mich wie in einem schlechten Vorabendkrimi, den ich spätestens zu diesem Zeitpunkt ausschalten würde, mitten im Kreuzverhör. Ich bin angeklagt. Wie von aussen blicke ich ungläubig auf die Szenerie:
«Wie sieht der Alltag Ihrer Tochter aus?» – «Wenn sie nicht bei mir ist, besucht sie einen zweisprachigen Privatkindergarten», sage ich. – «Warum?» – «Warum nicht?», frage ich zurück. Eigentlich möchte ich fragen: «Was geht Sie das an?» – «Und sonst?» – «Einmal pro Woche geht sie ins Ballett. Sie tanzt gerne.» – «Wie viele Minuten?» – «Wie bitte? Was hat das mit der Sache zu tun?» – «Beantworten Sie die Frage!» – «Eine Unterrichtsstunde Kinderballett dauert 45 Minuten. Warum?»
Frau K. runzelt die Stirn und schaut mich an, als hätte ich gerade einen riesigen Fehler gemacht, den ich noch bereuen würde. «Ziemlich viel Programm für ein viereinhalbjähriges Kind», sagt Frau K., die selber keine Kinder hat. Ich atme tief. Will sie mir jetzt vielleicht sagen, ich überfordere meine Tochter? Das ist es ja, was Mütter bekanntlich am allerliebsten haben: Wenn Leute, die garantiert nicht wissen, wovon sie reden, bevormundend Ratschläge erteilen.
Ich bin also in Windeseile hierhergekommen, um mich über die Vorzüge eines Privatkindergartens und das relativ exklusive Freizeitprogramm meiner Tochter zu unterhalten? So ist es, ob man es glaubt oder nicht: Wir befinden uns im Kindergarten für Erwachsene, genau genommen auf dem supermodernen, State-of-the-Art-ausgerüsteten Spielplatz für KESB-Angestellte. Der Sozialarbeiter und die Ex-Kindergärtnerin toben sich aus. Ich schaue auf die Uhr.
Langsam wird es mir zu dumm, und ich will jetzt wissen, mit wem ich es zu tun habe, werfe ein paar Brocken hin: Entwicklungspsychologie, frühkindliches Bindungsverhalten – zufälligerweise mein Spezialgebiet. Man schaut mich an, als käme ich vom Mars. Nein, davon habe man noch nie gehört. Das ist bedauerlich, um nicht zu sagen: gefährlich, in ihrer verantwortungsvollen Position. Aber das denke ich nur. Denn ab sofort lässt man mich nicht mehr ausreden. Keinen einzigen Satz. So ist es wohl auch in China, wenn man verhört wird und weiss: Man hat keine Chance.
Reine Taktik
«Sie verdrehen die Dinge», erklärt man mir. Aha. Jetzt versucht man, mich zu verunsichern. Reine Taktik. Frau K. klopft auf einen Stapel mit Akten. Wir haben es im Griff, will sie damit sagen. Wir haben die Macht. Sie lehnen sich jetzt beide über den Tisch, reden von Massnahmen, Verfügungen. Betonen immer wieder ihre Zuständigkeit, als ob sie sich plötzlich selber nicht mehr so sicher wären. Und was sie alles so machen könnten – wenn sie denn wollten.
Unglaublich, diese Drohgebärden, denke ich. Dieses subkutane Angsteinjagen. Ein schwächerer Charakter wäre schon längst zermalmt. Dann schweift mein Blick über die Aktenschränke. Darin verbergen sich die Dossiers, Hunderte vielleicht. Ich sehe verzweifelte Mütter und Väter. Wehrlose Kinder. Wenn ich denke, dass die alle der himmelschreienden Inkompetenz von Leuten wie Herrn T. und Frau K. ausgeliefert sind, packt mich das nackte Grauen. Mir wird schlecht.
Jetzt reicht’s. Eigentlich möchte ich schon längst mit der Faust auf den Tisch hauen, aber ich bleibe ruhig und sage stattdessen druckfertige Sätze, erkläre einen mir wichtigen Sachverhalt, der unbedingt in das Protokoll gehört. Aber genau in diesem Moment hat Herr T. entschieden, auf taubstumm zu schalten. Ein Staatsdiener der gefährlichen Sorte. Leute, die Urteile fällen, bevor sie nachdenken, und auch niemals zuhören. Weil sie alles schon zu wissen glauben. Es ist jetzt klar, die beiden hatten sich ihre Meinung schon gebildet, bevor ich hierherkam. Was sich in diesen Räumlichkeiten gerade abspielt, ist nichts anderes als eine Farce.
«Das ist reine Schikane», sage ich. – «Ich höre Ihnen doch zu», sagt Frau K. und lächelt jetzt – zum ersten Mal. Ein gespielt unschuldiges Kindergärtnerinnenlächeln. – «Aber Sie schreiben nicht auf», sage ich. «Halten Sie mich für blöd?»
In diesem Moment stehen beide auf. Gleichzeitig. Gespenstisch, wie Marionetten.
Beim Hinausgehen komme ich an einem Bistrotisch vorbei, darauf steht eine Schale mit Schokolade. Es sind diese kleinen Schokoladen, die man auf dem Flughafen kauft, in Souvenirgeschäften, mit idyllischen Postkartenbildchen der Schweiz drauf. Die Schweiz im Kleinstformat. Die Brücke von Luzern. Ein Schwan auf dem Vierwaldstättersee. Meine Hand gleitet in die Schale. «Ich nehme eine Schokolade mit für meine Tochter», sage ich und blicke noch mal zurück, lächelnd, von einem Bedürfnis getrieben, diese insgesamt ungute und höchst seltsame Begegnung, die ich nur noch in der Kategorie Kuriositäten einordnen kann, irgendwie freundlich zu beenden. Doch nicht einmal das soll möglich sein. Frau K. starrt mich an mit tiefgefrorenem Blick. «Die Schokolade gehört den Angestellten hier», sagt sie in einem Ton, der so humorlos ist, dass ich von ganzem Herzen hoffe, diese Person möge nie wieder in ihrem Leben mit Kindern in Berührung kommen.
Tatsächlich hat Frau K., ohne es selbst zu ahnen, eine sehr interessante Frage aufgeworfen: Wem gehört die Schokolade? Dem Staat? Oder dem Bürger? Wer hat sie bezahlt? Ist es möglicherweise so, dass sich der Staat hier im übertragenen Sinne an der Schokolade – nämlich dem Geld des Steuerzahlers – fettgefressen hat unter dem Vorwand, Kinder zu schützen? Wird hier der Staat gar zur Gefahr für den Bürger?
Als ich wenig später das Protokoll lese, weiss ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Alles ist falsch, verdreht, lückenhaft. «Das ist inakzeptabel!», rufe ich in den Hörer. Die Anwältin ist selbst überrascht, nein, sie ist verzweifelt: Sie hat einen Fall auf dem Tisch, der das Kindeswohl massiv bedroht. Seit Monaten. Ein unbearbeitetes Dossier. Ein gefährdetes Kinderleben. Doch die KESB, die genau für solche Fälle ins Leben gerufen wurde, tut nichts. Stattdessen hat sie sich auf mich gestürzt wie eine Hyäne. Es ist unbegreiflich.
Im Namen des Kinderschutzes
Wir wissen jetzt: Die KESB hat ein neues Spiel erfunden – es heisst: verkehrte Welt. Oder: Wie eröffnet man in kurzer Zeit so viele Dossiers, dass einem garantiert für Jahrzehnte die Arbeit nicht mehr ausgeht? Und dann in den Medien gekonnt darüber jammern, man sei überfordert. Ich weiss jetzt, warum: Die KESB ist zu mindestens zwei Drittel damit beschäftigt, Fehler auszubügeln, die aus purer Inkompetenz entstanden sind. Um die misshandelten und missbrauchten Kinder in diesem Land kümmert sich niemand. Dafür hat man leider, leider keine Zeit. Allein mein Fall ist das Dokument eines unfassbaren Behördenpfuschs.
Trotzdem (oder gerade deshalb?) wird meine Aufsichtsbeschwerde abgelehnt. Immerhin erfährt man darin, dass Frau K. einen Bruder hat, der die Beschwerden bearbeitet. Einen grossen Bruder zu haben, der sich in der gleichen Firma karrieretechnisch ein paar Stufen weiter oben befindet, ist natürlich immer nützlich – ganz besonders, wenn man bedenkt, dass der Sprung von der Kindergärtnerin zur Staatsangestellten sicherlich eine erfreuliche Optimierung darstellt, auch was den Lohn betrifft.
Korrekterweise ist der Bruder von Frau K. bei der Bearbeitung meiner Beschwerde in den Ausstand getreten. Man will schliesslich keinen Skandal. Ein kluger Mann hat mir mal erklärt, wie das so vor sich geht, wenn in einem Gremium von drei Leuten einer in den Ausstand treten muss: Es ist ein bisschen wie in einem schlechten Theaterstück, bei dem am Ende alle auffliegen, man aber schon von der ersten Minute an weiss, wer welche Motive verfolgt.Übrigens ist kurz darauf auch Frau K. in den Ausstand getreten. Wegen Befangenheit. Was geht hier vor? Die Hyänen ziehen sich ins Dunkel zurück. Was sie dort im Namen des Kinderschutzes sonst noch so treiben, weiss niemand.
* Die Autorin ist eine Persönlichkeit des Schweizer Kulturbetriebs. Sie schreibt hier unter Pseudonym. Lesen Sie nächste Woche: Wie mich die Sozialbehörde mit einzuschüchtern versuchte und den Kindesschutz missbraucht, um sich selber zu schützen.
Wiederholt hat die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) meine Familie verfolgt und belästigt. Inkompetente Beamte leisten sich unglaubliche Fehler. Kaum je zuvor wurde das Wort «Kindeswohl» so missbräuchlich verwendet. Zweiter Teil des Erfahrungsberichts von Penelope Meyer*
Von Penelope Meyer
Man könnte es Ironie des Schicksals nennen. Nämlich das Unglück, eine Sozialbehörde aus zwei völlig verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Einmal als Kind und einmal als Mutter, dies in einem Zeitraum von 34 Jahren. Beide Male wirkte das Ganze absurd, vollkommen sinnlos. Der Stress und die Belastung durch die Belästigung der Behörde waren allerdings erheblich – man kann es nur als qualvoll bezeichnen. Um es vorwegzunehmen: Die sogenannte Kinderschutzbehörde, die sich herausgeputzt und sich einen neuen Namen gegeben hat, ist nicht besser geworden. Im Gegenteil, ich vermute, diese Behörde war noch nie so inkompetent, so erschreckend gefährlich für Kinder und Eltern und so skandalös verschwenderisch mit dem Geld der Steuerzahler.
Mein Vater gehörte zu den ersten alleinerziehenden Vätern in der Schweiz. Er hatte das alleinige Sorgerecht, was unstrittig war und friedlich beschlossen wurde. Ich hatte Glück, denn er arbeitete zu Hause und war immer für mich da. Trotzdem war es nicht leicht. Mit Sicherheit sah ich nicht aus wie ein Kind aus einem Katalog für Kindermode und trug die Secondhand-Kleider einige Tage länger, als ich es meiner eigenen Tochter je zumuten würde. Die italienische Gastarbeiterfamilie im oberen Stockwerk hielt ich für wohlhabend, weil sie einen Schwarzweissfernseher besass. Manchmal durfte ich dort «Lassie» schauen.
Privatsphäre im Kinderzimmer
Heute denke ich, dass das doch ein ziemlich weiter Weg war von da bis zu der fröhlich-bunten Welt von «Prinzessin Lillifee», die sich meine Tochter von einem bequemen Sofa aus auf einem Plasmabildschirm anschaut. Doch auch ich hatte mein eigenes Zimmer, meine Bücher, spielte auf der Schreibmaschine meines Vaters und war über weite Strecken ein sehr zufriedenes Kind. Ausser hin und wieder: Da tauchten seltsame Figuren von der sogenannten Vormundschaftsbehörde auf. Mag sein, dass allein schon die Tatsache, dass mein Vater alleinerziehend war und ausser Büchern hin und wieder auch Flugblätter für Demonstrationen druckte, gewissen Leuten das Gefühl gab, irgendwie einschreiten, uns vor unserer Lebensweise schützen, sich sorgen oder sich sonst wie bevormundend einmischen zu müssen.
Fünf- oder sechsmal schnüffelten in unserer Wohnung Beamte von der Fürsorge herum, am liebsten in meinem Zimmer, und gingen mir, um es klar zu sagen, unglaublich auf die Nerven. Schon mit sieben Jahren entwickelte ich eine enorme Abneigung gegen Personen, die sich in meine Privatsphäre einmischten, denn, das muss mal gesagt sein: Auch ein Kinderzimmer ist privates Territorium. Aber sie trampelten herein und schauten sich um, öffneten Schubladen und stellten blöde Fragen wie, was ich zuletzt gegessen hätte.
«Das sieht man doch!», sagte ich. «Schauen sie nur meinen Vater an!» Man konnte es eigentlich nicht übersehen: An den Händen die Druckerschwärze, auf dem vom Arbeiten und Herumrennen verschwitzten Hemd die Spaghetti- sauce. Nein, diese Leute hatten schon damals keine Augen im Kopf. Eigentlich wollte ich ihnen sagen, dass sie zur Hölle fahren sollen, stattdessen lächelte ich ein 100-Watt-Lächeln und schenkte ihnen eine schöne Kinderzeichnung. Verdutzt zogen sie wieder ab.
Ich kann mich an kein einziges Gesicht erinnern. Nur an marionettenhafte Schattenköpfe, die sich zu mir hinunterbeugten, und diese murmelnden, gutmeinenden Stimmen, die ich sofort als Gefahr erkannte, und die unterschwellige Angst. An die Angst kann ich mich erinnern, als wäre es gestern gewesen – die furchtbare Drohung, sie könnten mich holen, aus meinem Zimmer, fort von meinem Vater, weg von meinem Reich. Und damit könnte ich auf einen Schlag all das verlieren, was jedes Kind auf dieser Welt am allermeisten und dringendsten braucht: Geborgenheit.
Phasenweise war mein Vater sicher überlastet. Perfekt war gar nichts, und es war gut so. Der amerikanische Schriftsteller William Burroughs sass nach einer durchzechten Nacht in unserer Küche und trank mein Glas aus mit der Morgenmilch, die er für Whisky hielt. Er war so betrunken, dass er es nicht einmal merkte. Ein pädagogisch einwandfreies, kindergerechtes Umfeld? Wahrscheinlich nicht – na und? Ich schüttelte den Kopf, liess Burroughs in der Küche sitzen und ging zur Schule.
