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Rüdiger Safranskis Börne-Preis-Rede

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Rüdiger Safranskis Börne-Preis-Rede: Eigenwillig arbeitet die Poesie am Dasein

Rüdiger Safranski

 

Muss die Kunst weichen, wenn die Politik ruft? Nein, erst beide zusammen ergeben die Kultur der Freiheit.

Schöne Seele und guter Mensch: Kann ein Künstler beides sein? Rüdiger Safranski (Bild: Simon Tanner / NZZ)

«Freiheit» ist mittlerweile ein abgenutztes Wort, das seine einstige Strahlkraft hierzulande fast verloren hat. Wenn man sich überlegt, was es bedeuten könnte, lohnt es sich, bei Ludwig Börne nachzufragen. Leider gibt es immer weniger Gelegenheiten, bei denen sich die Öffentlichkeit an Börne erinnert, diesen grossen politischen Schriftsteller aus der Zeit des Vormärz, der bis 1837 seine letzten siebzehn Jahre in Paris zubrachte, dort Mittelpunkt des deutschen Exils war und ein Vermittler und Deuter der französischen Politik und Kultur für Deutschland.

Was also bedeutet Freiheit für Börne? Zum einen das, was wir heute haben: Rechtsstaat, Pressefreiheit, demokratische Selbstbestimmung. Damals, im Deutschland des 19. Jahrhunderts, lag das alles noch in weiter Ferne und erschien als das Kostbare, das es ja ist. Da wir uns aber inzwischen daran gewöhnt haben, entgeht uns das Kostbare. Die Freiheitsrechte haben sich von einer Errungenschaft zu einer selbstverständlichen Gegebenheit gewandelt. Leidenschaft wird dadurch kaum geweckt.

Der Keim der Tyrannei

Ganz anders bei Börne, für den die Republik eine Glaubenssache war. Der Freiheitswille beseelt ihn nicht nur politisch. Freiheit hat eine umfassendere Bedeutung für ihn. In seinen Betrachtungen zur Französischen Revolution findet sich die Bemerkung: «Nur durch gewaltsame Revolutionen wird der Staat verbessert, nur durch Ausgelassenheit wird das Volk zur Freiheit erzogen, denn nur die Anarchie vermag die Keime der Unterwürfigkeit und des Knechttums in den Bürgern zu zerstören, jene Keime, aus welchen bei jeder günstigen Witterung die Tyrannei immer wieder von neuem aufschiesst.»

Börne verteidigt die Revolution auch als seelisches Grossereignis: Man sollte eine Phase der Ausgelassenheit und Anarchie durchlebt haben, andernfalls bleibt man innerlich knechtisch, gefesselt, gehemmt. Es ist der ekstatische Moment der Freiheit, den Börne anvisiert. Der Augenblick, da sich auch die innere Ordnung umwälzt, neue Gedanken und Gefühle aufschiessen, neue Verbindungen eingehen, sich umgruppieren, nach Ausdruck drängen, wie auch immer. Das ganze Dasein fühlt sich neu an. Das alles heisst Ausgelassenheit oder Anarchie. Das kann sich ereignen im Zusammenhang revolutionärer Gewaltausbrüche, von denen hier die Rede ist. Börne war da nicht zimperlich. Wäre doch schön, meint er, wenn die Deutschen, die sich sonst nur für ihre Herren schlagen, endlich einmal für ihre eigene Sache kämpften.

Doch solche Momente ekstatischer Freiheit gibt es natürlich nicht nur auf der Barrikade. Börne entdeckt und schätzt sie auch in anderen Lebens- und Gefühlszusammenhängen. Er hat einmal einen Text verfasst, der, heute fast vergessen, einst so berühmt war, dass Sigmund Freud sich davon anregen liess für sein neues und umwälzendes Konzept der freien Assoziation als psychotherapeutische Behandlungsmethode. Dieses Prosastück ist überschrieben mit «Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden». Ich zitiere ein paar Sätze daraus: «Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozess, vom Jüngsten Gericht, von euren Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz ausser euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden.»

Die Feigheit, zu denken

Auch das ist die Beschreibung einer Umwälzung; die Bastille, die dabei erstürmt wird, ist der innere Ordnungstyrann, das Ich oder das Über-Ich, wie immer die Bezeichnung dafür lautet, jedenfalls eine Instanz, welche das Schöpferische hemmt, die Traumzensur ausübt und dem wilden Denken Einhalt gebietet. Es geht um Kontrolle über das hinaus, was im engeren politischen Sinne als «Schere im Kopf» bezeichnet wird. Aber freilich ist auch sie gemeint. «Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt.»

Beim Thema der freien Beweglichkeit von Gedanken und Gefühlen gerät Börne bisweilen auf ein Feld, das eine säuberliche Aufteilung der Sphären eher dem Ästhetischen als dem Politischen zurechnen würde. Doch mit solcher Aufteilung ist Börne nicht einverstanden, er plädiert für eine «ungeteilte Intelligenz», die imstande ist, den Geist der Freiheit überall wirksam werden zu lassen, in der Politik wie auch in Kunst und Literatur.

Er illustriert das am Beispiel des literarischen Humors, der für ihn ein Durcheinanderwirbeln der Hierarchien und ein Sturz von Autoritäten bedeutet, eine «wilde und launische Demokratie der Gedanken und Empfindungen». Den schöpferischen Geist der Freiheit ausbreiten heisst für ihn nicht, dass die Literatur etwa darauf zu verpflichten sei, sich irgendwie dem politischen Kampf thematisch anzuschliessen.

Aufrufe schreiben

Börne verfocht nicht, wie manche der engagierten Autoren des Jungen Deutschland, die Unterordnung von Kunst und Literatur unter die politische Bewegung. In politischen Sturm-und-Drang-Zeiten mag die Kunst in den Hintergrund rücken, wenn sie aber hervortritt, dann wollte er in ihr den Geist der Freiheit in der umfassenden Bedeutung spüren und nicht irgendetwas bloss Politisch-Parteiisches. Wo er den freien Geist nicht spürte, da reagierte er gelangweilt, verärgert oder bisweilen sogar mit Hass. Warum aber dann die Verfeindung mit Heinrich Heine, der doch wahrlich ein solches poetisches Flugwesen war, wie es Börne eigentlich liebte?

1833, nach drei Jahren zwar nicht freundschaftlichen doch respektvollen Umgangs beginnt Börne mit dem offenen Angriff auf Heine: «Ich kann Nachsicht haben mit Kinderspielen, Nachsicht mit den Leidenschaften eines Jünglings. Wenn aber an einem Tage des blutigsten Kampfes ein Knabe, der auf dem Schlachtfelde nach Schmetterlingen jagt, mir zwischen die Beine kömmt – so darf uns das . . . wohl ärgerlich machen.»

Schlechte Zeiten für die Schmetterlinge der Poesie, erklärt Börne, denn es gibt im Augenblick Wichtigeres, nämlich den politischen Kampf um Freiheit und Demokratie. Auch er würde sich gerne mit so angenehmeren Dingen beschäftigen, aber nein, das geht nicht, er muss fern der Heimat in verräucherten Hinterzimmern mit Gesinnungsgenossen konspirieren, Aufrufe schreiben, Kollekten organisieren, inzwischen müde wie ein Jagdhund; er würde sich viel lieber so etwas Schönem widmen wie Heines «Florentinischen Nächten». Aber er «opfert sich dem Allgemeinen». Das Eigene, und dazu gehört die Liebe zum Poetischen, muss zurückstehen. Das erinnert an Brechts Ausspruch: «Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume schon fast ein Verbrechen ist.»

Die poetische Existenz

Doch anders als Brecht fordert Börne nicht die Politisierung der Poesie. Für ihn bleibt die Poesie nur sich selbst verpflichtet, dem schöpferischen Geist, der in ihr wirkt. Aber es gibt eben Zeiten, da stört sie, lenkt ab. Börne vermeidet die politische Instrumentalisierung der Poesie, ist aber bereit, sie gegenüber den politischen Erfordernissen zurückzustellen. Sie wird zu einer schönen Nebensache. Das musste Heine kränken, dem die poetische Existenz über alles ging, auch noch über die Politik.

In der Spannung zwischen Börne und Heine macht sich ein Geist bemerkbar, der bis heute wirkt und der Kunst und Literatur unter politisch-moralischen Rechtfertigungsdruck setzt. Was leisten die Künste zur Verbesserung der Welt, fragt der Geist der politisch-moralischen Nützlichkeit, welches ist ihr Beitrag zum Fortschritt? Ist die Kunst mit ihrem Willen zur selbstzweckhaften Schönheit nicht vielleicht doch sozial verantwortungslos, elitär, eskapistisch?

Verzweifeln an der Kunst

Es gibt eine Verzweiflung und bisweilen sogar einen Verrat an der Kunst aus Solidarität mit dem Elend und der Ungerechtigkeit. In Russland und anderswo kam die revolutionäre Zerstörung der Kultur auch aus dieser Quelle. Kunst sollte Waffe im Kampf sein, oder sie sollte einstweilen gar nicht sein. Dieses Denken lebt immer wieder auf, etwa in der 68er Zeit. Damals wurde der «Tod der Literatur» verkündet. In Vietnam, so hiess es, werden Kinder mit Napalmbomben verbrannt, deshalb sei Kunst Lüge, eine falsche Versöhnung, gerechtfertigt sei sie allenfalls als Strassentheater, Flugblatt, Reportage, Dokumentation.

Es gibt deshalb nicht nur eine Gesinnungsethik, sondern auch eine Gesinnungsästhetik. Laut ihr kann die Kunst mit den Übeln der Welt koexistieren unter der Voraussetzung, dass erstens diese Übel ausdrücklich zum Thema gemacht werden, dass man zweitens nicht so zu tun braucht, als könne man sie lösen, es reicht, dass man die Wunden zeigt; woraus dann drittens folgt: die frei schwebende Solidarität mit den Verdammten dieser Erde. Das führt zu Kitschsätzen wie «Die schwache Stimme der Literatur zur Stimme der Schwachen machen». Oder es ergeben sich Peinlichkeiten wie jüngst bei der Biennale in Venedig, wo bei irgendwelchen Performances Flüchtlinge ausgestellt werden. So können Künstler beides zugleich sein: schöne Seelen und gute Menschen. Manche schaffen es sogar bis zum Gewissen der Nation.

