Kategorie-Archiv: Faschismus

Zur Analyse von Faschisierungsprozessen

Zur Analyse von Faschisierungsprozessen*

Die Faschisierung hat begonnen

Zur Analyse von Faschisierungsprozessen*

1. Arbeit am Material

„Viel zu zerreißend sind die Probleme, auf die wir Antwort suchen. Alles erhebt sich aus Zweifeln.“

(Haug 2016, 806)

Wolfgang Fritz Haug hat mit Der hilflose Antifaschismus im Jahr 1967 zum ersten Mal mit Denkmitteln der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse versucht, die sogenannte Vergangenheitsbewältigung deutscher Professoren, die zum Teil praktisch, zum Teil als ideologische Zuträger in den Nationalsozialismus verstrickt waren, analytisch aufzuschlüsseln. Die Grundlage seiner Materialanalyse waren mehr als 40 Vorlesungstexte aus den 1960er Jahren; Vorlesungen, gehalten, um beizutragen „zur Aufklärung der Ursachen“ und um dafür zu sorgen, „dass so etwas nie wieder geschehe“ (Haug 1987, 31). [1] Seither hat er zu Faschismus/Antifaschismus, zu Rassismus/Antirassismus und zu vielen angrenzenden Themen Material gesammelt, bedacht und bewertet: „Entscheidend ist das Sich-Einlassen auf die untersuchten Diskurse, ihre Dekonstruktion … und die Umorganisierung der herausgelösten Diskurselemente, kurz: die Materialanalyse“ (ebd., 12). Ausgehend von seiner Gramsci-Lektüre untersucht Haug in der von Material (aus Psychiatrie, Psychologie, Alltagsdokumenten, Ratgeberliteratur etc.) überquellenden Studie zur Faschisierung des bürgerlichen Subjekts (1986) den politischen Erfolg der deutschen faschistischen Bewegung und Partei. Dieser kann durch die Gewaltpolitiken alleine nicht erklärt werden. Die Gewalt der Faschisten vor und nach der Machtübergabe durch den bürgerlichen Block stellt „lediglich den Rahmen dar, innerhalb dessen die Faschisierung der Subjekte eine ‚tagtäglich von jedem Individuum in vielen Formen, mit vielen Techniken, unterstützt von Ratgebern und Mitteln aller Art ausgeübte Praxis ist‘“ (Haug zit.n. Weber 1999, 144). Haugs begriffliches Instrumentarium und seine Art, das Material zu ordnen, um die Logik einer Sache verstehen zu können, sollen – zusammen mit Passagen aus seinem jüngsten Werkstattjournal (2016) – genutzt werden, um die drängenden aktuellen Fragen zur politischen Einordnung und zur Gefahr von Pegida und AfD richtig zu stellen und Antworten zumindest ansatzweise geben zu können: Ist die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg der Faschisierung? Wie reagiert die „bürgerliche Mitte“, wie die Linke auf die neue völkisch-nationalistische Bewegung? Welche konzeptiven Ideologen arbeiten auf welche Art und Weise an einer solchen Faschisierung mit?

2. Faschismus. Faschisierung

„Der klassische Faschismus ist nicht wiederholbar.“

(Ibarra 1999, 163)

Um die Frage nach einer etwaigen Faschisierung beantworten zu können, müssen die Begriffe klar werden: Was ist mit Faschismus und was mit Faschisierung gemeint? Die Auswahl der Begriffe birgt mehr in sich als definitorischen Zweck. Begriffe und ihre Bedeutungen können zu eingreifendem Handeln befähigen, sie können „Träger von Hoffnung wie von Verzweiflung“ sein. Träger von Hoffnung werden Begriffe dann, wenn die Subjekte mit ihnen die Verhältnisse als veränderbare begreifen und denken können: als historisch gewordene und damit auch durch individuelle, kollektive und institutionell eingebundene politische Kämpfe zu überwindende Verhältnisse. In Zeiten von durch Exil bedingter Ohnmacht – was sein Eingreifen in politische Verhältnisse seiner Heimat betrifft – schreibt Bertolt Brecht der Verwendung richtiger Begriffe eine entscheidende Bedeutung zu: „Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann“ (Brecht 1967, 1461).

Wenn Faschismus ein Epochenbegriff ist, wenn er eine historische Phase in verschiedenen Ländern Europas bis 1945 bezeichnet, so kann es bei der Verwendung des Faschismusbegriffs nicht darum gehen, ihn als moralisch aufgeladene Metapher gegen politische Gegner zu verwenden, sondern als Folie, auf der Vergleiche zu ziehen sein könnten. Obwohl es eine Vielzahl von – standpunktabhängigen – Faschismusdefinitionen gibt, kann „inmitten dieses Durcheinanders“ (Ibarra 1999, 149) in Bezug auf Form, Inhalt und Funktion benannt werden: Er ist eine „Art moderner, auf Massen gestützter reaktionärer Cäsarismus, bei dem der Staat große Segmente der Zivilgesellschaft zu Teilen seiner eigenen Organe macht. Zugleich assimiliert er einen Teil der Forderungen der subalternen Klassen und stellt damit eine Variante der ‚passiven Revolution‘ dar, die die Produktivkräfte … zu modernisieren versucht“ (ebd., 161). Diese strukturelle Darstellung – auf Gramsci basierend – sagt auch, dass dem „Faschismus als Regime notwendigerweise der Faschismus als Bewegung vorausgehen“ (ebd.) muss, damit über diese Form der Bewegung für die staatlichen Regierungen eine Massenhegemonie erzielt werden kann. In den Worten des Projekts Ideologie-Theorie (PIT 2007): Neben der terroristischen und gewaltförmigen Seite des Faschismus (die alleine nie zum politischen Erfolg führen kann) geht es um die „selbsttätige Einordnung der Individuen in die gesellschaftliche Ordnung“ (PIT 2007, 25), ideologische Subjektion oder auch freiwillige Unterwerfung genannt. Ideologie wird dabei nicht als Glaubensgebäude gedacht, sondern als diejenigen „Praxen und Rituale, welche, in je spezifischer Anordnung, die ideologische Unterstellung als Tätigkeit organisieren“ (ebd.). Ideologische Unterstellung der Subjekte betrifft deren gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und damit den Bereich, den Haug „Kompetenz/Inkompetenz-Struktur“ nennt.

Es geht also um die Form, in welcher die neuen völkisch-nationalistischen Gruppen Subjekte und Gesellschaft zusammen- bzw. auseinanderdenken (ohne die Produktionsverhältnisse sowie den Staat zu vergessen). Die Nazis waren in der Lage, durch die ideologische Konstitution eines Gegenvolks die Handlungslogiken sowie die Kompetenzen in „eine Vertikale der Herrschaft“ zu drehen: Die Unterstellung derjenigen, die nicht Gegenvolk oder gar Volksverräter sind (Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle etc.), unter Führer, Partei und Staat war gleichzeitig mit subjektiven Kompetenzzuwächsen verbunden, welche innerhalb der Inkompetenz-Struktur verblieben. Die „strukturelle Passivierung“ (Haug 1993, 132) in Bezug auf gemeinschaftliches Befreiungshandeln bei gleichzeitiger Aktivierung innerhalb der (realen und symbolischen) Herrschaftsordnung ist die entscheidende Politikform der Nazis gewesen, die in den jeweiligen ideologischen Staatsapparaten unterschiedlich etabliert wurde.

Was die Inhalte faschistischer Bewegungs- und Staatspolitik betrifft, so fasst Ibarra diesen „generisch“ und ordnet dem Faschismus verschiedene Merkmale bzw. „Konstanten“ zu. Dazu zählen u.a. der Führerkult, der Antikommunismus, der Antiliberalismus, der Kult der Tat und derjenige der Gewalt usw.

Zur Analyse der Alternative für Deutschland (AfD) bezieht sich Andreas Kemper in seiner umfangreichen Studie zur AfD und insbesondere ihren thüringischen Landessprecher Björn Höcke ebenfalls auf eine generische Faschismusdefinition von Roger Griffin, die da lautet: „Faschismus ist eine politische Ideologie, deren mythischer Kern in seinen mannigfachen Permutationen (Vertauschungen, Umstellungen –kw-) aus einer palingenetischen Form populistischen Ultranationalismus besteht“ (zit. n. Kemper 2016, 12). Dabei denkt Griffin Faschismus als Ideologie, den er von „konkurrierenden Ideologien“ wie Kommunismus, Liberalismus etc. abgrenzt. Diese Ideologie gehe von einer immer dekadenter werdenden Gesellschaft aus, die nur durch eine radikale Erneuerung der organisch gedachten Nation (mit der Vision einer Neugeburt / Wiedergeburt = Palingenese) gerettet werden könne. Kempers Vorgehensweise besteht nun darin, dass er die jeweiligen Merkmale der Griffinschen Definition mit Zitaten aus Reden und Schriften Höckes „abgleicht“ und zu dem Ergebnis kommt, dieser sei ein faschistischer Ideologe. Nachvollziehbar an Kempers Methode, dass er die inhaltliche Seite faschistischer Politik (und damit den Bezug zu deutscher Geschichte) ins Spiel bringen will.