Tausendmal lieber schreibe ich heute, 34 Jahre später, diesen Satz als: «Ich verbrachte meine Kindheit in einem gutgeführten Kinderheim und hatte mein Mittagessen immer pünktlich um 12 Uhr auf dem Tisch.» Auch ein von aussen chaotisch oder sogar desolat wirkendes Umfeld ist noch längst kein Grund, ein Kind seinem Zuhause und seiner Hauptbezugsperson zu entreissen. Zweimal wurde mein Vater durch ein Schreiben der Behörde aufgefordert, seine Kinder aufzugeben. Ich hätte fremdplatziert werden sollen. Diesem Albtraum konnte ich glücklicherweise entkommen – mein Vater unter- schrieb nichts. Ich kann nur ahnen, was für eine Hölle er damals durchmachte.
Heute kann ich sagen: Auch überlastete und arme Eltern sind noch tausendmal besser als ein Heim. Egal, wie empathisch und pädagogisch gutausgebildet das Heimpersonal sein mag, es kann niemals die einzigartige und existenzielle Bindung zu einem Elternteil ersetzen. Es ist im Übrigen auch vollkommen egal, ob Eltern am Existenzminimum leben, in einem Eigenheim mit Vorgarten oder einer Villa mit manikürtem Rasen. Es ist ein schlimmer Irrtum, zu glauben, dass Kinder aus sozial tieferen Schichten unglücklich sein müssen, dass ihnen etwas fehlt und dass man ihnen dringend helfen müsse. Es steckt dahinter eine unglaubliche Arroganz und ein grundsätzliches Missverständnis darüber, was das Kindeswohl wirklich beinhaltet.
In den Leitlinien der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) steht, dass sie sich nur dann einmische, wenn es absolut notwendig ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die KESB hat sich immer wieder mit fadenscheinigsten Argumenten aufgedrängt, um mich und meine Familie zu belästigen.
Eine Art Geheimpolizei
Es ist Sommer. Wir befinden uns auf dem Tennisplatz eines exklusiven Hotels in der Toskana, meine Tochter spielt gerade Tennis. Sie ist ziemlich gut, hat einen harten Schlag. Dann kommt der Anruf. Die Assistentin meiner Anwältin, die sich zu diesem Zeitpunkt selber im Urlaub befindet, teilt mir mit, die KESB habe sich gemeldet. Eine Frau H. – eine Person, von der ich noch nie etwas gehört habe – möchte augenblicklich wissen, wo ich bin. Nein, es ist kein Witz: Die KESB spielt in den Sommerferien, wenn sich sonst nicht gerade viel tut, gerne Interpol. Bildet sich hier still und heimlich eine Art Geheimpolizei?
Während ich beobachte, wie meine Tochter mit jauchzender Begeisterung einen Ball nach dem anderen über das Netz fegt, führe ich folgenden absurden Dialog:
«Wir sind im Urlaub, und ich glaube kaum, dass es die KESB etwas angeht, wo ich den verbringe», antworte ich. «Was soll diese Frage überhaupt? Wollen Sie mich vielleicht abholen? Mich und meine Tochter vom Tennisplatz eines Fünfsternehotels zerren? Wozu?» Falls die Person, die es offenbar abermals geschafft hat, diese Behörde vom anderen Ende der Welt her zu instrumentalisieren, etwas wolle, solle sie sich doch bitte direkt bei mir melden. Meine Kontaktdaten seien bekannt. Prompt kam die Antwort von Frau H.: Sie würde natürlich nicht als Vertreter einer Partei anrufen, sondern im Auftrag des Kindeswohls. Das ist interessant, finde ich und will wissen, wie es kommt, dass sie, Frau H., die weder mich noch mein Kind je gesehen hat, über das Wohlbefinden meines Kindes so gut Bescheid weiss. Denn dazu brauchte es doch schon fast übermenschliche Fähigkeiten. Und dann frage ich, weil es mich wirklich interessiert, was der berufliche Werdegang von Frau H. sei und warum sie jetzt bei der KESB arbeite. Darüber gebe man keine Auskunft, heisst es. «Nein?» – «Nein.»
Als meine Anwältin aus dem Urlaub zurückkam, erklärte sie den sogenannten Profis der KESB, dass sie zu einer Vorladung juristisch gar keine Befugnis haben. Frau H. ist inzwischen, wie alle früheren Mitarbeiter, die so dringend mit mir Bekanntschaft schliessen wollten, im schwarzen Loch der Behörde verschwunden. Eine gewisse Frau L. sah schliesslich ein, dass es hier eigentlich nichts zu schützen gibt, ausser vielleicht die Freiheit von Mutter und Tochter, gemeinsam im Sommer in den Urlaub fahren zu können, wann und wohin es ihnen passt. Frau L. mache einen vernünftigen Eindruck, meinte meine Anwältin noch. Immerhin, ein Schritt in die richtige Richtung. Seither haben wir von der KESB nichts mehr gehört. Vielleicht hat sie zwischenzeitlich aber einfach jemand anderen gefunden, an dem sie sich ergiebiger austoben kann.
Tatsächlich, als wir damals aus dem Urlaub nach Hause kamen, war die Hauptstrasse meiner ansonsten so schön verschlafenen Wohngemeinde abgesperrt. Grosseinsatz der Polizei. Am nächsten Tag erfuhren wir durch die lokale Zeitung, dass ein Vater vor den Augen seiner zwölfjährigen Tochter an Handschellen abgeführt und ins Gefängnis geworfen wurde. Anordnung der KESB. Sie meldete bei der Polizei Entführungsgefahr. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Einer von unzähligen Irrtümern und Fehlern, die die KESB sich so erlaubt. Wird dafür jemand zur Rechenschaft gezogen? Nein. Dafür können Vater und Tochter für den Rest ihres Lebens ihr Trauma ausbaden. Man wird den Verdacht nicht los, dass diese Behörde unter dem Vorwand des Kinderschutzes eigentlich vor allem sich selber schützt.
Ich weiss nicht, wie viel die Papierarbeit und die vielen Arbeitsstunden solch unfassbarer Leerläufe insgesamt kosten. Wahrscheinlich einen skandalösen Betrag. Leider wird man ihn nie erfahren. Wer von der KESB Informationen will, blitzt ab. Sie befänden sich in der «Lernphase», hört man immer wieder über die Medien, in diesem larmoyanten Ton, der Harmlosigkeit suggerieren soll. In Wahrheit ist diese Behörde so leichtfertig wie brutal.
Kinder zahlen die Rechnung
«Beratungsresistenz» hatte man einer Mutter aus Eritrea vorgeworfen und als Grund angegeben, warum man ihr vier von sieben Kindern weggenommen und in ein Heim gesteckt hatte. Eine Mutter, die ihre Kinder weder geschlagen noch ihnen sonst etwas Schlechtes angetan hat. Wahrscheinlich hat noch keine andere Behörde so oft und ungestraft gegen die Kinderrechtskonvention verstossen wie die KESB. Das Wort «Kindeswohl» ist seit der Einführung der KESB derart missbraucht und verhunzt worden, dass man es vielleicht in Zukunft besser nicht mehr verwenden sollte.
Der Staat ist, wie es der Philosoph Karl Popper mit einem Satz auf den Punkt brachte, nicht mehr als «ein notwendiges Übel». Nicht mehr. Selbstverständlich braucht es eine Behörde, die Kinder vor gewalttätigen Übergriffen schützt. Sie muss agieren, wo Mütter und Väter ihre Kinder quälen, prügeln, missbrauchen und misshandeln. In solchen Extremfällen, von denen es nicht allzu viele geben dürfte – und wahrscheinlich wesentlich weniger, als in der Schweiz Beamte und Sozialarbeiter herumrennen –, muss der Staat eingreifen.
Eine vernünftige Kinderschutzbehörde, die ihre Aufgabe ernst nimmt, würde sich selbst am liebsten überflüssig machen, ja, sie müsste eigentlich das Ziel verfolgen, sich abzuschaffen. Denn sie ist ein notwendiges Übel, kein Selbstzweck und schon gar keine Arbeitsbeschaffungsindustrie auf Kosten der Gemeinden und der Kinder. In erster Linie zahlen hier nämlich die Kinder die Rechnung.
Wäre die KESB eine Firma, würde man von krasser Betriebsblindheit sprechen. Ein Sanierer würde als superprovisorische Massnahme augenblicklich eine erste Entlassungswelle anordnen. Sparmassnahmen wären unumgänglich. Möglicherweise müsste die Firma aber auch augenblicklich die Tore schliessen und sich wegen Menschenrechtsverletzung und Konkursverschleppung vor Gericht verantworten.
* Die Autorin ist eine Persönlichkeit des Schweizer Kulturbetriebs. Sie schreibt hier unter Pseudonym. Mehr Informationen: www.kindergerechte-justiz.ch
Es gibt ein paar Politikersätze, die ich nicht mehr hören will, wenn es um ein globales Problem und dessen Lösung geht: „Gerade wir als Deutsche“ steht ganz oben auf meiner Liste.
Wieso „gerade wir“? Das ist nichts als eine ziemlich unverfrorene Erpressung – als ob auch die Generationen nach Hitler sozusagen ein eliminatorisches Gen in sich trügen, an das man sie immer erinnern und vor dem man warnen müsse. Es ist auch eine glatte Beleidigung: als ob wir das hierzulande nötig hätten, mit dem Verweis auf die Geschichte aufs Gute verpflichtet zu werden. Doch selbst der sonst so kluge Bundestagspräsident Lammert meinte kürzlich eine Mitschuld der Deutschen am türkischen Völkermord an den Armeniern suggerieren zu müssen.
War das schon alles? Geht nicht noch mehr? „Diesen und die nächsten drei übernimmt das Großdeutsche Reich“ – die furztrockene Pointe aus der Nazizeit karikiert auch die Großkotzigkeit in moralischen Dingen.
Im Ernst: Aus dem notwendigen, berechtigten und von vielen so gefühlten Eingeständnis der Verantwortung auch der Nachgeborenen für die Verbrechen von Deutschen, an Deutschen und in Deutschland unter der Nazizeit ist schon lange ein probates Mittel der Einschüchterung geworden, eine Funktionalisierung des Holocaust, die schlichtweg unanständig ist.
Und deshalb: Schluss damit. Und was ganz konkret die Deutschen und die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten betrifft, um die es derzeit geht: Nein, „Tröglitz ist überall“ ist eine glatte Lüge, das Anmahnen von mehr und größerer „Willkommenskultur“ auf Seiten der Deutschen ist anmaßend und der Kampf „gegen rechts“ und den dort verorteten Rassismus ist ein Ausweichen vor der Erkenntnis, dass Antisemitismus nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal glatzköpfiger Deutscher ist, dass Rassismus sich auch gegen „Bio“-Deutsche richten kann und dass auch von Seiten der politisch Superkorrekten eine Gefahr für Freiheit und Liberalität ausgeht.
Lasst sie doch mal in Ruhe, die Deutschen. Was wir in diesem Land derzeit erleben, ist eine enorme Hilfsbereitschaft gerade derjenigen, die von oben herab ständig ermahnt und belehrt werden: der Bevölkerung. Die einzigen, die das zu honorieren scheinen, sind die Flüchtlinge, die im Mittelmeer anlanden und alles daran setzen, nicht in Italien oder Griechenland bleiben zu müssen, sondern nach Deutschland zu dürfen.
Doch auch die größte Hilfsbereitschaft stößt auf Grenzen, und es heißt, sie auszubeuten, wenn man über diese Grenzen nicht sprechen will.
Flüchtlinge sind „eine Bereicherung“? Ja, auch. Meine Cousine und ihr Mann freuen sich darüber, einer syrischen Familie helfen zu können. Freunde erzählen ähnliches: wenn es konkret wird und das Leid fassbar, ist die Hilfsbereitschaft manchmal grenzenlos. Was im individuellen Fall glückt, ist jedoch keine Beschreibung der allgemeinen Situation. Manche, die nach Deutschland kommen, aus welchen Gründen auch immer, bereichern uns, andere bereichern sich, und einige zerstören das, weswegen sie hierhergekommen sind. Und zwar nicht deswegen, weil sie die Krätze mitbringen könnten, wie Innenminister Thomas de Maiziere kürzlich berichtete.
Sie bringen auch Gewalterfahrungen ihrer verlassenen Heimat mit, religiöse Konflikte und Stammesfehden, Streitereien, die sie seit Tausend Jahren haben (wie die zwischen Schiiten und Sunniten). Auch traumatisierte Menschen sind nicht bloß Opferlämmchen, sie haben Gewalt nicht nur erlebt, sondern auch ausgeübt. Zwanzig junge Männer aus Eritrea oder Somalia schließlich sind für eine aufnehmende Gemeinde eine kaum zu kontrollierende Größe.
A propos Kontrolle: Wie kann man von elternlosen Jugendlichen aus gescheiterten Staaten erwarten, dass sie sich an unsere Rechtsnormen halten, dass sie begreifen, dass man nicht einfach nimmt, auf das man Anspruch zu haben glaubt? Wie sorgt man dafür, dass die Basis des Gemeinwesens, Vertrauen, nicht aushöhlt? Und wie lässt sich eine nationalstaatlichen Besonderheit, etwa der bundesdeutsche Sozialstaat, noch aufrechterhalten, wenn es seine Grenzen faktisch nicht mehr gibt?
Der Flüchtlingsstrom nach Deutschland dürfte, solange sich in den Herkunftsländern nichts bewegt, anhalten. Wann man von Überforderung sprechen kann, hängt nicht allein davon ab, ob Deutschland „reich“ ist, sondern davon, was seine soziale Textur, seine Umgangskultur, was seine Institutionen und Rechtsnormen aushalten.
Es ist ein altes Missverständnis, in Flüchtlingen und Asylbegehrenden vor allem hilfsbedürftige Opfer zu sehen. Sie sind immer auch, jedenfalls wenn es gut geht, Konkurrenten: um finanzielle Ressourcen, um Wohnraum, um Arbeitsplätze. Das genau sollen sie ja auch werden, das ist der Sinn von Integration. Dass es ausgerechnet eine sozialdemokratische Errungenschaft ist, der Mindestlohn, der ihnen erschwert, unten einzusteigen, um mit Fleiß und der Arbeitskraft einer ganzen Familien weiter oben anzukommen, ist ein hübscher Witz. Der Mindestlohn gehört ganz sicher nicht zur Willkommenskultur.
