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Doku über Antisemitismus in Europa von ARTE total zensiert und nicht gesendet

Hier zu sehen in voller Länge (ca.90 Minuten)

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Doku über Antisemitismus in Europa von ARTE total zensiert und nicht gesendet


Schwere Schlappe für die öffentlich-rechtlichen Aufseher der Meinungsbildung: Die im Auftrag von arte vom WDR produzierte Dokumentation über zeitgenössischen Antisemitismus, die arte nicht zeigen will, weil sie nicht „ausgewogen“ genug ist, konnte man heute auf BILD.de sehen. Der Film wurde inzwischen auch auf YouTube hochgeladen.

Die Bild-Zeitung hat sich zu einem überraschenden Schritt durchgerungen: Ihre Internet-Seite offeriert heute bis Mitternacht den umstrittenen Film Auserwählt und ausgegrenzt, den die Auftraggeber, der Westdeutsche Rundfunk und das deutsch-französische Fernseh-Programm arte, bisher unterdrückt haben. Wer die Gelegenheit nutzt und sich den Film ansieht, erfährt nun auch, warum.

Der Film zeigt die Zusammenhänge zwischen dem fahrlässigen, unkontrollierten Umgang mit Milliarden Hilfsgeldern, die Palästinenser-Organisationen zur Verfügung gestellt werden, ihrem seit Jahren geduldeten Missbrauch und den Auswirkungen auf die Lage der arabischen Bevölkerung in Gaza, die Bedrohung Israels und – nicht zuletzt – die Verluste für Europa. Den Filmemachern ging es vornehmlich um Europa, sie lassen den Film ausklingen mit traurigen Interviews, die auswanderungswillige französische Juden zeigen und einen verzweifelten französischen Bürgermeister, der sie bittet, zu bleiben.

Die falsche Politik der Europäischen Union, die der Film erkennen lässt, hat zwei Seiten, eine interne und eine außenpolitische. Einerseits führt der wachsende, immer aggressiver hervortretende muslimische Hass gegen Juden in Frankreich, Deutschland und anderswo zur Abwanderung zehntausender europäischer Juden in für sie angenehmere Länder: Israel, die Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien. Dabei ist die Emigration europäischer Juden ein spürbarer Verlust für Europa, für Kreativität und geistige Beweglichkeit, für Ideenreichtum und neue Technologien, also auf Dauer ein wirtschaftlicher Verlust, und man muss sehr verbohrt oder antisemitisch voreingenommen sein, um diese einfache Konklusion nicht zu durchschauen.

Zweitens verhindert die Europäische Union, indem sie durch unverantwortlichen Umgang mit Steuergeldern seit Jahren der Hamas dazu verhilft, in Gaza an der Macht zu bleiben, alle Bemühungen um einen palästinensischen Staat. Denn die Spaltung der Palästinenser in zwei tödlich verfeindete Fraktionen ist heute das Haupthindernis für eine so genannte „Zweistaatenlösung“, die infolge der de facto drei Staaten, um die es sich längst handelt, nur noch eine leere Worthülse ist. Es gehört zu den Absurditäten europäischer Außenpolitik, mit leeren Reden und lächerlichen Demonstrationen Anteilnahme für die Palästinenser zu heucheln und in Wahrheit alles zu tun, um eine für sie vorteilhafte Lösung zu verhindern.

Diese im Grunde europäischen Angelegenheiten und Zusammenhänge zeigt der Film, dessen Ausstrahlung öffentlich-rechtliche Sender verhindern wollten. Eigentlich ist es ein Film für Europa, gedacht, auf ein massives Problem aufmerksam zu machen, das Europa schadet. Doch wo so viel absurde Politik gemacht wird, wundert es nicht, wenn die Europäische Union auch in diesem Fall gegen ihre eigenen Interessen handelt. Und dass es ausgerechnet die Bild-Zeitung ist, die es wagt, den Film nun doch ans Licht zu bringen.


Arte-Debatte: Der neue, alte, ewige Antisemitismus

Noch toben die Zorngewitter der Nationalen Pressefront angesichts des Coups der BILD-Zeitung, einen Film zu zeigen, den das qualitätsbewusste Kulturprogramm von Arte als handwerklich unzureichend abtun wollte, und weil dessen Aussagen zu einseitig seien und darin der der gescholtenen Partei der Antisemiten, Israelnichtgutfinder und Palästinasolidaritätskomitees nicht genügend Raum gegeben sei, ihrem mühsam umfloskelten Judenhass eine Garnitur von rationaler Petersilie beizulegen.

Dies besorgten aber die Autoren, die den Finger ausreichend tief in den braunen Lehm aus „Bilderberg“, „Protokollen“, „Rothschild“ und „Weltverschwörung“ steckten, und in einer kurzen Einlassung hinreichend zusammenfassten. Mehr von dieser schlaffen Petersilie braucht es nun wirklich nicht auf dem Teller. Wer dergleichen mag, wird seit Jahren bestens bedient mit den üblichen 15-Sekunden-Berichte in ARD und ZDF, in denen von „Genozid“, „Massenmord“, „Geiselhaft“ und „Freiluftgefängnis“ die Rede ist, wenn es um Gaza geht oder die mit den Worten „illegale Siedler“ oder „militante Siedler“ beginnen, wenn von den „besetzten Gebieten“ die Rede ist.

Die Verteidigungselegien der Presse arbeiten sich im aktuellen Fall jedoch genau an dem ab, was als Blitzableiter vom eigentlichen Kern des Problems ablenken soll und das ist beabsichtigt. Man geißelt den Diebstahl geistigen Eigentums durch BILD und die rechtlich fragwürdige Veröffentlichung eines mit Gebühren finanzierten Films durch die Feinde des planwirtschaftlichen öffentlich/rechtlichen Rundfunks, durch ein privates Presseunternehmen. Anja Reschke vom NDR nennt das dann „frech“. Reschkes Empörung erscheint dabei so echt wie ihre Arroganz. Denn betrachtet man den Fall allein vom Urheberrecht aus, schafft man es mühelos, die Empörung warm zu halten, obgleich die Einschätzung des „Frechheitsgrades“ hier doch eher Anwälten obliegt als Frau Reschkes bescheidener Meinung. Und die Anwälte sind untypisch ruhig, angesichts einer so lukrativen Möglichkeit, die BILD-Zeitung zu verklagen.

Frech war aber auch die Entscheidung von Arte und dem WDR, eben diese ausgegebenen Gebührengelder, die Reschke so heldenhaft gegen BILD verteidigt, einfach abzuschreiben, anstatt auf Erfüllung und Lieferung zu bestehen, zumal der Film bereits abgenommen war. Eine Ebene unter „frech“ und Urheberrecht streitet man sich über die Qualität des Gewebes, aus dem der Film genäht wurde, attestiert ihm handwerkliche Fehler und verweigert das Qualitätssiegel der heiligen Hallen des Staatsfernsehens, wo sonst all überall nur Poesie und edle Wahrheit wohnen. Aber auch diese unbedeutenden Scharmützel sind auszuhalten für Arte und WDR und es wäre nicht die erste Produktion gewesen, die aus solch fadenscheinigen Gründen entweder die Abnahme gar nicht erst schaffte, oder für die sich anschließend wie durch Zauberhand einfach keinen Sendeplatz finden ließe. Über Kunst lässt sich ja nicht –  oder trefflich – streiten. Vor allem aber lang und ergebnislos.

Die Sprechchöre riefen wirklich „Jude Jude feiges Schwein“

Doch da ist noch eine dritte Ebene, auf der die frechen Rufer und „über Kunst Streiter“ bisher keinen Pieps von sich gegeben haben. Den Inhalt. Und ich rede hier nicht von den Protagonisten, des Films, die ihr Halbwissen und nachgeplapperte Lügen mit großer Verve der Kamera zu Protokoll gaben. Wie Annette Groth von den Linken zum Beispiel, die von „ganz gezielten Vergiftungen“ sprach und die „Lebensgrundlage in Gaza“ als geradezu inexistent bezeichnete. Solche Aussagen belasten ja den Sender nicht direkt, sondern zeigen nur die Uninformiertheit in Europa und beweisen, wie gut die Propaganda von Hamas und Fatah selbst bei Bundestagsabgeordneten funktioniert, die sich doch selbst so gern eine überlegene Moral attestieren und bei jeder Gelegenheit Tränen für Juden verdrücken, sofern diese bereits tot sind.

Nein, das Problem ist, dass der Film all die bisherigen kleinen, absichtsvollen Einspieler, O-Töne und Kommentare der „Nahostkorrespondenten“ der öffentlich/rechtlichen Sender Lügen straft und das schöne Bild des geknechteten, unschuldigen Bewohners im „Freiluftgefängnis Gaza“, der von israelischen Soldaten gequält und ermordet wird, ad absurdum führt. Denn eines der Bilder kann ja nur stimmen – und die Fakten sprechen hier klar für Hafner und Schröder. Man entschied sich bei Arte aber für die Aufrechterhaltung jenes Bild, an dem man seit mindestens 20 Jahren hingebungsvoll gebastelt hat: „Israel ist an allem Schuld, warum nicht auch am Antisemitismus in Europa? Lasst uns dazu mal eine Doku machen!“ Nun, das ging voll daneben und der Film zeigt genau das, was leider die Wahrheit ist. Ich bin sonst vorsichtiger mit solchen Verabsolutierungen aber hier ist eine vonnöten: Nicht Israel oder der Zionismus sind der Grund für Antisemitismus in Europa – der Antisemitismus in Europa war der Geburtshelfer des Zionismus und der Grund für die Existenz Israels.