Es war Heine, der den politisch-moralischen Rechtfertigungsdruck, der auf den Künsten lastet, explizit formulierte. Ein schrecklicher Syllogismus, schreibt er, habe ihn behext: «Kann ich der Prämisse nicht widersprechen: dass alle Menschen das Recht haben zu essen», so müsse er sich eigentlich auch der Folgerung anschliessen, dass erst einmal für das Elementare gesorgt sein müsse, ehe man sich den «Nachtigallen» der Poesie widme. Doch er sieht auch die Bilderstürmer des politisch-moralischen Utilitarismus die Macht ergreifen, und mit rohen Fäusten zerschlagen sie alle jene «phantastischen Schnurrpfeifereien, die den Poeten so lieb waren, die Nachtigallen, die Sänger werden fortgejagt, und ach! Mein ‹Buch der Lieder› wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darein zu schütten». Heine schrieb kurz vor seinem Tod: «Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.»

Ein heiliges Amt

Indes, Börnes letztes Wort über sich lautet: «Ich strebte nie nach dem Ruhme eines guten Schriftstellers, ich wollte nie für einen Schreibkünstler gelten. Meine Natur hat mir ein heiliges Amt aufgetragen, das ich verrichte, so gut ich kann.» Und dieses Amt verstand er als ein politisches – es war sein publizistischer Einsatz für Demokratie und Freiheit.

Es bleibt, wie sich am Beispiel Börne und Heine zeigt, eine nicht aufzulösende Spannung zwischen Politik und Poesie, auch wenn der Geist der Freiheit hier beide Bereiche durchdringt. Doch warum die Spannung unbedingt auflösen wollen? Beide Leidenschaften, die poetische und die politische, sind nötig, jede für sich. Wenn sie sich allerdings in die Quere kommen, müssen sie begreifen, dass sie erst zusammen die Kultur der Freiheit ergeben, wenn auch auf verschiedenen Wegen und ohne sich wechselseitig zur Dienstbarkeit zu zwingen.

https://www.nzz.ch/zuerich/ruediger-safranskis-boerne-preis-rede-auf-dem-schlachtfeld-jagt-man-keine-schmetterlinge-ld.1298181

 


Für die meisten Europäer ist der Amtsantritt von Donald Trump in etwa so erfreulich wie Reizhusten. Seine Beliebtheit ist diesseits des Atlantiks im gefühlten Mittel von Zappel-Philipp und Räuber Hotzenplotz. Man erwartet von ihm im besseren Fall alberne Eitelkeit und Sprunghaftigkeit, im schlechteren großen, nationalistischen Ärger. Von der Autoindustrie bis zu Nato-Generälen, von Klimaschützern bis zu Kulturschaffenden gibt man sich hell entsetzt.

Nun wirkt mancher Trump-Pessimismus zuweilen wie der hungernde Teil einer untergehenden Ideologie – vieles an der rasenden Kritik klingt wie linkes Selbstmitleid. Es lohnt sich daher, einmal mit neutralem Blick die Chancen einer Trump-Präsidentschaft auszuloten. Es könnte nämlich zu fünf positiven Überraschungen kommen:

1. Zwischen den USA und Russland bahnt sich ein Ende der Eiszeit an. Trump und Putin haben signalisiert, dass sie die angespannten Beziehungen auf eine neue, partnerschaftliche Grundlage stellen wollen. Auch wenn uns Europäer das mulmige Gefühl beschleicht, dass sich zwei Kirmeskerle damit die Welt wie einen Jahrmarkt aufteilen könnten, so ist die Aussicht auf eine neue Ost-West-Entspannung doch prinzipiell positiv. Diese Beziehungs-Achse bleibt nun einmal für den Welt – und insbesondere Europafrieden alles entscheidend. Nicht nur weil mit einer Aussöhnung ein globales Wettrüsten verhindert würde. Wenn Washington und Moskau fortan bei wichtigen geopolitischen Krisen an einem Strang zögen, würden viele Konfliktlagen entschärft. Auch in Europa haben wir ein Interesse daran, dass die Ukraine-Krise oder der Syrienkrieg nicht weiter eskalieren, sondern zu einer friedlichen Lösung führen.

2. Die Chance auf ein Ende des Syrien-und Irakkrieges steigt mit der Amtsübernahme Trumps. Der designierte Präsident hat angekündigt, mit Russland, der Türkei und Iran einen möglichst raschen, umfassenden Friedensdeal herbeizuführen. Er legt – anders als die Obama-Regierung – keinen Wert auf den Sturz Assads. Trump zielt vielmehr auf Stabilität und die Bekämpfung des IS-Terrorismus. Trump hatte von Anfang an einen viel realistischeren Blick auf das verminte Konfliktfeld als seine Vorgänger Obama oder Bush. So sprach sich Trump erstmals 2004 und auch danach immer wieder gegen den Irakkrieg aus. Gegenüber der „Bild“-Zeitung erklärte er noch vor wenigen Tagen den Irak-Krieg als möglicherweise schlechteste Entscheidung in der Geschichte der USA. „Wir haben da etwas entfesselt – das war, wie Steine in ein Bienennest zu werfen“, sagte er. „Und nun ist es einer der größten Schlamassel aller Zeiten.“

3. Die Entspannung mit Russland und die dadurch wahrscheinlichere Befriedung von Konflikten wie in Syrien oder der Ukraine dürfte der Wirtschaft neue Chancen eröffnen. So würde insbesondere die deutsche Wirtschaft von einem Ende der Russland-Sanktionen erheblich profitieren. Die Stabilisierung der Lage in Osteuropa und im Nahen Osten könnte zu einer Friedensdividende führen.

4. Das angekündigte US-Konjunkturprogramm dürfte die gesamte Weltwirtschaft beflügeln – so er nicht durch kurzsichtigen Protektionismus großen Flurschaden anrichtet. Trump will mit Multimilliarden-Investitionen die Infrastruktur der USA massiv modernisieren. Die Experten der OECD erwarten dadurch, dass die US-amerikanische Wirtschaftsleistung im Jahr 2018 um 3 Prozent zulegen könne. Den Impuls durch das von Trump bislang skizzierte Wirtschaftsprogramm schätzen die OECD-Experten auf 0,4 Prozentpunkte 2017 und auf rund 0,8 Prozent 2018. Davon wiederum können auch andere Länder – allen voran Deutschland, China und Japan – profitieren.

Seit Trumps Wahlsieg steigen an den Weltbörsen die Aktienkurse. Die Aussicht auf eine wirtschaftsfreundliche Politik mit niedrigen Steuern und die Konzentration des Staates auf Infrastruktur und Sicherheit anstatt auf Umverteilung und Umerziehung führt zu erheblichen Wohlstandsgewinnen rund um den Erdball. Allenthalben glauben große wie kleine Investoren, dass diese strategische Linie der Wirtschaftspolitik positiv sei und also investieren sie. Dieser Effekt wirkt wie ein Aufschwungimpuls in sich selbst. Alleine der Zehn-Prozent-Sprung der bisherigen Trump-Hausse hat im globalen Asset-Volumen der Aktien etwa sieben Billionen Dollar Zugewinn ausgemacht. Jedes Altersversorgungswerk, jeder Pensionsfonds, jedes Aktienportfolio von Sparern profitiert davon unmittelbar. Zugleich erleichtert die gut laufende Börse die Refinanzierung vieler Unternehmen und mehrt mittelbar Wohlstand für viele.

5. Trumps politischer Non-Konformismus könnte auf die verkrusteten westlichen Demokratien wie eine Frischzellenkur wirken. Das bestehende Politiksystem aus Partei- und Medienkartellen verliert in vielen Ländern an Akzeptanz. Trumps polternder Amateurstil entlarvt zuweilen die dringende Reformbedürftigkeit mancher Institution – zum Beispiel eine als oligarchisch empfundenen Kaste von Parteiberufspolitikern. Oder eine als belehrend und einseitig auftretende Medienelite. Oder ein Steuersystem, das Millionen von Menschen, insbesondere aber der wirtschaftende Mittelstand als unfair und viel zu kompliziert ansieht. Wenn Trump das Steuersystem – wie angekündigt – vereinfacht und den Mittelstand entlastet, dann würde er damit ein Vorbild für die überfällige Reform in vielen Ländern schaffen. Es kann dabei hilfreich sein, dass Trump weder Berufspolitiker ist noch zum Establishment gehört.

„Der Spiegel“ beschrieb das schon früh als eine besondere Stärke Trumps, der „fast alles unterlässt, was herkömmliche Politiker machen.“ Er benenne gnadenlos alles, was im politischen System der USA faul sei. Und seien es – wie in dieser Woche – die Nato oder die EU, die er ebenso verblüffend offen hinterfragt. Tatsächlich bedürfen beide einer Revision. Ist die EU demokratisch genug? Wird sie von den Europäern wirklich akzeptiert? Ist sie effizient und bürgernah? Wo löst sie Probleme, wo schafft sie nur Bürokratie und Bevormundung? Ist sie ausreichend stark, um echte Probleme lösen? Droht ihr der Zerfall, weil die Europäer ihr nicht mehr trauen? Sie muss – da hat Trump einfach recht – wie die Nato neu gedacht und gebaut werden. Schützt die Nato ausreichend und zielsicher gegen Islamismus und Terrorismus? Hat sie einen Beitrag zur Befriedung der Ukraine oder Syriens geleistet? Stabilisiert sie unser Verhältnis zu Russland? Ist sie modern ausgerichtet für neue Allianzen des 21. Jahrhunderts oder doch ein Relikt des Kalten Krieges aus dem 20. Jahrhundert? Schon die Kaiser und Könige des Mittelalters wussten: Manchmal halten gerade die Narren der Macht den schärfsten Spiegel vor.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.