„Wir als Deutsche“ sollten einander nicht moralisch überfordern, sondern die Lage halbwegs nüchtern bedenken. Des Übels Wurzel liegt nicht hier, sondern in der destabilisierten arabischen Welt und in vielen Ländern Afrikas. Unzweifelhaft haben die willkürlichen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg zur Lage beigetragen, aber auch ein Menschenrechtsinterventionismus, der regelmäßig die Folgen seines edlen Tuns übersieht. Der Sturz Saddam Husseins im Irak und Gaddhafis in Libyen hat zwar zwei mörderische Diktatoren beseitigt, aber eine katastrophale Lage hinterlassen, die man nicht im Ernst als Alternative bezeichnen kann.
Und in anderen Ländern Afrikas leiden die Menschen auch Jahrzehnte nach dem Ende des Kolonialismus noch an Stammesherrschaft und Despotenwillkür, an der Unfähigkeit zur Staatenbildung und zur Ausbeutung der üppig vorhandenen Landesschätze zu Gunsten aller. Keine einzige afrikanische Regierung hat, soweit man hört, Alarm geschlagen, weil sie die Ambitioniertesten aus ihrer Bevölkerung verliert, und keine tut etwas dagegen. Bis sich dort etwas ändert, dürften Jahrzehnte vergehen.
Wir stehen vor einem echten Dilemma, gegen das die ständige Moralisierung nicht hilft. Grenzen dicht, Flüchtlinge zurückschicken? Das ist nur schwer und nur auf Kosten europäischer Wertvorstellungen möglich. Ungehinderte Einwanderung aber greift die Basis des Zusammenlebens ebenfalls an (und womöglich ebenso gewalttätig). Am Ende dieses Prozesses könnte sich Deutschland so verändert haben, dass es für Einwanderer nicht mehr attraktiv ist. Das ist nun allerdings eine Lösung des Problems, die sich nur Leute wünschen können, die dieses Land nicht nur im Stillen verachten.
Immerhin: „Gerade wir als Deutsche“ hat sich dann erledigt.
Cora Stephan meint in ihren Blog und bei Achgut, dass ungehinderte Einwanderung, so wie sie sich derzeit abzeichnet, das Potential hat, Deutschland so zu verändern, dass es am Ende nicht einmal für Einwanderer attraktiv erscheint. Ihre Beschreibung, der ich unbedingt zustimmen möchte, ruft aber die Frage auf, welche Widerstände gegen eine solche Entwicklung entstehen. Gibt es einen »Selbsterhaltungstrieb« auch für Gesellschaften, und wenn ja, warum ist dieser in der unsrigen so wenig ausgeprägt? Dort wo moralisierend argumentiert wird, sind nicht selten andere Interessen im Spiel. Hier muss ich an erster Stelle natürlich an diejenigen bei den Grünen und Linken denken, für die das Prinzip des Nationalstaates ein Graus ist. Rebecca Harms, für die Grünen im Europaparlament, nannte den Nationalstaat einst eine gefährliche und hochriskante Idee.
Es könnte aber auch ganz anders kommen, nämlich dass dieser unkontrollierte Flüchtlingszustrom unsere Gesellschaft tatsächlich so zu verändern droht, dass in dieser der Selbsterhaltungstrieb erwacht. Richtig wohl ist mir bei diesem Gedanken nicht, es würde Auseinandersetzungen hervorrufen, die dann einer Schlammschlacht gleichen.
Eine wirklich gefährliche und hochriskante Idee ist aber nicht der Nationalstaat, wie das so manche Linken und Grüne glauben, sondern das Experiment, mittels ungehinderter Einwanderung unsere Gesellschaft so verändern zu wollen, um dann eigene Interessen, natürlich immer moralisch begründet, besser umsetzen zu können. Oft, vielleicht meistens, verbergen sich hinter moralischen Argumenten nämlich handfeste politische Interessen, Menschenrechte haben kein Ziel, werden so gut wie nie selbstlos vertreten, sondern dienen der Legitimierung der eigenen Politik.
»In der Geschichte hat sich noch jede Idee blamiert, die glaubte, ohne Interessen auszukommen«, meinte einst Karl Marx, womit er sicher Recht hat; eine Moral ohne Interesse auch, würde ich anfügen, weshalb wir bei moralischen Argumenten immer ganz genau hinschauen müssen, welches Interesse wohl dahinter steckt. Die Frage ist nur, ob dieses hinter dem moralischen Argument steckende Interesse, nämlich unsere Gesellschaft nachhaltig zu verändern, den Selbsterhaltungstrieb dieser aktiviert.
Wir sollten uns auf kommende Schlammschlachten einstellen.
Sie lassen sich in Ihrem Furor für die Armen und Entrechteten von niemandem übertreffen. Sie kämpfen unermüdlich und rund um die Uhr für „soziale Gerechtigkeit“. Sie wollen mehr staatliche Transfers in allen Lebenslagen – von der Wiege bis zur Bahre! Sie erheben den Anspruch, denen eine Stimme zu geben, die sonst keine Stimme haben. Kurz: Sie sind die Guten. Sie stehen nicht auf der Watchlist von LobbyControl. Sie tragen die Mitmenschlichkeit und Uneigennützigkeit wie eine Monstranz vor sich her. Alle anderen sind Lobbyisten, die nur egoistische Eigeninteressen vertreten: -allen voran die Organisationen der Wirtschaft. Wer daran erinnert, dass Sozialstaat auch bezahlt werden muss und auf der Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit einer Volkswirtschaft beruht, ist ihnen suspekt.
Die Rede ist von der organisierten Sozialstaatslobby, exemplarisch repräsentiert vom Paritätischen Wohlfahrtsverband (PWV) und seinem Cheflobbyisten und Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. Wenn die behauptete Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich in TV-Talks skandalisiert oder die „immensen Gerechtigkeitslücken“ in den öffentlich-rechtlichen Fokus genommen werden, dann sind Schneider et al. mit von der Partie.
Das aktuelle Paritätische Jahresgutachten liefert genügend Anschauungsmaterial, welches Zerrbild der Wirklichkeit von der Sozialstaatslobby gezeichnet wird. Während die amtlichen Statistiken einen Rückgang der atypischen Beschäftigung belegen, behauptet der Paritätische Wohlfahrtsverband einfach einen weiteren Anstieg. Während unzählige Ökonomen die „Mütterrente“ der Großen Koalition als Sündenfall gegen die Generationengerechtigkeit beklagen, fordert der PWV ohne Rücksicht auf die Kosten auch für vor 1992 geborene Kinder ein drittes Babyjahr. Der neue gesetzliche Mindestlohn wird als viel zu niedrig kritisiert. Seine negativen Beschäftigungswirkungen, die sich bereits bei der Zahl der Geringfügig-Beschäftigten statistisch abbilden, werden geleugnet. Dafür blüht die Schattenwirtschaft! Damit befindet sich der PWV in guter Gesellschaft mit Andrea Nahles.
Mehr als 800 Milliarden Euro geben der Staat und die deutschen Sozialversicherungen jährlich für soziale Leistungen aus. Diese gigantische Summe ist höher als alle Steuern, die Bürger und Unternehmen pro Jahr an den Staat abführen. Rund ein Drittel der gesamten volkswirtschaftlichen Leistung in Deutschland fließt in den Sozialstaat. Doch der Sozialstaatslobby kann die Summe gar nicht hoch genug sein. Für sie liegt das Heil in noch mehr staatlicher Umverteilung. Wie weiland Robin Hood soll der Staat den Reichen nehmen und den Armen geben.
Dabei kämpft die Sozialstaatslobby bei jeder proklamierten Ausweitung von sozialen Leistungen auch um das Geschäftsmodell ihrer Mitgliedsunternehmen. Mehr Sozialstaat bedeutet für sie mehr Umsatz und mehr Beschäftigung. Ihr Schrei nach sozialer Gerechtigkeit ist oft genug ein Schrei nach neuen Geschäftsmodellen. Effizienz ist in den Sozialorganisationen wenig gefragt. Obwohl die Finanzmittel ganz überwiegend aus öffentlichen Kassen stammen, ist den Rechnungshöfen von Bund und Ländern die Kontrollbefugnis nach wie vor verwehrt. Kostentransparenz und unvoreingenommene Aufgabenkritik sind für die Sozialstaatslobbyisten des Teufels. Viel lieber rufen sie nach neuen sozialen Leistungen. Denn damit subventionieren sie immer auch ihre eigene teure Sozialbürokratie. Was diese Lobby-Spezies anderen Interessengruppen so gerne vorwirft, den Eigennutz, das fällt auf sie selbst zurück. Man kann es auch schlicht Doppelmoral nennen.
Foto: REUTERS So wie mit dieser Interpol-Webseite nach weltweit zur Fahndung ausgeschrieben, mutmaßlich korrupten Fifa-Funktionären gesucht wird, könnte man auch nach zahlreichen Mitgliedern der Uno-Generalversammlung fahnden – doch Letzere schützt diplomatische Immunität
Nur vier Tage nach seiner Wiederwahl zum Fifa-Chef ist Sepp Blatter dann doch dem Druck der Korruptionsermittlungen in den USA gewichen. Doch wer glaubt, es werde nun eine Zeit der Transparenz anbrechen, wird wohl enttäuscht werden. Es geht hier um mehr als nur einen Mann, es geht um ein System, das nicht nur den internationalen Fußball beschädigt hat. Es ist ein Problem, dass sich in vielen internationalen Organisationen wiederfindet, etwa auch den Vereinten Nationen.
Die sind moralisch in etwa genauso korrumpiert wie die Fifa. Man muss sich nur die Dysfunktionalität der UN-Generalversammlung anschauen oder die Zusammensetzung von Untergliederungen wie dem UN-Menschenrechtsrat. Dort sitzen derzeit Champions der Menschenrechte wie Algerien, China, Kuba, Äthiopien, Kasachstan, die Malediven, Katar, Russland, Saudi-Arabien und Venezuela.
Ursprünglich war das Gremium dafür gedacht, undemokratische, despotische Regime zur Rechenschaft zu ziehen. Inzwischen stellen die sich gegenseitig Persilscheine aus. Oder sie frönen ihrem liebsten Sport, den demokratischen Rechtsstaat Israel an den Pranger zu stellen.
Die Parallelen zwischen Fifa und UN sind offensichtlich. Sie zeigen, welches grundlegende Problem wir heute mit dem haben, was gerne als „Global Governance“ bezeichnet wird. Die meisten weltweiten Institutionen sind vom Westen ins Leben gerufen worden. Sie fingen an mit einer relativ kleinen Mitgliedschaft, die im Laufe der Zeit ins Unüberschaubare wuchs, je weiter die Welle der Entkolonialisierung in Afrika und Asien voranschritt. Alle bekamen einen gleichberechtigten Platz am Tisch, egal ob groß oder klein.
Ein Land, eine Stimme gilt in der UN als auch der Fifa. Ganz gleich, wie umfangreich das Land, wie viele Einwohner es hat, wie viel es zum UN-Budget beiträgt oder wie viele aktive Fußballer es in der Fifa nachweisen kann. Es ist der Fluch der großen Zahl. Einmal in der Minderheit, gelingt es den westlichen Nationen nicht mehr, ihre Standards zur Leitlinie zu machen. Gerade in Europa hält sich jedoch weiterhin ein hartnäckiger Sentimentalismus.
Der Traum von der Weltregierung
Man träumt davon, dass die Menschheit einst vereint wird unter einer gemeinsamen UN-Weltregierung. Solches Wunschdenken verdeckt jedoch den Blick auf die traurigen Realitäten. Der Westen war einst angetreten mit dem Ziel, Freiheit, demokratische Werte, gute Regierungsführung und die Achtung der Menschenwürde in der ganzen Welt zu verbreiten. Doch in globalen Organisationen ist es oft genug eine Mehrheit aus autokratischen Staaten und korrupten Demokratien, die die hehren Ziele hintertreiben. Sei es aus antifreiheitlicher Überzeugung, sei es aus purem Eigennutz. Man lässt sich bezahlen für seine Stimme oder schmiedet Zweckbündnisse. In vielen Institutionen haben inzwischen Halunken das Sagen oder sie organisieren ihnen gewogene Mehrheiten.
Sie beherrschen die institutionellen Regeln perfekt und missbrauchen die Legitimation, die etwa die UN-Organisationen verleihen, für ihre Zwecke. Wenn Länder wie China oder Kuba in den UN-Menschenrechtsrat gewählt werden oder der frauenfeindliche Iran in den Rat für Frauenrechte, dann ist das nicht allein eine Perversion der ursprünglichen Ziele dieser Institutionen. Die UN hilft dadurch auch, Unrechtsregime zu legitimieren. Ähnliches gilt für die Fifa, die einst auf dem Gedanken des Fair Play aufbaute, aber zum Inbegriff des Foul Play geworden ist.
Und die nichts dabei findet, Autokratien wie Russland oder Katar mit Image fördernden Turnieren zu versehen. Statt die Welt von autokratischen Regimen zu reinigen, helfen internationale Organisationen den Autokraten heute, sich mit Posten und Prestige reinzuwaschen.
Romantisch verklärtes Foul Play
Der Westen hat all dies jahrzehntelang geschehen lassen. Eine romantische Verklärung internationaler Institutionen spielte dabei genauso eine Rolle wie postkoloniale Schuldgefühle. Nach dem Fall der Mauer gab es in den 90er-Jahren noch einmal eine Welle der UN-Begeisterung in Deutschland. Im neuen Jahrtausend ist diese Euphorie ernüchtertem Desinteresse gewichen. In vielen Fällen versucht der Westen abstrusen Vorstößen in der UN nicht einmal mehr entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Auch von Reformen redet kaum noch jemand.
Der UN-Menschenrechtsrat war dafür ein warnendes Beispiel. Der alte hatte sich komplett diskreditiert. Inzwischen ist der neue fast schlimmer als der, den er einst ersetzte. Das sollte im Auge behalten, wer nun einer Reform der Fifa das Wort redet. Da es viele Verbände gibt, die von Blatters korruptem Regime profitierten, ist es durchaus möglich, dass eine „Reform“ alles noch schlimmer macht.
Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, die Machtfrage zu stellen. Denn tatsächlich bringt der Westen noch immer weit mehr Gewicht auf die Waage als seine mageren Stimmenanteile in UN und Fifa nahelegen. Es sind noch stets die entwickelten Industrienationen des Westens, die den größten Teil des UN-Budgets bestreiten. Und es sind die zugkräftigen Klubs und Nationalteams Europas, die der Fifa milliardenschwere Fernsehdeals ermöglichen.
Weißwaschanlagen für Autokraten
Wenn der Westen sich aus beiden Organisationen zurückzieht und neue gründet, wäre das nicht nur ein schwerer wirtschaftlicher Schlag. Beide Organisationen verlören auch viel von ihrer Soft Power, ihrer Legitimation und ihrem Prestige – also das, was sie als Weißwaschanlagen für Autokraten so interessant macht.
Die US-Außenpolitikexperten Ivo Daalder und James Lindsay hatten vor mehr als zehn Jahren die Gründung einer „Liga der Demokratien“ angeregt, als Konkurrenz zur UN. In solch einen Klub der liberalen, gefestigten Demokratien würden nur etwa 60 Prozent der heutigen UN-Mitglieder Aufnahme finden. Das würde sicherstellen, dass diese neue Organisation nicht wieder von korrupten und autokratischen Regimen manipuliert wird und dass sie Legitimation nur denen verleiht, die sie auch verdienen.
Ähnliches wäre im Fußball denkbar, wenn Europa, das diesen Sport einmal erfunden hat, eine Neugründung zusammen mit gleichgesinnten Nationen wagt. Die Leute bezahlen schließlich nicht, um die Nationalmannschaften von Montserrat oder den Cookinseln zu sehen. Sie bezahlen, weil sie Deutschland gegen Spanien erleben wollen, oder die Champions League. Es wäre also durchaus möglich, den traurigen Zustand der Global Governance in vielen Bereichen zu verändern. Doch dafür bräuchte es den Mut zur Revolution. Die Frage ist, ob die westlichen Demokratien diesen Mut noch aufbringen. Oder ob sie sich fatalistisch fügen, zur Quantité négligeable zu werden.
Maltese patrol boats have not been picking up migrants at sea because the migrants themselves refuse to be rescued by Maltese boats, the commander of the AFM’s maritime unit, Lt Col Andrew Mallia has been quoted as saying by the Italian newspaper La Repubblica. He said that whenever Maltese patrol boats intercepted migrants’ boats the migrants invariably refused help. He explained that the migrants did not want to come to Malta because that would make it difficult for them to proceed to Northern Europe.
Die Schweiz marschiert asylpolitisch in die falsche Richtung. Die Attraktivität für illegale Migration wird laufend ausgebaut. Bundesrat und Justizdepartement weigern sich, das Asylrecht anzuwenden. Im Vollzug herrschen Missstände. Die Anerkennungsquoten sind so hoch wie nie. Die Rückführung abgewiesener Asylbewerber bleibt aus. Nicht das Elend der Welt, politische Unfähigkeit in Bern treibt die Asylzahlen in die Höhe.
«Alle [. . .] sollen bleiben»
Obschon die Schweiz bereits heute hinter Schweden Platz zwei unter den attraktivsten Asylländern Europas einnimmt, unternehmen die Behörden nichts gegen die illegalen Migranten. Der oberste Flüchtlingsbeauftragte des Bundes, Mario Gattiker, erklärte auf Radio SRF letzte Woche, eine seiner wichtigsten Prioritäten sei die Verbesserung der Infrastruktur zur Integration von Somaliern. Die Zeichen stehen auf Öffnung. Man ist bestrebt, die Aufnahmefähigkeit der Schweiz für Armutsmigranten aus Afrika nach Kräften zu verbessern.
Sinnbild der politisch gewollten Misere ist Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Die Justizministerin lässt jeden Willen vermissen, den Realitäten ins Auge zu sehen. In mehreren Interviews mit ihr wohlgesinnten Fernseh-Journalistinnen steht sie offen zu ihrer Haltung, die vom Souverän in zwei Gesetzesrevisionen seit 2006 geforderte Verschärfung des Asylrechts zu missachten.
Grenzen der Aufnahmefähigkeit sieht sie nicht. Über Missbräuche will sie nicht reden. Es sei viel wichtiger, so Sommaruga gegenüber der «Rundschau», dass die Schweiz «offen» und «solidarisch» bleibe. Es brauche jetzt vor allem «sichere Wege übers Mittelmeer», beteuerte sie in der Romandie. Italiens Ministerpräsident Renzi versprach sie bereits, auch die Schweiz werde sich an den «internationalen Flüchtlingskontingenten» beteiligen. Das auf Kosten der Steuerzahler grosszügige Fazit der Bundespräsidentin: «Alle, die unseren Schutz brauchen, sollen in der Schweiz bleiben können.»
Ist es Unwissenheit? Ist es Vorsatz? Sommarugas Aussagen laufen auf einen Aufruf zum grossräumigen Rechtsbruch hinaus. Tatsache ist: Das schweizerische Asylrecht wurde im Gefolge der Völkermorde des letzten Jahrhunderts geschaffen für Leute, die aus politischen Gründen direkt an Leib und Leben bedroht sind. Blosse Kriegsflüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge oder Leute, die einer aussichtslosen sozialen und wirtschaftlichen Situation entfliehen wollen, gelten nicht als asylberechtigt. Man kann das ungerecht finden, aber so will es das Gesetz – sowohl in der Schweiz wie auch in der Europäischen Union.
Bundespräsidentin Sommaruga behauptet im Fernsehen, 50 Prozent der aus Nordafrika aufbrechenden illegalen Migranten seien asylberechtigte Flüchtlinge nach Genfer Konvention. Ihr oberster Flüchtlingsdiplomat, Mario Gattiker, bestätigte diese Zahl auch gegenüber dieser Zeitung. Es ist eine dreiste Lüge.
Die Realität ist: In Nordafrika steigen illegale Wirtschaftsmigranten an Bord. Es sind Leute, oft junge Männer, welche die Krisenregionen längst hinter sich gelassen haben. Diese illegalen Auswanderer sind, wenn sie es denn je waren, nicht mehr an Leib und Leben bedroht. Ihr Motiv ist ein besseres Leben. Das ist verständlich, aber eben nicht legal. Laut Uno sind weltweit 230 Millionen Migranten unterwegs. Nur 16 bis 20 Millionen davon, nicht einmal 10 Prozent, seien echte Flüchtlinge. Wer in Nordafrika ein Boot besteigt, ist definitionsgemäss nicht mehr asylberechtigt.
98 Prozent landen erfolgreich in Europa
Nicht die Ärmsten und Verfolgten drängen auf die Kähne. Es sind die Bessergestellten und relativ Wohlhabenden, die Tausende von Franken bezahlen, um die Schlepperdienste in Anspruch zu nehmen. Gewiss: Es ist tragisch und aufwühlend, dass für rund 2 Prozent die Überfahrt tödlich endet. Entscheidend aber ist die Tatsache, dass der überwiegende Anteil von 98 Prozent der Reisenden erfolgreich auf dem europäischen Kontinent anlanden. Indem die EU jetzt die Seerettung verbessert und damit die Erfolgsquote der illegalen Migration auf 100 Prozent anhebt, wird der Migrationskanal Mittelmeer an Attraktivität gewinnen.
Jäger und Sammler
Die Festung Europa gibt es nicht. In Afrika lebt über eine Milliarde Menschen. Wie viel von ihnen aus der Armut in den reichen Norden ziehen, wird sich weisen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mutmasst, dass sich in diesem Jahr die Zahl der Asylgesuche in Deutschland von 200 000 auf 500 000 verdoppelt.
Interessanterweise verzichtet die Mehrheit der angeblich politisch Verfolgten auf Direktasyl in den Anrainerstaaten Spanien, Italien oder Griechenland. Sie ziehen es vor, unregistriert in wohlhabendere Gegenden wie die Schweiz, Deutschland oder Schweden zu fahren. Viele der sogenannten Flüchtlinge kommen aus dem sicheren Drittstaat Türkei.
Niemand freilich sollte den migrationswilligen Afrikanern und Arabern einen Vorwurf machen, wenn sie das Angebot der sperrangelweit offenen europäischen Südgrenze benützen. Der Mensch ist Jäger und Sammler. Er nimmt alles, was man ihm hinstellt. Heute ist es eben leichter, die beschwerliche Reise in die freigebigen Sozialstaaten Europas zu unternehmen, als unter korrupten afrikanischen oder arabischen Regierungen am Aufbau der Heimatländer mitzuwirken. Wer Asyl ruft, darf in die EU kommen. Indem die europäischen Regierungen ihre Asylgesetze nicht mehr ernst nehmen, sind sie schuld an ihrem Missbrauch.
Vibrierende Ergriffenheit
Bei ihren Auftritten am Fernsehen verkörpert Bundespräsidentin Sommaruga vibrierende Ergriffenheit. Sie erzählt vom Elend syrischer Bürgerkriegsopfer und von den schlimmen Zuständen in jenen Armutsgegenden, denen die Schweiz – offenbar wirkungslos – seit Jahrzehnten Milliarden an Entwicklungshilfe zahlt. Das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer ist auch der handgreiflichste Beweis dafür, dass die in Bern gepriesene «Entwicklungszusammenarbeit» keine greifbaren Resultate liefert. Die investierten öffentlichen Gelder versickern. Wäre es anders, würden nicht jährlich Hunderttausende aus Afrika nach Europa auswandern. Dem Missbrauch des Asylrechts geht ein milliardenschwerer Betrug am Steuerzahler voraus.
Sommaruga pflegt die Klaviatur der grossen Gefühle. In der Tat spielen sich in Syrien und im Nahen Osten menschliche Dramen ab. Es ist richtig, dass sich die Schweiz an finanzieller Direkthilfe in den Krisenregionen beteiligt. Man soll im Umland der Kriegsgebiete Lager und Infrastrukturen bauen helfen, in denen die unmittelbar Verfolgten Schutz und Zuflucht finden. Nur so entzieht man dem illegalen Schleppergeschäft die Grundlage. Die syrische Tragödie freilich hat wenig mit den asylpolitischen Realitäten in der Schweiz zu tun. Hierzulande bilden die Eritreer die grösste Gruppe der Asylsuchenden, noch vor Sri Lanka, wo gar kein Krieg mehr herrscht. Die am schnellsten wachsende Gruppe sind die Kosovaren, in deren Heimat Schweizer Truppen angeblich für Ordnung sorgen.
Die von Sommaruga hervorgehobenen Syrer liegen erst an dritter Stelle. Ihre Asylgesuche erzielten im ersten Quartal 2015 eine Anerkennungsquote von lediglich 26,3 Prozent, während 48,2 Prozent aller Asylgesuche aus Sri Lanka angenommen wurden. Wie ist es möglich, dass Flüchtlinge aus einem realen Kriegsgebiet weit tiefere Anerkennungsraten erreichen als Asylgesuche aus einem von Schweizern gutbesuchten Ferienland? Hausgemachte Gesetze und Eigenheiten der Asylpraxis beeinfliussen die Flüchtlingsbewegungen eben stärker als das von Politikern wie Sommaruga bewirtschaftete angeblich objektive Elend der Welt.
Im Jahr 2006 verschärfte die Schweiz nach einem Volksentscheid ihr Asylrecht. Umgehend sank die Zahl der Gesuche. Seit 2011 steigt sie wieder. Es kommt entscheidend darauf an, ob die politische Führung den Mut aufbringt, die Asylgesetze anzuwenden. Der politische Wille lässt nach. Noch nie gab es so viel «vorläufig Aufgenommene». Das sind Personen, deren Gesuch abgewiesen wurde, die man aber trotzdem im Land bleiben lässt. 66 Prozent aller Personen im Asylprozess haben diesen Status, insgesamt sind es über 30 000. So viel gab es nicht mal während des Jugoslawienkriegs.
6800 Franken steuerfrei
Dass das Asylwesen im Argen liegt, belegen auch die Kriminalitätsraten. Obschon die Asylsuchenden nur 0,6 Prozent der wohnberechtigten Bevölkerung ausmachen, begingen sie zwischen 2011 bis 2014 ganze 9 Prozent aller Straftaten. Wer dermassen gegen die Gastfreundschaft seines Asyllandes verstösst, kann kein richtiger Flüchtling sein.
Natürlich: Die Schweiz könnte die Zahl der Asylgesuche drastisch senken. Wenn sie denn wollte. Unter CVP-Justizministerin Ruth Metzler schwankten die Gesuchszahlen von 2001 bis 2003 zwischen 27 000 und knapp 22 000. Metzler-Nachfolger Christoph Blocher (SVP) halbierte die Zahl auf unter 11 000. Bereits im Jahr eins nach Blochers Abwahl stiegen die Asylzahlen unter Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) wieder auf 16 000. Nachfolgerin Sommaruga (SP) produziert noch beunruhigendere Zahlen: Von 22 500 (2011) steuern wir jetzt auf rund 30 000 Gesuche zu. Staatssekretär Gattiker schwärmt von den «im EU-Vergleich hervorragenden» Werten. Unter Blinden ist der Einäugige König.
Die Kosten explodieren. Wie die SVP letzte Woche in einem von den Medien totgeschwiegenen Bericht aufzeigte, gibt es keine transparente Rechnung in Bern. Die Volkspartei kalkuliert mit einer Milliarde Franken allein auf Bundesebene sowie mit weiteren zwei Milliarden bei Kantonen und Gemeinden. Hinzu kommen die Kosten der Strafverfolgung sowie die Ausgaben für die Entwicklungshilfe. Die SVP geht von sechs Milliarden Franken jährlich aus.
Eine arbeitslose vierköpfige Flüchtlingsfamilie kann im Kanton Zürich mit einem steuerfreien Einkommen von rund 6800 Franken monatlich rechnen, eine «sozialpädagogische Familienbegleitung» im Wert von 2400 Franken pro Monat inbegriffen. Wer illegal in ein Haus einbricht, wird bestraft. Wer illegal in ein Land einbricht, wird mit Sozialhilfe belohnt. Wann bringt Bern die Kraft auf, diesen Wahnsinn zu beenden?