Und so werden auch alle Lamenti über „Frechheiten“ und „Webfehler“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass Arte, WDR und all die anderen saturierten Spießgesellen der Medienelite inhaltlich nichts werden finden können, was in „Auserwählt und ausgegrenzt“ nicht der Wahrheit entspräche. Die hässlichen bis dümmlichen Sprüche sind so gesagt worden, die Sprechchöre riefen wirklich „Jude Jude feiges Schwein“, die Milliarden Euro, Dollar, Pfund und Kronen fließen tatsächlich, und tatsächlich weiss am Ende niemand, wohin. Das UNRWA existiert und die 1.500 NGO’s die durch Israel streifen, um den „bösen Juden“ dranzukriegen, sammeln das Geld dafür nicht zuletzt in deutschen Kirchen und beim deutschen Steuerzahler ein.

Und während zum Beispiel Nicola Albrecht 2015 für das ZDF aus Gaza den Bericht „Leben in der Falle – die vielen Gesichter Gazas“ brachte, zeigte sie doch in Wirklichkeit nur das eine Bild: das mitleidheischende, beutelöffnende, israelbeschuldigende Bild des unschuldigen, edlen Befreiungskämpfers aus Palästina, an das sich die Deutschen so gewöhnt hatten. Kommen ihnen doch angesichts der imaginierten Gräueltaten der IDF die tatsächlichen der eigenen Großväter nicht mehr so schlimm vor.

Der Film von Hafner und Schröder, selbst wenn er der handwerklich schlechteste aller Zeiten wäre, bringt das über Jahre aufgebaute Lügengebäude der Öffentlich/Rechtlichen über die wirklichen Ursachen des europäischen Hasses auf Israel und die Ursachen des ungelösten Konflikts zwischen Arabern und Juden jedenfalls mühelos zum Einsturz: Diese Ursache ist der neue, alte, ewige, unveränderliche Antisemitismus in Europa, der den neuen, alten, ewigen, unveränderlichen Antisemitismus in der islamischen Welt nur zu gern füttert.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs BlogUnbesorgt hier

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Fernseh-Schauprozess gegen abwesende Angeklagte – DIE ACHSE DES GUTEN.


Der 21. Juni 2017 ist ein Tag, an dem deutsche Fernsehgeschichte geschrieben wird. Der vom WDR bestellte, abgenommene und damit dann wohl auch bezahlte Film „Ausgewählt und ausgegrenzt“ von Joachim Schroeder und Sophie Hafner wird in der ARD gezeigt, gefolgt von einem Talk-Tribunal gegen die abwesenden Autoren. Das Tribunal muss wohl sein, denn die beteiligten öffentlich-rechtlichen Sender WDR und arte wurden erst durch eine breite öffentliche Debatte und der Veröffentlichung des Films im Internet durch die Bild-Zeitung zur Ausstrahlung des in Auftrag gegebenen und bezahlten Werks genötigt.

Der Anfang ist unspektakulär. Der WDR gibt den Film in Auftrag. Zuvor wurde üblicherweise neben dem Budget selbstverständlich auch ausgehandelt, wie der Film ungefähr aussehen soll, was und wo voraussichtlich gedreht wird, welche inhaltlichen Schwerpunkte er hat. Seit bekannt wurde, dass arte und WDR den Film nicht senden wollten, argumentierten die Sender mit handwerklichen Mängeln des Films und dass die inhaltliche Schwerpunktsetzung eine andere gewesen sei, als verabredet, obwohl der Film doch redaktionell abgenommen wurde. Wären diese Gründe tatsächlich zutreffend, so hätte der WDR allerdings vor allem bewiesen, wie unprofessionell im Hause gearbeitet wird.

Wer mit dem Metier schon einmal in Berührung gekommen ist, weiß, dass es eigentlich nicht sein kann, dass eine Redaktion von der Machart eines Films erst nach dessen Fertigstellung grundsätzlich überrascht wird. Sicher weiß kein Redakteur vor der Rohschnittabnahme, ob das Vorhaben gelungen ist, aber normalerweise gibt es vor Drehbeginn, während der Dreharbeiten, vor Schnittbeginn und während des Schnitts viele Abstimmungen des Autors mit der Redaktion. Da jeder, der länger an einem Werk arbeitet, zur Betriebsblindheit neigt, ist dies ja auch sinnvoll. Manchmal verfehlen Redaktionen auch das gesunde Maß und oft hört man Autoren ob der vielen nötigen Gespräche seufzen und klagen – da fühlt sich der Medienalltag nicht anders an, als die Zusammenarbeit mit Auftraggebern im richtigen Leben.

Vertraute Beißhemmungen sind gefallen

Eines aber ist bei einer Auftragsproduktion in einem funktionierenden Sender ausgeschlossen, dass der verantwortliche Redakteur nicht weiß, wo was gedreht und wer interviewt wird. Von ungeahnten neuen inhaltlichen Schwerpunkten kann die Redaktion nicht überrascht werden, wenn sie denn richtig arbeitet. Insofern war es folgerichtig, dass der Film redaktionell abgenommen wurde.

Erst danach erfuhr man, dass zuerst arte und hernach auch der WDR die Ausstrahlung verweigerten. Die Melange der vorgebrachten Gründe ist dabei bezeichnend. Auf der einen Seite deuten sie ja an, worum es wirklich geht. Die Inhalte gefallen nicht, denn sie berühren Tabuthemen. Antisemitismus anzuprangern, das gilt natürlich in jeder öffentlich-rechtlichen Anstalt immer noch als gut und richtig, wenn er denn von rechts bzw. aus der autochthonen Bevölkerung kommt. Das tut der Film ja auch, doch er widmet sich ebenso den linken und – noch schlimmer – den islamischen Antisemiten. Und er deckt auf, dass vom Steuerzahler bis zu kirchlichen Hilfsorganisationen unter dem schönen Etikett der Hilfe für entrechtete Palästinenser indirekt auch Antisemitismus-Förderung betrieben wird, auch wenn die Beteiligten das nicht unbedingt wissen bzw. geflissentlich ignorieren.

Islamideologen dürfen sich auch als Antisemiten in Europa inzwischen aber besonderer Rücksichtnahme erfreuen. Die ist inzwischen so groß, dass selbst vertraute Beißhemmungen im Medienbetrieb gefallen sind. Die o.g. Fakten hätte auch schon vor einigen Jahren kaum einer versenden wollen, aber keiner hätte sich getraut, einen fertig produzierten und abgenommenen Film mit belegbaren Fakten zu diesem Thema einfach zu unterschlagen. Da hat sich in letzter Zeit etwas gewaltig verschoben.

Dummerweise ließ sich der ungeliebte Film nicht in der Stille entsorgen, die sich die Verantwortungsträger im Medienbetrieb gewünscht hätten. Allein der Umstand, dass Entscheidungsbefugte im gebührenfinanzierten Journalismus die stillschweigende Unterschlagung hochwertiger und deshalb auch nicht billiger journalistischer und filmischer Arbeit versucht haben, wäre Skandal genug. Doch der weitere Umgang mit „Auserwählt und ausgegrenzt“ offenbart die dreiste Gutshofmentalität, die leider vielerorts in den Leitungsebenen öffentlich-rechtlicher Sender Einzug gehalten hat.

Rechtfertigung in absurder Lage

Statt zu erklären, wie der Film überhaupt hatte redaktionell abgenommen werden können, hieß es nun von den Sendern, dass der Film Fehler und handwerkliche Mängel aufweisen würde, ohne die allerdings konkret zu benennen. Inhaltlich sprangen den Autoren Antisemitismus-Experten wie die Historiker Götz Aly und Michael Wolfssohn zur Seite. Ahmad Mansour, der als Ko-Autor angefragt worden war, aber nicht mit einsteigen konnte, hatte sich ebenfalls voll hinter die Aussagen des Films gestellt:

„Anscheinend ist man bei Arte davon ausgegangen, dass der Film ‚ausgewogener‘ wird, wenn ein Autor mit einem arabischen Namen dabei ist. Ich konnte damals nicht durch die Welt reisen und drehen, weil ich Vater geworden bin. Aber ich halte muslimischen Antisemitismus in Europa für sehr problematisch, und mit mir wäre die Ausrichtung der Dokumentation nicht anders gewesen. Die Ausstrahlung wurde abgelehnt, weil der Film zu unbequem war. […] Ja, aber es war offenbar eine Frage der Political Correctness. Und es ist nicht das erste Mal, dass es Schwierigkeiten gibt, wenn wir Islamismus und Antisemitismus im Fernsehen zeigen wollen. Dann kommen immer die Relativierer und Verharmloser und sagen, das sollte man nicht zeigen, weil es ein gefundenes Fressen für die Rechten sei, und weil es den gesellschaftlichen Frieden gefährde. Aber man muss über Probleme berichten, das ist Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In dieser Frage hat er jetzt total versagt. Er hat einen Film geblockt, der schockiert und klar auf Probleme hinweist, und das darf nicht hingenommen werden.“

Als nun die Bild-Zeitung den Film von Schroeder und Hafner jüngst im Internet veröffentlichte, gerieten die Sender in eine vollends absurde Lage. Zur Rechtfertigung sammelten sie nun die Stimmen, die dem Film auch irgendwie so etwas wie handwerkliche Mängel attestierten. Abgesehen davon, dass es sich um Kleinigkeiten handelte, die alle mit einem unaufwendigen Umschnitt zu erledigen wären, sind es doch oft auch Geschmacksfragen. Und wer weiß schon, ob nicht der eine oder andere „Fehler“, den manch ein Zuschauer zu entdecken vermeint, erst durch einen nach der Rohschnittabnahme verordneten redaktionell verordneten Umschnitt in das Werk gekommen ist.

Das ist alles Mutmaßung. Ich weiß nicht, wie viel die Autoren nach der ersten Rohschnittabnahme noch umschneiden mussten. Aber erfahrungsgemäß bleibt kaum ein Film völlig umschnittfrei, es sei denn, die redaktionelle Begleitung des Schnitts war besonders intensiv.