Problematisch an Kempers Entlarvungsmethode ist, dass er die sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge ebenso ausblendet wie die realen Rituale und Praxen, welche einerseits von Pegida (und verwandten Bewegungen) sowie der AfD ausgeübt und für eine neue Gesellschaft vorgeschlagen werden. Ideologiekritik verkommt hierbei zu reiner Wort- und Bedeutungsabgleichung, die aber weder etwas aussagt über die Vergangenheit noch über die aktuelle Bedrohungslage. Wenn Haug schreibt: „Die Soziogenese von Faschismus muss gedacht werden, sonst wird man blind in der Gegenwart und selbstgerecht gegenüber der Vergangenheit“ (2016, 485), so verfehlt Kemper dieses Ziel. Ein Beispiel: Kemper entdeckt in Höckes Reden die immer wieder verwendete Formel vom „Mehltau der politischen Korrektheit“ (ebd., 17). Dann erklärt er, dass Mehltau eine biologistische Metapher sei (parasitärer Pilzbefall von Pflanzen), parallelisiert diese mit dem Begriff „Krebsgeschwür“, von dem die Nationalsozialisten sprachen (ebd., 92) und kommt zu dem Schluss, Höcke sei ein Faschist. Bedeutender als die Verwendung einer biologischen Metapher ist aber, in welchem Zusammenhang der Mehltau-Begriff Verwendung findet und wie er für die ZuhörerInnen und LeserInnen von Höckes Beiträgen zu deren subjektiver Handlungsfähigkeit beiträgt. So übersieht Kemper völlig, dass nicht die Mehltau-Metapher die „Stärke“ von Höckes Argumentation ist, sondern seine Kritik an der in Deutschland vorherrschenden politischen Korrektheit, [2] welche die deutschen Subjekte als totalitär empfänden. Dazu Haug: „Was greift die Rechte unter dem Namen Political Correctness an? Zunächst ein bestimmtes Politikmuster, das seit den 1980er Jahren zusammen mit den Identitätspolitiken in der Linken immer mehr an Boden gewonnen hat: Es lässt sich beschreiben als ein Rückzug aus der Politik in die Moral, ja, aus der praktizierten Moral in moralische Sprechweisen“ (1999, 87). Die denunziatorische Kritik an von PolitikerInnen vorgeschlagenen oder in Gesetze gegossenen Denk-, Sprech- und Handlungsweisen (wie z.B. Regeln über nichtausgrenzenden Sprachgebrauch an Hochschulen, Vorschläge zur Einführung fleischloser Tage in Betriebskantinen, Anerkennung der Adoption von Kindern nicht nur durch heterosexuelle Eltern etc.) nimmt den Platz analytischer Kritikbegriffe ein, welche das Kritisierte in seinen jeweiligen Zusammenhängen (und damit polit-ökonomisch und antikapitalistisch) be- und angreifen könnten.

3. Vergleiche

„Man kann alles mit allem vergleichen, sicher.“

(Jelinek 2016, 21)

Auffallend ist, dass kein Medium (mit Ausnahme von Konkret) die derzeitige Situation mit dem Aufkommen des deutschen (oder des europäischen) Faschismus bzw. mit der Bewegungs- und Parteiphase der NSDAP in Bezug setzen will, um damit das zu leisten, was der „Franziskus der deutschen Politik“ (FAZ 22.6.2015), Joachim Gauck, tagaus und tagein fordert: Wir sollen aus der Geschichte lernen. Bei Gauck heißt das: vergessen was war, weil die Deutschen inzwischen die Musterschüler in „Aufarbeitung“ der Vergangenheit seien. Um Gewinn aus einem Vergleich zwischen dem Aufkommen völkisch-nationalistischer Bewegungen und Parteien heute und dem Entstehen faschistischer Bewegungen in den 1920er Jahren zu schlagen, wäre die jeweilige ökonomische Situation, die soziale Lage der Subjekte, die Rolle des Staates und der bürgerlichen Parteien, der Medien etc. in den Blick zu nehmen, um Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede herauszuarbeiten.

In der Neuen Zürcher Zeitung plädiert Ulrich M. Schmid, Russlandspezialist und Suhrkampautor dafür, jeglichen Bezug zum Faschismus zu unterlassen. Auch „neofaschistische Gruppierungen“ könne man nur dann als solche bezeichnen, wenn „sie sich selbst auf das historische Vorbild ihres nationalen Faschismus beziehen“ würden (NZZ 18.4.2016). [3] Siegmar Gabriel, SPD-Chef, wagte im Juni 2016 den Vergleich zwischen AfD-Funktionären und den Nazis: „Alles, was die erzählen, habe ich schon gehört – im Zweifel von meinem eigenen Vater, der bis zum letzten Atemzug ein Nazi war“ (ND 13.6.2016). Anstatt den produktiven Gedanken Gabriels aufzunehmen und Inhalte, Form und Funktion der AfD-Politik in Bezug zur Faschisierung Deutschlands in den 1920er Jahren zu setzen, kontert das Neue Deutschland mit einem Gabriel-Bashing, das weder die AfD-Positionen kennt noch etwas über die Entstehungsphase von SA, NSDAP und anderen NS-Organisationen wissen will: „Gauland und Konsorten mit den Nationalsozialisten zu vergleichen, … ist falsch. Jedem, der zwischen 1933 und 1945 nicht blond und blauäugig war, drohte der Weg ins Konzentrationslager“ (ebd.). Um Pegida, AfD und andere aufkommende Bewegungen in ihrer Bewegungs- und Parteiförmigkeit zu verstehen, sind der deutsche Faschismus und die NS-Politik gerade nicht von ihrem Ergebnis her zu denken, sondern in ihrer Soziogenese. Auch die vom ND mit falschen Inhalten formulierte „Einmaligkeit“ einer faschistischen Vernichtungspolitik in der Weltgeschichte hat einen Anfang, den es zu studieren gibt.

Hilfreicher als der Versuch alleine, NS-Ideologeme und –praxen mit denjenigen der aktuellen völkisch-nationalistischen Gruppen zu vergleichen (um Identitäten festzustellen) wäre es, den Faschisierungs-Begriff zu nutzen, um das Feld zwischen „einem Gerade-Noch demokratischer Regelung und dem Noch-Nicht faschistischer Politik“ (Weber 1999, 146) auszuloten. Die Verwendung des Faschisierungs-Begriffs „ist denkbar im Sinne einer sensiblen Suchbewegung: einerseits um politische Projekte wahrzunehmen, die gewaltförmige und repressive Lösungen gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche propagieren und durchsetzen. Andererseits um die Aufmerksamkeit auf staatliche und institutionelle Dispositive zu lenken, welche zur Unterwerfung oder Unterstellung der Subjekte im Rahmen dieser gewaltförmigen Organisierung der Gesellschaft beitragen“ (ebd.). Damit wäre es möglich, aktuelle Gefahren der scheinbaren gesellschaftliche „Normalität“ in Hinblick auf eine Drehung ins Faschistische zu erkennen. Sowohl die Formen faschistischer Politik in den 1920er und 1930er Jahren als auch deren Inhalte wären also zu studieren, um aktuelle Gefahren zu erkennen. Als weitere analytische Begriffe könnten dabei (neben dem Verhältnis von Kompetenz/Inkompetenz und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit) Überlegungen zum „entfremdeten Protest von unten“, zu „sekundären Klassenkämpfen“ als Folgen neoliberaler Politiken, zu „subjektiven Formen der Widerspruchsverarbeitung“ hilfreich sein, um die ideologischen Angebote der neuen rassistischen und völkischen Bewegungen zu verstehen und ihnen zu widerstehen.

4. Material: Ordnung & Analyse

Die Frage stellt sich, wie der Staat (plus die ideologischen Staatsapparate) und die herrschenden Kräfte sich zu den neofaschistischen Bewegungen verhalten. Von der Mainstream-Presse weitgehend verleugnet oder ignoriert werden die mehr als tausend Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015; ab und zu schafft es eine Meldung bei spektakulären Einzelschicksalen auf die Titelseite. [4] Die Zahl von 345 im Jahr 2015 von Neonazis und rassistischen Tätern verletzten Flüchtlingen (in Deutschland wohnende Nichtdeutsche nicht mitgerechnet) hat die Antirassistische Initiative Berlin errechnet (ND 12.5.2016), elfmal soviel wie im Jahr 2013. Die Polizei ermittelt bei neofaschistischen Straftaten entweder gar nicht oder in bewährter Manier – je nach Bundesland. In Sachsen und Bayern werden – im Gegensatz zu antifaschistisch emgagierten Personen – Neonazis, Pegidaanhänger und Mitglieder der identitären Bewegung weitgehend unbehelligt gelassen; das grün-rote Baden-Württemberg unter seinem Ministerpräsidenten Kretschmann hat zum AfD-Parteitag in Stuttgart Anfang Mai tausende von Polizisten aufmarschieren lassen, um die Gegendemonstranten verfassungswidrig einzukesseln. Wie immer konnten die Eingekesselten über mehrere Stunden ihre Notdurft nicht verrichten, Zuckerkranke konnten auf wichtige Medikamente bzw. auf nötige Ernährung nicht zugreifen, weil ihnen alle Gegenstände abgenommen wurden.

Es gäbe eine Unmenge an Daten, Geschichten und Erzählungen zu berichten, mit denen unsere Empörung unendlich wachsen würde. Notwendig ist aber, das vorhandene Material zu sichten, zu ordnen und analytisch in Hinblick auf die Faschisierungs-Frage auszuwerten. Doch das Material selbst ist voller Widersprüche. Auch das Ordnen gibt kein kohärentes Bild: Das mag daran liegen, dass die Sache selbst (der Faschisierungsprozess) keineswegs vollständig und zusammenhängend ist. Skizzenhaftes, Gedankensplitter und Notizen bestimmen die Analyse also mehr als vollständige Klarheit. Doch klar ist, dass wir für das Ordnen des Materials Faschismustheorie(n) und Faschisierungstendenzen und -logiken aus unserem „historischen Gedächtnis“ vorab theoretisch klären müssen, um das getrennt Auftretende in (s)einem Zusammenhang erkennen zu können.

Bewegung / Partei / Führung

Mitte März 2016: Nach großen Erfolgen bei Landtagswahlen (Rheinland-Pfalz 12,6 %, Sachsen-Anhalt 24,2 %, Baden-Württemberg 15,1 %) ist die AfD dabei, die Frage der Parteiführung zu klären und die inhaltliche Ausrichtung festzulegen. Inhaltliche Widersprüche und personelle Kämpfe im völkisch-nationalistischen Lager sind die Folge. Die FAZ glaubt zu wissen, dass die AfD hier nicht professionell vorgehe, sondern „die Funktionäre einfach Fehler“ (FAZ 31.5.2016) machten.

Der Landtagsabgeordnete der AfD in Thüringen, Hans-Thomas Tillschneider, spricht als erster Abgeordneter auf einer Pegida-Kundgebung: „Es sei die Pflicht eines jeden Deutschen, sich gegen die Islamisierung zu wehren und die Islamverbände in die Schranken zu weisen, anderenfalls werde Deutschland über kurz oder lang untergehen“. Kurz darauf schlägt Tillschneider den inzwischen vorbestraften Pegida-Gründer Lutz Bachmann (Kriegsflüchtlinge hat dieser als „Viehzeug“, „Dreckspack“ und „Gelumpe“ bezeichnet) für das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse vor (FAZ 11.5.2016).