Als vor 35 Jahren Hunderttausende in Lebensgefahr übers Meer auswandern wollten, forderten Linke im Westen: Helft ihnen nicht! Von Ulli Kulke
Es klang unerhört. Die Amerikanerin Joan Baez, berühmt als singende Aktivistin für Menschenrechte, gegen Rassismus und vor allem gegen Krieg, bat 1979 Präsident Jimmy Carter öffentlich, die 7. Flotte der US Navy in Stellung zu bringen, im Südchinesischen Meer. Täglich waren dort Hunderte Menschen umgekommen, manchmal Tausende. Carter reagierte und schickte die größte aller Kriegsflotten dorthin, wo sie gewünscht war von jener Ikone des Pazifismus. Jane Fonda, Hollywoodgröße und Sympathisantin der Linken, fuhr daraufhin schweres Geschütz auf: Baez paktiere mit dem Gegner.
Dabei war es eine Rettungsmission, zu der Carter die Schiffe schickte, und dies auch nur für kurze Zeit. 1979 war der Höhepunkt einer beispiellosen Katastrophe auf hoher See in Fernost, die von 1975, dem Ende des Krieges in Vietnam, bis etwa 1982 andauerte. Es gibt nur ungefähre Schätzungen, doch etwa eine Million Menschen waren dort in den Jahren auf der Flucht über das Meer. Zu Hause, in Südvietnam, drohten ihnen Zwangsarbeit, Umerziehungslager, Foltercamps, die die Nordvietnamesen nach ihrem Einmarsch für die ehemaligen Kriegsgegner eingerichtet hatten. Zweieinhalb Millionen mussten dort Torturen erleiden. Von denen, die den Ausbruch aus Vietnam wagten und in See stachen, fand jeder Vierte oder Fünfte den Tod, in sieben Jahren insgesamt wohl zwischen 200.000 und 250.000. Kaum weniger wurden von Piraten überfallen, ausgeplündert, vergewaltigt, verkauft, Frauen und Kinder zuerst.
Die einzelnen Bilder gleichen denen, die wir heute aus dem Mittelmeer kennen: überladene, seeuntüchtige Boote, Schiffbrüchige, verzweifelte Menschen, Leichen im Meer. Was die Bilder nicht ausdrücken können: Die Dimensionen der Katastrophe damals überstiegen die der heutigen grob gerechnet um das Zehnfache. Dennoch hielten sich die internationale Empörung und nennenswerte Rettungseinsätze in Grenzen. Dabei tauchten die Flüchtlinge in den Abendnachrichten durchaus häufig auf, hatten bald auch einen Namen: „Boatpeople“. Und in die Debatte über sie schlichen sich menschenverachtende Züge ein, auch in Westdeutschland.
Aus den Reihen der Linken, die den Sieg des kommunistischen Nordvietnams über den von den USA protegierten Süden noch lange nachfeierte, kamen Stimmen, die nur so zu interpretieren waren: Kümmert euch nicht um die Seenot der Boatpeople. So tat die damals in der Szene weit verbreitete Zeitschrift „Konkret“ die Flüchtlinge als Elemente ab, die es nicht wert seien, gerettet zu werden: „Schwarzhändler, Zuhälter und US-Kollaborateure“. Interessanterweise berief sich das Blatt auch auf einen Beitrag des ARD-Korrespondenten in Singapur, der 470 Boatpeople interviewt und bei fast allen wirtschaftliche und keine politischen Motive für die Flucht festgestellt habe. Unabhängig davon, ob die Recherche korrekt war: Heute bemühen sich die Medien, zumal die öffentlich-rechtlichen, diese Differenzierung tunlichst auszuklammern – auch dies ein markanter Unterschied zu 1979.
Dem Schriftsteller Peter Weiss („Ästhetik des Widerstands“) fehlte damals nicht nur das Mitleid mit den Schiffbrüchigen, er sah auch Sympathien dafür, dass die vietnamesischen Kommunisten die Zurückgebliebenen drangsalierten: „Um das Leben von 50 Millionen zu schützen, müssen einige Zehntausende, die die Nation gefährden, in Gewahrsam gehalten werden.“ Im neuen, sozialistischen Vietnam müsse man eben arbeiten. Die „Marxistische Studentenzeitung“ (MSZ) stritt das Problem schlicht ab, es werde nur aufgebauscht: „So dienen die Boatpeople dieser Tage ganz der Abrechnung mit den neuen Machthabern“, für eine weltweite moralische Kampagne gegen den Kommunismus. „Konkret“, „MSZ“ und andere sahen das Problem als eine Erfindung von „Bild“ oder gleich der „Stimme Amerikas“.
Insbesondere Weiss war wegen seiner Haltung allerdings auch harten Angriffen seitens der Linken selbst ausgesetzt. Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr warf ihm „Zynismus“ vor, nach Ansicht des schwedischen Schriftstellers Jan Myrdal propagierte Weiss eine „faschistische Gesellschaft“, und die „taz“ brachte auf ihrer Titelseite ein selbst gedichtetes Anti-Weiss-Gedicht.
Die Aufnahmebereitschaft gegenüber den vietnamesischen Flüchtlingen in Deutschland war begrenzt. Dies musste der Journalist Rupert Neudeck feststellen, als er 1979 mithilfe einiger Prominenter aus Kultur und Politik wie Heinrich Böll oder Norbert Blüm das Schiff „Cap Anamur“ mobilisierte, um den Notleidenden vor Vietnam zu helfen. Die sozialliberale Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) sah es gar nicht gern, dass Neudecks „Cap Anamur“ die Menschen nicht nur rettete, sondern viele auch nach Deutschland brachte. Hessens Ministerpräsident Holger Börner (SPD) befand, es sei sinnvoller, die Vietnamesen „in ihrem Kulturkreis zu lassen“. Der Theologe Helmut Gollwitzer forderte Neudeck auf, lieber etwas im Lande Vietnam zu tun, als die Boatpeople zu retten. „Das Land ließ uns bis Herbst 1988 gar nichts im Lande tun“, klagte Neudeck Gollwitzers Haltung in einem Buchbeitrag an.
Mit dem Argument, Neudeck lade durch seine Einsätze nur noch mehr Vietnamesen ein, auf überladenen Booten in See zu stechen, torpedierten Bund und Länder seine Mission. Das Kontingent für die Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge wurde auf wenige Tausend begrenzt. Allein der sehr persönliche Einsatz des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU), der viele Vietnamesen ins Land holte, sorgte später für Lockerung.
Auch in den USA kochte der Streit um die Flüchtlinge hoch, fokussiert in der Auseinandersetzung zwischen Joan Baez und Jane Fonda, die über Wochen in den Magazinen der USA ausgetragen wurde. Baez zeigte Mitgefühl mit den Flüchtlingen, hatte in einem offenen Brief Vietnams Regierung hart kritisiert. Fonda blieb auch nach Kriegsende absolut solidarisch mit Hanoi, fuhr gegen Baez schweres Geschütz auf. Die Einheitsfront der Anti-Vietnamkriegsbewegung war zerbrochen. An den Boatpeople.
Während gedruckte Bücher viele Monate Vorbereitungszeit erfordern, können sich E-Books der drängenden Themen der Zeit unmittelbar annehmen. Bei den Digitalverlagen ist die Aufarbeitung der Flüchtlingskatastrophe in vollem Gang.
Gemächlich geht es zu in der Welt des gedruckten Wortes. Ein bis zwei Jahre Vorlaufzeit muss man rechnen, bis ein Roman erscheint, ein Band mit Erzählungen, eine Essaysammlung. Der digitale Literaturbetrieb hat ein anderes Tempo: E-Books sind schnell. Zum einen werden wir aufgrund der raschen Produktionsweise mit literarischem Fast Food überschwemmt, zum anderen können anspruchsvolle Digitalverlage zeitnah Texte zu Themen von dringlicher Relevanz veröffentlichen, über die wir uns allabendlich vor dem Fernseher erregen.
Die Fernsehbilder, die mich aufwühlen, zeigen dunkelhäutige Frauen, Kinder, Männer mit ängstlichen Gesichtern. Dicht gedrängt riskieren sie auf überladenen Fischkuttern ihr Leben, um von der nordafrikanischen Küste übers Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Mehr als zweihunderttausend Menschen gaben 2014 den Schleusern ihr spärliches Hab und Gut für die gefährliche Überfahrt. Tausende ertranken, Tausende starben vor Erschöpfung an Bord. In Italien und Griechenland drohen den Überlebenden unzumutbare Lager, in Deutschland zermürbende Asylverfahren. Ich sitze in meinem katastrophenfernen Heim und frage mich, was man wohl tun könnte, um zu helfen.
Die Berliner Digitalverlegerinnen Nikola Richter und Christiane Frohmann haben etwas getan. In den Programmen ihrer Verlage Mikrotext und Frohmann finde ich kuratierte Chats, Erlebnisprotokolle und literarische Essays über die Massenflucht nach Europa und über das Innere unseres Asylsystems.
Als „Doppel-Essay“ ist beispielsweise das E-Book ausgewiesen, das Patras Bwansi und Lydia Ziemke unter dem Titel „Mein Name ist Bino Byansi Byakuleka“ bei Mikrotext veröffentlicht haben. Allerdings handelt es sich bei den Beiträgen des Textilkünstlers Patras „Bino“ Bwansi eher um autobiographisch ausgerichtete short cuts, in denen es um die Kindheit und Jugend des Autors in Uganda geht, um Flüchtlingshierarchien in Berlin, um ein Lager in Bayern, das man nur verlassen darf, wenn man Antrag um Antrag stellt und Geld zahlt, das man gar nicht hat: „Man will nicht, dass wir sterben, aber man will offenbar auch nicht, dass wir leben.“ Irgendwann nimmt er den Namen des ermordeten Vaters an, irgendwann verlässt er das Lager, irgendwann schlägt er sein Zelt im Garten eines Klosters auf trotz winterlicher Kälte und Drohungen der Neonazis.
„Kein Mensch ist illegal!“ Der Flüchtling ist nun „Flüchtlingsaktivist“. Auf dem Berliner Oranienplatz demonstriert er zusammen mit der Sudanesin Napuli Paul Langa, die vier Tage auf einem Baum ausharrt, um vom Senat Zugeständnisse zu erzwingen. Und er trifft die Theaterregisseurin Lydia Ziemke, die seine Texte aus dem Englischen ins Deutsche überträgt. Die Flüchtlinge, schreibt sie, „helfen uns mit ihrem Protest, der unsere Werte ernst nimmt, diese Werte selbst wieder ernst zu nehmen.“
Zudem reflektiert Lydia Ziemke in ihrem sehr guten kritischen Aufsatz über die „Paradoxien des Helfens“ den eigenen Versuch, einem jungen Marokkaner den Weg in den deutschen Alltag zu bahnen. Sie erfährt dabei „lebensecht“, was Hannah Arendt 1943 im Essay „We Refugees“ postuliert hat, nämlich dass „Nächstenliebe erst dann wirksam werden kann, wenn den Flüchtlingen staatliche Gerechtigkeit widerfahren ist“. Das rund hundert Jahre alte deutsche Asylrecht gewährt aber nur jenen Gerechtigkeit, die sich als „politische Flüchtlinge“ qualifizieren können. Wer es nicht schafft, muss unsichtbar werden. Seiner selbst beraubt, greift der junge Marokkaner zu Drogen. Dann schlägt die Selbstzerstörung um in Manipulation, Geldforderung, emotionale Erpressung. Lydia Ziemke sieht ein: „Ich kann das nicht. Ich könnte ihn zeitweise verstecken, aber ich kann nicht bewerkstelligen, dass sein Tag normaler und die Zukunft greifbarer wird. Ich hätte Schuldgefühle, und er hätte durch mich weder dauerhafte materielle noch emotionale Grundsicherung.“
Eindrucksvoll ist auch die essayistische Erzählung, die bei Frohmann unter dem Titel „Vor Lampedusa“ erschienen ist. Die Autorin Michaela Maria Müller, die einen Tumblr-Blog zu Flüchtlingspolitik und Migration betreibt, hat die italienische Insel bereist, vor der 2013 fast vierhundert Flüchtlinge bei einem Schiffsbrand ums Leben kamen. Auf dem Schiffsfriedhof durchsucht sie die Wracks der Schlepperboote, die bei der Bergung „ganze Menschenstapel“ enthielten. Unter den Habseligkeiten der ehemaligen Passagiere ist eine Handtasche, in der sich die Reste einer Lebensmittelkarte befinden, ausgestellt auf den Namen einer Frau. „Ayanna hat noch andere Dinge hinterlassen: Ein graues, gepolstertes Tragetuch, auf das weiße Schäfchen gedruckt sind. Einen schwarzen Kinderschuh in Größe 23. Eine leere Tetrapackung Milch des französischen Herstellers Délice Lait, abgepackt in Tunesien.“
Detailreich und empathisch erzählt Michaela Maria Müller vom Schicksal der Flüchtlinge auf Lampedusa, die ohne Verfahren nach Tripolis abgeschoben werden und von dort aus weiter zu einem entlegenen Ort in der Sahara. „Die Toten liegen überall in der Weite der Wüste, sie sind im Angesicht der sengenden Sonne wie zusammengerollte Embryonen verdurstet.“
Work in progress
„Vor Lampedusa“ ist Teil eines unveröffentlichten Projekts, einer postmodern anmutenden Mischung aus Doku-Roman und literarischer Reportage, in der sich Fiktion mit Nichtfiktion verbindet. Ähnlich wirkt der „Chat von der Flucht“ auf mich, den die Berliner Hörfunkautorin Julia Tieke und der syrische Medienaktivist Faiz unter dem Titel „Mein Akku ist gleich leer“ bei Mikrotext veröffentlicht haben. Der Protagonist selbst hat auf seiner Flucht durch Griechenland, Mazedonien, Serbien und Rumänien wiederholt den Eindruck, sich durch einen Abenteuerroman zu bewegen. Und doch handelt es sich bei seiner Reise um einen realen Horrortrip mit Verfolgungen, Verhaftungen, Internierungen. Faiz’ Herzenswunsch: „Ich will einfach nur ein Mensch sein.“ Aber die Behörden in seiner Heimat und in allen Ländern, die er ohne Papiere durchquert, verwehren es ihm.