Heute nun wollen die Sender doch senden. Erst den Film, danach eine Diskussion. Weder die Autoren noch die Redakteurin sind nach derzeitigem Informationsstand dazu eingeladen. Dafür Verantwortliche des Senders, die dem Zuschauer nach dem Film erklären können, warum man ihn besser nicht gezeigt hätte und was alles falsch darin war. Die Macher können sich nicht rechtfertigen, während ihr Ruf öffentlich von öffentlich-rechtlichen Programmverantwortlichen demontiert wird.

Jeder Zuschauer wird darin die Botschaft sehen, dass Schroeder und Hafner aus der Gemeinschaft der Nutznießer deutscher Rundfunkgebühren ausgeschlossen werden. Viele andere freie Autoren und Produzenten, die vom marktbeherrschenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk leben, werden dies als Warnung verstehen, lieber die Hände von heiklen Themen zu lassen und sich keinesfalls mit der Sender-Obrigkeit anzulegen. Selbst wenn die Diskussion über den Film am Ende noch so moderat und zurückhaltend abläuft, es wird ein Fernseh-Schauprozess über die abwesenden Autoren.

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Die Selbstentleibung des WDR


Am Abend fand bei „Maischberger“ der Schauprozeß über die Anti-Semitismus-Doku statt, die die ARD überhaupt nur aufgrund öffentlichen Drucks ausstrahlte. Ungeheuerlich war: Der WDR hat diese vor Ausstrahlung mit Schautafeln und Laufbändern kommentiert. 1. Man sei schon immer gegen Antisemitismus gewesen. 2. Der Film habe gravierende, auch rechtliche, Mängel. Eine auch rechtswidrige Unverfrorenheit, die nicht der Aufklärung, sondern allein der Delegitimierung des Films dient.

Nachdem dieser fünf Monate vorliegt, wurde die Produktionsfirma in letzter Minute zu Nachtschichten genötigt, um kleinere Änderungen vorzunehmen. Das hätte längst geschehen können, wie dies in jedem professionell mit Gebührengeldern umgehenden Sender die Norm ist. Differenzen über eine Dokumentation sind im Vorfeld zu klären. Soweit den Änderungswünschen des WDR nicht entsprochen wurde, blendete dieser jetzt an diversen Stellen im Film Tafeln mit Kritik ein. Eine EAPPI-Mitarbeiterin im EAPPI-T-Shirt, die einen Holocaust-Vergleich anstellt, habe nichts mit EAPPI zu tun. Oder: Die NGO B’Tselem oder/und Brot für die Welt seien nicht mit den Vorwürfen konfrontiert worden, wonach ein Mitarbeiter den Holocaust als Erfindung der Juden bezeichnet. Letzteres ist seit Jahren bekannt. Die NGO und Brot für die Welt hatten mithin alle Zeit der Welt, all das zu sagen, was zu sagen ist. Die skandalöse Äußerung kann man im Film hören und sehen.

„Und wenn das zutrifft, dann wäre es ein rundum ungeheuerlicher Eingriff, sowohl in das Werk der Filmautoren wie auch in die Urteilsfähigkeit der Zuschauer, die vom WDR für zu blöd gehalten würden, sich selbst ein Urteil bilden zu können. So etwas hat es bis jetzt nur bei Dokus aus der NS-Propagandaküche gegeben, die mit begleitenden Anmerkungen denazifiziert wurden. Und bei der „kritischen“ Ausgabe von „Mein Kampf.“  Henryk M. Broder „WDR-Affäre – Betreuter Anti-Semitismus“

Der WDR sitzt auf der Anklagebank, weil er eine Sendung, die in beängstigender Weise den Anti-Semitismus in Europa dokumentiert, unter den Teppich kehren wollte. Diese öffentliche Blamage und Demütigung versuchen die Funktionäre der größten ARD-Anstalt (ganz oben Tom Buhrow und Jörg Schönenborn) nun zu beheben, indem sie mit diskreditierenden Schautafeln operieren und nach Ausstrahlung des Films bei „Maischberger“, produziert im Auftrag des WDR, ein Schautribunal über die Doku veranstalten.

Demütigende Niederlage für Schönenborn & Co.

Man muß, nachdem man die Talk-Show gesehen hat, Sandra Maischberger zugestehen, dass sie diese Sendung, mit Sicherheit unter enormem Druck seitens des WDRs stehend, souverän und fair moderiert hat. Ich habe mir schon überlegt, ob die Auswahl der Gäste nicht eine Art Rache an der Einflußnahme des Senders war. Denn eine demütigendere Niederlage haben Schönenborn und seine Mitstreiter Verleger, Blüm und Pörzgen wohl noch nie erlitten. Prof. Dr. Wolffsohn und Ahmad Mansour beherrschten die Manege intellektuell und von den Fakten her. Es war kein Duell unter Gleichen.

„Das ist ein in der deutschen TV-Geschichte einmaliger und einzigartiger Vorgang. Vor die Wahl gestellt, den Film zu senden oder nicht zu senden, hat sich das Haus klammheimlich und ohne Absprache mit den Autoren der Doku dafür entschieden, die Arbeit zu denunzieren und zu verfälschen. Die Verantwortung dafür trägt in letzter Instanz der amtierende Intendant.“ „WDR: Miese Tricks in letzer Minute“

Jörg Schönenborn (WDR) durfte eingangs die Sicht des Senders so lange darlegen, wie er wollte. Weder die Produzenten des Films noch die beim WDR redaktionell verantwortliche Redakteurin wurden auch nur angefragt. Der WDR durfte also im eigenen Sender mit einer von ihm selbst produzierten Sendung sein eigenes Versagen schönreden. Er kommt zu Wort, die Betroffenen Journalisten nicht. Seit Jahrtausenden gilt im Recht dessen fundamentaler Grundsatz: Audiatur et altera pars – Man höre auch die andere Seite. Ein Prinzip, das auch jeder Journalist, der den Namen zu Recht trägt, in seiner Arbeit berücksichtigt. Wie haarsträubend ist es doch, wenn der WDR Tafeln einblendet und als gravierenden Mangel brandmarkt, die Produzenten hätten eine betroffene NGO nicht gehört, und diesen Grundsatz in eigener Sache im selben Kontext mit Füssen tritt. Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass es hier nicht um journalistische Meinungsunterschiede ging, sondern allein darum, den Film aus politischen Gründen in der Versenkung verschwinden zu lassen?

Am Ende haben wir die Selbstentleibung eines öffentlich-rechtlichen Senders erleben dürfen.  „Wenn Sie die journalistischen Standards die sie hier anlegen immer anlegen würden, würden sie fast nur noch Testbilder senden.“ Wolffsohn bei „Maischberger“ an Schönenborn, der in der Sendung eine intellektuelle Exekution sui generis erlebte.

Und noch eine gute Idee ist in der Sendung geboren, die der Kollege Matthias Matussek so auf den Punkt bringt:  „Ich finde, man sollte die Praxis mit dem Laufbändern beibehalten und zur Dauereinrichtung machen, gerade bei Panorama-Beiträgen und den Moderationen von Anja Reschke, oder bei Claus Klebers Globaleinschätzungen Donald Trump im ZDF, besonders dann, wenn er den Kopf schräg hält. Oder einfach hinter ihm das Schild hochhalten: Achtung, Sie betreten Tendenz-Territorium, also den Meinungsjournalismus.“

faz.net

WDR stellt Autoren abgelehnter Dokumentation bloß

Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH

Wir müssen über die Standards des Westdeutschen Rundfunks reden. Denn diese Standards sind, wie der Fernsehdirektor Jörg Schönenborn sagt, sehr hoch. Sie sind so hoch, dass man den Film „Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa“ erst nicht zeigen wollte. Dann tat man es am vergangenen Mittwoch doch, um zu zeigen, warum man ihn nicht zeigen wollte. Vorneweg und mittendrin gab es dann Warntafeln zu dem Film, dazu im Internet eine Liste angeblicher Mängel mit 29 Punkten. So ließ der WDR den Film im ersten Programm laufen, um die Autoren, Joachim Schroeder und Sophie Hafner, vorzuführen. Doch vorgeführt hat sich der Sender selbst: ein Lehrstück in Selbstgerechtigkeit, die ein Markenzeichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist.

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Michael Hanfeld

Der erste Akt hatte unter Ausschluss des Publikums stattgefunden. Arte lehnte den bestellten Film ab, weil er nicht der „editorialen Linie“ entspreche, der WDR wollte das dort gefertigte Stück auch nicht zeigen. Motto: Wenn Arte nicht will, wollen wir auch nicht und können nicht, denn wir haben nicht das Senderecht, Ende der Debatte, die Autoren sollten die Bühne verlassen. In Akt Nummer zwei tauchten unerwartete Mitspieler auf und fragten, warum der Film nicht im Programm landet. Namhafte Experten, jüdische Organisationen meldeten sich zu Wort und wiesen auf die Dringlichkeit hin, den sich im Alltag verfestigenden Hass gegen Juden zu thematisieren. So kam Tempo ins Stück, was die Regie nicht vorgesehen hatte. Der dritte Akt am Mittwoch war ein Fernsehabend der besonderen Art: Der Film wird gezeigt, mit den Anmerkungen seziert und in der WDR-eigenen Talkshow von Sandra Maischberger besprochen. Die Hauptdarsteller – die Verfasser des Films – sind nicht eingeladen, weil Autoren, wie die Moderatorin sagte, bekanntlich nur über ihren Film reden wollten – was dann alle anderen taten, vorneweg Schönenborn mit seiner Regierungserklärung.

Komponenten des Judenhasses

An dem Film kann man vieles kritisieren: Er ist einseitig, lässt notwendige Angaben aus und hätte gut daran getan, Hintergründe zu erläutern, Stellungnahmen einzuholen und Widerrede zuzulassen. Mit ein wenig redaktioneller Arbeit hätte der Film auch vom journalistischen Handwerk her zu dem Spitzenprodukt werden können, als welches es der Historiker Michael Wolffsohn seiner Stoßrichtung wegen ausweist. Denn in diesem Film geht es um die Komponenten des gegenwärtigen Hasses auf Juden, der eben nicht nur von rechts kommt, sondern auch von links und aus dem Islam, worauf bei Maischberger der gebürtige Palästinenser mit israelischem Pass, Ahmad Mansour, hinweist, der als Berater des Films fungierte. Doch bis er an diesem WDR-Rechtfertigungsabend dran war, musste man bis weit nach Mitternacht warten und sich zuerst noch den beleidigten Norbert Blüm anhören, der seine Kritik an Israel nicht als Antisemitismus ausgewiesen sehen will. Als ob es jetzt darum ginge.