Die AfD-Bundesvorsitzende Petry kommt am 20. Mai 2016 auf Einladung des Zentralrats der Muslime nach Berlin. Vorab stellten mehrere AfD-Funktionäre Bedingungen für ein solches Gespräch. Petry und ihre zwei Begleiter brechen das Gespräch ab, weil die Fragen der Muslime „diskriminierend“ gewesen seien und sie zu einer Debatte nicht bereit waren. Aber sie hätten Mayzek (dem Vorsitzenden des Zentralrats) eine „Lektion erteilt“ (FAZ 24.5.2016).

Volk / Gegenvolk

Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel (SPD): Im Gespräch mit der Bildzeitung fordert er, „‚alle Möglichkeiten des Rechts‘ auszuloten, ‚um kriminelle Asylbewerber in ihre Heimat zurückzuschicken‘. Sollten sich afrikanische Staaten weigern, diese aufzunehmen, müssten sie unter Druck gesetzt werden: ‚Entweder ihr stellt euch der Verantwortung, oder wir kürzen euch die Entwicklungshilfe‘“ (Konkret 4/2016, 13).

„Sonst ist die Folge, dass Kinder in einem Umfeld aufwachsen, wo kein Deutsch mehr gesprochen wird. Wie soll da Integration gelingen“ (Sahra Wagenknecht, 11.3.2016 Berliner Kurier).

Auf dem Stuttgarter Parteitag der AfD ruft der Bundesvorsitzende der AfD, Jörg Meuthen: „Wir wollen weg von diesem links-grün verseuchten Achtundsechziger-Deutschland“ (SZ 2.5.2016).

Anfang Juni 2016 rücken die Bücher des baden-württembergischen AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Gedeon schreibt darin „Wie der Islam der äußere Feind, so waren die Ghetto-Juden der innere Feind des christlichen Abendlandes … Der vormals innere geistige Feind des Abendlandes stellt jetzt im Westen einen dominierenden Machtfaktor dar, und der vormals äußere Feind des Abendlandes hat via Massenzuwanderung die trennenden Grenzen überrannt“ (FAZ 4.6.2016). Der AfD-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Meuthen, will Gedeon wegen antisemitischer Äußerungen aus der Fraktion ausschließen; die Bundesvorsitzende Petry stützt Gedeon mit der Forderung nach „geordneten und seriösen Formen der Aufklärung“ (FAZ 20.6.2016). Die Entscheidung wird vertagt, ein Gutachten soll klären, ob das von Gedeon Geäußerte Antisemitismus sei.

Alexander Gauland, stellvertretender Bundesvorsitzender der AfD, äußert sich zum Thema Fußball und einem Nationalspieler, Jerôme Boateng: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“ (FAZ 1.6.2016). Meuthen, ebenfalls Bundesvorsitzender, springt Gauland am nächsten Tag bei und schreibt, dieser sei „komplett falsch verstanden“ worden: „Die AfD fiebert mit der deutschen Nationalmannschaft mit und ist stolz auf alle Spieler, die unser Land repräsentieren“ (FAZ 30.5.2016.). Doch Gauland wurde nicht falsch verstanden. Er legt am nächsten Tag per E-Mail an die „lieben Parteifreunde“ nach: Es sei ihm um den „ungebremsten Zustrom raum- und kulturfremder Menschen“ gegangen (FAZ 1.6.2016).

Leitartikel der FAZ mit dem Titel Erdogans Blutbild: „Am Anfang der Integration muss ein eindeutiges Bekenntnis zu diesem Land stehen. Wer das nicht ablegen will, kann nicht Deutscher werden, so gut er auch die Sprache sprechen und Grundgesetzartikel herunterbeten mag“ (FAZ 7.6.2016). Statt eines Bluttest fürs Deutschsein ein Gesinnungstest, der die Anhörung bei den Berufsverbotsbefragungen weit übertrifft: Das Subjekt soll im Innersten ausgeleuchtet werden.

Resonanzverhältnisse: Parteien / Medien

FAZ 31.3.2016, nach den Landtagswahlen: „Doch die Ergebnisse sollten und müssten überall die Handschrift nicht nur jener Wähler tragen, die sich darum sorgen, dass Fremde hier eine neue Heimat finden. Zu bedenken sind auch die Sorgen jener, die der Gedanke quält, dass ihnen die alte Heimat fremd werden könnte.“

FAZ 29.4.2016, Leitartikel: „Vieles, was die AfD zusammengetragen hat, würde ernsthaft diskutiert, käme es von einer Partei, die ihre Demokratie-Festigkeit schon unter Beweis gestellt hat. Die AfD muss die Zweifel an ihren lauteren Absichten erst noch ausräumen. Das schließt aber nicht aus, ihre Ideen vorbehaltloser daraufhin zu überprüfen, ob sie das Land voranbringen können.“ Heike Göbel, Wirtschaftsredakteurin der FAZ, versteht unter „Land voranbringen“, den Reichtum derer zu mehren, die schon genug haben, und diejenigen, die unter den Produktionsbedingungen leiden, so wenig wie möglich zu geben, um sie zu aktivieren. Man/frau lese genau: Die AfD hat lautere Absichten – die Zweifler und die Zweifel an diesen Absichten sind es, die zu bekämpfen wären.

CDU-Generalsekretär Tauber, 3.5.2016: „Aus unserer Sicht ist die AfD eine Anti-Deutschland-Partei, weil sie die Werte mit Füßen tritt, die unser Land groß, stark und erfolgreich gemacht haben“ (FAZ).

FAZ 3.5.2016: „Die AfD setzt auf Abgrenzung und Angst. Doch reicht es nicht, das Mantra entgegenzusetzen, vor dem Fremden müsse man keine Angst haben. Die gibt es aber nun einmal, und sie ist mitunter auch nicht unbegründet“.

Süddeutsche Zeitung 7.5.2016: „In München will der Wirt des Hofbräukellers die AfD-Chefin Frauke Petry nun doch nicht in seinen Saal lassen. Das mag vielen sympathisch sein, ist aber kein allgemeingültiges Rezept, immerhin ist die AfD eine Partei im demokratischen Spektrum“.

FAZ 24.5.2016: „Diese Menschen treibt nicht eine Freude am Scheitern um, sondern die Angst davor: dass die märchenhaften Pläne zur Integration nicht aufgehen.“

Staatspolitik als Faschisierungsmotor

Afghanistan als sicheres Herkunftsland. Der deutsche Innenminister, de Maizière, erklärte, es „gebe am Hindukusch genügend ‚sichere Gebiete‘, in denen es sich gut leben lasse. Vorangegangen war ein Besuch de Maizières in Afghanistan, in dessen Verlauf sich die Kabuler Regierung nicht nur zur ‚Eindämmung des Migrationsdrucks‘ bereit erklärte, sondern auch zur ‚Rücknahme ihrer Staatsangehörigen‘“ (Konkret 4/2016, 14).

„Haltet den Dieb“ schreit er, das gestohlene Material verbergend. Innenminister de Maizière, arbeitend an der Faschisierung des deutschen Staats, stellt eine „Teilverrohung unserer Gesellschaft“ fest. Schuld daran seien nicht etwa die Neonazis und diejenigen, die Busse und Unterkünfte von Flüchtlingen anzündeten, sondern die „Flüchtlingskrise“ selbst. Diese hat „das Land polarisiert“ und die Ausübung von Gewalt erleichtert (Welt 28.5.2016). Was er nicht sagt: 23 000 Straftaten (Dunkelziffer nicht mitgerechnet) sind im Jahr 2015 von „rechten Gewalttätern“ verübt worden. Der Vorschlag des Innenministers: mehr Härte in Form von „Vermummungsverboten im Internet“.

Mitte Juni schlägt der deutsche Innenminister vor, eine „Wachpolizei“ einzurichten: Angedacht seien Kräfte, „die über eine Kurzausbildung verfügen und begrenzte Befugnisse haben, aber Uniform und Waffe tragen“ (FAZ 17.6.2016). Die FAZ sekundiert, indem sie einen Zusammenhang herstellt zwischen mangelndem Respekt vor dem Staat und dem besorgten Bürger, der ansonsten „sich denen zuwendet, die einen anderen Staat wollen“. Damit es dazu nicht kommt, „ein erster Schritt: mehr Polizei“ (ebd.).

Einen Tag später stellt der Innenminister fest: „Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden.“ Dass das Wissen um Abschiebung eventuell krank macht, ist für de Maizière unvorstellbar. Er unterstellt den Ärzten eine falsche Diagnose aus Humanitätsgründen (SZ 18.6.2016). Anstatt dem Innenminister deutlich zu machen, dass seine menschenverachtende und völkisch-nationalistische Haltung bekämpft werden muss, kritisiert Jan Korte von der LINKEN gerade mal, es sei „schlechter politischer Stil, wenn der Innenminister mit frei erfundenen Statistiken arbeitet“. Das sei niveaulos (ND 18.6.2016).

Der Chefideologe der neuen „notwendigen Härte“ gegen Flüchtlinge, de Maizière, wirft den GRÜNEN „pure, sinnlose Ideologie“ vor, weil diese einer Abschiebung von Flüchtlingen aus den nordafrikanischen Staaten nicht mehr ohne weiteres zustimmen wollen (FAZ 18.6.2016).

„Normalisierung“

Stephan Löwenstein, FAZ-Korrespondent aus Wien, schreibt am 17. Juni über die Identitäre Bewegung [5] in Österreich. Dabei bezeichnet er von dieser Gruppe begangene Straftaten, die sie – mit Unterstützung der FPÖ – verübt, als „provokante und öffentlichkeitswirksame Aktionsformen“, von denen sie „Gebrauch mache“. Löwenstein kann es kaum ertragen, dass die von ihm insgeheim unterstützten Bewegungen und Parteien für ein völkisches und nationalistisches Österreich in ein braunes Licht gerückt werden könnten. So weist er umgehend darauf hin, dass die Aktionsformen der Identitären eigentlich „einst von Linken und Grünen salonfähig gemacht wurden“. Und wenn die faschistische völkische Gruppe ein Theaterstück von Elfriede Jelinek am Burgtheater in Wien sprengt [6] (Löwenstein verharmlost diesen Anschlag als „Unterbrechung“) und auf der Bühne – dort stehen gerade Flüchtlingskinder und spielen im Stück mit – Kunstblut verspritzt wird, Schauspieler und ZuschauerInnen geschlagen und Flugblätter mit dem Motto „Multikulti tötet“ verteilt werden, dann liegt für Löwenstein der Skandal nicht in der vorsätzlichen Körperverletzung oder darin, dass die Kinder eventuell retraumatisiert werden könnten, sondern darin, dass dies ja ein „erkennbares Zitat des Aktionskünstlers Hermann Nitsch [7]“ sei.

