Der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Community
Wie real ist real noch?
Von Christiane Linke
Spaß als Massen-Bewegung, oder sogar als Massenbetäubung. Die Community ist mittlerweile ein Muss. Dazu zu gehören ist für die meisten so wichtig wie Sauerstoff. Manche würden es sogar gerne mal wieder ohne probieren, finden aber vor lauter Verknüpfungen den Ausgang nicht. Dieser führt durch ein Labyrinth von Versuchungen und ungeahnten Hindernissen. Hat man keine Follower, früher Freunde, die hier aber nicht gemeint sind, dann ist man gesellschaftlich nicht existent. Das lernt man schnell und es prägt. Die relativ wahllose Zusammenführung von Fremden unter dem Vorwand eines gemeinsamen Interesses, scheint zeitgemäß. Hauptsache dabei sein. Ohne Smartphone ist man unsmart und gesellschaftlich nackt. Wie sagte Theodor W. Adorno so treffend: „So ist für die Ordnung gesorgt, die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben können, und die sonst leben könnten, werden draußen gehalten, weil sie nicht mitmachen sollen.“ Heutzutage gibt es keinen Tag, der nicht für einen Zweck herhalten muss. Bespaßung ist Massendroge. Bei der Unmenge an Festen, Spotveranstaltungen und anderen pseudo-gruppendynamischen Unternehmungen bleibt keine Zeit für Reflektion. Die Marketingmaschinerie weckt dabei Bedürfnisse, von denen man gar nichts wusste und verpasst allem ein hübsches Outfit. Hier Fähnchen, da Bändchen und wieder wo anders Aufkleber, um nur einige unspektakuläre Beispiele zu nennen. Einige kommen bereits nicht mehr mit und fordern die a.s.a.p. Entschleunigung. Aber was macht man dann mit der gewonnenen Freizeit. Wieviel Selbstorganisation und ungelenkte Kreativität traut man sich noch zu. „Wer rastet, der rostet.“ Und schon wieder passt Adorno, wenn ich dabei bin, mich selbst zensieren zu wollen: „Die Besonnenheit, die es verbietet, in einem Satz zu weit sich vorzuwagen, ist meist nur Agent der gesellschaftlichen Kontrolle und damit der Verdummung.“
Die organisierte Bespaßung lenkt ab. Sie schafft ein Gruppengefühl, das high macht. Jeder Einzelne in der Gruppe erhöht die Sichtbarkeit und vielleicht auch die Sicherheit. Quantität ist die gemeinsame Glücksformel. Aber es gibt auch einige Ausscherer, oder ewig Gestrige (was positiv gemeint ist) an den Orten der herbeigesehnten Entschleunigung. Manch einer/eine von ihnen läuft durch wunderschöne Landschaften mit bezaubernden Tieren und palavert, entweder in ein Smartphone oder mit einem Mitläufer, und bekommt von der Umgebung nichts mit. Das Reale ist für manch einen vielleicht nicht gewohnt und zu unspektakulär, deshalb fotografiert man besser, um sich später daran erinnern zu können. Der Mann mit der Qualitätskamera steht an dem kleinen Teich und beschießt die Seerosen. Dabei entdeckt er bei all der Technik den eigentlichen Star unter den großen Blättern nicht. Der kleine Frosch lugt vorsichtig zwischen den Rosen hervor, schwimmt dann hurtig an den Beckenrand, macht einen blitzschnellen Sprung aus dem Wasser und schnappt sich ein Insekt. So schnell wie er aufgetaucht ist, verschwindet er auch wieder. Das würde ich mir auch für einiges andere wünschen.
Adorno würde es vielleicht so ausdrücken: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“
2016 © Christiane Linke
christianelinke22@gmail.com
Siehe auch:
- Transparent – die besondere Serie. Prädikat: wertvoll. Sehr gut gegen Mutlosigkeit
- Christiane Linke über Kunst im Museum Städel
- Shakespeare hat die Flüchtlingskrise vorausgesagt: Christiane Linke über Macbeth im Schauspiel Frankfurt
- Christiane Linke über die „Memoiren eines alten Arschlochs“ von Roland Topor
- Victoria – Film mit Sogwirkung
- Ein- und Ausdruck – Eine Erzählung von Christiane Linke
- Der Film „Im Labyrinth des Schweigens“ – Trailer, Rezension und Texte zum Film
- Buchkritik: Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
- Theaterkritik: Die Frau, die gegen Türen rannte