Die Gemeinde Oppeano am Gardasee kaufte das Grundstück der örtlichen Moschee, riss diese ab und machte daraus die „Piazza Oriana Fallaci“

Florenz hat viele berühmte Söhne und Töchter hervorgebracht. Eine von ihnen war Oriana Fallaci, die dort 1929 geboren wurde und nach einem bewegten Leben auch gestorben ist (2006). Ihre Heimatstadt nennt sie heute, die zu Lebzeiten durchaus umstritten war, „una grande fiorentina“ und hat ihr einen Platz gewidmet: „Piazzale Oriana Fallaci“ , beim Gardino della Fortezza da Basso. Die Einweihung war am 15. September 2016, ihrem zehnten Todestag.

Die Gemeinde Oppeano am Gardasee (knapp 10.000 Einwohner), deren Bürgermeister Alessandro Montagnoli für die Lega Nord in der Camera dei deputati sitzt, ehrte die Verstorbene bereits 2008 auf eine Weise, die ihr besonders gefallen haben dürfte: Sie kaufte das Grundstück der örtlichen Moschee, riss diese ab und machte daraus die „Piazza Oriana Fallaci“. „Addio moschea. Al suo posto, piazza Oriana Fallaci“ (Leb wohl, Moschee. An ihrer Stelle Oriana-Fallaci-Platz), schrieb die italienische Zeitung la Repubblica im Mai 2008. Symbolträchtiger konnte man diese mutige Aufklärerin, diese Kassandra nicht ehren.

Zweigstelle des Osmanischen Reiches

Um an eine Frau wie Oriana Fallaci zu erinnern, braucht man keine runde Zahl, kein typisches Jubiläumsdatum. Die Islamisierung Europas, vor der sie unermüdlich und unerschrocken gewarnt hat, ist allgegenwärtig. Für Deutschland hat Herwig Schafberg das in einem „Nachruf auf die Freiheitskämpferin Oriana Fallaci 10 Jahre post mortem“ so beschrieben:

„Das unterscheidet wohl eine stolze Frau wie Oriana Fallaci von Claudia Roth sowie anderen Personen weiblichen Geschlechts, die sich mit vorauseilendem Gehorsam brav unter Tüchern ducken, wenn sie unser Land auf Reisen in den muslimischen Orient vertreten, und bei der Gelegenheit schon mal vorführen, was die muslimische Religionslehrerin Lamya Kaddor für ausgemacht hält:

‚Deutschsein bedeutet in Zukunft… nicht autochthon blaue Augen und helle Haare, sondern ein Kopftuch zu tragen…‘

Was Lamya Kaddor sich in Zukunft vorstellt, entspricht teilweise bereits heute der Realität im Land. Während vor 20, 30 oder 40 Jahren allenfalls ein paar alte Frauen türkischer und arabischer Herkunft Kopftücher trugen, sind es inzwischen massenweise kleine eingebürgerte Mädchen, die derartig ‚sittsam‘ eingekleidet werden. Für die alten Frauen war es Tradition, die sie aus freien Stücken pflegten; heute ist es die Religion, die es den Mädchen vorschreibt. Und das ist nur ein Beispiel für die schleichende Islamisierung in der ‚bunten‘ Republik, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat.“

Als weiteres Beispiel könnte man an Fallacis Schilderung der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453 durch die Osmanen unter Sultan Mehmet II. anknüpfen, denn nach Mehmet II., der später den arabischen Beinamen Fatih, der Eroberer, erhielt, sind in Deutschland rund 50 Moscheen benannt. Kein Wunder, dass Oriana Fallaci Deutschland „mit seinen zweitausend Moscheen und seinen drei Millionen Muslimen [mittlerweile geht das BAMF von vier bis viereinhalb Millionen Muslimen aus und die Zahl der Moscheen ist auf rund 2.800 gestiegen] eine Zweigstelle des untergegangenen Osmanischen Reiches“ nennt.

Mutige Fragen an einen islamischen Herrscher

Eine der vielen Leistungen, die Oriana Fallaci für mich unvergesslich gemacht hat, war ihr Interview mit Ayatollah Ruhollah Khomeini am 12. September 1979 (nachdem sie zehn Tage in Ghom auf einen Termin gewartet hatte).

Auf ihre Frage: „What’s wrong with this noun [democratic, democracy], which seems so beautiful to us in the West?“ antwortete der Imam

KHOMEINI: To begin with, the word Islam does not need adjectives such as democratic. Precisely because Islam is everything, it means everything. It is sad for us to add another word near the word Islam, which is perfect. Besides, this democracy, which you love so much and that you consider so valuable, does not have a precise meaning. Aristotle’s democracy is one thing, the Soviet democracy is another thing, the democracy of the capitalists is still another. We cannot afford to have such an ambiguous concept placed in our Constitution. Finally, let me give you a historical example, to show you what mean by democracy. When All [the seventhcentury Imam whom Shiite Moslems believe to be the first rightful Moslem leader] succeeded the Prophet, and became head of the Islamic state — and this consideration had all the power, and his reign extended from Saudi Arabia to Egypt, and included a large part of Asia and also of Europe happened to have a dispute with a Jew. And the Jew had him called by the judge, and All accepted the summons of the judge, and went to him. And when he entered the room, the judge stood up, but All said to him angrily, „Why do you stand up when I enter the room but not when the Jew entered? Before a judge the two contending parties should be treated the same way.“ Afterward, he accepted the sentence, which was unfavorable to him. I ask you, you who have traveled and seen all forms of government and know history, can you give me a better example of democracy?

Hier sei ein kleiner Einschub gestattet: Den Satz des Schiiten Kohmeini „It is sad for us to add another word near the word Islam, which is perfect“ hat der Sunnit Erdoğan, bewusst oder unbewusst, aufgegriffen., als er auf den Begriff „moderater Islam“ so reagierte: „Diese Bezeichnungen sind sehr hässlich, es ist anstößig und eine Beleidigung unserer Religion. Es gibt keinen moderaten oder nicht-moderaten Islam. Islam ist Islam und damit hat es sich.“ (Milliyet, Turkey, 21.08.2007)

Und dann die Szene in Ghom, die legendär wurde:

FALLACI: Please, Imam, there are many things I still want to ask you. For example, this chador that they made me put on, to come to you, and which you insist all women must wear. Tell me, why do you force them to hide themselves, all bundled up under these uncomfortable and absurd garments, making it hard to work and move about? And yet, even here, women have demonstrated that they are equal to men. They fought just like the men, were imprisoned and tortured. They, too, helped to make the revolution.

KHOMEINI: The women who contributed to the revolution were, and are, women with the Islamic dress, not elegant women all made up like you, who go around all uncovered, dragging behind them a tail of men. The coquettes who put on makeup and go into the street showing off their necks, their hair, their shapes, did not fight against the Shah. They never did anything good, not those. They do not know how to be useful, neither socially, nor politically, nor professionally. And this is so because, by uncovering themselves, they distract men, and upset them. Then they distract and upset even other

FALLACI: That’s not true, Imam. In any case, I am not only talking about piece of clothing, but what it represents. That is, the condition of segregation into which women have been cast once again, after the revolution. The fact that they can’t study at university with men, or work with men, for example, or go to the beach or to a swimming pool with men. They have to take a dip apart, in their chadors. By the way, how do you swim in a chador?

KHOMEINI: This is none of your business. Our customs are none of your business. If you do not like Islamic dress you are not obliged to wear it. Because Islamic dress is for good and proper young women.

FALLACI: That’s very kind of you, Imam. And since you said so, I’m going to take off this stupid, medieval rag right now. There. Done. But tell me something. A woman such as I, who has always lived among men, showing her neck, her hair, her ears, who has been in war and slept in the front line in the field among soldiers, according to you, is she an immoral, bold and unproper woman?

KHOMEINI: Your conscience knows the answer. I do not judge personal matters, I cannot know whether your life is moral or immoral, whether you behaved properly or not with the soldiers at the front. But I do know that, during my long lifetime, I have always been right about what I said. If this piece of clothing did not exist — the Islamic dress — women could not work in a useful and healthy way. And not even men. Our laws are valid laws.

Wer hat je gewagt, einem islamischen Herrscher solche Fragen zu stellen und sich so zu verhalten! Wobei natürlich die Passagen davor und danach ebenfalls absolut lesenswert sind.

Genau wie die beiden Bücher, die Oriana Fallaci zum Thema Islam und Islamisierung geschrieben hat:

–        „La Rabbia e L’Orgoglio“ (Mailand 2001), deutsch (Berlin 2004) Die Wut und der Stolz und

–        „La Forza della Ragione“ (Mailand 2004), deutsch (Berlin 2004) Die Kraft der Vernunft

„Der Bauch unserer Frauen wird uns den Sieg schenken“

Es ist ja keineswegs so, dass uns die jetzige Situation, wie Merkel und Co. es gerne darstellen, unverhofft, wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hat. Oriana Fallaci zitiert den seinerzeitigen algerischen Staatspräsident Houari Boumedienne, der 1974 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen erklärt hatte:

„Eines Tages werden Millionen Menschen die südliche Hemisphäre verlassen, um in der nördlichen Hemisphäre einzufallen. Und gewiss nicht als Freunde. Denn sie werden als Eroberer kommen. Und sie werden sie erobern, indem sie sie mit ihren Kindern bevölkern. Der Bauch unserer Frauen wird uns den Sieg schenken.“

Und ihre ganze Wut spürt man in folgenden Sätzen (die allerdings aus „Die Kraft der Vernunft“ stammen):

„Da ist das Europa der ehr- und hirnlosen Staatschefs, der gewissenlosen Politiker ohne einen Funken Intelligenz, der würdelosen Intellektuellen ohne jeden Mut. Kurz und gut, das kranke Europa. Das Europa, das sich wie eine Dirne an die Sultane, Kalifen, Wesire und Landsknechte des neuen Osmanischen Reiches verkauft hat. Kurz und gut, Eurabien.“

Dabei nimmt sie keineswegs für sich in Anspruch, „diesen erschreckenden Ausdruck“ erfunden zu haben, sondern verweist auf die Recherchen von Bat Ye’or (Gisèle Littman). Und Fallaci schreibt, was jeder weiß und trotzdem nicht glauben mag:

„Es handelt sich ja nicht um eine Verschwörung, die im Dunkeln von Unbekannten oder allein den Polizeipräsidien oder Interpol bekannten Galgenstricken angezettelt worden war. Es handelt sich um eine Verschwörung, die am helllichten Tag vor aller Augen bewerkstelligt wurde, vor laufenden Fernsehkameras und angeführt von berühmten Staatsmännern. Von bekannten Politikern, von Leuten, denen Bürger ihre Stimme und somit ihr Vertrauen geschenkt hatten.“

Nicht Wut, nicht Stolz, sondern Vernunft

Oriana Fallaci fühlt sich an die Erzählung von Edgar Allan Poe „Der gestohlene Brief“ erinnert. Man könnte auch an „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch denken.