Eine Woche später enthüllt dieselbe Gruppe auf dem Dach des Burgtheaters ein Transparent mit der Aufschrift „Heuchler“ und wirft Flugblätter ins Publikum. Der FPÖ-Vorsitzende Strache begrüßt auf Facebook die Aktion am Wiener Burgtheater mit den Worten, er unterstütze die „friedliche Aktion“ und „teilt“ mit seinen friends ein Video der Aktivisten, das die Theateraktion zeigt. FAZ-Löwenstein bagatellisiert diese Unterstützungsaktion des FPÖ-Chefs für eine kriminelle Truppe: „Die FPÖ weist einige Berührungspunkte zu dieser Gruppierung auf“. Bereits Mitte Mai 2016 spricht sich Löwenstein dafür aus, „zu einem ‚normalen‘ politischen Umgang mit der FPÖ zu gelangen“ (FAZ 11.5.2016); zwei Wochen davor titelte die FAZ im Hauptkommentar auf Seite 1 zur FPÖ: „Rechts, aber nicht extrem“ (26.4.2016). Der Kommentar – Löwenstein als Autor – unternimmt es, die FPÖ (zusammen mit dem französischen Front National, dem belgischen Vlaams Belang, der niederländischen PVV und der italienischen Lega Nord) als „national“, nicht aber als „rechtsextrem“ einzuordnen. Selbst rechtspopulistisch – „was die FPÖ betrifft“ – sei „nicht ganz richtig“. Jeder Vergleich mit „Faschismus“ sei zu unterlassen: „Man sollte also die Nazi-Keule wegstecken und die konkreten politischen Absichten und Taten … unter die Lupe nehmen“.

Die Art und Weise, wie die FAZ (österreichische Medien bis hin zum ORF ebenfalls) die neofaschistische FPÖ „einhegen“ wollen, hat der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß benannt: Die einen hätten resigniert und defätistisch akzeptiert, dass die FPÖ die stärkste Partei werden wird, „die anderen reden sich die Sache schön, indem sie behaupten, die FPÖ wäre in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ angelangt und die Zeit der ‚Ausgrenzung‘ – ein Wort, das vom Jargon der FPÖ-Funktionäre ins alltägliche politische Vokabular übergegangen ist – habe endlich doch zu Ende gehen müssen“ (Gauß 2016). Wir sehen, dass die FAZ mit der FPÖ vorexerziert, was sie bei der AfD ebenfalls versucht: die Anerkennung völkischer, rassistischer und nationalistischer Ideologeme als Normalisierung der Demokratie in allen europäischen Ländern.

5. Faschisierungsprozesse

Soweit eine kleine Auswahl des Materials. Deutlich wird, dass von Produktions- und damit verbundenen Lebensweisen nicht (bzw. lediglich in Form der guten alten Verhältnisse) gesprochen wird. Der Faschisierungsprozess hat begonnen: Die Kapitalfraktionen haben sich kaum zu Wort gemeldet (Industriepräsident Ulrich Grillo kann „keinen Gefallen an der AfD finden, die gegen den Euro, gegen Freihandel und Globalisierung ist“ (FAZ 20.4.2016), ihre FAZ-Lautsprecherin Heike Göbel jedoch stellt fest: „In ihrem Programm bekennt sich die Partei zur Sozialen Marktwirtschaft und entwickelt Ideen, diese zu stärken. Manches überzeugt eher in der Richtung der Kritik als in der Lösung. Die AfD moniert die stark planwirtschaftliche Energiewende“ (FAZ 29.4.2016), ist also noch Hoffnungsträger für die neoliberale Wende und die Zerstörung des Sozialstaats. Was zu beobachten sein wird, sind die Faschisierungsprozesse in den „Regionalmächten des Ideologischen“ (W.F. Haug): der Angriff von Pegida und AfD auf neue Lebensformen, auf ideologische Staatsapparate wie Schule, Hochschule und Justiz. Es gibt erste Berichte über Elite- und Begabungsideologeme, über behindertenfeindliche Programmpunkte: „Körper- und geistig Behinderte sollten besser nicht gemeinsam mit vollständig gesunden“ Kindern lernen (Wahlprogramm Sachsen 2014) und über eine enge Zusammenarbeit mit der Identitären Bewegung sowie der sogenannten „Neuen Rechten“ um den Chefideologen Götz Kubitschek.

Die bürgerlichen Medien sind bereit, den neuen völkisch-nationalistischen Bewegungen und Parteien Platz zur Darstellung ihrer Positionen einzuräumen (allen voran die FAZ mit Gauland-Interviews etc.). Zugleich umrahmen konzeptive Ideologen wie Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk („Überrollung, Flutung, Invasion durch die Flüchtlinge“, die aus Ländern mit „Kampffortpflanzungen“ kämen), Herfried Münkler (wir Deutschen seien Angehörige einer „postheroischen Gesellschaft“) die Politiken von Pegida und AfD; bürgerliche Journalisten wie Heribert Prantl reden einem gesunden Patriotismus das Wort („Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt“), ohne sich an Bundespräsident Heinemanns subversive Antwort auf die Frage „Lieben Sie Deutschland?“ zu erinnern: „Ich liebe meine Frau“.

Das „Attraktive“ an AfD und Pegida ist, dass sie zu Bewegung und Handlung sowohl gegen „die da oben“ als auch gegen „die von draußen“ ermutigen und damit den Einzelnen die Möglichkeit geben, ihre Unzufriedenheit mit Ohnmachtserfahrungen sowie Ausgrenzungen im sozialen und ökonomischen Bereich zu artikulieren. Voraussetzung dafür ist die Unterstellung unter die Logiken „deutscher Werte“, die zwar keine Definition finden, aber Flüchtlinge, Schwule, Moslems u.a. von vorneherein ausschließen. Die Klassenverhältnisse, deren Stabilität unantastbar erscheint (Hartz IV versus minimale Erbschaftssteuer und keine Vermögenssteuer für die Reichen; Mindestlohn auf niedrigstem Niveau versus Steigerung der Managerboni ins Unermessliche etc.), werden ins Feld der Religion und der „kulturellen Unterschiede“ verschoben. Arbeitsplätze scheinen bei Ignoranz der kapitalistischen Verhältnisse bedroht durch „Flüchtlinge“ bzw. einen „Strom“ von Flüchtlingen, nicht von profitbringenden Betriebsverlagerungen oder arbeitsplatzeinsparenden Digitalisierungsprojekten (Industrie 4.0). Gewalt als Mittel von Politik wird zwar offiziell verneint – de Maizières Reden jedoch können kaum verbergen, wie wenig bedeutend für ihn Menschenleben sind, weil Kriegs- und Hungerflüchtlinge für „Deutschland“ eine Belastung darstellen. Der einst geäusserte Satz in Bezug auf Faschisierungstendenzen scheint sich zu bewahrheiten: Die Gefahr ist nicht so sehr, dass Neofaschisten das Innenministerium übernehmen, sondern dass das Innenministerium den Staat übernimmt.


Brecht Bertolt (1967). Flüchtlingsgespräche. GW Bd. 14. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S.1380-1515.

Figueroa Ibarra Carlos (1999). Faschismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd.4. Hamburg: Argument. S.147-165.

Gauß Karl-Markus (2016). Der Verrat an einem weltoffenen Land. FAZ 7.5.2016.

Haug Frigga (1997). Erinnerung, in: W.F. Haug (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 3 (Abbau des Staates-Avantgarde). Hamburg: Argument. S.401-422.

Wolfgang F. Haug (1986). Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspolitiken im deutschen Faschismus. Materialanalysen. West-Berlin: Argument.

Haug Wolfgang F. (1987). Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt. Hamburg/Berlin: Argument.

Haug Wolfgang F. (1993). Elemente einer Theorie des Ideologischen. Hamburg Argument.

Haug Wolfgang F. (1999). Politisch richtig oder richtig politisch. Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus. Hamburg: Argument.

Haug Wolfgang F. (2016). Jahrhundertwende. Werkstatt-Journal 1990-2000. Hamburg: Argument.

Jelinek Elfriede (2016). Warum Wut? Gespräch mit EJ. In: Münchner Kammerspiele (Hg.). WUT, Programmheft. München. S.16-21.

Kemper Andreas (2016).“… Die neurotische Phase überwinden, in der wir uns seit siebzig Jahren befinden“. Zur Differenz von Konservatismus und Faschismus am Beispiel der „historischen Mission“ Björn Höckes (AfD). Jena: Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen.

PIT (=Projekt Ideologie-Theorie) (2007). Faschismus und Ideologie (neu hgg. von Klaus Weber). Hamburg: Argument.

Weber Klaus (1999). Faschisierung, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd.4 (Fabel – Gegenmacht) Hamburg: Argument. S.142-146.


[1] Das Buch wurde 1987 neu aufgelegt. Hinzugekommen ist ein aktuelles Vorwort sowie ein Kapitel zu „Deutungskämpfen um Anti/Faschismus in der Zeit der ‚Spätgeborenen‘“ in der Ära des Bundeskanzlers Helmut Kohl.

[2] Kemper verortet die Entstehung der Verwendung von political correctness in den „sogenannten ‚cultur wars‘ bzw. ‚campus wars‘ der Vereinigten Staaten Anfang der 1990er Jahre (Kemper 2016, 20). Haug dagegen zeigt, wie Ende der 1980er Jahre in den USA die an Universitäten vorgebrachten Reformvorschläge, als amerikanische Kultur mehr als die „Werke weißer Männer“ zu verstehen, von der politischen Rechten als „Übel der demokratischen Pluralisierung mit dem Schlagwort der ‚Political Correctness‘ namhaft“ wurde (Haug 1999, 85).