Gehen sollte es um den Hass auf Juden und dessen Hintergründe. Da wird der öffentliche Rundfunk in Deutschland, mehr noch der in Frankreich, aber kleinlaut, sobald es nicht um die üblichen Verdächtigen von rechts geht. Oder er führt, wie der WDR, eine Posse auf, um einen ungeliebten Film und dessen Autoren zu desavouieren, auch wenn Michael Wolffsohn meint, der Sender habe den Film „Auserwählt und ausgegrenzt“ wider Willen zum „Weltereignis“ gemacht.

Es wäre die Pflicht und Schuldigkeit des WDR gewesen, den Film nicht coram publico zu zerlegen, sondern in Ruhe sendefertig zu machen. Doch so lief es nicht bei diesem Sender, der kürzlich einen antisemitisch grundierten Film über den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zeigte, der erst nachträglich und verschämt nach allgemeiner Kritik verändert wurde. Da gab es kein Team von „Faktencheckern“ wie jetzt, das angeheuert wurde, um den Autoren des Films auf die Füße zu treten: Das sind die „Doppel-Standards“, die für Michael Wolffsohn zu den drei „Ds“ zählen, die Antisemitismus ausmachen: Dämonisierung (der Juden), Delegitimierung (des Existenzrechts eines jüdischen Staates), Doppel-Standards (bei der Kritik an Israel). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk täte sich einen Gefallen, wenn er so ein Stück nie wieder aufführte, sondern gleich zum Thema käme: dass sich Juden in Deutschland und Frankreich nicht mehr sicher fühlen.

Fluchtmöglichkeiten für Juden sind heute besser als 1933

Die Juden von Umeå, dem wichtigsten Zentrum im nördlichen Schweden, haben zum April 2017 ihr Kulturzentrum geschlossen. Es wurde immer wieder mit Hakenkreuzen beschmiert. Überdies haben die Verfolger unmissverständlich hinzugefügt, dass man genau wisse, wo in der Stadt mit 80.000 Einwohnern die Juden wohnen. „Unsere Kinder sollen nicht in einer Welt leben, in der sie sich für ihre Herkunft schämen müssen“, erklärt die Sprecherin des Zentrums.

Einen Verdacht zur Identität der Täter formuliert sie nicht. Das ähnelt dem Vorgehen der Berliner Schule, in der fast gleichzeitig ein jüdischer Junge erst gemobbt, dann misshandelt und schließlich durch seine Mutter in Sicherheit gebracht wird. Dass 75 Prozent seiner Mitschüler nicht Deutsch als Muttersprache pflegen, bleibt momentan der deutlichste Hinweis auf das Tätermilieu.

Unter Migranten hierzulande gibt es allerdings nicht nur Muslime, sondern auch christliche Europäer. Unten denen halten Griechen mit 69 Prozent Antisemiten im Jahre 2015 den Rekord der Alten Welt. Selbst Iraner, deren Führer regelmäßig die Vernichtung Israels ankündigen, wirken 2015 mit 60 Prozent Judenhass vergleichsweise harmlos. Vorschnelle Schuldzuweisungen verbieten sich ohnehin und auch junge Altdeutsche aus dem linken Antizionismus oder dem rechten Neonazismus können nicht vorab exkulpiert werden.

Doch gänzlich im Dunkeln über gruppenspezifische Ausprägungen des Judenhasses tappen wir nicht. 2014 ist für einen großen Teil der Welt und 2015 noch einmal für neunzehn ausgesuchte Nationen, die Verteilung judenfeindlicher Haltungen ermittelt worden. Bei rund 26 Prozent Judenhass in der Weltbevölkerung steht Deutschland mit 16 Prozent sehr viel besser da als etwa die Schweiz (ebenfalls 26 Prozent) oder Österreich (28 Prozent). Gemessen an den Dänen (8 Prozent) jedoch hat die Bundesrepublik noch Aufholbedarf. Das kleine Volk, das 1943 in einer Nacht- und Nebelaktion seine Juden vor Hitlers Schergen in Sicherheit bringt, gehört auch 2015 zu den besonders Toleranten. Noch besser schneidet 2014 (2015 nicht erhoben) mit 4 Prozent Schweden ab, wo damals die dänischen Juden unterkommen. Das indiziert, dass die dortigen Judenverfolger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu den Alteingesessenen gehören.

Für 100.000 Juden eine halbe Million neue Feinde geholt

Als Sprachgruppe schneiden die angelsächsischen Staaten am besten ab (AUS, CDN und NZ 14 Prozent [2014], UK 12 und USA 9 [2015]). Die überwiegend muslimischen Menschen in Nordafrika und dem Nahen Osten hingegen stehen mit 74 Prozent Judenhass global an der Spitze.

Hat das Auswirkungen auf ihre Glaubensgenossen in Deutschland? Gegenüber 16 Prozent Antisemiten in der Gesamtbevölkerung (2015) empfinden 56 Prozent der hiesigen Muslime antijüdisch. Da dasselbe nur für 14 Prozent der Christen gilt, sorgen Muslime für eine Verschlechterung des Durchschnitts. Dabei helfen ihnen übrigens Atheisten mit ihren außergewöhnlich hohen 20 Prozent. In Großbritannien, wo Muslime zu 54 Prozent ähnlich antijüdisch sind wie hier, bescheiden sich Atheisten mit 10 Prozent.

Bei den 2015er Zahlen für Deutschland sind die im selben Jahr aufgenommen Migranten und Flüchtlinge nicht mitgezählt. Sollten auch sie zu 56 Prozent antisemitisch sein, hätte Berlins Führung gegen die knapp 100.000 Juden im Land ein halbe Million Feinde zusätzlich ins Land geholt. Während alles dafür spricht, dass Deutschland nach 1945 – das zeigt schon der Vergleich mit Österreich – Bedeutendes bei der Überwindung des Antisemitismus geleistet hat, macht seine Einwanderungspolitik davon einiges wieder zunichte.

Dennoch ist für die betroffenen Juden die Lage heute weniger bedrohlich als nach 1933. Nicht nur die Existenz Israels, sondern auch die Fluchtmöglichkeiten in die knapp 28 Millionen Quadratkilometer der angelsächsischen Länder schaffen ganz andere Sicherheitsperspektiven. Dazu kommt der „war for foreign talent“, in dem weltweit und ununterbrochen um Qualifizierte geworben wird, unter denen Juden gut vertreten sind. Ihre Abwanderung scheint begonnen zu haben, weil bereits 2005 die Mitgliedschaft in Deutschlands jüdischen Gemeinden mit gut 108.000 ihren Höhepunkt erreicht. 2015 sind es nicht einmal mehr 100.000. Wer gering qualifizierte Judenhasser holt, darf nicht erstaunt sein, dass deren Opfer andernorts gern genommen werden.

Wie der WDR Wilders als Kreatur der Juden darstellt

Der britische Schriftsteller George Orwell arbeitete während des Zweiten Weltkriegs beim staatlichen Rundfunk BBC. Was ihm die Arbeit verleidete, war der Zwang, das kritische Bewusstsein im Interesse des Sieges abzuschalten. Die Sowjetunion Josef Stalins etwa wurde als Verbündete Nazideutschlands in den ersten Kriegsjahren realistisch als blutige Diktatur dargestellt. Als Adolf Hitler jedoch in die Sowjetunion einfiel, waren Hinweise auf den roten Terror unerwünscht. Die BBC wurde zu einem zuverlässigen Propagandainstrument Stalins, die Sowjetunion mutierte zum Arbeiterparadies. Seine Erfahrungen verarbeitete Orwell zu einem Roman, in dem sein Vorgesetzter als Chef der „Gedankenpolizei“ erscheint. Der Roman sollte zunächst den Titel des Erscheinungsjahrs „1948“ tragen. Er ging als „1984“ in die Weltliteratur ein.

In Orwells Roman ist der Held Winston Smith damit beschäftigt, alte Ausgaben der Parteizeitung nachträglich zu verbessern, sodass sie immer der gegenwärtigen Linie der Führung entsprechen. In Ungnade gefallene und liquidierte Parteiführer verschwinden aus Fotos. Voraussagen des „Großen Bruders“, die sich nicht erfüllt haben, werden korrigiert, damit sie mit der Gegenwart übereinstimmen. Die Vergangenheit ist nicht mehr überprüfbar, die Partei hatte immer recht, wie sie immer recht hat. So wie es ist, so wird es immer gewesen sein.

Nun beschreibt Orwells Satire nicht die Wirklichkeit bei der BBC, sondern bläst sie ins Ungeheure auf. Und der Westdeutsche Rundfunk (WDR) wiederum ist nicht die BBC. Und doch weht durch die Kölner Zentrale des WDR anscheinend ein Hauch von „1984“. Was ist passiert? Anlässlich der Wahl in Holland strahlte der Sender am 8. März einen Film des Reporters Joost van der Valk über den Rechtspopulisten Geert Wilders aus. Titel: „Holland in Not“.

Wilders soll „häufig“ das israelische Konsulat besucht haben

Im letzten Drittel des Films wird suggeriert, hinter dem Islamhass von Geert Wilders würden die Juden stecken. Wilders’ Großmutter sei Jüdin gewesen, seine Frau sei Jüdin, er habe als junger Mann ein Jahr in Israel gelebt und würde auch heute „häufig“ das israelische Konsulat besuchen. Ein israelischer Extremist namens Chaim Ben Pesach bekennt sich als Bewunderer des Populisten, die proisraelischen amerikanischen Juden Daniel Pipes und David Horowitz werden als Unterstützer genannt. Wilders wird mit Kippa vor der Klagemauer in Jerusalem gezeigt, sein Gesicht wird vor einer israelischen Fahne montiert.

