Von Hans-Hermann Tiedje.
Über dem Kanzleramt in Berlin liegt dieser Tage ein Hauch von Abendrot und Agonie. Manche vergleichen die Atmosphäre mit den letzten Monaten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl. «Nur war damals die Stimmung besser, es wurden Witze gerissen», sagt ein langjähriger Kohl-Vertrauter. Jetzt ist Bedrücktheit eingezogen in die «Waschmaschine», wie Berliner das Gebäude an der Spree nennen.
Alles macht sich fest an zwei Ereignissen. Das eine ist die weiterhin ungestoppte, massiv umstrittene Zuwanderung aus muslimischen Staaten nach Deutschland. Das zweite sind drei Landtagswahlen am 13. März, in denen der Wähler nicht nur nach Landes-Gesichtspunkten abstimmen wird, sondern der CDU-Kanzlerin Angela Merkel die Quittung ausstellt für ihre Massnahmen und Unterlassungen des vergangenen halben Jahres. Es wird ein schwarzer Sonntag für Merkel und ihre Partei.
Zerbrochene Konstellationen
Über Merkels Politik der erklärten Willkommenskultur und der offenen Tore sind in Deutschland viele tradierte Konstellationen zerbrochen. Die einstige Volkspartei CDU geht am Stock. Zwar hat sich Merkel auf dem vorigen Parteitag feiern lassen, allerdings sagt das gar nichts aus über ihre Stärke und den objektiven Zustand der CDU. Der Parteitag war erfüllt von Durchhalteparolen – man kennt das von vielen Parteien. Der Zustand der CDU ist brüchig, die Stimmung unterirdisch, die Aussichten sind düster. Der Stärkste ist Finanzminister Wolfgang Schäuble : Er könnte jederzeit mit dem System Schluss machen. Wenn Schäuble sagt «Wir schaffen das nicht» und «Es reicht», dann ist es um Angela Merkel geschehen. Die Frage, wer ihr folgen könnte, wird inzwischen nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand erörtert.
Doch auch die SPD sieht am Sonntag drei schweren Wahlniederlagen entgegen, und am Montag danach werden auch in der Sozialdemokratie die Karten neu gemischt. Manche erwarten einen «bloody monday». Für Parteichef Sigmar Gabriel kommt hier eine letzte Chance, die Partei neu zu justieren. Will die SPD künftig auf visionäre Studienräte (Funktionäre) hören oder auf realitätsnahe Landräte (die der Bevölkerung nah sind)? Will sie weiter unter Merkel die Welt retten oder sich selber? Will sie, wie Gabriel sagt, «die Deutschen nicht vergessen», oder will sie zusehen, wie diese Deutschen immer unzufriedener werden?
Die Rede ist hier von jenen Bürgern, denen unter Hinweis auf die Kassenlage des Bundes jahrelang soziale Verbesserungen verwehrt wurden und die jetzt zusehen müssen, wie für echte (politisch verfolgte) oder falsche (Wirtschafts-)Flüchtlinge Milliarden Euro lockergemacht werden.
Solches spaltet das Land. Und der Politik-Verdruss wird immer offener. Merkel aber gibt sich unbeeindruckt und demonstriert Politik als Business as usual. Sie wolle, so sagt sie jedenfalls, zusammenführen und nicht spalten. Sie wolle Brücken bauen und keine Zäune. Schöne Bilder vermittelt diese Sprache. Eine ständig anwachsende Zahl von Bundesbürgern hat allerdings das Gefühl, dass die Merkel-Regierung das deutsche Staatsgebiet nicht schützt und nicht führt. Merkel wirkt nur noch gefühlsgesteuert, ohne Kompass. Inzwischen ist sie in Europa fast ohne Unterstützung.