Hannah Arendt hat das in ihrer grundlegenden Analyse „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ so beschrieben:

„Und diese Popularität [totalitärer Führer] … ist keineswegs das Produkt einer meisterhaften und lügnerischen Propaganda, welche die Dummheit und Unwissenheit der Massen auszunutzen versteht; denn die Propaganda totalitärer Bewegungen, die der totalen Herrschaft vorausgehen und sie bis zu einem gewissen Punkt weiterhin begleiten, ist zwar letztlich verlogen, aber keineswegs geheimnistuerisch; totalitäre Führer beginnen ihre Karriere meist damit, daß sie sich ihrer vergangenen Verbrechen mit unvergleichlicher Offenheit rühmen und ihre zukünftigen mit unvergleichlicher Genauigkeit ‚voraussagen‘.“

Das zweite Buch Oriana Fallacis endet mit folgenden Sätzen, denen wirklich nichts mehr hinzuzufügen ist:

„Zum Leben braucht man Leidenschaft. Doch hier handelt es sich nicht einfach darum zu leben und basta. Hier geht es ums Überleben. Und um zu überleben, braucht man Vernunft. Rationalität, gesunden Menschenverstand, Vernunft. Daher appelliere ich diesmal nicht an die Wut, den Stolz, die Leidenschaft. Ich appelliere an die Vernunft. Und gemeinsam mit Mastro Cecco [Cecco d’Ascoli, italienischer Dichter und Freidenker, am 26. September 1327 in Florenz auf dem Scheiterhaufen verbrannt], der erneut auf den von der Unvernunft angezündeten Scheiterhaufen steigt, sage ich dir: Man muss zur Kraft der Vernunft zurückfinden.“

Friedrich Schiller: Uebersicht des Zustands von Europa zur Zeit des ersten Kreuzzugs.

Friedrich Schiller: Uebersicht des Zustands von Europa zur Zeit des ersten Kreuzzugs http://../../js/showmeta.js

Friedrich Schiller

Uebersicht des Zustands von Europa zur Zeit des ersten Kreuzzugs.

Ein Fragment.[*] [Diese Abhandlung erschien in dem ersten Bande der historischen Memoires, wurde aber wegen der damaligen Krankheit des Verfassers nicht fortgesetzt.]

Der europäische Occident, in so viele Staaten er auch zertheilt ist, gibt im eilften Jahrhundert einen sehr einförmigen Anblick. Durchgängig von Nationen in Besitz genommen, die zur Zeit ihrer Niederlassung ziemlich auf einerlei Stufe gesellschaftlicher Bildung standen, im Ganzen denselben Stammescharakter trugen und bei Besitznehmung des Landes in einerlei Lage sich befanden, hätte er seinen neuen Bewohnern ein merklich verschiedenes Locale anbieten müssen, wenn sich in der Folge der Zeit wichtige Verschiedenheiten unter denselben hätten äußern sollen. Aber die gleiche Wuth der Verwüstung, womit diese Nationen ihre Eroberung begleiteten, machte alle noch so verschieden bewohnten, noch so verschieden bebauten Länder, die der Schauplatz derselben waren, einander gleich, indem sie alles, was sich in ihnen vorfand, auf gleiche Weise niedertrat und vertilgte und ihren neuen Zustand mit demjenigen, worin sie sich vorher befunden, fast außer aller Verbindung setzte. Wenn auch schon Klima, Beschaffenheit des Bodens, Nachbarschaft, geographische Lage einen merklichen Unterschied unterhielten, wenn gleich die übrig gebliebenen Spuren römischer Cultur in den mittäglichen, der Einfluß der gebildeten Araber in den südwestlichen Ländern, der Sitz der Hierarchie in Italien und der öftre Verkehr mit den Griechen in eben diesem Lande nicht ohne Folgen für die Bewohner derselben sein konnten, so waren ihre Wirkungen doch zu unmerklich, zu langsam und zu schwach, um das feste generische Gepräge, das alle diese Nationen in ihre neuen Wohnsitze mitgebracht hatten, auszulöschen oder merklich zu verändern. Daher nimmt der Geschichtsforscher an den entlegensten Enden von Europa, in Sicilien und Britannien, an der Donau und an der Eider, am Ebro und an der Elbe, im Ganzen eine Gleichförmigkeit der Verfassung und der Sitten wahr, die ihn um so mehr in Verwunderung setzt, da sie sich mit der größten Unabhängigkeit und einem fast gänzlichen Mangel an wechselseitiger Verbindung zusammen findet. So viele Jahrhunderte auch über diesen Völkern hinweggegangen sind, so große Veränderungen auch durch so viele neue Lagen, eine neue Religion, neue Sprachen, neue Künste, neue Gegenstände der Begierde, neue Bequemlichkeiten und Genüsse des Lebens, im Innern ihres Zustandes hätten bewirkt werden sollen und auch wirklich bewirkt wurden, so besteht doch im Ganzen noch dasselbe Staatsgerüste, das ihre Voreltern bauten. Noch jetzt stehen sie, wie in ihrem scythischen Vaterland, in wilder Unabhängigkeit, gerüstet zum Angriff und zur Verteidigung, in Europas Distrikten, wie in einem großen Heerlager ausgebreitet; auch auf diesen weitern politischen Schauplatz haben sie ihr barbarisches Staatsrecht verpflanzt, bis in das Innre des Christentums ihren nordischen Aberglauben getragen.

Monarchien nach römischem oder asiatischem Muster und Freistaaten nach griechischer Art sind auf gleiche Weise von dem neuen Schauplatz verschwunden. An die Stelle derselben sind soldatische Aristokratien getreten, Monarchien ohne Gehorsam, Republiken ohne Sicherheit und selbst ohne Freiheit, große Staaten in hundert kleine zerstückelt, ohne Uebereinstimmung von innen, von außen ohne Festigkeit und Beschirmung, schlecht zusammenhängend in sich selbst und noch schlechter unter einander verbunden. Man findet Könige, ein widersprechendes Gemisch von barbarischen Heerführern und römischen Imperatoren, von welchen letztern einer den Namen trägt, aber ohne ihre Machtvollkommenheit zu besitzen; Magnaten, an wirklicher Gewalt wie an Anmaßungen überall dieselben, obgleich verschieden benannt in verschiedenen Ländern; mit dem weltlichen Schwert gebietende Priester; eine Miliz des Staats, die der Staat nicht in der Gewalt hat und nicht besoldet; endlich Landbauer, die dem Boden angehören, der ihnen nicht gehört; Adel und Geistlichkeit, Halbfreie und Knechte. Municipalstädte und freie Bürger sollen erst werden.

Um diese veränderte Gestalt der europäischen Staaten zu erklären, müssen wir zu entferntern Zeiten zurückgehen und ihrem Ursprung nachspüren.

Als die nordischen Nationen Deutschland und das römische Reich in Besitz nahmen, bestanden sie aus lauter freien Menschen, die aus freiwilligem Entschluß dem Bund beigetreten waren, der auf Eroberung ausgieng, und bei einem gleichen Antheil an den Arbeiten und Gefahren des Kriegs ein gleiches Recht an die Länder hatten, welche der Preis dieses Feldzugs waren. Einzelne Haufen gehorchten den Befehlen eines Häuptlings; viele Häuptlinge mit ihren Haufen einem Feldhauptmann oder Fürsten, der das Heer anführte. Es gab also bei gleicher Freiheit drei verschiedene Ordnungen oder Stände, und nach diesem Ständeunterschied, vielleicht auch nach der bewiesenen Tapferkeit, fielen nunmehr auch die Portionen bei der Menschen-, Beute- und Ländertheilung aus. Jeder freie Mann erhielt seinen Antheil, der Rottenführer einen größern, der Heerführer den größten; aber frei, wie die Personen ihrer Besitzer, waren auch die Güter, und was Einem zugesprochen wurde, blieb sein auf immer, mit völliger Unabhängigkeit. Es war der Lohn seiner Arbeit und der Dienst, der ihm ein Recht darauf gab, schon geleistet.

Das Schwert mußte vertheidigen, was das Schwert errungen hatte, und das Erworbene zu beschützen, war der einzelne Mann eben so wenig fähig, als er es einzeln erworben haben würde. Der kriegerische Bund durfte also auch im Frieden nicht auseinander fallen; Rottenführer und Heerführer blieben, und die zufällige temporäre Hordenvereinigung wurde nunmehr zur ansässigen Nation, die bei eintretendem Nothfall sogleich, wie zur Zeit ihres kriegerischen Einfalls, kampffertig wieder da stand. Von jedem Länderbesitz war die Verbindlichkeit unzertrennlich, Heerfolge zu leisten, d. i. mit der gehörigen Ausrüstung und einem Gefolge, das dem Umfang der Grundstücke, die man besaß, angemessen war, zu dem allgemeinen Bunde zu stoßen, der das Ganze vertheidigte; eine Verbindlichkeit, die vielmehr angenehm und ehrenvoll als drückend war, weil sie zu den kriegrischen Neigungen dieser Nationen stimmte und von wichtigen Vorzügen begleitet war. Ein Landgut und ein Schwert, ein freier Mann und eine Lanze galten für unzertrennliche Dinge.