Zwar behauptet der Film nirgends ausdrücklich, Wilders sei Agent des Zionismus. Das überlässt er dem Prediger Scheich Khalid Jasin, der als „muslimischer Lehrer“ vorgestellt wird. Jasin ist bekannt als Hetzer gegen Juden und andere Ungläubige, gegen Homosexuelle und so weiter. Als der Wilders-Film vor sechs Jahren in der – nun ja – BBC gezeigt wurde, gab es gegen den Auftritt des Hasspredigers Proteste, sodass sich der britische Staatssender verpflichtete, die entsprechenden Stellen zu ändern.

Türkei weist niederländische Kühe aus dem Land aus

Die diplomatische Krise zwischen der Türkei und den Niederlanden erreicht jetzt auch das Rindvieh: Türkische Züchter wollen niederländische Kühe aus Protest gegen das Verhalten Den Haags des Landes verweisen.

Quelle: N24

Das scheint den WDR wenig beeindruckt zu haben. Die Passagen liefen dort in der Originalfassung. Jasin durfte unwidersprochen behaupten, Wilders habe „die Ideen des modernen Zionismus übernommen“ und spreche mit seiner Forderung nach einem Koranverbot und der Zwangsassimilierung von Muslimen nur das aus, „was sich die Juden in Israel nicht zu sagen trauen“. In der Kölner WDR-Zentrale, wo es vor festangestellten Redakteuren nur so wimmelt, die sich hauptberuflich in Filmproduktionen einmischen, fiel niemandem irgendetwas auf.

Einigen Zuschauern schon. Nach Protesten erklärte der WDR, der Film sei zwar „grundsätzlich nicht zu beanstanden“. Allerdings sei der „Prediger Yasin durchaus umstritten“. Jedoch: „Den Vorwurf des Antisemitismus weisen wir entschieden zurück.“ Einen Tag später kündigte der WDR an, er werde den Film vorübergehend zurückziehen und redaktionell bearbeiten. Freilich: „Den Vorwurf, antisemitische Ressentiments zu schüren, weisen wir weiterhin zurück.“

Wenn der Film keine Ressentiments schürt, warum musste er dann „redaktionell bearbeitet“ werden? Der WDR erklärt: „Gleichzeitig mussten wir aufgrund einiger Rückmeldungen feststellen, dass diese Passage“ – gemeint ist vermutlich das letzte Drittel des Films – einen missverständlichen Eindruck erwecken kann“, weshalb sie „bearbeitet“ wird. Wie ein Film einen „missverständlichen Eindruck“ erwecken kann, bleibt Geheimnis der Sprachtüftler in Köln. Der Eindruck, den der Film erwecken wollte, war völlig klar, und den hat er auch erweckt. Kein Missverständnis, nirgends. Aber darum geht es nicht.

Es geht um zwei Dinge. Erstens sind die Verantwortlichen beim WDR anscheinend nicht zu Selbstkritik fähig. Wenn sie dennoch den Film bearbeiten lassen, dann aufgrund „einiger Rückmeldungen“. Der geneigte Leser darf selbst seine Schlüsse ziehen, wer sich da „rückgemeldet“ hat und den Sender zwingt, Änderungen vorzunehmen, obwohl der Film angeblich gar nicht antisemitisch ist, wenn man ihn nicht missverstehen will. In ihrer perfiden Unbestimmtheit trägt die Erklärung selbst zu jener Theorie des unheilvollen jüdischen Einflusses auf Medien und Politik bei, die auch der Film schürt und die etwa auch ein Günter Grass „mit letzter Tinte“ beschwor.

Zweitens aber wird der Film nun nachträglich zensiert und die gereinigte Fassung wieder in die Mediathek gestellt. Es ist mithin nicht mehr möglich, zu klären, ob die Vorwürfe gegen die ursprüngliche Fassung berechtigt waren. Es steht das Wort eines mächtigen öffentlich-rechtlichen Senders gegen ein paar – übrigens nicht jüdische – Blogger, darunter das „Bildblog“.

Was wirklich transparent wäre

Richtig wäre es gewesen, den Film in der ursprünglichen Fassung in der Mediathek zu belassen und gleichzeitig dort die ausführliche Kritik zu veröffentlichen. Das nennt man Transparenz. Man hätte ja auch die beanstandeten Stellen in einer WDR-Sendung wie „Hart aber fair“ zeigen und diskutieren lassen. Vorausgesetzt, die Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus wäre einem wichtig. Stattdessen lässt man irgendeinen Winston Smith die Spuren des Antisemitismus im Film tilgen, spricht von „Missverständnissen“ und „einigen Rückmeldungen“, weist „entschieden zurück“, dass je etwas zu beanstanden gewesen wäre und macht weiter wie bisher. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Gegenwart.

Nein, wir unterstützen nicht die eifernden Kritiker, darunter Geert Wilders, die am liebsten die „Staatsmedien“ zusammen mit der „Lügenpresse“ abknipsen und durch Medien ersetzen wollen, die „alternative Nachrichten“ verbreiten, die ihnen passen. Wir sind für freie Medien. Gerade deshalb hat der Geist von „1984“ in den öffentlich-rechtlichen Anstalten – und auch in den privaten Mainstreammedien – nichts verloren.

Bassam Tibi: Die Rückkehr des Judenhasses. Im Land des «Nie wieder!» kultivieren Muslime den Antisemitismus neu. Deutschland blendet das weitgehend aus.

bazonline.ch

 Bassam Tibi (72) ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen (Georg-­August-Universität Göttingen). Er hat von 2007 bis 2010 am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington D. C. seine zuvor in 22 islamischen Ländern betriebene ­Forschung über die islamistische Ideologie in dem Buch «Islamism and Islam» zusammengefasst. Als wichtigste Säule dieses ­Ideologiegebäudes identifizierte er den islamisierten Antisemitismus. Die Yale ­University Press hat das Buch 2012 ­veröffentlicht. (Basler Zeitung)

Die Rückkehr des Judenhasses

Bassam Tibi

Gleich zu Beginn meiner BaZ-Gastautorenschaft habe ich in einem zweiseitigen Interview vom 7. Juli des vergangenen Jahres am Beispiel meiner eigenen Lebensgeschichte in Damaskus erläutert, wie Menschen im Nahen Osten in einer politischen Kultur des Judenhasses aufwachsen. Die Flüchtlinge, die aus dieser Region nach Europa kommen, bringen diese antiwestliche und judenfeindliche politische Kultur mit sich. Ich werde hier nicht wiederholen, was ich im Interview sagte. Doch nehme ich eine Facette der Problematik auf, die das gesamte Europa betrifft: Die Deutschen und ihre schändliche Geschichte im Verhältnis zu den Juden und was sie selbst hieraus heute lernen beziehungsweise bisher gelernt haben sollten. Anlass zu dieser Vergegenwärtigung gibt die Tatsache, dass Deutschland heute trotz seiner Vergangenheit anderen gegenüber als moralischer Lehrer auftritt, gleichzeitig aber antisemitischen islamischen Flüchtlingen Schutz gewährt.

Ich möchte mit einem deutschen Juden anfangen, der mit seiner Familie vor Hitlers Diktatur 1933 in die USA floh, wo er für mich bis zu seinem Tod Mentor und Freund war. Es ist der grosse Soziologe Reinhard Bendix, der in Berlin geboren wurde und bis zu seinem Lebensende in Berkeley lehrte. Er ist Autor des jüdischen Familiendramas «Von Berlin nach Berkeley. Deutsch-­jüdische Identitäten». Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 vertraute er mir in einem persönlichen Gespräch seine Sorge an, was Deutsche tun würden, wenn sie wieder mächtig sind.

Kürzlich fühlte ich mich an Bendix erinnert, als ich vernahm, wie der neue deutsche Aussenminister in Washington den Amerikanern Vorhaltungen über Religionsfreiheit machte. Diese Person, Sigmar Gabriel, ist nicht nur blass, ihm fehlt in der Aussenpolitik auch jede Fachkompetenz.

Dennoch benimmt er sich wie ein Elefant im Porzellanladen, wenn er die Trump-Administration über den Respekt vor dem Islam und Religionsfreiheit belehrt. Ebenso belehrend war die deutsche Verteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz, als sie an Amerika gerichtet vor Islamophobie warnte.

Selbstvergötzung und Narzissmus

Vorab möchte ich dies als ein in Deutschland lebender Ausländer klarstellen: Die Deutschen haben keine Legitimation für solche Belehrungen. Aus dem Munde dieser Politiker höre ich das, was mein jüdischer Lehrer Adorno im Aufsatz «Auf die Frage: Was ist deutsch?» an den Deutschen beanstandete: «Selbstvergötzung» und «kollektiver Narzissmus». In der heutigen Situation ist stattdessen eine Verantwortungsethik gefordert im Umgang mit Muslimen und Juden, die in Deutschland leben. Belehrungen führen ins Nichts.

Deutsche Politiker, die die Welt vor Islamophobie schützen wollen, übersehen geflissentlich, wie im eigenen Land der Antisemitismus ungeahndet in der Islamgemeinde gedeiht. Während des Gazakrieges 2014 wurden 1596 antisemitische Straftaten von Muslimen verübt. In diesem Zeitraum hat kein einziger Jude einem Araber etwas angetan. Und wie reagiert die ansonsten belehrende Politik hierauf? Die Zeit vom 9. Februar 2017 schrieb: «Antisemitische Taten werden, wenn sie von Zuwanderern begangen werden, als politisch motivierte Ausländerkriminalität verbucht und tauchen in der Antisemitismusstatistik gar nicht auf.» Ein Jahr vor dem zitierten Artikel berichtete der Spiegel: «Übergriffe auf Juden mehren sich», aber sie werden als solche «oft nicht erfasst». Warum?