Seine Chat-Partnerin bietet einer Radioredakteurin den Facebook-Dialog zur Sendung an, den ich bühnenreif finde. Denn auch das Theater greift das Problem der Flüchtlinge auf. „Die Schutzbefohlenen“ heißt das Stück der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek, mit dem vor kurzem die Berliner Theatertage eröffnet wurden. Regisseur Nicolas Stemann lässt nicht nur Jelineks chorischen Klagegesang von Schauspielern sprechen, sondern gibt auch den Flüchtlingen, die hier „Geflüchtete“ genannt werden, das Wort. Die Inszenierung, die von Mannheim über Amsterdam und Hamburg nach Berlin kam, wird immer wieder verändert durch die Geschichten, die die Betroffenen vor Ort erzählen. In Berlin ist der Ugander Patras „Bino“ Bwansi mit den Erlebnisberichten dabei, die er als digital first bei Mikrotext publiziert hat. So schließt sich der Kreis: Die prozesshafte Inszenierung und der Text, der auf Jelineks Homepage in fortlaufender Bearbeitung erscheint, stehen in der Tradition des work in progress, das im digitalen Literaturbetrieb eine feste Größe ist. Wenn Sie darüber mehr erfahren möchten, dann lesen Sie hier demnächst weiter.
Patras Bwansi/Lydia Ziemke: „Mein Name ist Bino Byansi Byakuleka“. Doppel-Essay. Text von Patras Bwansi. Aus dem Englischen von Lydia Ziemke. Mit 6 Fotos und einigen Asyl-Dokumenten aus dem privaten Besitz von Patras Bwansi. Mikrotext, Berlin, Januar 2015. Ca. 140 Seiten auf dem Smartphone, 1,99 €.
Michaela Maria Müller: „Vor Lampedusa“. Eine Reise. Mit Bildern vom Schiffsfriedhof auf Lampedusa. Frohmann, Berlin, März 2015. Ca. 37 Seiten auf dem Kindle, 2,99 €.
In Berlin werden nach rbb-Informationen immer mehr Gebäude von privaten Vermietern zweckentfremdet und illegal als Einrichtungen für Asylbewerber genutzt. Hintergrund sind die pauschalen Kostenübernahmen durch das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Demnach zahlte das Lageso rund 186.000 Euro an Makler-Provisionen für die Beschaffung von drei Unterkünften in den Berliner Stadtteilen Charlottenburg und Pankow. Allein für ein Flüchtlingsheim in der Charlottenburger Soorstraße flossen 96.000 Euro an Provision an die Maklerfirma. Dabei sei nicht überprüft worden, ob Maklerfirma sowie Eigentümer und Betreiber der Immobilien miteinander verflochten waren, so die Sozialverwaltung. Auch eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung der Makler-Provisionen sei nicht vorgenommen worden.”Das Geschäft mit Flüchtlingen ist eine Lizenz zum Gelddrucken” im Rundfunk Berlin-Brandenburg
Illegale Quartiere für Asylbewerber – „Das Geschäft mit Flüchtlingen ist eine Lizenz zum Gelddrucken“
Immer mehr Gebäude in Berlin werden nach rbb-Recherchen von privaten Vermietern zweckentfremdet und illegal als Einrichtungen für Asylbewerber genutzt. Dies ist möglich, weil das Landesamt für Gesundheit die Einrichtungen offenbar nicht ausreichend überprüft, sondern die Wohnkosten pauschal übernimmt.
In Berlin werden nach rbb-Informationen immer mehr Gebäude von privaten Vermietern zweckentfremdet und illegal als Einrichtungen für Asylbewerber genutzt. Hintergrund sind die pauschalen Kostenübernahmen durch das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso).
Das Amt übernimmt Unterbringungskosten für Asylbewerber, ohne die jeweiligen Einrichtungen zu überprüfen. Die rbb-Abendschau hat einen Fall in der Talstraße, Ecke Thulestraße in Berlin-Prenzlauer Berg recherchiert, wo nach Angaben des Betreibers 80 Asylbewerber illegal untergebracht werden.
Immer wieder versuchen private Vermieter, mit der Unterbringung von Flüchtlingen viel Geld zu verdienen. Ein besonders krasses Beispiel gab es jetzt in Lichtenberg: Das Landesamt für Gesundheit und Soziales zahlte einen Wucher-Mietpreis für eine Wohnung – und wurde dabei vom Vermieter doppelt ausgetrickst.
Doch der Pankower Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Jens-Holger Kirchner (Bündnis/Grüne), hat die Unterbringung dort jetzt untersagt. „Insgesamt ist das Geschäft mit Flüchtlingen eine Lizenz zum Gelddrucken und erst recht, wenn nicht ordentlich kontrolliert wird und auch nicht kontrolliert werden kann“, kritisiert Kirchner.
Berliner Behörden greifen offenbar auch auf Makler zurück
Auf der Suche nach neuen Unterkünften für Flüchtlinge greifen die Berliner Behörden offenbar auch auf Makler zurück, wie aus einer am Wochenende veröffentlichten Antwort der Sozialverwaltung auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Abgeordnetenhaus hervorgeht.
Demnach zahlte das Lageso rund 186.000 Euro an Makler-Provisionen für die Beschaffung von drei Unterkünften in den Berliner Stadtteilen Charlottenburg und Pankow. Allein für ein Flüchtlingsheim in der Charlottenburger Soorstraße flossen 96.000 Euro an Provision an die Maklerfirma. Dabei sei nicht überprüft worden, ob Maklerfirma sowie Eigentümer und Betreiber der Immobilien miteinander verflochten waren, so die Sozialverwaltung. Auch eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung der Makler-Provisionen sei nicht vorgenommen worden.
Bezirk Mitte will feste Kontingente für Flüchtlinge
Der Bezirk Mitte hat zudem kritisiert, dass sich einige Berliner Hostelbetreiber hemmungslos bereichern würden, während viele Flüchtlinge in den Hostels unter schlechten Bedingungen leben würden. Der Bezirk bemängelt vor allem eine unzureichende Kontrolle durch das Lageso und fordert, dubiose Betreiber stärker zu überprüfen, anstatt überteuerte Rechnungen zu akzeptieren.
Damit Flüchtlinge nicht Opfer dieser unseriösen Betreiber werden, will der Bezirk Mitte alle seine Hostelbetreiber anfragen, um feste Kontingente vorzuhalten. „Des Weiteren baut der Bezirk eine Datenbank auf, um alle Informationen über illegale Unterkünfte zu sammeln und zu verhindern, dass deren Betreiber durch fehlende Kenntnisse in der Verwaltung mit öffentlichen Mitteln reich werden“, heißt es in einer Mitteilung.
Wer darf bleiben? Asyl und Flüchtlingsschutz
Es gibt drei Formen des Flüchtlingsschutzes: das Asylrecht für politisch Verfolgte, den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention sowie den subsidiären („Hilfe leistender“) Schutz:Um Asyl oder den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu bekommen, muss der Asylsuchende eine begründete Furcht vor individueller Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe glaubhaft machen. Subsidiärer Schutz wird beispielsweise gewährt, wenn einer Person Folter oder unmenschliche Behandlung, die Todesstrafe oder eine konkrete Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit drohen, etwa infolge willkürlicher Gewalt in einem bewaffneten Konflikt oder aufgrund einer im Herkunftsland nicht behandelbaren schweren Krankheit.
Einreise über sichere Länder: Drittstaaten
Wenn ein politisch verfolgter Flüchtling über ein Land einreist, das als sicher gilt, erhält er in Deutschland kein Asyl. Als sichere Drittstaaten gelten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. Den Flüchtlingen wird die Einreise nach Deutschland verweigert oder sie werden in den Drittstaat zurück abgeschoben.
Der Weg zum Asyl: Das Asylverfahren
Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Antrag auf Asyl. Dort werden die Personalien aufgenommen und der Flüchtling erhält eine Aufenthaltsgestattung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nimmt den Asylantrag auf und der Asylbewerber erhält einen Termin zu einer sogenannten Anhörung, wo er die Gründe für die Flucht aus der Heimat vorträgt. Dann wird darüber entschieden, ob dem Bewerber Asyl gewährt wird. Dieser Prozess kann viele Monate – teilweise sogar Jahre – dauern.
Dürfen Asylbewerber reisen? Die Residenzpflicht
Am 1. Januar 2015 wurde die so genannte Residenzpflicht für viele Flüchtlinge abgeschafft. Sie verbat es Asylbewerbern, ein bestimmtes Gebiet – ein Bundesland, ein Regierungsbezirk oder eine Stadt – zu verlassen, dem sie zugewiesen wurden. Seit Januar dürfen sie sich in der Regel nach Ablauf von drei Monaten frei im Bundesgebiet bewegen.
Sitzen und Warten: Die Arbeitserlaubnis
Anerkannte politische Flüchtlinge erhalten eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis. Für Asylbewerber und Geduldete wurde die Frist, in der sie in Deutschland nicht arbeiten dürfen, verkürzt: Ihnen ist es erlaubt, nach drei Monaten Aufenthalt zu arbeiten. Dafür müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, beispielsweise müssen deutsche Bewerber und EU-Bürger bei der Vergabe von Tätigkeiten bevorzugt werden. Manchmal muss in konkreten Fällen auch die Bundeagentur für Arbeit zustimmen. Diese Einschränkungen entfallen nach 15 Monaten.
Asylantrag angenommen: Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis
Anerkannte Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre und auch eine Arbeitserlaubnis. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kann in diesen drei Jahren die Schutzberechtigung widerrufen, etwa wenn dem Flüchtling im Heimatland keine Verfolgung mehr droht. Wird der Schutzstatus nicht wiederrufen, kann ihnen nach drei Jahren eine unbefristete Niederlassungserlaubnisgewährt werden. Diese kann nicht widerrufen werden.
Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird: Ausreise und Abschiebung
Wird kein Asyl gewährt, erhält der Flüchtling einen Ablehnungsbescheid und die Aufforderung zur Ausreise sowie eine Abschiebungsandrohung. Dabei wird eine Frist von 30 Tagen gesetzt; bei „offensichtlich unbegründeten“ Anträgen beträgt die Frist sogar nur eine Woche. Als offensichtlich unbegründet wird ein Asylantrag gemäß § 30 Asylverfahrensgesetz abgelehnt, wenn der Asylvortrag widersprüchlich und nicht substantiiert genug war oder erst bei drohender Aufenthaltsbeendigung gestellt wurde. Gegen die Abschiebung kann der Asylbewerber innerhalb einer Frist entsprechend der Ausreisefrist vor dem Verwaltungsgericht Klage einreichen.
Oft dauert es lange, bis ein Flüchtling tatsächlich abgeschoben wird. Im Jahr 2014 wurden von 40.000 abgelehnten Personen rund 11.000 abgeschoben.
Abschiebungsverbot und Abschiebungsschutz
Ein Abschiebungsverbot gilt, wenn dem Flüchtling bei einer Rückkehr in die Heimat erhebliche Gefahr droht. Ein Abschiebungsschutz wird gewährt, insbesondere wenn die Gefahr einer wesentlichen gesundheitlichen Verschlechterung droht, z.B. weil im Heimatstaat die medizinische Versorgung fehlt.
Duldung
Solange ein abgelehnter Asylbewerber nicht abgeschoben werden kann, erhält er eine Duldung. Grund kann ein von den Innenministern verhängter Abschiebestopp sein oder das Fehlen von Identitätspapieren (Reisepass). Diese Duldung gilt maximal sechs Monate und kann jederzeit widerrufen werden. Nach Angaben der Diakonie Deutschland lebten Ende 2013 rund 94.500 Personen im Duldungsstatus – etwa 10.000 von ihnen schon seit mehr als 15 Jahren. Für geduldete Personen gelten erhebliche Einschränkungen von Teilhaberechten wie etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt und sozialen Leistungen. Sie unterliegen ebenfalls der Residenzpflicht.
Bleiberecht
In der Vergangenheit gab es sogenannte Altfallregelungen: Flüchtlinge, die seit mehreren Jahren in Deutschland geduldet wurden, konnten unter bestimmten Bedingungen ein Bleiberechterhalten. Sie mussten vor einem bestimmten Stichtag eingereist sein, die deutsche Sprache sprechen, ihren Lebensunterhalt selbst sichern und straffrei geblieben sein. Derzeit gibt es keine gültige Regelung, da diese Altfallregelung ausgelaufen ist
Derzeit erarbeitet das Bundesinnenministerium eine Bleiberechtsregelung, die stichtagsabhängig ist. Auch hier ist das Bleiberecht an strenge Bedingungen geknüpft. Es gibt jedoch bereits eine stichtagsfreie Bleiberechtsregelung für Jugendliche und Heranwachsende und für qualifizierte Geduldete.
§ 23 AufenthG: Aufenthaltsgewährung durch das Land
Nach § 23 des Aufenthaltsgesetzes können die obersten Landesbehörden (etwa die Senatsverwaltung für Inneres) aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder auch zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis anordnen. Allerdings muss diese Anordnung mit dem Bundesinnenministerium abgestimmt werden. Ehemals geduldete Personen, die ein Bleiberecht erhalten haben, bekommen eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift.
Hintergrund zu Flüchtlingen in Berlin
Die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland
Die Aufteilung der Flüchtlinge regelt ein Verteilungsschlüssel, der sogenannte „Königsteiner Schlüssel“. Er wurde im Jahr 1949 eingeführt, ursprünglich um die Anteile der Länder bei der Finanzierung von Forschungseinrichtung festzulegen. Er wird jährlich neu festgelegt und berücksichtigt zu zwei Dritteln das Steueraufkommen und zu einem Drittel die Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundeslandes.
Nach dem Verteilungsschlüssel 2014 muss Berlin 5 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Zum Vergleich: Nordrhein-Westfalen muss mit 21,2Prozent die meisten Flüchtlinge aufnehmen.
Flüchtlinge in Berlin: Die Zahlen
In Berlin leben derzeit rund 27.000 Flüchtlinge.
Neue Asylbewerber in Berlin 2015
Berlin erwartet 2015 etwa 25.000 neue Flüchtlinge. Im ersten Quartal 2015 hat Berlin 5.105 Flüchtlinge neu aufgenommen. 2014 erhielten nur 26 Prozent der Bewerber eine Aufenthaltserlaubnis.
Das Land Brandenburg muss nach der aktuellen Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2015 über 13.800 Flüchtlinge aufnehmen.
Grundlage der Berechnung sind Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Es erwartet im Jahr 2015 rund 600.000 neue Flüchtlinge in Deutschland. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 202.834 Asylanträge gestellt, im Jahr 2013 waren es 127.000.
Ankunft und erste Unterbringung
Nach dem Asylverfahrensgesetz müssenAusländer, die ihren Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes gestellt haben, sechs Wochen, längstens jedoch drei Monate, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Hintergrund ist, dass der Asylbewerber in dieser ersten Phase des Verfahrens verpflichtet ist, für die zuständigen Behörden und Gerichte und für Mitteilungen und Zustellungen des Bundesamtes erreichbar zu sein.