Die eroberten Ländereien waren aber keine Einöden, als man sie in Besitz nahm. So grausam auch das Schwert dieser barbarischen Eroberer und ihrer Vorgänger, der Vandalen und Hunnen, in denselben gewüthet hatte, so war es ihnen doch unmöglich gewesen, die ursprünglichen Bewohner derselben ganz zu vertilgen. Viele von diesen waren also mit unter der Beute und Ländertheilung begriffen, und ihr Schicksal war, als leibeigne Sklaven jetzt das Feld zu bebauen, welches sie vormals als Eigentümer besessen hatten. Dasselbe Loos traf auch die beträchtliche Menge der Kriegsgefangenen, die der erobernde Schwarm auf seinen Zügen erbeutet hatte und nun als Knechte mit sich schleppte. Das Ganze bestand jetzt aus Freien und aus Sklaven, aus Eigenthümern und aus Eigenen. Dieser zweite Stand hatte kein Eigenthum und folglich auch keines zu beschützen; er führte daher auch kein Schwert, er hatte bei politischen Verhandlungen keine Stimme. Das Schwert gab Adel, weil es von Freiheit und Eigenthum zeugte.

Die Ländertheilung war ungleich ausgefallen, weil das Loos sie entschieden und weil der Rottenführer eine größre Portion davon getragen hatte als der Gemeine, der Heerführer eine größre als alle Uebrigen. Er hatte also mehr Einkünfte, als er verbrauchte, oder Ueberfluß, folglich Mittel zum Luxus. Die Neigungen jener Völker waren auf kriegrischen Ruhm gerichtet, also mußte sich auch der Luxus auf eine kriegrische Art äußern. Sich von auserlesenen Schaaren begleitet und an ihrer Spitze von dem Nachbar gefürchtet zu sehen, war das höchste Ziel, wornach der Ehrgeiz jener Zeiten strebte; ein zahlreiches kriegrisches Gefolge die prächtigste Ausstellung des Reichthums und der Gewalt und zugleich das unfehlbarste Mittel, beides zu vergrößern. Jener Ueberfluß an Grundstücken konnte daher auf keine beßre Art angewendet werden, als daß man sich kriegerische Gefährten damit erkaufte, die einen Glanz auf ihren Führer werfen, ihm das Seinige vertheidigen helfen, empfangene Beleidigungen rächen und im Kriege an seiner Seite fechten konnten. Der Häuptling und der Fürst entäußerten also gewisse Stücke Landes und traten den Genuß derselben an andre minder vermögende Gutsbesitzer ab, welche sich dafür zu gewissen kriegerischen Diensten, die mit der Verteidigung des Staats nichts zu thun hatten und bloß die Person des Verleihers angingen, verpachten mußten. Bedurft Letzterer dieser Dienste nicht mehr, oder konnte der Empfänger sie nicht mehr leisten, so hörte auch die Nutznießung der Ländereien wieder auf, deren wesentliche Bedingung sie waren. Diese Länderverleihung war also bedingt und veränderlich, ein wechselseitiger Vertrag, entweder auf eine festgesetzte Anzahl Jahre oder auf Zeitlebens errichtet, aufgehoben durch den Tod. Ein Stück Landes, auf solche Art verliehen, hieß eine Wohlthat ( Beneficium), zum Unterschied von dem Freigut ( Allodium), welches man nicht von der Güte eines Andern, nicht unter besondern Bedingungen, nicht auf eine Zeitlang, sondern von Rechtswegen, ohne alle andre Beschwerde als die Verpflichtung zur Heerfolge und auf ewige Zeiten besaß. Feudum nannte man sie im Latein jener Zeiten, vielleicht weil der Empfänger dem Verleiher Treue ( Fidem) dafür leisten mußte, im Deutschen Lehen, weil sie geliehen, nicht auf immer weggegeben wurden. Verleihen konnte jeder, der Eigenthum besaß; das Verhältniß von Lehensherrn und Vasallen wurde durch kein andres Verhältniß aufgehoben. Könige selbst sah man zuweilen bei ihren Unterthanen zu Lehen gehen. Auch verliehene Güter konnten weiter verliehen und der Vasall des Einen wieder der Lehensherr eines Andern werden; aber die oberlehensherrliche Gewalt des ersten Verleihers erstreckte sich durch die ganze noch so lange Reihe von Vasallen. So konnte z. B. kein leibeigener Landbauer von seinem unmittelbaren Herrn freigelassen werden, wenn der oberste Lehensherr nicht darein willigte.

Nachdem mit dem Christentum auch die christliche Kirchenverfassung unter den neuen europäischen Völkern eingeführt worden, fanden die Bischöfe, die Domstifter und Klöster sehr bald Mittel, den Aberglauben des Volks und die Großmuth der Könige in Anspruch zu nehmen. Reiche Schenkungen geschahen an die Kirchen, und die ansehnlichsten Güter wurden oft zerrissen, um den Heiligen eines Klosters unter seinen Erben zu haben. Man wußte nicht anders, als daß man Gott beschenkte, indem man seine Diener bereicherte; aber auch ihm wurde die Bedingung nicht erlassen, welche an jedem Länderbesitz haftete; eben so gut, wie jeder Andere, mußte er die gehörige Mannschaft stellen, wenn ein Aufgebot erging, und die Weltlichen verlangten, daß die Ersten im Rang auch die Ersten auf dem Platze sein sollten. Weil alles, was an die Kirche geschenkt wurde, auf ewig und unwiderruflich an sie abgetreten war, so unterschieden sich Kirchengüter dadurch von den Lehen, die zeitlich waren und nach verstrichenem Termin in die Hand des Verleihers zurückkehrten. Sie näherten sich aber von einer andern Seite den Lehen wieder, weil sie sich nicht, wie Allodien, vom Vater auf den Sohn forterbten, weil der Landesherr beim Ableben des jedesmaligen Besitzers dazwischen trat und durch Belehnung des Bischofs seine oberherrliche Gewalt ausübte. Die Besitzungen der Kirche, könnte man also sagen, waren Allodien in Rücksicht auf die Güter selbst, die niemals zurückkehrten, und Beneficien in Rücksicht auf den jedesmaligen Besitzer, den nicht die Geburt, sondern die Wahl dazu bestimmte. Er erlangte sie auf dem Wege der Belehnung und genoß sie als Allodien.

Es gab noch eine vierte Art von Besitzungen, die man ans Lehenart empfing, und an welcher gleichfalls Lehensverpflichtungen hafteten. Dem Heerführer, den man auf seinem bleibenden Boden nunmehr König nennen kann, stand das Recht zu, dem Volke Häupter vorzusetzen, Streitigkeiten zu schlichten oder Richter zu bestellen und die allgemeine Ordnung und Ruhe zu erhalten. Dieses Recht und diese Pflicht blieb ihm auch nach geschehener Niederlassung und im Frieden, weil die Nation noch immer ihre kriegrische Einrichtung beibehielt. Er bestellte also Vorsteher über die Länder, deren Geschäft es zugleich war, im Kriege die Mannschaft anzuführen, welche die Provinz ins Feld stellte; und da er, um Recht zu sprechen und Streitigkeiten zu entscheiden, nicht überall zugleich gegenwärtig sein konnte, so mußte er sich vervielfältigen, d. i. er mußte sich in den verschiedenen Distrikten durch Bevollmächtigte repräsentiren, welche die oberrichterliche Gewalt in seinem Namen darin ausübten. So setzte er Herzoge über die Provinzen, Markgrafen über die Grenzprovinzen, Grafen über die Gauen, Centgrafen über kleinere Distrikte u. a. m., und diese Würden wurden gleich den Grundstücken belehnungsweise ertheilt. Sie waren eben so wenig erblich als die Lehengüter, und wie diese konnte sie der Landesherr von einem auf den andern übertragen. Wie man Würden zu Lehen nahm, wurden auch gewisse Gefälle, z. B. Strafgelder, Zölle und dergleichen mehr auf Lehensart vergeben.

Was der König in dem Reiche, das that die hohe Geistlichkeit in ihren Besitzungen. Der Besitz von Ländern verband sie zu kriegerischen und richterlichen Diensten, die sich mit der Würde und Reinigkeit ihres Berufes nicht wohl zu vertragen schienen. Sie war also gezwungen, diese Geschäfte an Andre abzugeben, denen sie dafür die Nutznießung gewisser Grundstücke, die Sporteln des Richteramts und andre Gefälle überließ, oder, nach der Sprache jener Zeiten, sie mußte ihnen solche zu Lehen auftragen. Ein Erzbischof, Bischof oder Abt war daher in seinem Distrikte, was der König in dem ganzen Staat. Er hatte Advokaten oder Vögte, Beamte und Lehenträger, Tribunale und einen Fiscus; Könige selbst hielten es nicht unter ihrer Würde, Lehenträger ihrer Bischöfe und Prälaten zu werden, welches diese nicht unterlassen haben als ein Zeichen des Vorzugs geltend zu machen, der dem Clerus über die Weltlichen gebühre. Kein Wunder, wenn auch die Päpste sich nachher einfallen ließen, Den, welchen sie zum Kaiser gemacht, mit dem Namen ihres Vogts zu beehren. Wenn man das doppelte Verhältniß der Könige, als Baronen und als Oberhäupter ihres Reichs, immer im Auge behält, so werden sich diese scheinbaren Widersprüche lösen.