[3] Für Schmid taugt „Faschismus“ als analytische Kategorie nicht, weil die Faschisten selbst keine „konkrete Definition lieferten“. Das Argument ist absurd. Bei der Definition eines Mörders im Strafrecht wird niemand daran denken, die Selbstbeschreibung des Mörders für seine Tat als Definitionskriterium dafür zu nehmen. Wie Schmid die realen Praxen des deutschen Faschismus denkt, zeigt sich daran, wie er die Konzentrations- und Vernichtungslager verharmlosend bezeichnet – als „gezielte Aggression gegen bestimmte Gesellschaftsgruppen in Hitler-Deutschland“ (NZZ 18.4.2016).

[4] Ein totes Kind am Strand, ein fast verbrannter Flüchtling, der sich schon weit im Assimilationslabyrinth vorgearbeitet hat, werden gerne zur Erzeugung kurz währender Empörung – am besten mit einem zu Tränen rührenden Bild – ins Blatt genommen. Innenminister de Maizière nach dem Türkeiabkommen, das die syrischen Flüchtlinge aus Europa fernhalten soll: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig“. Ertrinkende, an den Grenzen von Polizisten mit scharfer Munition „zurückgeschossene“ Menschen. Vorsätzliche Inkaufnahme von Toten zur Beruhigung der Nationalisten und Rassisten im eigenen Land. Die Opfer in de Maizières Satz sind die deutschen BürgerInnen, die etwas „aushalten“ müssen.

[5] Die Identitären tragen europaweit als Abzeichen einen gelben Hakenkreis auf schwarzem Grund. Das Signet entspricht dem griechischen Buchstaben Lambda (L), das ein Zitat aus dem Film „300“ ist, in dem 300 Spartaner gegen „gefühlte 300 000 Perser“ (SZ) für ein freies Griechenland den Opfertod starben. Die deutsche IB gründete sich mit explizitem Bezug auf Thilo Sarrazins Schrift Deutschland schafft sich ab.

[6] „Die Schutzbefohlenen“ heißt Jelineks Stück, das die EU-Flüchtlingspolitik „vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte seit Aischylos kritisiert“ (SZ 16.4.2016).

[7] Nitsch hat in den 1960 und 1970er Jahren mit seinen Blutorgien-Aktionen sowohl Kirchenleute als auch Tierschützer gegen sich und seine Kunstform aufgebracht. Als Künstler, der die herrschende Ordnung (emotional und bildlich) affirmiert, kann er sicherlich nicht betrachtet werden. Deshalb wird er in Löwensteins Kategoriensystem auf der Gegenseite der Identitären verortet.


* Dieser Text ist ein gekürzter Vorabdruck eines Artikels, der im nächsten Argument-Heft 318 erscheinen wird und im Anschluss an den Beitrag von Klaus Dörre die Debatte über Rechtspopulismus / Refaschisierung auf theoriekritik.ch fortsetzt.

Die wahnhafte Erfindung der Österreicher und der Palästinenser als Opfer-Kollektive

Ausgabe #10 vom 24.12.2008

Die Erfindung der Österreicher und der Palästinenser als Opfer-Kollektive: Rückblick auf ein Gedenkjahr

Die Trauer über den Tod Jörg Haiders trug in vielerlei Hinsicht surreale Züge. Die im öffentlichen Raum zur Schau gestellte innere Erschütterung hinterließ nicht nur den Eindruck, dass man hier den Abschied von Prinzessin Diana in den Formen des Kärntner Brauchtums nachgespielt hat. „Haider ist unsere Lady Di“, hieß es wörtlich und mit tränenerstickter Stimme. Aber er war eben mehr. So erinnerte das Staatsbegräbnis in Klagenfurt, live im Staatsfernsehen gesendet, zugleich an die Feierlichkeiten, mit denen Jassir Arafat vor einigen Jahren in Ramallah zu Grabe getragen wurde. Bei allen regionalen Unterschieden, die sich in Trachtenkleidern der verschiedensten Alpenregionen ebenso wie in Reminiszenzen ans Dritte Reich niederschlugen (die Kärntner Freiwillige Feuerwehr trug, merkwürdig verfremdet, kleine weiße Wehrmachtshelme), war da in den zahlreichen Interviews und Reportagen ein vergleichbarer Zustand panischer Reaktion und allgemeiner Verwirrung zu beobachten, der Bevölkerung, Massenmedien und politische Repräsentanten [1] einte wie sonst nur ein gemeinsamer Feind. Und darum fehlte auch hier nicht das Gerücht, dass eben dieser Feind dahinterstecken müsse, wenn der geliebte Führer das Zeitliche segnet; dass also der israelische Geheimdienst seine Hände im Spiel habe, wenn der schwer alkoholisierte Landeshauptmann nach dem nächtlichen Diskobesuch in den Tod rast. [2] Sein Ende war in diesem zweideutigen Sinn ein letzter Beweis seiner Volksnähe. Der Wahnsinn, der diese Nation im Innersten zusammenhält, schuf sich dann beim Begräbnis Luft in der Rede des designierten Nachfolgers in der Kärntner Partei. Darin nämlich hieß es unverblümt, Haider sei den „Opfertod für Kärnten gestorben“ (Neue Zürcher Zeitung, 20. 10. 08.).

Deutsches Blut in österreichischen Adern

Tausendjährige Nationen können innerhalb weniger Jahre entstehen – und kaum jemand wundert sich darüber. Österreichern und Palästinensern ist aber nicht nur gemeinsam, dass sie ihren Status als eigene Nation von heute auf morgen gewinnen konnten – und zwar nachdem sie sich erst einmal gegen die selbständige staatliche Existenz entschieden hatten: die Deutschösterreicher 1938, die palästinensischen Araber 1948. Beider nationale Identität ist zugleich aufs engste, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, mit der Leugnung der Shoa verbunden.

Der Zweiten Republik Österreich, die 1945 nach dem Einmarsch der Roten Armee ausgerufen wurde, ist eine Erste vorausgegangen, die ursprünglich Deutschösterreich hieß. Dieser Name, der durch den Friedensvertrag von Saint Germain in Republik Österreich abgeändert werden musste, verweist eben noch darauf, dass es bis 1938 zwar einen selbständigen österreichischen Staat, aber keine innere Anerkennung für ihn, also keine entsprechende Nation gab. Die populäre Formulierung, die man bis heute dafür hat, um die dann manifest gewordene, allgemeine Begeisterung für Hitler zu verharmlosen, lautet: der Staat, den keiner wollte.

Die Deutschösterreicher wollten – direkt oder indirekt und mit wenigen Ausnahmen, zu denen die Monarchisten zählten – den Anschluss an Deutschland, weil sie sich national als Deutsche verstanden. Die Sozialdemokraten waren darin noch entschiedener als die Christlichsozialen, die ab 1933 für sich in Anspruch nahmen, in Österreich den besseren deutschen Staat und den besseren Faschismus ins Werk zu setzen. Und Deutschland wurde als das „Reich“ schlechthin oder als „Altreich“ bezeichnet, ähnlich wie man heute in Deutschland von den alten Bundesländern spricht. Jean Améry hat beschrieben, wie unbehaglich diesem Österreicher, der keiner sein wollte, „in seiner Haut“ war: „Er hatte keine Achtung vor seinem Land – und darum niemals wirkliche Selbstachtung. Gehörte er der damals älteren Generation an, träumte er sich […] häufig zurück in die k. u. k. Monarchie. Die Jüngeren starrten seit 1933 in ihrer großen Mehrzahl gebannt hinüber nach Deutschland, ins ‚Reich‘; eine Minderheit nahm es ernst mit dem proletarischen Internationalismus. Keiner war eins mit sich und dem Alpenländchen.“ (Améry 2005, S. 556f.)

Die Existenz eines eigenen Staats war 1919 von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs durch das „Anschlußverbot“ oktroyiert worden. Die ganze Existenz dieses Staats wurde darum als Symbol für die Niederlage verstanden, und weil der Antisemitismus die bevorzugte Form war, die Niederlage zu verarbeiten, hat man dieses Österreich, das keiner wollte, gerne mit den Juden identifiziert. Es entsprach der Logik dieses Wahns, dass im März 1938 die nichtjüdischen Deutschösterreicher die jüdischen in unvorstellbaren Gewaltexzessen, die selbst die Volksgenossen im Altreich staunen ließen, dazu zwangen, die Gehsteige von den aufgemalten Parolen für ein selbständiges Österreich zu reinigen. Diese Parolen waren von der austrofaschistischen Regierung verbreitet worden, um den drohenden Anschluss zu verhindern. Bundeskanzler Schuschnigg hatte jedoch abgelehnt, das Land durch militärische Gewalt zu verteidigen – mit dem Argument, dass eben dies ein Bruderkrieg wäre: er wies das Militär an, keinen Widerstand gegen den Einmarsch zu leisten, weil „wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind“ (Zit. n. Scheithauer 1984, S. 59).

Tatsächlich war immer deutsches Blut in den österreichischen Adern geflossen, das heißt in den ideologischen Adern derer, die auf dem Territorium der Habsburgermonarchie lebten und deutsch sprachen. Sie sahen sich als Österreicher, so wie die Bayern als Bayern und die Preußen als Preußen: in Hinblick auf ihr Herrscherhaus. National aber definierten sie sich als Deutsche: Hofmannsthal verstand sich noch ebenso selbstverständlich als Deutscher wie Nestroy oder Mozart. Nach der Wiedergeburt des österreichischen Staats in Gestalt der Zweiten Republik figurierten jedoch diese Berühmten mitsamt der ganzen kulturellen Vergangenheit der Habsburgermonarchie plötzlich als Kronzeugen einer österreichischen Nation, die anzuerkennen die Bevölkerung umerzogen wurde. Und zu diesem Zweck, der an die Stelle der dringend nötigen Reeducation trat, datierte man sie auch gleich auf das Jahr 996 zurück, weil damals der Name „Ostarichi“ als ortskundliche Auskunft auf einer Schenkungsurkunde aufgetaucht war: Kaiser Otto III. schenkte dem Bistum Freising einen Hof mit 30 kleineren Bauerngütern „in regione vulgari vocabulo Ostarrichi“.