Sprachregelungen
Manche öffentlichrechtlichen Sender interpretieren ihren Informationsauftrag inzwischen so: Moderation ganz ungeniert als Fürsprache dieser Politik zwischen Willkommen und Durchwursteln. Sogar Sprachregelungen gibt es. So soll etwa der Begriff «Flüchtlingsströme» nicht mehr verwendet werden, besser sei «Zuzug». Die Auffassung der Mehrheitsgesellschaft spiegelt sich darin nicht. Intellektuelle Kritiker wie Rüdiger Safranski, Henryk Broder, Botho Strauss , Bassam Tibi oder Peter Sloterdijk werden ungeniert in die rechte Ecke gestellt. Thilo Sarrazin hat als Erster die interreligiöse und interkulturelle Thematik auf die Tagesordnung gesetzt – jetzt wäre seine Stunde. Aber im deutschen Fernsehen kommt er kaum mehr vor.
Zahlen und Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Zwei Drittel der Deutschen haben genug von einer Zuwanderung, die erkennbar in grossem Stil missbraucht wird. Von den 1,2 Millionen Menschen, die im vorigen Jahr gekommen sind, besitzen etwa 400 000 unbestritten das Recht auf Asyl – alle syrischen Kriegsflüchtlinge und ein Teil der Afghanen, obschon man durchaus die Frage stellen kann, wie es denn sein mag, dass die Bundeswehr in Afghanistan mit Waffen ein Land verteidigt, dessen Bürger Asyl in Deutschland begehren.
Die Kanzlerin sei gar nicht verantwortlich für die Öffnung der Grenzen gewesen, heisst es, diese seien doch schon offen gewesen. Das stimmt so nicht. Die Grenzöffnung wurde von Angela Merkel veranlasst, möglicherweise zunächst mit gutem Grund und ausdrücklich als Ausnahme deklariert. Aber diese Ausnahme dauert nun schon ein halbes Jahr. Kommunen und Helfer ächzen, Zoll, Grenzschutz und Polizei sind fassungslos, und viele Bürger, von denen der Staat täglich Rechtstreue erwartet, sind bestürzt: Von ihnen wird eingefordert, dass sie ihre Steuern bezahlen, ihre Alimente und ihre Strafmandate. Mit ausdrücklicher Billigung der Kanzlerin wird hingegen der Artikel 16 der deutschen Verfassung (Asylrecht und Einschränkung desselben) an der bayrischen Grenze jeden Tag vorsätzlich missachtet.
Wenn es nun aber richtig ist, dass die Kanzlerin die Grenzöffnung gar nicht veranlasst habe, weil die Grenze schon offen gewesen sei: Warum hat sie sich dann weltweit dafür feiern lassen? Wie konnte sie zur «Willkommenskanzlerin» mutieren? Warum empfängt sie George Clooney , statt direkt mit der deutschen Bevölkerung zu reden? Weshalb hat sie ihre Entscheidung nicht mit einer Regierungserklärung der Öffentlichkeit vorgestellt? Mittlerweile greift man in Berlin nach jedem Strohhalm. Die Zuwanderer seien quasi ein zusätzliches Konjunkturpaket, wird neuerdings behauptet. Bevölkerungsforscher wissen es besser: Nur etwa 20 Prozent der Ankömmlinge, zumal Syrer, sind in den Arbeitsmarkt integrierbar. Der Rest fällt in die deutschen sozialen Netze, sofern er nicht abgeschoben wird, und verursacht so oder so Milliardenkosten.
Angeblich sind die Maghrebstaaten nun zur Zurücknahme ihrer eigenen Staatsbürger bereit. Angeblich haben Marokko, Algerien und Tunesien zugesagt. Doch wer glaubt wirklich, dass hunderttausendfach nordafrikanische Männer – deren Aufenthaltsort und Identität man oft nicht kennt – sich an die Hand nehmen lassen, um dann in Chartermaschinen gesetzt und in die Heimat geflogen zu werden, wo niemand sie haben will ?
Eine Bereicherung?