Die Antwort lautet: Weil die Täter Araber und keine deutschen Nazis sind. Ein deutscher Richter sprach nach ­diesem Spiegel-Bericht antisemitische Täter frei, wies sogar den Vorwurf des Antisemitismus zurück mit dieser Begründung: «Die Täter hätten nur die Aufmerksamkeit auf den Gazakonflikt lenken wollen.» Ich füge hinzu: Das ist nicht das, was Deutsche gern Einzelfall nennen, sondern die Regel im heutigen Deutschland. Arabischer Antisemi­tismus wird nicht nur verdeckt, sondern als solcher statistisch gar nicht erfasst, auch strafrechtlich nicht verfolgt. Ich frage provokant: Haben die Deutschen ihren Mord an Juden vergessen?

Angst vor den Deutschen

Als ein muslimischer und in Deutschland lebender Migrant habe ich nicht nur vor totalitären Islamisten Angst, sondern auch vor solchen Deutschen, die auf eine kranke Art und Weise mit ihrer Mördervergangenheit umgehen. In meinem in den Jahren 2007 bis 2010 am Forschungsinstitut des Holocaust-Museums Washington D. C. angefertigten und 2012 von Yale University Press veröffentlichten Buch «Islamism and Islam» erfasse ich sechs Säulen der islamistischen Ideologie, unter denen der islamisierte Antisemitismus besonders herausragt. Ich komme darin zu dem Ergebnis, dass der Islamismus der neue antisemitische Totalitarismus des 21. Jahrhunderts ist. Wie gehen Deutsche mit dieser Gefahr um? Welche Lehren haben sie aus Auschwitz gezogen?

Meine Autorität bei der Beantwortung dieser Frage ist Adorno mit seinem Aufsatz «Erziehung nach Auschwitz». Für Adorno war Auschwitz eine Barbarei, die bleibt: «Diese Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern.» Wodurch dauern sie fort? Adorno meint, die grösste «Gefahr einer Wiederholung» besteht, solange man «der blinden Vormacht aller Kollektive» nicht entgegenarbeitet. Die Juden Berlins werden auch heute nicht nur als Kollektiv definiert, sondern sie haften auch – eben als Kollektiv – für die Taten der in Israel lebenden Juden, die wieder als Kollektiv bestraft werden sollten. Das ist das Narrativ der deutschen Wahrnehmung arabischer antisemitischer Straftaten. Die Bestrafung der Juden erfolgt durch das Kollektiv der arabischen Diaspora-Muslime in Berlin und anderen deutschen Städten. Diese antisemitischen Verbrechen werden als Ausländerkriminalität aufgeführt, nicht als antisemitische Straftaten, die sie in Wirklichkeit sind.

Meine zweite Frage lautet: Wie sühnen Deutsche den Mord an sechs Millionen Juden? Für einen Unbeteiligten, wie ich es bin, ist die Vehemenz der deutschen Willkommenskultur unverständlich, ja nicht einmal nachvollziehbar. Sie veranlasst mich, nach den Ursachen zu fragen. Die Zeit gibt in ihrer Ausgabe vom 28. Januar 2016 mit dem Titelblatt «Sind die Deutschen verrückt oder ist es der Rest der Welt, der keine Flüchtlinge aufnimmt?» folgende Antwort: «Die an ihrer traumatischen Vergangenheit leidenden Deutschen wollen sich von ihrem Makel befreien und haben sich darum in eine völlig irrationale Willkommenskultur gestürzt. Gewissermassen von Auschwitz direkt zum Münchner Hauptbahnhof.» Von September bis Dezember 2015 versammelten sich Tausende vom «Irrsinn der irrationalen Willkommenskultur» befallene Deutsche, um Muslime aus Nahost, Zentralasien und Nordafrika willkommen zu heissen; sie taten dies nicht aus humanitären Gründen, sondern als Sühne für den Mord an sechs Millionen Juden, jedoch ohne zu wissen beziehungsweise wissen zu wollen, dass sie Antisemiten willkommen heissen.

Die Feststellung eines muslimischen Antisemitismus ist kein Vorurteil, sondern das Ergebnis einer Forschung in 22 islamischen Ländern, die ich in den USA veröffentlicht habe. Auf dieser Basis kann ich bestätigen, was die Zeit vom 9. Februar 2017 feststellt: Es gebe einen Anlass, die «Gefahr zum Thema zu machen, die Hunderttausende arabische Flüchtlinge darstellen». Warum? «Weil sie durchweg aus Ländern stammen, in denen der Antisemitismus so selbstverständlich ist wie essen und trinken».

Eine moralistische Politik

Nun komme ich zur dritten und letzten Überlegung: Deutsche Linksparteien und ihr Verhältnis zum Holocaust. Die Basler Zeitung hat diese Thematik im Januar am Beispiel der Grünen aufgenommen: «Die Partei der Schadenskompensation». Nach deren Verständnis solle sich der demokratische Staat «massgeblich über den Zivilisationsbruch» definieren mit «dem Schluss daraus: ‹Nie wieder!›». Das ist «ein Phänomen einer moralischen Politik», argumentiert die BaZ. Entsprechend verstehen sich die Grünen als «ein erzieherisches Korrektiv der Gesellschaft».

Wie reagieren Grüne in dieser Funktion darauf, dass die neuen Antisemiten nicht mehr vorwiegend alte Nazis, sondern Islamisten sind, die auch aus dem Lager der Flüchtlinge stammen? Seit 2015 treten die Grünen moralisch weniger als eine Partei des «Nie wieder!» denn als Advokaten der islamischen Flüchtlinge auf.

Fakt ist, dass die islamischen Flüchtlinge aus Nahost den Antisemitismus mit sich aus ihrer Region bringen. Die Links-Grünen sind dreist genug, eine Entschuldigung für den islamistischen Antisemitismus zu bieten. Diese Entschuldigung lautet: Diese Muslime seien gar nicht gegen die Juden, sondern nur gegen den Staat Israel und gegen den «rassistischen Zionismus». Wenn das stimmen würde, wäre Theodor Herzl ein Rassist, was er aber niemals war. Die angebliche Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus findet aber nicht statt. Aus meiner Forschung geht hervor, dass die Begriffe Jahudi/Jude und Sahyuni/Zionist von Arabern in der arabischen Sprache Synonym verwendet werden.

Eine beunruhigende Aussage

Der aus Wien stammende, heute in Jerusalem lebende Antisemitismusforscher Manfred Gerstenfeld stellt einen aggressiven Antisemitismus unter den muslimischen Migranten fest und macht eine sehr beunruhigende Aussage: «Im 21. Jahrhundert wurden alle in Europa begangenen Morde an Juden, die getötet worden waren, weil sie Juden waren, von Muslimen begangen.»

Bei einer Diskussion der Bonner Akademie im Oktober des vergangenen Jahres habe ich einen Teil der in diesem Artikel enthaltenen Ergebnisse präsentiert und die Frage aufgeworfen: Sind das die «neuen Deutschen»? Marina Münkler, die auf dem Podium anwesende Mitautorin des Buches «Die neuen Deutschen», rief aus: «Herr Tibi, Sie stereotypisieren die Flüchtlinge!» Es ist eigenartig, wenn eine deutsche Person einem Syrer vorwirft, die eigenen Landsleute zu stereotypisieren, wenn er sich Sorgen macht über eine antisemitische politische Kultur, die diese mit sich nach Europa bringen.

Der grösste jüdische Historiker des 20. Jahrhunderts, Bernard Lewis, belehrt uns im Aufsatz «The New Antisemitism»: «Ein Antisemitismus gleich europäischen Stils wächst in der arabischen Welt […]. Das ist der neue arabische Antisemitismus, der dort gedeiht […]. Dieser neue Antisemitismus hat nichts mit dem Palästinakonflikt zu tun.» Ich empfehle allen, die behaupten, der arabisch-islamische Antisemitismus sei nur ein Ausdruck der Wut gegenüber Israel, diesen Aufsatz zu lesen.

Der neue Antisemitismus

Auch der britische Journalist Daniel Johnson hat einen sehr bemerkenswerten Artikel im Wall Street Journal vom 1. November 2016 über diese Problematik veröffentlicht, worin er zunächst getrennt voneinander zwei Erscheinungen in Europa feststellt: «increasingly visible Antisemitism» und «Europe’s rapidly growing Muslim population». Dann stellt er einen engen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen, also dem zunehmenden Antisemitismus und der wachsenden Islam­gemeinde in Europa her.

Ich bin ganz gewiss kein Anhänger von Donald Trump, möchte aber dennoch mit folgender Beobachtung abschliessen. Deutsche Politiker, die Washington besuchen, verlieren alle Massstäbe und belehren die Trump-­Administration auf deutsch-meisterliche Art über die Gefahren der Islamophobie; sie übersehen hierbei jedoch geflissentlich, wie der islamistische Antisemitismus in ihrem Land floriert. Diese Politiker geben an, Muslime als Minderheiten zu verteidigen. Und wer verteidigt die individuellen Juden vor dem Kollektiv der Islamisten? Und was haben die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt? Wie steht es um den Vorsatz «Nie wieder!»?