Palästina statt Israel

Geht man davon aus, dass bereits die Römer den Namen Palästina verwendeten, der ins Arabische als Falastin übernommen wurde, gibt es diese Nation sogar schon 2000 Jahre. Allerdings verstanden sich die auf diesem Territorium lebenden Araber immer nur als Araber, es gab nie einen palästinensischen Staat. Als Palästinenser wurden lange Zeit eher die Juden bezeichnet, die hier in kleinen Gemeinschaften – ebenso wie die spärliche arabische Bevölkerung – durchgehend seit Jahrhunderten siedelten oder – ebenso wie die Araber seit dem 19. Jahrhundert – in zunehmendem Maß hier einwanderten. Suchte man nach einer engeren nationalen Zuordnung der arabischen Bewohner, so nannte man nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches in erster Linie Syrien. 1937 äußerte Auni Bey Abdul-Hadi, der Vertreter der arabischen Seite gegenüber der Peel-Kommission, die eine Teilung bereits vorgeschlagen hatte, es gebe kein solches Land namens Palästina: „Palästina“ sei „ein Begriff, den die Zionisten erfunden haben! Es gibt kein Palästina in der Bibel. Unser Land war Jahrhunderte lang ein Teil von Syrien.“ (Zit. n. Jerusalem Post, 2. 11. 1991) Als Graf Folke Bernadotte 1948 von den Vereinten Nationen in den Nahen Osten entsandt wurde, um einen Waffenstillstand zwischen den arabischen Aggressoren und dem eben gegründeten Staat Israel auszuhandeln, musste er erstaunt feststellen, dass die palästinensischen Araber selber keinen eigenen politischen Willen und kein spezifisch palästinensisches Nationalgefühl entwickelt hätten: „Die Forderung nach einem eigenen arabischen Staat in Palästina wird folglich ohne großen Nachdruck gestellt. Es hat den Anschein, als wären die meisten palästinensischen Araber unter den momentanen Bedingungen recht zufrieden damit, Transjordanien angegliedert zu werden.“ (Zit. n. Bard 2002, S. 126) Und noch kurze Zeit nach der Gründung Israels sagte Ahmed Shuqeiri, jeder wisse, dass Palästina nichts anderes sei als das südliche Syrien. (Yaniv 1974, S. 5) Shuqeiri wurde dann zum Vorsitzenden der 1964 gegründeten PLO und rief in dieser Eigenschaft 1967 zum Heiligen Krieg gegen Israel auf.

Erst mit dem Krieg, der sogleich folgte, scheint die palästinensische Nation wirklich ausgebildet. Zunächst nur eine Waffe unter anderen in der Aufrüstung gegen Israel, bot sie schließlich die besten Voraussetzungen, auch die Niederlage im Sechstagekrieg zu verarbeiten. In den Worten von Ägyptens Präsident Nasser, der Shuqeiri innerhalb der Arabischen Liga zur Gründung der Palästinenser-Organisation aufgefordert hatte: es gehe der arabischen Seite um „die volle Wiederherstellung der Rechte des palästinensischen Volkes, Mit anderen Worten, unser Ziel ist die Zerstörung des Staates Israel. Unser unmittelbares Ziel dabei ist der Ausbau der arabischen Militärmacht, und unser nationales Ziel ist die Auslöschung Israels.“ (Zit. n. Bard 2002, S. 153)

Bernard Lewis hat im einzelnen ausgeführt, wie sich die neue Nation im internationalen Raum positionierte: Von 1967 an „spielte die PLO eine prominente, wenn nicht gar die führende Rolle im arabischen Krieg gegen Israel“: Während die arabischen Regierungen und Armeen „ein Bild der Niederlage und der Ohnmacht boten, schuf die PLO in scharfem Kontrast dazu ein neues Bild vom Araber als wagemutigem revolutionären Freiheitskämpfer, der allein gegen ungeheuer überlegene Kräfte kämpft anstatt, wie vorher, erfolglos gegen einen kleineren und schwächeren Feind.“ So wurde aus dem israelischen David, der kühn gegen den Goliath der Arabischen Liga kämpft, plötzlich ein jüdischer Goliath, der versucht, den PLO-David zu töten. Dieses neue Bild übte eine beträchtliche Wirkung in der westlichen Welt aus, „wo es der PLO und ihren Förderern zum ersten Mal seit der Geburt Israels gelang, einen großen Teil der öffentlichen Meinung, vor allem in den Medien und in der literarischen und akademischen Welt, von einer bis dahin proisraelischen Haltung abzubringen und für eine proarabische Haltung zu gewinnen. Das Argument, dass die Palästinenser eine Nation ohne Heimatland seien und daß die PLO einen revolutionären Kampf für die nationale Befreiung führe, trug viel zu dieser Entwicklung bei.“ (Lewis 1987, S. 226f.)

In postnazistischen Ländern wie Deutschland und Österreich war dieses „Argument“ vermutlich sogar das entscheidende Mittel, den Antisemitismus endlich „ehrbar“ (Améry) und „demokratisch“ (Jankélévitch) erscheinen zu lassen. Besonders aber in Österreich lag die Identifikation mit den Palästinensern auf der Hand.

Völkerfreundschaft

Die Voraussetzung für die beschleunigte Genese beider Nationen ist der ausgeprägte Opfer-Status. Die nach 1945 frisch gebackenen Österreicher stellten sich als das erste Opfer Hitlerdeutschlands dar. Mit diesem Gründungsmythos löschte die herrschende Ideologie des bald auch als neutral deklarierten Landes aus, wer zuallererst und in unbeschreiblichem Ausmaß die Opfer Hitlerdeutschlands waren, das die Österreicher als Täter, Mitläufer und Zuschauer ebenso mitgetragen hatten wie die übrigen Deutschen – wobei ihnen noch ein besonders hoher Anteil unter den Massenmördern der SS und der Lager zukommt.

Dem „Anschluss“ von 1938 und seiner Funktion für die Identität der Österreicher entspricht in der Logik des palästinensischen Opfermythos die „Nakba“. Durch die Ablehnung der Teilung, also die Sistierung eines eigenen palästinensischen Staats, und die konzertierte Aggression gegen den der Juden, wurde die palästinensische Identität gleichsam aufgeladen. Gab es allerdings davor bereits etwas wie eine Einheit arabischer Palästinenser, so war sie verbürgt und verkörpert von der Person des Großmuftis von Jerusalem, und eben dieser religiöse Führer hatte sich aktiv an der Shoa beteiligt. [3] Als sein Großneffe Arafat die Führung der neugeschaffenen Nation übernahm, waren alle Vorbereitungen getroffen, dass der Antizionismus auf internationaler Ebene Entsatz für die Schuldumkehr bieten konnte, die in den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs die ehemaligen Volksgenossen wie deren Nachwuchs beschäftigte – und die Opfer der Shoah als die Täter der Nakba wieder ins Schussfeld rückte.

In beiden Fällen handelt es sich jedoch auch um eine Ausgeburt dessen, was als Substantialisierung des Völkerrechts zu fassen wäre. Vom Standpunkt des internationalen Rechts aus gesehen, ist es durchaus korrekt, den Staat Österreich als das erste Opfer Hitlerdeutschlands zu bezeichnen. Der Standpunkt abstrahiert per definitionem davon, dass die Mehrheit der Deutschösterreicher sich als Teil der deutschen Nation verstand und für den „Anschluss“ war – und damit 1938 auch die Verfolgung und Ermordung der Juden befürwortete oder billigend in Kauf nahm. Es ist eben genau diese Abstraktion, aus der man die Substanz des österreichischen Nationalbewusstseins machte, die dann lediglich noch mit allerlei historischen Illustrationen eines tausendjährigen Österreich ausgestattet wurde. Wer wie Améry im Exil lebend, Österreich einen Besuch abstattete, konnte zu seiner Verblüffung Zeuge werden, „wie jeder einzelne Österreicher meinte, das historische Zufalls-Äquilibrium der beiden Supermächte, das dem Land eine gewisse Sicherheit und Unabhängigkeit garantierte, sei sein ganz persönliches Verdienst“. (Améry 2005, S. 562f.) Außenminister Leopold Figl sagte bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955: „Die Opfer, die Österreichs Volk in dem Glauben an seine Zukunft gebracht hat, haben nun ihre Früchte getragen.“ (Zit. n. Scheithauer 1984, S. 273)  Und Qualtingers ##Herr Karl## ergänzt: „Und dann is er herausgetreten … der … der Poldl und hat die zwa andern Herrschaften bei der Hand genommen und mutig bekannt: ‚Österreich ist frei!‘ Und wie i des g’hört hab, da hab i g’wußt: Auch das habe ich jetzt geschafft. Es ist uns gelungen – der Wiederaufbau“. (Qualtinger 1995, 181f.)  Der ideologische Coup war wirklich nur gelungen, weil es jene zwei anderen „Herrschaften“ gab, die zumindest darin noch übereinstimmten, dass Österreich einen Staatsvertrag bekommen und neutral werden sollte. Zusammen konnten sie als die beiden großen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in den internationalen, zwischenstaatlichen Verhältnissen auftreten wie der Souverän in den nationalen, innerstaatlichen. Das Interesse an der Selbständigkeit des Landes war auf sowjetischer Seite allerdings größer und älter: In gewisser Weise hatte Stalins Politik die österreichische Nation erfunden, aufbauend aufs Anschlussverbot der westlichen Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Gedacht als taktische Waffe gegen Deutschland, sollte sie über Stalins im Alpenland ansässige Partei, die KPÖ, und seine Diplomaten unters Volk gebracht werden – akzeptiert haben sie bis 1945 aber nur die kommunistischen und monarchistischen Widerstandskämpfer und die Exilanten, die ihnen politisch nahestanden. Die eben noch ostmärkische Bevölkerung erfasste dann jedoch recht bald den einzigartigen Vorteil, der sich aus dieser Nationwerdung für sie ergab: ihr Staat musste nicht als Nachfolgestaat des Dritten Reichs firmieren und konnte doch an den Erträgen der Vernichtung teilhaben. Der Zeithistoriker Ernst Hanisch drückt das so aus: „Abwägend formuliert kann wohl von einer Strukturverbesserung gesprochen werden. Die Startbedingungen für die österreichische Wirtschaft waren nach dem Zweiten Weltkrieg (trotz der enormen Zerstörungen) wohl günstiger als nach dem Ersten.“ (Hanisch 1994, S. 351) Aber als das nationale Bewusstsein prägte sich eben das Bedürfnis heraus, sich bei aller Strukturverbesserung „klein zu machen“, wie das Améry mit unnachahmlichem Gespür bemerkt hat, klein „und unscheinbar, klägliches und zum Beklagen einladendes erstes Opfer der Eroberungszüge Hitlers“ (Améry 2005, S. 562f.). Es fehlte wirklich nur, dass Österreich Wiedergutmachungsforderungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erhoben hätte. Warum aber Westdeutschland es offenkundig anstandslos akzeptierte, dass dieser Teil des Dritten Reichs sich aus der Verantwortung so einfach davonschlich, bleibt ein wenig rätselhaft. Vielleicht wollte man hier die idealen Bedingungen eines Erholungsortes für die von den Ansprüchen des Westens geplagte deutsche Seele bewahrt wissen.