Die Herzoge, Markgrafen, Grafen, welche der König als Kriegsobersten und Richter über die Provinzen setzte, hatten eine gewisse Macht nöthig, um der äußern Vertheidigung ihrer Provinzen gewachsen zu sein, um gegen den unruhigen Geist der Baronen ihr Ansehen zu behaupten, ihren Rechtsbescheiden Nachdruck zu geben und sich, im Falle der Widersetzung, mit den Waffen in der Hand Gehorsam zu verschaffen. Mit der Würde selbst aber ward keine Macht verliehen, diese mußte sich der königliche Beamte selbst zu verschaffen wissen. Dadurch wurden diese Bedienungen allen minder vermögenden Freien verschlossen und auf die kleine Anzahl der hohen Baronen eingeschränkt, die an Allodien reich genug waren und Vasallen genug ins Feld stellen konnten, um sich aus eignen Kräften zu behaupten. Dies war vorzüglich in solchen Ländern nöthig, wo ein mächtiger und kriegerischer Adel war, und unentbehrlich an den Grenzen. Es wurde nöthiger von einem Jahrhundert zum andern, wie der Verfall des königlichen Ansehens die Anarchie herbeiführte, Privatkriege einrissen und Straflosigkeit die Raubsucht aufmunterte; daher auch die Geistlichkeit, welche diesen Räubereien vorzüglich ausgesetzt war, ihre Schirmvögte und Vasallen unter den mächtigen Baronen aussuchte.

Die hohen Vasallen der Krone waren also zugleich begüterte Baronen oder Eigenthumsherrn und hatten selbst schon ihre Vasallen unter sich, deren Arm ihnen zu Gebote stand. Sie waren zugleich Lehenträger der Krone und Lehensherren ihrer Untersassen; das Erste gab ihnen Abhängigkeit, indem Letzteres den Geist der Willkür bei ihnen nährte. Auf ihren Gütern waren sie unumschränkte Fürsten, in ihren Lehen waren ihnen die Hände gebunden; jene vererbten sich vom Vater zum Sohne, diese kehrten nach ihrem Ableben in die Hand des Lehensherrn zurück. Ein so widersprechendes Verhältniß konnte nicht lange Bestand haben. Der mächtige Kronvasall äußerte bald ein Bestreben, das Lehen dem Allodium gleich zu machen, dort wie hier unumschränkt zu sein und jenes wie dieses seinen Nachkommen zu versichern. Anstatt den König in dem Herzogthum oder in der Grafschaft zu repräsentieren, wollte er sich selbst repräsentieren, und er hatte dazu gefährliche Mittel an der Hand. Eben die Hilfsquellen, die er aus seinen vielen Allodien schöpfte, eben dieses kriegerische Heer, das er aus seinen Vasallen aufbringen konnte und wodurch er in den Stand gesetzt war, der Krone in diesem Posten zu nützen, machte ihn zu einem eben so gefährlichen als unsichern Werkzeug derselben. Besaß er viele Allodien in dem Lande, das er zu Lehen trug, oder worin er eine richterliche Würde bekleidete (und aus diesem Grunde war es ihm vorzugsweise anvertraut worden), so stand gewöhnlich der größte Theil der Freien, welche in dieser Provinz ansässig waren, in seiner Abhängigkeit. Entweder trugen sie Güter von ihm zu Lehen, oder sie mußten doch einen mächtigen Nachbar in ihm schonen, der ihnen schädlich werden konnte. Als Richter ihrer Streitigkeiten hatte er ebenfalls oft ihre Wohlfahrt in Händen, und als königlicher Statthalter konnte er sie drücken und erledigen. Unterließen es nun die Könige, sich durch öftere Bereisung der Länder, durch Ausübung ihrer oberrichterlichen Würde und dergleichen dem Volk (unter welchem Namen man immer die waffenführenden Freien und niedern Gutsbesitzer verstehen muß) in Erinnerung zu bringen, oder wurden sie durch auswärtige Unternehmungen daran verhindert, so mußten die hohen Freiherrn den niedrigen Freien endlich die letzte Hand scheinen, aus welcher ihnen sowohl Bedrückungen kamen, als Wohlthaten zuflossen; und da überhaupt in jedem Systeme von Subordination der nächste Druck immer am lebhaftesten gefühlt wird, so mußte der hohe Adel sehr bald einen Einfluß auf den niedrigen gewinnen, der ihm die ganze Macht desselben in die Hände spielte. Kam es also zwischen dem König und seinem Vasallen zum Streit, so konnte letzterer weit mehr als jener auf den Beistand seiner Untersassen rechnen, und dieses setzte ihn in den Stand, der Krone zu trotzen. Es war nun zu spät und auch zu gefährlich, ihm oder seinem Erben das Lehen zu entreißen, das er im Fall der Noth mit der vereinigten Macht des Kantons behaupten konnte; und so mußte der Monarch sich begnügen, wenn ihm der zu mächtig gewordene Vasall noch den Schatten der Oberlehnsherrschaft gönnte und sich herabließ, für ein Gut, das er eigenmächtig an sich gerissen, die Belehnung zu empfangen. Was hier von den Kronvasallen gesagt ist, gilt auch von den Beamten und Lehenträgern der hohen Geistlichkeit, die mit den Königen insofern in einem Fall war, daß mächtige Baronen bei ihr zu Lehen gingen.

So wurden unvermerkt aus verliehenen Würden und aus lehenweise übertragenen Gütern erbliche Besitzungen, und wahre Eigenthumsherrn aus Vasallen, von denen sie nur noch den äußern Schein beibehielten. Viele Lehen oder Würden wurden auch dadurch erblich, daß die Ursache, um derentwillen man dem Vater das Lehen übertragen hatte, auch bei seinem Sohn und Enkel noch statt fand. Belehnte z. B. der deutsche König einen sächsischen Großen mit dem Herzogthum Sachsen, weil derselbe in diesem Lande schon an Allodien reich und also vorzüglich im Stande war, es zu beschützen, so galt dieses auch von dem Sohn dieses Großen, der diese Allodien erbte; und war dieses mehrmals beobachtet worden, so wurde es zur Observanz, welche sich ohne eine außerordentliche Veranlassung und ohne eine nachdrückliche Zwangsgewalt nicht mehr umstoßen ließ. Es fehlt zwar auch in spätern Zeiten nicht ganz an Beispielen solcher zurückgenommenen Lehen, aber die Geschichtschreiber erwähnen ihrer auf eine Art, die leicht erkennen läßt, daß es Ausnahmen von der Regel gewesen. Es muß ferner noch erinnert werden, daß diese Veränderung in verschiedenen Ländern, mehr oder minder allgemein, frühzeitiger oder später erfolgte.

Waren die Lehen einmal in erbliche Besitzungen ausgeartet, so mußte sich in dem Verhältniß des Souveräns gegen seinen Adel bald eine große Veränderung äußern. So lange der Souverän das erledigte Lehen noch zurücknahm, um es von neuem nach Willkür zu vergeben, so wurde der niedre Adel noch oft an den Thron erinnert, und das Band, das ihn an seinen unmittelbaren Lehensherrn knüpfte, wurde minder fest geflochten, weil die Willkür des Monarchen und jeder Todesfall es wieder zertrennte. Sobald es aber eine ausgemachte Sache war, daß der Sohn dem Vater auch in dem Lehen folgte, so wußte der Vasall, daß er für seine Nachkommenschaft arbeitete, indem er sich dem unmittelbaren Herrn ergeben bezeugte. So wie also durch die Erblichkeit der Lehen das Band zwischen den mächtigen Vasallen und der Krone erschlaffte, wurde es zwischen jenen und ihren Untersassen fester zusammengezogen. Die großen Lehen hingen endlich nur noch durch die einzige Person des Kronvasallen mit der Krone zusammen, der sich oft sehr lange bitten ließ, ihr die Dienste zu leisten, wozu ihn seine Würde verpflichtete.

Den furchtbaren Druck hinwegfegen. Zu Peter Weiss’ 100. Geburtstag: Die Ästhetik des Widerstands lesen, heute

Sehr populistische Fragen an den Nafri, Politik und Polizei nach Köln

Ich habe, da die Anspannung und die Angst vor Ausschreitungen vorbei ist, ein paar Fragen. Und weil sie ohnehin nicht beantwortet werden, möchte ich sie zusammen mit Bildern vom friedlichen Silvester am Tegernsee öffentlich stellen. Zuerst einmal an den Nafri, also den jungen Mann aus Nordafrika, der auch 2016/17 wieder zum Hauptbahnhof in Köln eilte.

nafrib

Herzlich willkommen in meinem Heimatland. Warum bist Du dieses Jahr ausgerechnet nach Köln gefahren?

Gefällt es Dir in Dortmund, Bonn und Düsseldorf nicht?

Habt Ihr Euch etwa hier verabredet? Es sind so viele. Irgendwie glaube ich nicht ganz an einen Zufall.

Bist Du Dir ganz sicher, dass der Kölner Hauptbahnhof der ideale Ort ist, um an diesem Tag mit dieser Vorgeschichte dort aufzulaufen?

Warum geht von Dir und Deinen Freunden “Grundaggressivität” aus?

nafria

Warum habe ich als Begründung bislang nicht gehört, dass Du mit Deinen jugendlichen Freunden dort für ein paar Minuten eine spontanes Zeichen gegen Gewalt an Frauen und gegen Kriminalität setzen willst, obwohl das doch sicher eine gute Gelegenheit zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Einheimischen und Zuwanderern wäre?

Habt Ihr nicht auch ein wenig den Endruck, dass Euer diesjähriges Kommen den Einheimischen, wie soll ich sagen, in gewisser Weise etwas renitent und unbelehrbar erscheint?

Wunderst Du Dich ernsthaft, dass die Polizei dann mit Personenkontrollen überprüfen will, wer da in Köln feiern möchte?