Bassam Tibi (72) ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen (Georg-­August-Universität Göttingen). Er hat von 2007 bis 2010 am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington D. C. seine zuvor in 22 islamischen Ländern betriebene ­Forschung über die islamistische Ideologie in dem Buch «Islamism and Islam» zusammengefasst. Als wichtigste Säule dieses ­Ideologiegebäudes identifizierte er den islamisierten Antisemitismus. Die Yale ­University Press hat das Buch 2012 ­veröffentlicht. (Basler Zeitung)

Erstellt: 13.03.2017,

http://bazonline.ch/ausland/standard/die-rueckkehr-des-judenhasses/story/17648613

BaZ: Herr Tibi, Sie schrieben vor Kurzem in der Bild-Zeitung: «Deutsche pendeln zwischen den Extremen: Fremdenfeindlichkeit oder Fremdeneuphorie. Es gibt kein Mittelmass.» – Gibt es einen deutschen Hang zum Extremismus?
Bassam Tibi: Ich lebe seit 54 Jahren unter Deutschen und auf der Basis dieser Erfahrung glaube ich, ein Urteil fällen zu können. Ich beobachte, dass die Deutschen unausgeglichen sind. Entweder sie sind für etwas oder dagegen. Ein Mittelmass gibt es nicht. Das sage aber nicht nur ich. Zwei deutsch-jüdische Philosophen haben dasselbe beobachtet. Helmuth Plessner schrieb, dass die Deutschen immer wieder «dem Zauber extremer Anschauungen verfallen». Theodor W. Adorno spricht von einer deutschen Krankheit, die er «Pathos des Absoluten» nennt.

Diese Unausgeglichenheit mag ein Phänomen der Deutschen sein. Was aber ist der Grund dafür?
Georg Lukacs spricht von «Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklungen Deutschlands». Als England und Frankreich den Weg zur Nation gefunden haben, waren die Deutschen noch komplett verstritten: Sie hatten keine politische Kultur und gaben sich der Kleinstaaterei hin. Die Art, wie Deutschland 1871 vereinigt wurde, ist nicht normal. Die Deutschen haben Identitätsprobleme seit dem 19. Jahrhundert.

Und welche Rolle spielt Hitler?
Hitler war kein Unfall, er war programmiert. Adorno schrieb: Wäre Hitler in Frankreich oder England aufgetaucht, man hätte ihn nur ausgelacht. In Deutschland wurde er bejubelt. Hitler war einer von Deutschlands Sonderwegen.

Auch die deutsche Flüchtlingspolitik stellen Sie in die Reihe dieser Sonderwege. Können Sie das erklären?
Der französische Präsident sagt: Wir nehmen 30’000 Syrer und dann ist Schluss. Die deutsche Bundeskanzlerin nimmt 1,5 Millionen Flüchtlinge auf und weigert sich selbst dann noch, eine Obergrenze einzuführen. Das ist ein Sonderweg, wie er für die Deutschen typisch ist. In einem Streitgespräch in der Welt mit dem jüdischen Journalisten Henryk Broder sagte ein Künstler: «Wir sind Deutsche, wir können keine Normalität haben.» Da fragte Broder: «Wieso nicht?» Da sagte der Künstler: «Wir haben die Juden ermordet.» Da sagte Broder: «Ich bin Jude und ich möchte in einem normalen Land leben.» – Diese Normalität herzustellen, wäre wichtig für Deutschland. Aber die Eliten aus Wissenschaft, Politik und Medien weigern sich dagegen.

Deutschland verärgert Sie, gleichzeitig haben Sie auch Mitleid mit den Deutschen. Wieso eigentlich?
Meine Heimat ist heute Göttingen. Die Stadt hat mehrere Tausend Flüchtlinge aufgenommen und die bestimmen, wo es langgeht. Die machen viel Lärm auf den öffentlichen Plätzen und bringen Unruhe in die Innenstadt. Wenn ich mich gestört fühle, sage ich: «Machen Sie bitte das Radio aus.» Oder: «Sprechen Sie bitte leise.» Ich habe keine Angst, dies zu tun. Die Deutschen aber haben Angst, weil sie sich fürchten, als Rassisten bezeichnet zu werden. Darum habe ich Mitleid mit ihnen. Die sind so eingeschüchtert, dass sie sich nicht mehr trauen zu sagen, was sie denken.

Sie selber sind Syrer. Ihre zweite Heimat Deutschland nimmt Hunderttausende Ihrer Landsleute auf – Sie müssten sich doch darüber freuen.
Ich fahre sehr viel Taxi, denn ich habe kein Auto. Das Schönste am Taxifahren sind die Gespräche mit den Deutsch-Türken und Deutsch-Iranern. Die denken genau wie ich. Wir haben es geschafft, hier Arbeit, Freiheit und ein bisschen Ruhe zu finden. Diese 1,5 Millionen Flüchtlinge bringen Unruhe in diese Gesellschaft. Wir deutschen Ausländer haben Angst um unsere Integration. Der hässliche Deutsche ist stets Nazi oder Gutmensch. Das sind die beiden Seiten derselben Medaille. Ich habe Angst, dass die Gutmenschen von heute morgen Nazis sind.

Weil sie sich plötzlich überfordert fühlen könnten?
Ja.

Sie selber waren ein Antisemit, als Sie nach Deutschland kamen.
Ich bin in Damaskus geboren und habe da bis zum 18. Lebensjahr gelebt. In der Schule und in den Medien habe ich jeden Tag gehört, dass die Juden Verschwörer und Feinde der Araber sind – das war die Hintergrundmusik meiner Kindheit. Ich kam als Judenhasser nach Deutschland, nicht weil ich Bassam Tibi bin, sondern weil ich in dieser antisemitischen arabischen Kultur aufgewachsen bin. Die meisten Syrer sind Antisemiten.

Wie haben Sie diesen Antisemitismus abgelegt?
Ich hatte das Glück, bei zwei grossartigen jüdischen Philosophen in Frankfurt zu lernen: Adorno und Horkheimer. Adorno hat mein Leben verändert, er hat mich von meinem Antisemitismus geheilt. Wenn Adorno Jude ist, dachte ich, dann können Juden nicht schlecht sein. Ich war später der erste Syrer, der nach Israel reiste und öffentlich sagte: Ich anerkenne das jüdische Volk und sein Recht auf Staatlichkeit in Israel. In Syrien galt ich deswegen als Landesverräter.

Sie sprechen syrische und arabische Flüchtlinge spontan auf der Strasse an und reden mit Ihnen, wie Sie in der Bild-Zeitung schrieben.
Ja, und ich kriege Informationen, die Deutsche nicht bekommen. Denn die Syrer sprechen mit den Behörden nicht so ungezwungen wie mit mir.

Was erfahren Sie über ihre Vorstellungen vom Leben, ihre Erwartungen an Deutschland?
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Ein Palästinenser, der in Damaskus lebte: Er ist in Göttingen, sein Asylverfahren wird sehr langsam bearbeitet. Der Grund: Die deutschen Behörden sind überlastet. Er sagte zu mir: «Die Juden sind schuld.» Ich fragte: «Was haben die Juden mit dem deutschen Asylverfahren zu tun?» Er: «Hast du nicht gesehen, hier in Göttingen gibt es eine Judenstrasse und da sitzen sie und regieren die Stadt.» – Ich versuchte, mit ihm rational zu reden, aber das hatte keinen Sinn. Ein anderer Syrer: anerkannter Asylant, vier Kinder, spricht kein Wort Deutsch. Er wollte von der Stadt ein Auto haben, diese hat es ihm aber verweigert. Er sagte mir: «Das waren Juden, die das entschieden haben.»

Sind das repräsentative Beispiele?
Ja. Diese Menschen sind sozialisiert in einer antisemitischen Kultur.

Ihnen geht die «arabische Lärmkultur» auf die Nerven. Wie reagieren Ihre Landsleute, wenn Sie sie im öffentlichen Raum zurechtweisen?
Ich habe eine Methode im Umgang mit diesen Leuten. Ich gehe hin und sage auf Arabisch: «Mein Name ist Bassam Tibi. Ich bin aus Damaskus, ich bin Muslim wie du, ich lebe hier und bin dankbar dafür.» Dann sage ich: «Ihr benehmt euch unanständig. Das ist gegen syrische Sitten.» – Ich beschäme sie also, und wenn das nicht funktioniert, zitiere ich Verse aus dem Koran und sage, sie würden sich unislamisch benehmen. Ich kenne den Koran in- und auswendig, mit Suren kriege ich sie klein. Glauben Sie mir: Wenn ich Arabisch rede mit arabischen Argumenten, habe ich mehr Macht über diese Leute als ein deutscher Polizist.

Der normale Deutsche kann nicht Arabisch und kommt nicht aus Damaskus. Sie wünschten sich aber gerade, dass Deutsche mehr reklamieren, wie Ihre Kultur funktioniert. Wie soll das gehen?
Ich habe lange in Amerika gelebt. Muslimische Jugendliche in Boston, New York und Washington haben eine Mischung aus Angst und Respekt, wenn sie einen Polizisten sehen. Sie wissen, dass sie ins Gefängnis kommen, wenn sie ihn frech behandeln. Die deutschen Ordnungsbehörden müssen Ausländer, die sich gegen den Staat verächtlich verhalten, in die Schranken weisen. Das passiert aber nicht. Die Angst vor dem Rassismus-Vorwurf ist in Deutschland grös­ser als die Angst vor dem Verfall der öffentlichen Ordnung.

Die Medien akzentuieren stark die Dankbarkeit der Flüchtlinge für die deutsche Gastfreundschaft. Erleben Sie das auch so oder überwiegt eine realitätsfremde Erwartungshaltung?
Es überwiegen die hohen Erwartungen, aber diese sind auch rational erklärbar. Wir leben in einer globalisierten Welt: Die Leute sehen schon in ihren Herkunftsländern, dass es in Deutschland tolle Wohnungen, blonde Frauen und den Sozialstaat gibt. Ich war gerade in Kairo: Da ist eine Zweizimmerwohnung ein Luxus. Ein Mann, der in Kairo heiraten will, muss dem Vater des Mädchens nachweisen, dass er eine Zweizimmerwohnung hat. Hier in Göttingen kenne ich 16-jährige Araber, die für sich alleine eine Zweizimmerwohnung haben. Und wer mit 16 eine Zweizimmerwohnung hat, will mit 18 ein Auto! Aber der Sozialhilfesatz reicht dazu nicht aus.