Die palästinensische Sache hingegen litt darunter, dass hier keine gemeinsame Politik der Siegermächte, keine Überschneidung ihrer Interessen wie in Österreich, mehr zustande kam. Sie dennoch voranzubringen, war niemand besser geeignet als österreichische Politiker, die auch nicht lange zögerten. Nachdem er im Vernichtungskrieg der Wehrmacht auf dem Balkan seine Pflicht erfüllt hatte, betätigte sich das ehemalige Mitglied der SA-Reiterstaffel Kurt Waldheim dergestalt im Dienste der österreichischen Nation und zum Wohl der palästinensischen. In seine Zeit als UN-Generalsekretär fielen nicht nur die israelfeindlichen Resolutionen 332 (1973) und 452 (1979), er selber vermied es während des Jom-Kippur-Kriegs konsequent, den Angriff Syriens und Ägyptens zu verurteilen, und erst nach Umschwung des Krieges zugunsten Israels forderte er, das Feuer einzustellen. 1974 stellte sich Waldheim hinter den Auftritt Arafats vor den Vereinten Nationen, der ein Durchbruch in der weltweiten Anerkennung der palästinensischen Nation war. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vollversammlung, durfte der Chef einer Organisation auftreten, ohne zugleich einen Staat zu repräsentieren.

Waldheims Politik stand dabei im völligen Einklang mit der des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der Arafat, wie Robert Wistrich schreibt, „in den Regierungszentralen Europas salonfähig“ gemacht hat. (Wistrich 1987, S. 417) Es war der Einklang der österreichischen Nation, der sich nirgendwo so deutlich wie in der Nahost-Politik manifestierte. Bei allem, was sie trennen musste – sie entstammten ja nicht bloß konkurrierenden Parteien, der eine war vielmehr Täter und der andere Opfer gewesen, als es den österreichischen Staat nicht gab –, stimmten doch Waldheim und Kreisky mitsamt ihren Parteien, und nicht anders als FPÖ und KPÖ, grosso modo stets darin überein, das Bündnis mit Arafat und der PLO fast um jeden Preis zu suchen, und diese seltene Einmütigkeit war die logische Fortsetzung davon, über die Nazi-Vergangenheit der Österreicher zu schweigen oder zu lügen und ihre Täter zu schützen. Im Geiste dieser Kontinuität hatte Kreisky den Zionismus als eine „nachträgliche Aneignung von Naziideen unter umgekehrten Vorzeichen“ bezeichnet. (Zit. n. Wistrich 1979, S. 78-84)

Während der eine Österreich als Möglichkeit verstand, die einheimischen Nazis in Schach zu halten, indem man sie in die neue Nation integrierte, am besten als Mitglieder der eigenen Regierung, war es dem anderen die einfachste und billigste Lösung, über die eigene Vergangenheit sich hinwegzulügen. Beide arbeiteten im selben Maß daran, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Ländern auszubauen – der eine, um wenigstens innenpolitisch die Arbeitslosigkeit zu verhindern, die in seinen Augen automatisch die Wiederkehr des Faschismus zeitigen musste; der andere, um wenigstens außenpolitisch die Kontinuität des Faschismus fortzusetzen. Dieser nationalen Einigkeit entsprang schließlich das Phänomen Jörg Haider, der zunächst noch in den Fußstapfen des Dritten Reichs die österreichische Nation als „Mißgeburt“ bezeichnete, dann aber eilig – als wiederholte er den Schwenk des ersten Vorsitzenden der PLO – zum überzeugten Österreicher mutierte. Mit einiger Konsequenz nannte er schließlich seine Partei die „PLO von Österreich“ [4].

Es entspricht dieser inneren Verwandtschaft, daß umgekehrt Haider von vielen Arabern „der Löwe“ genannt wurde – wie die österreichische Zeitung Der Standard nicht ganz ohne Stolz berichtet. In seinem Buch Zu Gast bei Saddam. „Im Reich des Bösen“ (erschienen im März 2003!) erzählt der Kärntner Landeshauptmann davon, daß Saddam Hussein ihm bei seinem Besuch in Bagdad im Februar 2002 etwas anvertraute, worüber er „zu schweigen verpflichtet“ sei: „Aber es festigte die Einstellung, die ich zum Irak und zu den handelnden Personen gewonnen hatte.“ (Zit. n. Der Standard, 13.10.2008. Nun haben beide das Geheimnis mit ins Grab genommen – und doch kann sich jeder denken, daß es die Vernichtung Israels und die Entmachtung der USA betraf.

Das verfließende Nationalbewusstsein

Die PLO von Österreich und ihr Vorbild in Palästina können, jede auf ihre Weise, nur partiell reüssieren. Jene Gruppe, die einmal die Alleinvertretung der palästinensischen Nation, das imaginäre Gewaltmonopol, ganz selbstverständlich beanspruchen konnte, hat in Gestalt der Hamas einen geradezu unbesiegbaren Konkurrenten bekommen, der mittlerweile im Gazastreifen allein zu herrschen imstande ist. Sein Erfolg liegt darin, daß er wirklich den Kern der Nation offen zur Schau trägt: die Vernichtung Israels. So fließen ihm die Gelder aus der Islamischen Republik Iran reichlich zu.

Auch in Österreich kam es zu einer Spaltung und zu einem dramatischen Machtverlust jenes Mannes, der als eine Art Arafat der Alpen in die Geschichte eingehen wollte. Während Arafat nach außen hin nicht mehr als Terrorist sondern ganz staatsmännisch auftrat, suchte Haider das Image des Ewiggestrigen endgültig loszuwerden und gab sich so weltoffen wie Tariq Ramadan und Edward Said zusammen. Da der Kärntner Landeshauptmann nun aber in seinem Dienstwagen – als wär’s ein kleiner, rasender Führerbunker – den Tod fand, wird seine neue Partei, die ausgerechnet „Bündnis Zukunft Österreich“ (BZÖ) heißt, kaum mehr erfolgreich sein. Die Früchte der „Trauerarbeit“ – von der seine verwaisten Parteigenossen spontan gesprochen haben, als hätten sie Mitscherlich gelesen – wird die alte FPÖ ernten, die sich bereits zu Lebzeiten als geeigneter erwies, sein Erbe anzutreten. Wie die Hamas ist sie darauf spezialisiert, die nationalen Opfermythen zu pflegen, und in diesem Sinn versteht sie es, die Interessen der Nation gegen die Integration in die EU offensiv zu vertreten, um sie eben dort noch besser zu integrieren. [5]

So wie jedoch Hamas und PLO nicht die Fähigkeit verlieren, in der einen entscheidenden Sache jederzeit sich zu versöhnen, im Kampf nämlich gegen Israel, so stimmt auch die FPÖ mit allen Parteien, ob sie nun deutlich für die EU oder ein wenig gegen sie sind, in einem Punkt überein: die Geschäfte mit den Feinden Israels sich möglichst wenig durch Sanktionen zu verderben, und „Nie wieder Krieg“ zu schreien, wenn das Schlimmste durch Militäreinsätze verhindert werden könnte.

Es kehrt gleichsam das Innerste dieser Nation nach außen, daß ihr größtes börsennotiertes Industrieunternehmen, zugleich der führende Öl- und Erdgaskonzern Mitteleuropas, nun mit der Islamischen Republik Iran ins Geschäft zu kommen sucht – und Regierung wie Opposition diese Anbahnung decken. [6] Denn diese Nation entsprang in gewisser Weise auch den Ölförderanlagen, die im Zuge des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs ausgebaut wurden und die dem Land schließlich die zweitgrößte Erdölproduktion in Europa einbrachten. Zunächst konnte die Sowjetunion diese umfangreichen Ressourcen als ehemaliges „Deutsches Eigentum“ für ihre Zwecke nutzen, dann ging per Staatsvertrag dieses Erbe an die Republik Österreich über – und heute baut es mit an der großen Leitung, die dorthin reichen soll, wohin die Wehrmacht einst nicht mehr kam, um nebenbei zur Finanzierung jenes Krieges beizutragen, der gegen den Staat der Holocaust-Überlebenden geführt wird.

Anmerkungen:

[1] Vgl. hierzu die übersichtliche Darstellung in der Jerusalem Post, 19. 10. 2008.

[2] Wie im Fall Arafats misstraut man hartnäckig dem Obduktionsbefund. Die Einäscherung wurde verschoben, und es soll eine zweite Obduktion der Leiche in Auftrag gegeben worden sein. Dass nicht einmal darüber Klarheit herrscht, ob diese Obduktion wirklich stattfindet, macht das Gerücht über den Mossad unwiderstehlich.

[3] Vgl. hierzu Gensicke 1988.

[4] Haider z.B. in der Süddeutschen Zeitung, 18. 10. 1996.

[5] Améry hatte schon die besondere Kompatibilität des neuen österreichischen Nationalbewusstseins entdeckt, besaß es doch für ihn in der „umfassenden und leeren Toleranz etwas zutiefst Unglaubwürdiges“, da es nicht wie das französische „der Geschichte abgerungen“, sondern „vom Weltereignis auferlegt“ wurde und man es danach „zu einem Ehrentitel“ machte: Es würde „recht gut hineinpassen in ein Europa, von dem es heißt, es stehe schon im Begriffe, die Staaten-Nationen abzuschaffen und an deren Stelle die in einem europäischen Staaten-Verband sich vereinigenden Regionen mit deren Dialekten, deren Folklore, deren spezifischen Identitäten zu entdecken“ (Améry 2005, S.565).