Kaum hinterfragt ist bis heute die in Politik und Medien ständig wiederholte Behauptung, die Flüchtlinge oder Asylbegehrenden seien «eine Bereicherung für Deutschland». Doch worin soll diese bestehen? Wir haben schon mehrere Millionen Muslime, wir kennen ihre Sitten und ihre Kultur – da ist nichts Neues. Dagegen haben wir in Deutschland heute einen beispiellosen Kulturkampf, dessen erstes Opfer die Debattenkultur war. Diese besteht vor allem aus der Ausblendung unangenehmer Fakten. Zum Exempel: Unstrittig schicken Eltern aus Nahost ihre minderjährigen Kinder nach Deutschland vor. Man könnte dies als verantwortungslos, zumindest als grenzwertig bezeichnen. 70 000 unbegleitete Minderjährige geistern derzeit durchs Land. Das hindert Wohlmeinende nicht, den Nachzug eben jener Eltern zu fordern, die erst ihre Kinder ins Feuer geschickt haben und jetzt darauf hoffen, dass sie nachgeholt werden.
Der Riss durch die deutsche Gesellschaft wird täglich tiefer. Dabei hat sich die Mehrheit der Bürger durchaus den Sinn für die Realitäten bewahrt. Ein Drittel aber träumt. Von einer besseren und gerechteren Welt, ausgehend von Deutschland. Wer Sorgen und Bedenken ausspricht, landet ganz schnell in der Nähe der Nazis. Unverdrossen werden abenteuerliche Vergleiche mit den Millionen Flüchtlingen 1945/46 aus dem früheren deutschen Osten gezogen (deren Integration geklappt hat, weil Deutsche nach Deutschland zogen, während die Migrationszuwanderung in Europa bisher selten funktioniert hat).
Noch nie in den vergangenen 25 Jahren war die Lage in Deutschland so explosiv wie heute. Natürlich ist das die Stunde der Populisten. In diesem Falle der AfD. Zur Erinnerung: AfD heisst Alternative für Deutschland und ist die leider oft unappetitliche Antwort auf Merkels selbstgefälligen Regierungsstil, der sich als alternativlos versteht. Daher versinkt die CDU in Grabenkämpfen, hat die bayrische CSU des Horst Seehofer Merkel offen den Kampf angesagt und liegt die AfD je nach Bundesland mittlerweile zwischen 10 und 20 Prozent. Wenn Merkel weiter störrisch bleibt, sind weder eine Verfassungsklage noch – gefährlicher – die bundesweite Ausdehnung der CSU ausgeschlossen. Das Ergebnis haben Wahlforscher auch schon prognostiziert: eine CSU mit einem Stimmenanteil von bundesweit um 20 Prozent, fast so stark wie die CDU. Die AfD würde in diesem Fall marginalisiert.
Merkels Tragik
Angela Merkel sitzt in der Falle zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Da lässt sie verbreiten, sie könne doch nicht alle ertrinken lassen. Doch wer will denn das? Auf die Idee, die Fluchtursachen direkt anzugehen, kommt die Kanzlerin nicht. Denn dann müsste man über Schutzzonen für Syrer nachdenken, diese einrichten und sichern. Das erforderte ein unschönes militärisches Engagement, das man sich nicht leisten will. Die Schmutzarbeit machen die anderen, Merkel hat die Moral.
Die katastrophalen Konsequenzen der Grenzöffnung waren für die deutsche Bevölkerung sehr schnell erkennbar, registrierbar und spürbar. Seither wird Deutschland, ja Europa Zeuge eines immer aggressiveren Schlagabtausches. Und eines Schrumpfungsprozesses, nämlich jenes von Angela Merkel als politischer Führungsfigur. Tragisch: Man wird sie bei allen Verdiensten im Rückblick an der Flüchtlingsfrage messen. Und an nichts sonst.
Hans-Hermann Tiedje, früherer Chefredaktor von «Bild» und einstiger persönlicher Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, ist heute Aufsichtsratschef der Kommunikationsagentur WMP Eurocom AG in Berlin. Zuerst erschienen in der NZZ.