Was würde eigentlich die Polizei in Deiner Heimat bei so einer Gelegenheit tun, und würde sie Deine Rechte ähnlich wahren wie die Polizei bei uns?

nafrie

An die Politik:

Wie Sie sehen, kamen auch dieses Jahr Nafris ohne jede Angst in grossen Scharen, um am gleichen Platz wie letztes Jahr das zu tun, was sie für “feiern“ halten. Brauchen wir von nun an jedes Silvester einen derartig massiven Polizeieinsatz?

Nachdem Sie vermutlich nicht mit Nein antworten werden – wie wollen Sie den Bürgern erklären, dass sie für diesen Polizeieinsatz aufkommen müssen, obwohl Feiern an Silvester früher kein grosses Problem war?

Möchten Sie den Familien und Angehörigen der Polizisten erklären, warum ihre Liebsten hochgerüstet bis zum Hals einer grossen Gruppe Nafris gegenüberstehen, statt das neue Jahr mit ihnen zu begrüssen?

Wie, glauben Sie, bringen Sie es fertig, dass die Nafris die Sicherheitswünsche der Deutschen verstehen, die Folgen von 2015/16 begreifen, und nicht mehr in Grossverbänden auftreten, die Menschen massiv verunsichern?

Wie haben Ihnen denn so die Bilder vom Hauptbahnhof gefallen? Ich frage, weil sie mich massiv an Wackersdorf oder die Westbank Palästinas erinnern, weniger an ein ziviles Fest, aber vielleicht bin ich da als beobachtender Veteran bürgerkriegsartiger Ausschreitungen auch nur etwas überempfindlich.

An einem Abend wurden die Nafris nun überprüft. Wie sieht es eigentlich mit den anderen 364 Abenden im Jahr aus? Ist das dann nicht nötig? Sind das reine Silvesterrisikogruppen?

nafrid

Könnte es Ihres Erachtens sein, dass das erneute Auftreten an dieser eigentlich gesicherten und vorab breit kommunizierten Stelle eine Art Provokation oder Kräftemessen mit dem Staat ist?

Ein Jahr ist eine lange Zeit, und es gab auch eine breite Debatte über die Straftaten von 2015/16. Sehen Sie in Fragen der Integration, Versöhnung und Verständigung nach Silvester 2017 Fortschritte seitens der Nafris?

Haben Sie den Eindruck, dass unsere etwas ineffektive Strafverfolgung der 2015/16er Täter, von denen doch eine Handvoll der Justiz zugeführt wurde, einen breiten Sinneswandel in den fraglichen Kreisen bewirkte?

Ich frage auch, weil ich in der verrufenen und als Alt-right geltenden, angeblichen Fake News Zentrale Breitbart die Wahrheit lesen musste, dass ein Kolumnist der deutschen Huffington Post mit syrischer Herkunft vor drei Wochen ganz offen in Bezug auf Silvester twitterte, daran seien deutsche Frauen meistens selbst schuld, Nachts alleine zu sein. Andererseits sollten sich Flüchtlinge benehmen. Spricht das Ihres Erachtens für ein den deutschen Vorstellungen angepasstes Frauenbild?

Betrachten wir einmal die langfristige Perspektive: Wie lang, glauben Sie, wird es angesichts der bisherigen Entwicklung dauern, diese Nafris zu den von Ihnen im Sommermärchen 2015 versprochenen Zahlern unserer Rente zu machen?

nafrif

Oder gedenken Sie, diese Leute in ihre Heimat abzuschieben? Angesichts des Falles von Anis Amri und bisheriger Erfahrungen mit der Bereitschaft ihrer Heimatländer, diese Leute zurück zu nehmen: Wie viele Jahre wird das Ihres Erachtens dauern?

Haben Sie keine Angst, dass diese Leute dann entschlüpfen und in Städten wie Bremen und Berlin Zuflucht suchen, die Abschiebungen unbedingt vermeiden möchten?

Mein Eindruck ist, dass wir inzwischen so eine Art temporären Belagerungszustand von innen haben. Das entspricht nicht wirklich den Erwartungen, die die meisten von Ihnen 2015 beschworen. Haben Sie nicht manchmal ein klein wenig das Gefühl, mitverantwortlich für die heutige Situation und die unerwartete Entwicklung zu sein?

Glauben Sie ernsthaft, dass Videokameras etwas helfen, wenn sich am Ort der Ausschreitungen von 2015/16 jetzt eine ähnliche Gruppe versammelt – obwohl die Polizei diesmal mit hochauflösenden Kameras nachgerüstet hat?

Glauben Sie, dass sich die Bürger an die veränderten Zustände gewöhnen und Sie weiter wohlwollend wählen werden?

nafrih

An die Polizei:

Social Interest zu Beginn: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie die Silvesternacht Ihren Kopf hingehalten haben, damit es nicht erneut zu Ausschreitungen kommt, und dann wird Ihnen von Antifa, einzelnen Medienvertretern und linken Politikern vorgeworfen, sie begingen Racial Profiling?

Empfinden Sie es als angemessene Reaktion, wenn der frühere Piratenpolitiker und jetzige SPD-Parteifunktionär Christopher Lauer nach so einer Nacht versucht, wegen der polizeilichen Umschreibung Nafri einenreichlichvulgärenShitstorm zu erzeugen?

Herr Lauer ist Mitglied der gleichen Partei wie die Ministerpräsidentin und der Innenminister von NRW, und kann Sie ohne besondere Gegenwehr der Partei angreifen. Finden Sie, dass Sie ausreichend politischen Rückhalt haben?

Als Praktiker: Was, denken Sie, ist dem Bürger des Landes wichtiger: Dass Sie zwischen ihm und grundaggressiven Gruppen stehen und überprüfen, wer diese Personen eigentlich sind, oder die Angemessenheit Ihres Begriffs “Nafri” in der öffentlichen Debatte für diese Personen?

nafrig

Ich erwarte keine Antworten.

Aber ich würde der Polizei gern danken.

http://blogs.faz.net/deus/2017/01/01/sehr-populistische-fragen-an-den-nafri-politik-und-polizei-nach-koeln-3996/

Den Marsch in den Überwachungsstaat kann nur ein radikaler Widerstand stoppen und umkehren.

Den Marsch in den Überwachungsstaat kann nur eine völlige politische Richtungsänderung stoppen und umkehren. Die bröckelnden Loyalitäten des Bodenpersonals der Deutschland AG sind ein hoffnungsfrohes Signal.

Wo die Außengrenzen der EU und die nationalen Grenzen löchrig sind wie der berühmte Schweizer Käse, wird nicht die linke Utopie von no borders Wirklichkeit, sondern verlagern und vervielfachen sich Grenzen nach innen: Einzäunung und verschärfte Zugangskontrolle bei allen größeren Events, Mauern um bessere Wohnviertel und öffentliche Einrichtungen. Alles verbunden mit Einschränkungen der Freiheit der unbeteiligten Bürger wie in Frankreich, wo der Ausnahmezustand immer wieder verlängert wird. Öffentliche Sicherheit wie in Israel mit Polizisten und Soldaten wartet auf uns, die im Unterschied zu ihren deutschen Berufskollegen nicht nur moderne Waffen mit sich führen, sondern auch schießen – und zwar sofort.

Die Folgen der Welcome-Romantiker werden keine Republik-weiten Hippie-Zonen sein, sondern das Verschwinden des öffentlichen Raums der Freiheit von freien Bürgern und eine boomende Hochsicherheits-Industrie. Die Kölner Domplatte an Silvester ist nur der Anfang. Die frühe Linke von 1967 ist gegen einen Polizeistaat angetreten, der die alte Bundesrepublik nicht war. Am Ende ihrer Meinungsherrschaft wird sie nach 2017 einen dichtmaschigen Überwachungsstaat hinterlassen.

Zu den Massen an Migranten sagte die Kanzlerin: Jetzt sind sie halt da. Denkt sie nun, der Terror, jetzt ist er halt da? Setzt die politische Klasse darauf, dass sich die Deutschen an alles gewöhnen? Wenn sie sich da mal nicht verrechnet hat.

Das Münchner Oktoberfest wird eingezäunt, mit Zugangskontrollen, die nach jedem neuen Anschlag jährlich noch dichter werden, bis sie den Standards auf Flughäfen entsprechen. Gleiches ist in Fußballstadien, Einkaufsmeilen, Konzerten zu erwarten wie auf früher friedlichen Plätzen, an denen sich Bürger frei und ungezwungen versammelten. Der sicherste Platz Deutschlands am gestrigen Silvestertag war der Platz zwischen Kölner Dom und Hauptbahnhof, so sicher, dass Polizisten und Kamerateams aus aller Welt normalen Besuchern den Platz streitig machen.

Gewalttaten gegen einzelne durch Migranten hätten Behörden und Medien wohl ganz verschwiegen, hätten nicht einzelne Polizisten und Rettungskräfte ihr Wissen weitergegeben, Zeugen fotografiert oder Berichte ins Netz gestellt.

Ein Neujahrs-Wunsch

Nur Pessimisten schauen im Zorn zurück und erwarten von der Zukunft weitere…

Der anhaltende Versuch von Politik und Behörden die Öffentlichkeit lückenhaft zu informieren, scheitert zunehmend an bröckelnder Disziplin. Die politisch eingesetzten und kontrollierten Polizeioberen sehen sich Polizisten gegenüber, die ihre Maulkörbe abstreifen. Staatsanwälte sind Weisungen leid, die Augen vor Tatsachen zu verschließen. Richter besinnen sich auf ihre Unabhängigkeit. Dort wo sie selbst noch nicht wagen, gegen die politische Linie zu handeln, geben sie ihr Wissen auf unterschiedlichen Wegen an Netzaffine weiter – und an die wenigen in den Medien, die Journalismus noch klassisch verstehen: Sagen, was ist.