[6] Wenn sich seit kurzem innerhalb der österreichischen Grünen und der „Österreichischen Volkspartei“ auch kritische Stimmen äußern, zeigt das umgekehrt, wo der Kern dieser Nation liegt: die FPÖ und Haiders BZÖ sind überhaupt für Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran, und in der SPÖ sieht nach wie vor niemand Maßgeblicher einen Anlass, das Geschäft in Frage zu stellen.

 Literatur:

Améry, Jean, Aspekte des Österreichischen, in: Werke, Bd. 7: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, hg. v. St. Steiner. Stuttgart 2005.

Bard, Mitchell G., Behauptungen und Tatsachen. Der israelisch-arabische Konflikt im Überblick. Holzgerlingen 2002.

Gensicke, Klaus, Der Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini und die Nationalsozialisten. Frankfurt/M. 1988.

Hanisch, Ernst, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994.

Lewis, Bernard, „Treibt sie ins Meer!“ Die Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt/M. – Berlin 1987.

Qualtinger, Helmut, Der Herr Karl und andere Texte fürs Theater, hg. v. Tr. Krischke. Wien 1995.

Scheithauer, Erich u.a., Geschichte Österreichs in Stichworten, Bd. VI: Vom Ständestaat zum Staatsvertrag – Von 1934 bis 1955. Wien 1984.

Wistrich, Robert, Between Vienna and Jerusalem. The Strange Case of Bruno Kreisky, in: Encounter, Mai 1979.

Wistrich, Robert, Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel. Ismaning 1987.

Yaniv, Avner, PLO. Israel Universities Study Group of Middle Eastern Affairs. Jerusalem 1974.

Wurzeln und Ideologie der ukrainischen Faschistenpartei „Swoboda“

Die Brut des Banditen Bandera

Wurzeln und Ideologie der ukrainischen Faschistenpartei „Swoboda“

 

Zu den Ergebnissen der Parlaments­wahlen vom 28. Oktober 2012 gehört

der Einzug der ultranationalistischen „Allukrainischen Bewegung Swoboda“ (Freiheit) mit einem Stimmenanteil von 10,44 % und 37 Mandaten in die Ober­ste Rada. In 12 Kreisen setzten sich die Bewerber nach dem geltenden Mehr­heitswahlprinzip unmittelbar durch. Das geschah im Ergebnis einer vor den Wahlen getroffenen Absprache zwischen „Swoboda“ und dem prowestlichen Par­teienbündnis „Vaterland“ von Julia Timoschenko. Danach sollte jeweils der Kandidat durch die Anhänger bei­der Parteien favorisiert werden, der die besten Aussicht hatte, den Wahlkreis zu erobern. Nach der Abstimmung haben die Timoschenko-Partei, Klitschkos UDAR (Schlag) und „Swoboda“ erklärt, im Parlament zusammenarbeiten zu wol­len. Das Zustandekommen dieser „Koali­tion“ demaskiert nicht nur „Vaterland“ und UDAR, sondern auch deren Förde­rer in EU und NATO.

„Swoboda“ ist aus der 1991 gegründeten „Sozial-Nationalen Partei der Ukraine“ (SNPU) hervorgegangen. Diese war unter allen nach der Zerschlagung der Sowjetunion in der Ukraine entstande­nen nationalistischen Organisationen jene, welche am wenigsten ihre ideolo­gische Nähe zum deutschen Faschismus zu verbergen suchte.

Die von „Swoboda“ gewählte offizielle Bezeichnung ihrer Ideologie als „Sozial-Nationalismus“, der sich sogar verbal an den „Nationalsozialismus“ der NSDAP anlehnt, verdeutlicht das besonders. Auch das offizielle Parteisymbol – eine modifizierte Wolfsangel – spricht Bände. Diese war das Erkennungszeichen der SS-Division „Das Reich“ und dient heute neofaschistischen Organisationen Euro­pas als Signum.

Das politische Programm der SNPU zeichnete sich nicht nur durch ukraini­schen Ultranationalismus aus, sondern forderte notfalls auch eine gewalt­same Machtergreifung. Es war extrem antirussisch. Nennenswerten Anklang bei den Wählern vermochte diese Par­tei damit jedoch nicht zu finden. Bei den Parlamentswahlen im Jahre 1998 kam sie im Block mit einer anderen Gruppe ähnlicher Couleur landesweit nur auf 0,16 %. Allerdings konnte Oleh Tjahnybok – einer der SNPU-Führer -schon damals in der westukrainischen Stadt Lwiw (Lwow) ein Direktmandat erringen.

Die magere Resonanz dürfte den Anstoß dafür gegeben haben, 2004 einen Kon­greß der Neugründung einzuberu­fen, auf dem eine Modifizierung des äußeren Erscheinungsbildes erfolgte. Statt der anrüchigen Bezeichnung

„Sozial-Nationale Partei“ nannte sie sich fortan „Allukrainische Bewegung Swoboda“. Abgeschafft wurde auch das nazistische Parteisymbol. Man ersetzte es durch einen stilisierten Dreizack -das ukrainische Staatssymbol -, der aus drei Fingern der rechten Hand besteht. Oleh Tjahnybok, der als Parlamentsabge­ordneter einen gewissen Bekanntheits­grad erreicht hatte, trat an die Spitze der Partei.

Die kosmetischen Veränderungen erfolg­ten indes unter Beibehaltung der ideo­logischen Prinzipien aus SNPU-Tagen. „Swoboda“ nutzt weitgehend jene Scha­blonen, auf die Hitlers Faschistenpartei während der Weimarer Republik ihren Einfluß gründete und auf die heute die NPD sowie andere neonazistische Orga­nisationen der BRD ihre Propaganda stützen: ungezügelte soziale und chau­vinistische Demagogie, Feindschaft gegen andere Rassen und Nationen. Die „Swoboda“-Führer predigen Haß gegen Rußland und alle ethnischen Russen. Sie sind rabiat antisemitisch. Tjahny­bok behauptete öffentlich, die Ukraine werde von einer „jüdisch-russischen Mafia“ regiert.

Außenpolitisch fordert „Swoboda“ den Austritt der Ukraine aus allen eurasi­schen Bündnissen, an denen Rußland beteiligt ist, vor allem aber aus der GUS, sowie eine Baltikum-Schwarzmeer­Achse. In den baltischen Staaten wer­den bekanntlich dortige SS-„Veteranen“ als Nationalhelden verehrt. „Swoboda“ verlangt den Status einer Atommacht für die Ukraine.

Die Faschistenpartei stellt sich voll und ganz in die Tradition der ukraini­schen Nazi-Kollaborateure, vor allem der extrem antikommunistisch, antipol­nisch und antisemitisch ausgerichteten „Organisation Ukrainischer Nationali­sten“ (OUN) und der „Ukrainischen Auf­ständischen Armee“ (UPA), deren Führer Bandera und Schuschewitsch zu ihren Ikonen gehören.

Die OUN und von ihr formierte Einhei­ten der Hilfspolizei wüteten nach Hit­lers Überfall auf die Sowjetunion unter polnischen und jüdischen Menschen. Sie verübte grausamste Verbrechen, die sich gegen Vertreter der Sowjet­macht und Partisanen der Roten Armee richteten.

Nach vorliegenden Angaben sollen von ihnen bis Ende 1943 bis zu 60 000 polnische Männer, Frauen und Kin­der ermordet und mehr als 1000 Dör­fer Polens zerstört worden sein. Der israelische Historiker Aaron Weiss geht davon aus, daß allein in der West­ukraine etwa 28 000 Juden von ukrai­nischen Nationalisten umgebracht wurden. Mit Unterstützung der OUN

gebildete ukrainische Polizeieinhei­ten waren auch an den unbeschreib­lichen Massakern der SS unter Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew beteiligt.

Bereits vor dem hitlerfaschistischen Überfall auf die UdSSR hatte die Abwehr des Admirals Canaris auf deutschem Boden mit der Formierung einer aus Nationalisten rekrutierten Söldnerar­mee – der „Ukrainischen Legion“ – begon­nen. Zu ihr zählte auch das berüchtigte Bataillon „Nachtigall“. Dessen ukrai­nischer Kommandeur Schuschewitsch diente später als politischer „Berater“ des Adenauer-Ministers Oberländer. Ende Juni 1941 war diese Einheit maß­geblich an der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung von Lwow beteiligt, in deren Verlauf 7000 Menschen ermordet wur­den. Später kam die „Ukrainische Legion“ – hier war Schuschewitsch stellvertre­tender Kommandeur – gegen sowjetische Partisanen zum Einsatz. Sie verübte in Belorußland und auf polnischem Boden grausame Verbrechen an der Zivilbe­völkerung.

Als sich nach der Wende des Kriegs­verlaufs die Niederlage der deutschen Faschisten immer deutlicher abzeich­nete, formierte die OUN aus vorherigen Nazikollaborateuren die „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA), die unter Beibehaltung des Hauptstoßes gegen die Rote Armee und die sowjetischen Par­tisanen auch Schläge auf zurückwei­chende Wehrmachtseinheiten in der Hoffnung führte, die Ukraine unter ihre totale Kontrolle bringen zu können. Nach der endgültigen Niederwerfung Hitler­deutschlands und dem Sieg der Roten Armee zogen marodierende Überreste der UPA bis zu ihrer völligen Zerschla­gung in den 50er Jahren als mordende und plündernde Banden durch die Wäl­der. Mit Hilfe Banderas rekrutierte die deutsche Abwehr noch gegen Kriegsende und auch später aus OUN-Mitgliedern und UPA-Resten Diversanten für den Einsatz in der Sowjetunion.

Nach dem Sieg der Konterrevolution in der Ukraine, besonders aber seit der „Orangenen Revolution“ Juschtschen­kos und Timoschenkos, finden zu den Jahrestagen der UPA-Gründung, vor allem in der Westukraine, nationalisti­sche Zusammenrottungen statt. Zu Ehren Banderas und Schuschewitschs, denen der „orangene“ Präsident Juschtschenko während seiner Amtszeit den Titel „Held der Ukraine“ verlieh, wurden Denkmäler errichtet und sogar die Jahrestage der 1943 aufgestellten SS-Division „Galizien“ gefeiert. Bei all dem tun sich „Swoboda“ und deren entsprechend uniformierte Jugendorganisation „Patriot der Ukraine“ besonders hervor.

Willi Gerns, Bremen