In Berlin gibt es sieben Erstaufnahmeeinrichtungen, betrieben von der AWO, beispielsweise in Lichtenberg, Charlottenburg und Wedidng. Dort verbringen die Asylbewerber bis zu drei Monate, bevor sie auf andere Flüchtlingsunterkünfte verteilt werden. Die Wohncontainer und die sanitären Einrichtungen in der Motardstraße, der größten Erstaufnahmeeinrichtung,gelten als marode. Die Anlage befindet sich mitten in einem Industriegebiet. Derzeit leben dort über 500 Asylbewerber.
Wie werden die Flüchtlinge in Berlin verteilt?
In Berlin existiert kein Verteilungsschlüssel. Die Bezirke sollen im „Rat der Bürgermeister“ selbst für eine „faire Verteilung“ sorgen. Das hat bislang nicht geklappt. So sind derzeit in Pankow 1.822 von über 15.000 Flüchtlingen in Heimen untergebracht, in Zehlendorf-Steglitz lediglich 321. Dazu kommen rund 12.000 Asylbewerber in Wohnungen und Hostels.
Unterkünfte in Berlin
In Berlin leben derzeit rund 27.000 Flüchtlinge. Etwa 15.000 sind derzeit in fast 70 Sammelunterkünften, 12.000 in Hostels und Wohnungen untergebracht. Außerdem wohnen Tausende früherer Asylbewerber mit einem Duldungsstatus in der Stadt. Senator Czaja will 2015 weitere Container und an 36 Standorten Heime errichten lassen. Zwei neue Containerdörfer in Köpenick und Buch sind bereits bewohnt.
Neue Unterkünfte in Berlin
Im Jahr 2015 sollen weitere Wohncontainer in Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Steglitz-Zehlendorf gebaut werden – unter Regie des Senats auf landeseigenen Grundstücken. Die Kosten betragen rund 43 Millionen Euro. Außerdem will der Berliner Senat in den kommenden zwei Jahren 36 neue Flüchtlingswohnheime bauen. Anders als die gerade entstehenden Containerdörfer sollen die neuen Unterkünfte aus Fertigbauteilen errichtet werden, das könnte etwa 160 Millionen Euro kosten.
Die Kosten
In Berlin wird ein Großteil der Asylbewerber durch den Senat finanziert. Private Träger erhalten pro Flüchtling und Tag einen Tagessatz unterschiedlicher Höhe. Derzeit leben allein in Berlin 860 Flüchtlinge in Pensionen und Hostels, diese Unterbringung ist auf Dauer teuer. Pro Jahr kostet die Haupstadt die Einquartierung von Flüchtlingen ca. 40 Millionen Euro – ähnlich viel, wie die neuen Containerdörfer kosten sollen.
In Brandenburg tragen die Kommunen 15 bis 30 Prozent der Kosten für Asylbewerber. Den Großteil bekommen sie durch eine Pauschale vom Land erstattet. Zurzeit sind das 9.219 Euro pro Person im Jahr. Nach vier Jahren müssen die Landkreise und kreisfreien Städte die Kosten komplett übernehmen. Für die Schaffung neuer Kapazitäten erhalten die Landkreise und Städte eine Investionspauschale von 2.300 Euro pro Platz. Für das Jahr 2014 ergibt sich insgesamt ein Betrag von etwa drei Millionen Euro, der vom Land ausgezahlt wird.
(Es ist keine Empathie, sondern hysterische Heuchelei. Anm. JSB)
Von Tim Tressel, 1109.2015
In Deutschland haben Kräfte die Deutungshoheit erlangt, die nicht nach dem handeln, was wahr ist, sondern nach dem, was sich wahr anfühlt. Viele politische Entscheidungen richten sich nicht mehr nach der Faktenlage, sondern nach dem, was wahr sein sollte, danach, wie man sich die Welt wünscht, aber nicht danach, wie die Dinge wirklich stehen.
Diese gefühlte Realität erzeugt politische Entscheidungen, für die es keine rationale Rechtfertigung gibt, die immensen Schaden anrichten und meist nicht einmal das gewünschte Ziel erreichen. Denn genau wie die viel gescholtenen Rechtspopulisten Europas manipulieren vor allem die linken politischen Kräfte in Deutschland die Emotionen der Bevölkerung, um ihre Ziele um jeden Preis durchzusetzen. Nur manipulieren sie die Menschen nicht, indem sie auf den Zorn einiger setzen, sondern ihre Manipulation funktioniert über Empathie. Denn genau wie Wut und Zorn erzeugt das Einfühlungsvermögen im Menschen ein trügerisches Bauchgefühl, das befriedigt und besänftigt werden will. Sobald man dieses Bauchgefühl mit einem politischen Thema verknüpft hat, muss man nur noch eine Lösung vorschlagen, die sich richtig anfühlt, unabhängig davon, ob das zugrunde liegende Problem überhaupt gelöst wird. Die Hauptsache ist das Gefühl! Leider fußen die meisten wichtigen politischen Entscheidungen der letzten Jahre auf diesem entsetzlich falschen Prinzip.
Die Medien sind nicht unbedingt Schuld an diesem Zustand, aber die sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten begünstigen ihn. Denn auch die Medien leben von den Emotionen der Zuschauer. Am besten funktioniert das menschliche Einfühlungsvermögen immer über eine einzelne Person, die man als Betroffene des Problems vorzeigen kann. Am besten eine Frau oder ein Kind. Schreckliche Bilder erzeugen so oft das gewünschte Mitleid und ein Bedürfnis zu helfen. Das ist im Allgemeinen auch gut so, aber unser Einfühlungsvermögen kann uns auch oft täuschen und dann treffen Menschen schnell moralisch fragwürdige Entscheidungen.
Der preisgekrönte Wissenschaftler Paul Bloom, der an der Yale University im psychologischen Bereich zu den Themen Moral, Religion, Fiktion und Kunst forscht, erläutert hier, wieso mehr Empathie – wie von vielen Journalisten, Autoren und auch schon vom amerikanischen Präsidenten gefordert – nicht das geeignete Mittel ist, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Das geeignete Mittel ist die Vernunft!
Deswegen nimmt auch die Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft immer weiter zu. Denn wer nur noch auf gefühlte Wahrheiten und Empathie setzt, um Menschen von seinen Vorschlägen zu überzeugen, der wird diejenigen, die sich einfach anders fühlen, oder einfach – aus welchem Grund auch immer – mit dem aktuellen Opfer nicht sympathisieren kaum erreichen können. Wenn man diesen sentimentalen Weg einmal eingeschlagen hat, dann kann man solche Personen nicht mit rationalen Argumenten oder auch mit dem Hinweis auf den eigenen Nutzen überzeugen. Das unterbindet somit jegliche ernsthafte rationale Auseinandersetzung mit der Problematik. Denn wer nicht wie die vermeintliche Mehrheit fühlt, steht schnell außerhalb eines Grundkonsenses und wird nicht berücksichtigt. Es entsteht ein Teufelskreis, in dem sich die führenden Politiker und Journalisten immer wieder gegenseitig der gefühlten Wahrheit versichern, bis alle tatsächlich glauben, sie wäre real.
Über die Zeit wird die Gruppe der Menschen, die dieser gefühlten Realität anhängen immer kleiner. Vor allem die Betroffenen merken schnell, wenn eine politische Entscheidung auf tönernen Füßen steht. Dadurch sinkt das Vertrauen in die politische Führung und davon profitieren wiederum radikale Kräfte. Für Viele entsteht dadurch eine enorme Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und der veröffentlichten Meinung. Daraus folgt nicht, dass nur noch technokratische Politik gemacht werden sollte, denn es ist richtig, dass politische Führung aus einer politischen Haltung heraus entstehen muss. Aber dem politischen Handeln sind durch die Realität Grenzen gesetzt.
Diesen Vorgang kann man überall in Europa beobachten, vor allem aber in Deutschland. Die verantwortlichen Politiker haben die Kraft verloren, rationale Entscheidungen zu treffen, die schwierig und kontraintuitiv sind, da vor allem die Kanzlerin und ihre Partner keine wirkliche Führungsrolle in der Gesellschaft mehr einnehmen wollen, sondern nur noch versuchen, auf Stimmungswellen in der Bevölkerung durch das Geschehen zu treiben. Wenn es hier nicht programmatisch, sondern methodisch zu einer radikalen Umkehr kommt, wird diese Art der Politik den Kontinent ruinieren. Drei Beispiele will ich hier anführen, die aus meiner Sicht die vorliegende These stützen: Die Eurokrise, die Energiewende und die Flüchtlingspolitik.
Die Eurokrise
Der Staatsbankrott Griechenlands ist eine ökonomische Tatsache, er ist eine wirtschaftliche Realität. Und dennoch halten die europäischen Spitzenpolitiker seit fünf Jahren an der gefühlten Realität fest, dass dies nicht so sei.
Immer wieder hat die Realität sie eingeholt und sie haben jedes Mal erneut mehr Geld zur Verfügung gestellt, ohne dass es jemals zu ernsthaften Reformen gekommen wäre. Wieder und wieder wurden dieselben Probleme nicht gelöst, nicht angegangen und das Problem lediglich in die Zukunft vertagt, weil sich alle darauf geeinigt hatten, die Wahrheit über Griechenlands finanzielle Lage einfach zu ignorieren, und stattdessen weiter daran zu glauben, dass das Problem verschwinden würde, wenn die europäischen Regierungen nur genug Geld in die Hand nähmen, nur genug Regeln der Währungsunion brechen und die Zentralbank nur genug Geld auf das Problem drauf schmeißen würde.
Auch hier gab es große Empathie für das griechische Volk. Vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums wurden oft Argumente vorgetragen, die sich auf das Schicksal einzelner Griechen fokussierten, denen jeder fühlende Mensch hätte helfen wollen. Die Tatsache, dass sich fast alle Experten einig waren, dass man das Problem nur verschleppte und der Staatsbankrott die Lage zwar für eine kurze Zeit verschlechtern würde, aber er auf lange Sicht mehr und bessere Perspektiven außerhalb der Währungsunion für alle Griechen biete, wurde schlichtweg ignoriert.
Die Energiewende
Der zweite Fall, der klar aufzeigt, wie sehr dieses Festhalten an gefühlten Realitäten Deutschland bedroht, ist die Energiewende. Die Energiewende ist aber ein sehr deutsches Phänomen, nur in Deutschland wird ein solches Projekt durchgeführt. Man kann hier auf sehr viele Berechnungen von klugen Leuten verweisen bspw. auf die des Ifo-Instituts. Es wird schlichtweg nicht möglich sein, die Energiewende zu stemmen. Man kann nicht gleichzeitig aus den fossilen Energieträgern und der Atomkraft aussteigen. Vor allem kann man so keine Industrienation ausreichend mit Energie versorgen.
Die dafür benötigte Infrastruktur in einem Land wie Deutschland zu errichten, in welchem man nicht mal einen Bahnhof oder einen Flughafen bauen kann, ist schlichtweg unmöglich. Abgesehen davon macht die ganze Operation im Kontext des europäischen Zertifikatehandels überhaupt keinen Sinn und wird auch nicht zu einem geringeren CO2-Ausstoß in Europa führen. Darüber hinaus wird in Deutschland neben dem Strom noch sehr viel Heizöl und Benzin verbraucht, d.h. der CO2-Gewinn, den Deutschland durch die Energiewende einfährt, ist also vergleichsweise gering.
Darüber hinaus muss man konstatieren, dass die notwendige Technik, die einen Verzicht auf Kernenergie unter gleichzeitigem Erreichen des 2-Grad-Ziels möglich machen würde, einfach noch nicht existiert.
Dennoch wird diese Tatsache von den meisten Politikern und auch von sehr vielen Journalisten schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Es herrscht die gefühlte politische Realität vor, dass dies zwar ein ambitioniertes Projekt sei, aber nicht unmöglich. Eine Behauptung, die keiner echten rationalen Prüfung standhalten kann.
Die Flüchtlingskrise
Aktuell beobachten wir eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland. Man könnte es auch einen beispiellosen gesellschaftlichen Zustand der Empathie nennen. Dass Privatleute sich so verhalten kann und will ich nicht kritisieren, ich begrüße es.
Dennoch ist es doch klar, dass eine Regierung rationaler handeln muss, als ein Einzelner. Für den Einzelnen kann es menschlich Sinn machen, wirtschaftliche und zeitliche Ressourcen in Hilfe für Flüchtlinge zu investieren. Dafür gibt es tausend gute Gründe und es bedarf auch keiner genauen Prüfung. Man hilft einfach.
Aber eine Regierung kann ihr Handeln nicht von Gefühlen leiten lassen, sondern muss nun einmal harte und kalte Abwägungen über den Einsatz der staatlichen Ressourcen treffen. Aber ich kann nicht erkennen, dass die politischen Entscheidungen, die uns in diese Situation gebracht haben mit der notwendigen Sorgfalt und Weitsicht getroffenen worden sind. Erneut wurde eine politische Entscheidung von drastischen Konsequenzen, praktisch ohne echte Diskussion, einfach eben übers Knie gebrochen.
Mit dieser Krise sind für dieses Land beispiellose Herausforderungen verbunden, mit handfesten Problemen. Wenn dieses Jahr so viele Leute nach Deutschland kommen und hier bleiben werden, wie in der Stadt Köln wohnen, dann gibt es sehr wichtige Fragen, die schnell beantwortet werden müssen. Alle Punkte zu nennen, würde den Rahmen sprengen, daher hier nur die Wichtigsten: Diese Menschen müssen irgendwo wohnen, diese Menschen müssen irgendwo arbeiten oder zur Schule gehen und sie müssen gesundheitlich versorgt werde. Viele von ihnen müssen die Sprache lernen und auch ihr Bildungsstand muss an unsere Standards angepasst werden.
Es ist aber trotzdem utopisch zu glauben, dass nicht ein erheblicher Teil dieser teils traumatisierten Menschen in unseren Sozialsystemen enden wird, die unabhängig davon schon langfristig überfordert waren. Die Frage, ob sich ein exzessiver Sozialstaat wie der deutsche unter diesen Bedingungen aufrecht erhalten lässt, muss gestellt werden.