Das Personal in Zügen, im öffentlichen Nahverkehr, in Supermärkten, Krankenhäusern und Arztpraxen, in Sozial- und Ausländerbehörden – kurz das Bodenpersonal, das im Unterschied zu Politikern, Behördenleitern, Wirtschafts- und Gewerkschaftsmanagern und Kirchenfürsten direkten Kontakt mit jenen Migranten hat, mit denen nicht gut Kirschen essen ist, rebelliert.

Die Zuschriften an Tichys Einblick mit Daten und Fakten unter dem Siegel des Quellenschutzes nehmen zu. Selbst hochrangige Vertreter aus staatlichen Institutionen rufen inzwischen an und erzählen.

Bürger wie du und ich schreiben Tichys Einblick, dass sie aufgehört haben, Gottesdienste zu besuchen, weil sie schönrednerischen Kommentaren wie in ARD und ZDF oder Ansprachen von Bundespräsident und Kanzlerin nicht auch noch von der Kanzel hören möchten. Andere erzählen, dass sie die Christmette zum ersten mal nicht besuchten und in Zukunft alle Ansammlungen von Menschen meiden wollen.

Deutschlands Allparteienfront schafft auf Dauer Zustände wie in Frankreich als Ergebnis von immer mehr staatlichen Eingriffen in zunehmend alles: 40% Jugendarbeitslosigkeit als Resultat eines unterirdischen Bildungsniveaus, ein motivationszerstörender Wohlfahrtsstaat und ein staatlich geknebelter Arbeitsmarkt sind desaströs. Die große Mehrheit der nach Frankreich Eingewanderten findet sich in den Problemgruppen, in kulturellen und sozialen Problemzonen wieder. Der Zeitpunkt, an dem Deutschland so viele oder mehr Migranten aus Afrika haben wird wie Frankreich, ist nicht mehr sehr weit.

Die Epigonen der Linken von 1967, die gegen einen Polizeistaat antrat, der die alte Bundesrepublik nicht war, sind uns eine Antwort schuldig, wie sie die Folgen ihrer Politik verantworten wollen, die mit großen Schritten in den Polizei- und Überwachungsstaat marschiert. Vermutlich werden sie wie die Kanzlerin sagen, jetzt ist er halt da.

Den Marsch in den Überwachungsstaat kann nur eine völlige politische Richtungsänderung stoppen und umkehren. Die bröckelnden Loyalitäten des Bodenpersonals der Deutschland AG sind ein hoffnungsfrohes Signal.

In den Netzen pirscht sich eine neue Parole heran: Unbedingt wählen, aber auf keinen Fall die CDU. Die CDU aus der Macht verdrängen sei zwar noch keine Lösung, aber ohne die Verdrängung der CDU aus der Macht könne es keine Richtungsänderung in der Politik geben.

Die Arroganz der multiminoritären Gesellschaft ist gebrochen.

Kurz vor Verlust des Mehrheitsstatus‘ hat das „weiße Amerika“ sich massiv artikuliert. Die Herrschaft der multiminoritären Gesellschaft ist gebrochen. Die Rassismuskeule verliert ihre Wirkung.

 

Die Wahl des Donald Trump zum US-Präsidenten hat nicht bloß gezeigt, dass das dort dominante Juste Milieu des politisch-medialen Komplexes keine prognostische Fähigkeit hat und deshalb vom Wahlergebnis maßlos überrascht wurde. Die auf die “Demokratische Partei” und ihre Vorfeld-Organisationen eingeschworenen ” Liberals” schaffen es auch nicht, die aktuelle Lage zu begreifen. Ihre Reaktionen auf die Wahl schwanken zwischen wüstem Schimpf auf den Sieger und larmoyantem Jammer über das eigene Leben in einer kommunikativen Filterblase, in der man nichts über das “andere Amerika” an sich herankommen ließ. In jedem Fall ist Wundenlecken über eine historische Niederlage angesagt.

Dabei ist Trumps Erfolg doch ein überzeugender Sieg der Politik, die seine Gegner seit Jahrzehnten propagieren. Es ist ein Sieg fürs Konzept der multikulturellen Gesellschaft, in dem der politische Prozess nach dem Muster soziokultureller Beutekämpfe umgeformt wird. Die Akteure dieser Kämpfe sind in Interessengruppen organisiert , die sich allerdings nicht mehr nach traditionellen Unterscheidungen der Klassen oder sozialen Schichten formieren. Sie definieren sich jetzt nach ethnisch-kulturellen Kriterien( die Schwarzen, die Hispanics, die Indianer, die Muslime) und nach Merkmalen, nach denen fortlaufend neue unterprivilegierte Minderheiten erfunden werden. Eine so verfasste Gesellschaft gilt nach herrschender Überzeugung als modern, verabschiedet sie doch die Vorstellung einer angeblich reaktionären “Leitkultur” zugunsten der Idee einer multiminoritären Gesellschaft, in der das, was als sozial verbindlich gilt, immer aufs Neue ausgehandelt wird.

Die Stammesgesellschaft der Minderheiten hat verloren

Das ist ein höchst prekäres Projekt, da dabei der gesamtgesellschaftlichen Bindekräfte sehr gelockert und zugleich die partikularen Bindekräfte innerhalb der diversen Minderheiten gefestigt werden. Am Ende etabliert sich eine Gesellschaft von rivalisierenden Stämmen, die ihre Ansprüche aggressiv gegeneinander stellen. In erbittert ausgefochtenen Kulturkriegen geht es um die Durchsetzung von Deutungsmacht über die Geschichte und um die Umformung der Lebenswelten aller nach den universalistisch camouflierten, in Wirklichkeit aber höchst partikularen “Werten” des jeweils kampfstärksten Akteurs. In Bündnissen wie der berühmten “Regenbogenkoalition” der US-Demokraten kann der Kampf aller gegen alle zumindest zeitweise begrenzt werden. Dies gilt so lange,wie die Phantasieformel vom zentralen Gegensatz zwischen einer Vielfalt von unterprivilegierten Minderheiten und einer privilegierten Mehrheit als plausibel gilt. Diese imaginierte Konfrontation befeuert ideologisch den gemeinsamen Kampf als historische Mission einer großen Emanzipation und eröffnet, sofern der Gegner über hinreichende materielle Ressourcen verfügt, die Aussicht auf Beute im staatlich geregelten Verteilungskampf.

Das funktioniert freilich nur, wenn jener Gegner stillhält, wenn er durch hypermoralisch induzierte Schuldgefühle den politisch-sozialen Kontrollverlust als ebenso gerechtfertigt hinnimmt wie sein Pflicht, die “Befreiung” der Minderheiten aus allen Formen der Abhängigkeit und Unterdrückung auch freigiebig zu alimentieren.

Auf jeden Fall darf sich die privilegierte Mehrheit nicht selber so organisieren und artikulieren, wie es jeder Minderheit erlaubt ist. Schon der Gedanke, dass die Mehrheit legitime Eigeninteressen hat und dass sie mit Recht nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihre Lebensformen verteidigen will, steht unter Verdacht. Die Instrumente von Einschüchterungs- und Zwangsapparaten, die man als “politische Korrektheit” und “Anti-Diskriminierungsgesetze” kennt, machen aus diesem Verdacht ein wirksames Kontrollregime.

Die multikulturelle Minoritätengesellschaft, so wie sie bisher konstruiert und etabliert ist, verlangt also die hochselektive Anwendung ihres Grundgesetzes. Sie erlaubt eben gerade nicht allen, sich nach ihrer Herkunft, ihren Interessen und kulturellen Selbstverständlichkeiten zu organisieren. Der (und die) heterosexuelle, patriotische Weiße mit traditionellen Vorstellungen von Familie, Erwerbsleben und Eigenverantwortung darf die eigene “Identität” nicht oder nur sehr eingeschränkt als politisches Konzept gleichberechtigt vertreten.

Fünf vor Zwölf wachte die Mehrheit auf

Mit Donald Trumps Kampagne und seinem Wahlsieg ist diese merkwürdige Deformation beendet. Kurz vor Verlust des Mehrheitsstatus’ hat das “weiße Amerika” sich massiv artikuliert. Auch wenn der Bezug zur ethnischen Kategorie noch nicht offen ausgesprochen wird und werden darf, so ist sie doch das verbindende Element der Trump-Koalition: er sprach den weißen Arbeiter, der sich seine prekäre Lage als Globalisierungsfolge erklärt und im (farbigen) Einwanderer Konkurrenten sieht, ebenso an wie den älteren Angehörigen des weißen ländlichen Mittelstands, der seine tradierten Lebensformen bedroht glaubt. Herausfordernd für Trumps Gegner ist aber, dass die Werte, an denen man sich in diesen weißen Milieus orientiert, durchaus auch attraktiv sind für andere Ethnien. Immerhin stimmten auch 29% der Hispanics für Donald Trump. Und in den Berichten der US-Zeitungen tauchten immer wieder auch schwarze Anhänger des Kandidaten auf.

Die unausgesprochene Voraussetzung der Multikulti-Ideologie, nach der die weiße, an Herkommen und Konvention orientierte Mehrheit niemals dieselbe Identitätspolitik treiben darf, die Minderheiten selbstverständlich zugestanden wird, ist damit obsolet geworden und kann auch nicht mit der Rassismus-Keule erledigt werden.

Ob das nur eine erfolgreiche Mobilisierungsstrategie für den Wahlkampf war oder ob daraus eine Politik des neuen Präsidenten wird, ist noch unklar. Trumps Rhetorik hat jedoch Erwartungen geweckt , die nicht einfach wieder verschwinden werden. Eine “weiße” Identitätspolitik könnte dann vor allem politisch für Trump attraktiv werden, wenn er die Hoffnungen auf raschen wirtschaftlichen Erfolg nicht erfüllen kann. In jedem Fall werden die Kulturkämpfe härter. Darüber zu klagen haben freilich die am wenigsten Grund, die in den USA und auch hierzulande das hohe Lied von den Wonnen der multikulturellen Gesellschaft singen.

Heribert Seifert schreibt für die NZZ und andere.

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