Doch statt sich um die Bewältigung dieser deutschen Probleme zu kümmern – und es sind deutsche Probleme, denn diese Menschen sind hier und sie werden auch bleiben – wird eine atemberaubende populistische Diskussion über Europa geführt. Als ob die Verteilung von 120.000 europäischen Flüchtlingen über irgendeinen Schlüssel in Europa oder die Frage, ob Deutschland von der EU finanzielle Zuwendungen für die aufgenommenen Flüchtlinge bekommt, für Deutschland in dieser Situation angesichts der enormen innenpolitischen Herausforderungen überhaupt eine Rolle spielt!
Darüber hinaus wird überhaupt nicht über die Frage diskutiert, ob eine vermehrte Aufnahme von Flüchtlingen – wahrscheinlich sogar über die nächsten Jahre – generell die richtige Antwort auf das zugrundeliegende Problem ist. Wir haben es mit einem Bürgerkrieg im Nahen Osten, mit anderen schrecklichen Diktaturen in Afrika und der dortigen Armut, sowie der auf dem Balkan zu tun. Ist es nicht eine moralische Frage, ob es überhaupt richtig ist, diese Leute dauerhaft aus ihren Ländern abziehen zu wollen, mit Verweisen auf den deutschen Arbeitsmarkt, anstatt mitzuhelfen, die Probleme vor Ort zu lösen? Wenn sie schon hier sind, sollten wir sie freundlich und wohlgesonnen empfangen, keine Frage!
Hier befinden wir uns in der gefühlten Realität, in der es die einzige Option ist, alle Menschen die herkommen wollen, aufzunehmen. Aber ist das wirklich die einzige Option, die wir haben? Dabei erheben wir uns auch noch moralisch über andere Länder, wie beispielsweise Großbritannien, wo die Regierung schlichtweg eine andere Strategie verfolgt als unsere.
Ist es unmoralisch, der Meinung zu sein, dass man mehr vor Ort tun müsste, als Flüchtlinge aufzunehmen? Ist es unmoralisch, der Meinung zu sein, dass man besser dem Islamischen Staat den Garaus gemachen sollte, bevor man Millionen Flüchtlinge in Europa integriert? Ist es moralisch besser, Viktor Orban und anderen Rechtspopulisten in Europa Vorwürfe zu machen, anstatt Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten, die gar keine Flüchtlinge aufnehmen, dafür aber in Europa den Islam organisieren wollen? Ist es moralisch vertretbar, das Ende der offenen Grenzen in Europa zu riskieren, um ein paar unliebsamen europäischen Regierungschefs Eins auszuwischen?
Ich befürchte jedenfalls, dass Deutschland sich mit dieser emotionalen, sentimentalen und unvernünftigen Art, Politik zu machen, in diesen drei Problemfeldern und weiteren erheblich übernommen hat. Wie sollen die Politiker, die uns in diese Situation geführt haben mit diesen gewaltigen Herausforderungen fertig werden? Sie können nicht einmal einen Flughafen oder einen Bahnhof bauen, aber wollen Länder vor dem Staatsbankrott retten, 400 Speicherkraftwerke, Konverter und Trassen überall in Deutschland bauen und in einem Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen.
Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir in Deutschland eine ernsthafte Diskussion darüber führen, was der deutsche Staat, oder auch ein Staat an sich, zu leisten im Stande ist.
Be patient, work hard, follow your passions, take chances and don’t be afraid to fail.
„Sachlich“ ist nur ein anderes Wort für „beziehungslos“.
Die Berufung auf Ethik und Moral will lediglich die Gesetzlosigkeit und Willkür verdecken und rechtfertigen.
„Wie es Tatbestände gibt, die die Sinne in die Irre führen, wie im Fall der optischen Täuschung, so gibt es welche, die die unangenehme Eigenschaft haben, dem Intellekt Schlüsse zu suggerieren, die gleichwohl falsch sind.“ – Christoph Türcke
Das Geschlecht ist ein sozialer Konstrukt? Berg, Tal, See und das Meer auch!
Bereits Marx diagnostizierte den Deutschen das Umkippen von Ideologie in Wahn und Lüge. Wie gegenwärtig der Fall ist, neigen die Deutschen zu Ausbrüchen des kollektiven Wahns, der Massenpsychose mit zunehmendem Realitätsverlust. Der Wahn ist kurz, die Reue lang, pflegte meine Großmutter zu sagen.
Nach dem I. Psychosputnik-Gesetz verwandelt sich der frei florierende Zynismus ab gewissem Verdichtungsgrad seiner Intensität in hochprozentige hysterische Heuchelei, analog zu einer atomaren Kernschmelzereaktion. Diesen Prozess der zunehmenden Zynismuskonzentration mit anschliessender Explosion als Heuchelei kann man sehr deutlich gegenwärtig in Deutschland beobachten. Das Denken ist weggeblasen, pulverisiert, das (Hoch)Gefühl ist voll an seine Stelle getreten.
»Indem (der gesunde Menschenverstand) sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Einheit der Bewußtseine. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.« – G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes
„Die Verschleierung eigener Positionen durch Zitate und Zitatselektion dient dazu, eigene Positionen unkenntlich zu machen.“ – Ursula Kreuzer-Haustein
„Die Neurose ist das Wappen der Kultur.“ – Dr. Rudolf Urbantschitsch, Seelenarzt; „Sehr schön, aber es laufen derzeit schon weit mehr Heraldiker als Adelige herum.“ – Karl Kraus, Schriftsteller Von oben hat man bessere Aussicht.
„Zuerst verlieren die Menschen die Scham, dann den Verstand, hernach die Ruhe, hierauf die Haltung, an der vorletzten Station das Geld und zum Schluß die Freiheit.“ – Karl Kraus
„Ausbeutung heißt Beute machen, sich etwas durch Gewalt aneignen, was nicht durch eigene Arbeit geschaffen wurde, sich etwas nehmen, ohne Gleichwertiges zurückzugeben“ – Maria Mies
»Die Psychoanalyse ist eine Panne für die Hierarchie des Denksystems« – Pierre Legendre
Psychoanalyse entwickelt sich nicht weiter, weil sie nicht angewandt wird, es wird nur über sie gesprochen.
»Sie wissen, daß der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung nicht zu Ende gekommen ist, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab … Die erste Einwendung, die man hört, lautet, … die Wissenschaft ist zur Beurteilung der Religion nicht zuständig. Sie sei sonst ganz brauchbar und schätzenswert, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt, aber die Religion sei nicht ihr Gebiet, da habe sie nichts zu suchen … Die Religion darf nicht kritisch geprüft werden, weil sie das Höchste, Wertvollste, Erhabenste ist, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, weil sie den tiefsten Gefühlen Ausdruck gibt, allein die Welt erträglich und das Leben lebenswürdig macht … Darauf braucht man nicht zu antworten, indem man die Einschätzung der Religion bestreitet, sondern indem man die Aufmerksamkeit auf einen anderen Sachverhalt richtet. Man betont, daß es sich gar nicht um einen Übergriff des wissenschaftlichen Geistes auf das Gebiet der Religion handelt, sondern um einen Übergriff der Religion auf die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens. Was immer Wert und Bedeutung der Religion sein mögen, sie hat kein Recht, das Denken irgendwie zu beschränken, also auch nicht das Recht, sich selbst von der Anwendung des Denkens auszunehmen … Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (Freud, 1933, S. 182 ff. und S. 197).
„Freuds »Religions«-Kritik galt den »Neurosen« genannten Privatreligionen (Heiraten, romantische Liebe, Gier, Ethik und Moral, etc. Anm. JSB) ebenso wie den kollektiven (Nation, Gutmenschen, Sport, etc. Anm. JSB);“ – Helmut Dahmer
Freud prognostizierte, die bestehende Gesellschaft werde an einem Übermaß nicht absorbierbarer Destruktivität zugrundegehen. (sofern nicht »Eros« interveniere (Eros ist nicht Ficken, sondern Caritas. Anm. JSB)).
„Wer dem Kult der »Werte« frönt, kann unsanft erwachen, wenn im Kampf der Klassen und Parteien, von dem er sich fernhält, Gruppen obsiegen, auf deren Programm eine »Umwertung der Werte«, z. B. die Aufwertung von »Unwerten« steht.“ – Helmut Dahmer
»Hinsichtlich der allgemeinen nervlichen Belastung wirkte die Lage im Dritten Reich auf den psychischen Zustand des Volkes ziemlich ambivalent. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Machtergreifung zu einer weitverbreiteten Verbesserung der emotionalen Gesundheit führte.Das war nicht nur ein Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs, sondern auch der Tatsache, daß sich viele Deutsche in erhöhtem Maße mit den nationalen Zielen identifizierten. Diese Wirkung ähnelte der, die Kriege normalerweise auf das Auftreten von Selbstmorden und Depressionen haben. (Das Deutschland der Nazizeit verzeichnete diese Erscheinung zweimal: nämlich 1933 und 1939.) Aber gleichzeitig führte das intensivere Lebensgefühl, das von der ständigen Stimulierung der Massenemotionen herrührte, auch zu einer größeren Schwäche gegenüber dem Trinken, Rauchen und Vergnügungen« – Richard Grunberger
Von Anfang an hatte Hitlers Regime auch den Anstrich der Rechtmäßigkeit
„Die psychiatrischen Truppen der »kaiserlichen deutschen Psychiatrie« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 214) jedoch, die 1914 ins Feld zogen, bekriegten immer noch die Krankheit, den äußeren Eindringling in ein gesundes System, und nicht die Neurose, das innere Ungleichgewicht zwischen Psychodynamik, Umwelt und Geschichte.“ – Geoffrey C. Cocks (Diese Einstellung herrscht bis heute in der deutschen Psychotherapie und findet explosionsartige Vermehrung im KOnzept der sog. „Traumatisierung“. Anm- JSB)
Der Plural hat kein Geschlecht.
„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“ -Albert Einstein
„Der psychoanalytische Beitrag zur Sozialpsychologie der jüngsten Vergangenheit (und Gegenwart Anm.JSB) und ihrer Verarbeitung ist heute ebenso unerwünscht wie die Libidotheorie zu Anfang des Jahrhunderts.“ – I.Kaminer
»Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom >freien Ausleben< der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit.« – Sigmund Feud, Gesammelte Schriften«, Band XI, S. 201 ff.)
Liebe: nur bestenfalls eine Mutter akzeptiert ihr Kind, so wie es ist, ansonsten muß man Erwartungen anderer erfüllen, um akzeptiert zu werden.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein soziales Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein soziales Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
„Ich bin eine Feministin. Das bedeutet, daß ich extrem stark behaart bin und daß und ich alle Männer haße, sowohl einzelne als auch alle zusammen, ohne Ausnahmen.“– Bridget Christie
„Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv.“ – LeoTrotzki 1923
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.
„We needdamagedbuildings, so you can seethroughtheircrackedwallsto winat least one viewpoint to startto begin to think.“ –VictorTausk
„What good is health if you are an idiot then?“ – Theodor Adorno
„What one must be judged by, scholar or no, is not particularised knowledge but one’s total harvest of thinking, feeling, living and observing human beings.“ (…) „While the practice of poetry need not in itself confer wisdom or accumulate knowledge, it ought at least to train the mind in one habit of universal value: that of analysing the meanings of words: of those that one employs oneself, as well as the words of others. (…) what we have is not democracy, but financial oligarchy. (…) Mr. Christopher Dawson considers that “what the non-dictatorial States stand for today is not Liberalism but Democracy,” and goes on to foretell the advent in these States of a kind of totalitarian democracy. I agree with his prediction. (…) That Liberalism is something which tends to release energy rather than accumulate it, to relax, rather than to fortify. (…) A good prose cannot be written by a people without convictions. (..) The fundamental objection to fascist doctrine, the one which we conceal from ourselves because it might condemn ourselves as well, is that it is pagan. (..) The tendency of unlimited industrialism is to create bodies of men and women—of all classes—detached from tradition, alienated from religion and susceptible to mass suggestion: in other words, a mob. And a mob will be no less a mob if it is well fed, well clothed, well housed, and well disciplined. (…) The rulers and would-be rulers of modern states may be divided into three kinds, in a classification which cuts across the division of fascism, communism and democracy. (…) Our preoccupation with foreign politics during the last few years has induced a surface complacency rather than a consistent attempt at self-examination of conscience. (…) What is more depressing still is the thought that only fear or jealousy of foreign success can alarm us about the health of our own nation; that only through this anxiety can we see such things as depopulation, malnutrition, moral deterioration, the decay of agriculture, as evils at all. And what is worst of all is to advocate Christianity, not because it is true, but because it might be beneficial. (…) To justify Christianity because it provides a foundation of morality, instead of showing the necessity of Christian morality from the truth of Christianity, is a very dangerous inversion; and we may reflect, that a good deal of the attention of totalitarian states has been devoted, with a steadiness of purpose not always found in democracies, to providing their national life with a foundation of morality—the wrong kind perhaps, but a good deal more of it. It is not enthusiasm, but dogma, that differentiates a Christian from a pagan society.“ (…) It would perhaps be more natural, as well as in better conformity with the Will of God, if there were more celibates and if those who were married had larger families. (…) We are being made aware that the organisation of society on the principle of private profit, as well as public destruction, is leading both to the deformation of humanity by unregulated industrialism, and to the exhaustion of natural resources, and that a good deal of our material progress is a progress for which succeeding generations may have to pay dearly. I need only mention, as an instance now very much before the public eye, the results of “soil-erosion”—the exploitation of the earth, on a vast scale for two generations, for commercial profit: immediate benefits leading to dearth and desert. I would not have it thought that I condemn a society because of its material ruin, for that would be to make its material success a sufficient test of its excellence; I mean only that a wrong attitude towards nature implies, somewhere, a wrong attitude towards God, and that the consequence is an inevitable doom. For a long enough time we have believed in nothing but the values arising in a mechanised, commercialised, urbanised way of life: it would be as well for us to face the permanent conditions upon which God allows us to live upon this planet. And without sentimentalising the life of the savage, we might practise the humility to observe, in some of the societies upon which we look down as primitive or backward, the operation of a social-religious-artistic complex which we should emulate upon a higher plane. We have been accustomed to regard “progress” as always integral; and have yet to learn that it is only by an effort and a discipline, greater than society has yet seen the need of imposing upon itself, that material knowledge and power is gained without loss of spiritual knowledge and power. “ – T.S.Eliot
“I am a feminist. All this means is that I am extremely hairy and hate all men, both as individuals and collectively, with noexceptions.” – Bridget Christie<