Darin wittern Sie ein grosses Enttäuschungspotenzial.
Ja. Denken Sie, selbst der dankbare Syrer, der mit Merkel das berühmte Selfie gemacht hatte, war vor ein paar Wochen im Fernsehen und erklärte, er sei nun von Merkel enttäuscht: Er wolle Arbeit, ein sicheres Einkommen und eine Wohnung. Wir werden grosse soziale Konflikte erleben.

Wie können Sie sich da so sicher sein?
Erstens, weil Deutschland die hohen materiellen Erwartungen nicht erfüllen kann. Zweitens, weil diese Flüchtlinge ein Wertesystem haben, das mit der Moderne nicht vereinbar ist. Die Syrer, mit denen ich rede, sagen: «Die Deutschen haben keine Ehre, weil ihre Frauen mit jedem schlafen.» Sie sagen: «Mit meiner Frau, mit meiner Tochter und Cousine kann nicht jeder herumschlafen. Die sind meine Ehre.»

Was bedeutet das im Umgang mit deutschen Frauen?
Wir haben das in der Silvesternacht von Köln gesehen. Hunderte junge muslimische Männer behandelten Frauen als Freiwild.

Diese Männer wissen, dass sie eine Straftat begehen. Denken sie trotzdem: Deutsche Frauen sind einfach Schlampen, die man belästigen kann?
Beides trifft zu. Sie wissen, dass es gesetzlich verboten ist. Aber sie denken auch: Deutsche Frauen sind Schlampen. Und dazu kommt das Wissen, dass ihr Handeln keine Folgen hat. Deutsche Polizisten haben im Umgang mit Flüchtlingen Angst. Sie haben nicht vor den Flüchtlingen Angst, sondern Angst davor, als Rassist bezeichnet zu werden, wenn sie Flüchtlinge zurechtweisen. Das ist aber ein verheerendes Signal. Viele Neuankömmlinge halten Deutsche deshalb für Weich­eier. Sie nehmen Deutsche gar nicht ernst.

Sie haben die Ereignisse auch mit einer Rache der Verlierer erklärt. Vereinfacht gesagt: Die, die das Auto und die schöne Wohnung nicht kriegen, rächen sich am deutschen Mann, indem sie seine Frau missbrauchen.
Vergewaltigung von Frauen ist ein Mittel der Kriegsführung in Syrien. Alle Kriegsparteien machen das. Die Flüchtlinge, die hierherkommen, kommen aus dieser Kultur und nicht alle sind Opfer. Wenn solche Männer nicht kriegen, was sie erwarten, werden sie wütend. In der Kultur, aus der ich komme, will man Leute demütigen, die einen wütend machen. Im Orient demütigt man einen Mann, indem man seine Frau demütigt: durch Vergewaltigung. Meine Vermutung ist, dass diese jungen muslimischen Männer in Köln die Frauen demütigen wollten, und hinter dieser Demütigung steht die Demütigung des deutschen Mannes. Die Frau ist ein Instrument dafür.

Sie sagen: Köln war nur der Anfang. Warum blicken Sie so negativ in die Zukunft?
Wenn es dem deutschen Staat gelingt, Flüchtlinge zu integrieren, dann gibt es keine Probleme. Aber ich sehe kein Integrationskonzept, keine Einwanderungspolitik, ich sehe nur Chaos.

Patriarchalisch gesinnte Männer aus frauenfeindlichen Kulturen lassen sich nicht integrieren, sagen Sie. Was soll ein Staat mit solchen Männern machen, wenn er sie nicht ausschaffen kann?
Die Leute, die hier sind, müssen umerzogen werden. Die Deutschen waren 1945 mehrheitlich Nazis. Hitler hat mit der Zustimmung der Mehrheit der Deutschen regiert. Die Deutschen wurden vom Westen umerzogen zu Demokraten. Ich verlange eine Umerziehung für die Migranten aus der Welt des Islams: eine Umerziehung aus der patriarchalischen Kultur hin zur Demokratie.

Solche Bemühungen hat Deutschland mit seinem Integrationsgesetz auch in die Wege geleitet.
Davon habe ich nichts bemerkt. Die Deutschen denken, alles könne per Gesetz geregelt werden, das ist Teil ihres obrigkeitsstaatlichen Denkens. Das ist Teil des deutschen Sonderwegs. Wertevermittlung ist aber eine gesellschaftliche Aufgabe.

Warum haben Deutsche solche Probleme, ihre Werte zu vermitteln?
Ich umarme Sie für diese Frage! Ich habe in Amerika noch keinen muslimischen Immigranten erlebt, der nicht gesagt hätte: I am an American. Alle meine türkischen Freunde in den USA sagen das! Ich habe einmal auf einer US-Militärbasis Vorträge über den Islam für amerikanische Offiziere gehalten und gesehen, wie Leute, die in Sudan, in der Türkei und in Syrien geboren sind, weinend unter der amerikanischen Flagge standen und die Hymne sangen. «Integration is providing a sense of belonging» – Integration bedeutet Zugehörigkeit. Ich selbst habe hier in fünfzig Jahren aber nur geschlossene Türen erlebt. Neulich fragte mich eine TV-Moderatorin in einer Talkshow: «Schämen Sie sich, dass Sie Syrer sind?» Ich sagte: «Ich schäme mich nicht, aber ich möchte Deutscher sein.»

Sie sind ja Deutscher!
Ich bin deutscher Staatsbürger, aber kein Deutscher. Ich gelte als Syrer mit deutschem Pass. In Deutschland unterscheidet man zwischen dem Staatsbürger und dem Deutschtum. Ich füge mich und nenne mich Syrer. Der deutsche Pass gibt mir Rechts­sicherheit und ich nehme mir die Rechte, die viele Deutsche gar nicht brauchen.

Sie kamen als Syrer und Antisemit nach Deutschland. Mittlerweile sind Sie eingebürgert und machten eine wahnsinnige wissenschaftliche Karriere in diesem Land. Ihr Beispiel macht doch Hoffnung, dass Integration gelingen kann.
Sie sagen, ich habe hier eine wahnsinnige Karriere gemacht – das stimmt nicht! Ich bin mit 28 Jahren Professor in Göttingen geworden, aber das war auch das Ende meiner Karriere in Deutschland. Meine Karriere habe ich in Amerika gemacht. In Deutschland bin ich ausgegrenzt, getreten und gemobbt worden. Eine Willkommenskultur habe ich nie erlebt. Der einzige Grund, warum ich hier blieb, ist meine deutsche Familie. Die wollte nicht nach Amerika gehen. Die Entscheidung war womöglich falsch.

Warum haben Sie den deutschen Pass angenommen?
Ich wollte Deutscher sein. 1971 habe ich einen Antrag gestellt. Es hat fünf Jahre gedauert, bis ich ihn bekommen habe. In diesen fünf Jahren wurde ich unheimlich gedemütigt. Ich hatte einen deutschen Doktor­titel, eine deutschsprachige Habilitation geschrieben. Aber stellen Sie sich vor: Auf dem Amt diktierte mir ein deutscher Polizist einen Text aus der Bild-Zeitung, um meine Deutsch- Kenntnisse zu prüfen. – Wie wollen die Deutschen 1,5 Millionen Muslime integrieren, wenn sie mich, der ich dreissig Bücher in deutscher Sprache geschrieben habe, nicht integrieren konnten?

Sind Muslime besonders schwer inte­grierbar?
Seien wir ehrlich, ein Hindu oder Buddhist integriert sich sicher leichter. Das Gerede, die schlechte Inte­gration von Muslimen habe mit dem Islam nichts zu tun, ist Quatsch. Der Islam macht den Muslimen Schwierigkeiten bei der Integration, solange er nicht reformiert ist.

Das heisst: In Deutschland tritt gerade der Worst Case ein. Schlecht integrierbare Menschen treffen auf eine Gesellschaft, die nicht fähig ist, Menschen zu integrieren?
Genau! Ich hatte zwei Vorstellungen im Leben und kreierte dazu zwei Begriffe: den des Euro-Islams und den der Leitkultur. Heute muss ich einsehen: Deutschland ist unfähig, eine Hausordnung für das friedliche Zusammenleben anzubieten. Die Muslime in Deutschland sind ihrerseits unwillig, sich zu einem europäischen Islam zu bekennen. Ich halte mittlerweile beides für Utopien. Ich kapituliere.

Schafft nicht die deutsche Willkommenskultur die Grundlage für ein neues Verhältnis zu den Migranten?
Im Januar 2016 schrieb die Zeit: «Sind wir verrückt oder sind das die anderen?» Die Zeitung beschrieb eine direkte Linie von der Empfangs- Euphorie der Deutschen zu Auschwitz. Die Deutschen sind nicht an den Münchner Bahnhof gegangen, weil sie die Flüchtlinge lieben, sondern weil sie versuchen, ihre Schuldgefühle am Mord an den Juden mit Willkommenskultur zu kompensieren. Das ist keine gute Grundlage. Der Historiker August Winkler nennt das eine Kultur der Selbstgefälligkeit.

Das ist eine grosse Unterstellung. Sie und Winkler massen sich an, die Motive der Menschen, die helfen, zu kennen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe Angst vor diesen Deutschen.

Die Schweizer fordern Anpassung rigoroser ein als die Deutschen. 2009 bestimmte das Volk, dass in der Schweiz keine Minarette mehr gebaut werden dürfen. Sie sind Muslim: Verletzt dieser Entscheid Ihre Gefühle?
Zum islamischen Glauben gehört eine Moschee, und eine Moschee ohne Minarett kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich bin Sozialwissenschaftler und ich mache Kompromisse.

Das heisst?
Ich möchte mich nicht festlegen. Der grösste Kompromiss von muslimischer Seite wäre: eine Moschee, aber ohne Minarett. Der weniger grosse Kompromiss wäre: eine Moschee mit Minarett, aber ohne Aufruf zum Gebet. Denn dieser Lärm ist ein Störfaktor für Nicht-Muslime. Aber nicht nur für diese! Ich habe jahrelang in Kairo gelebt und in Jakarta – zwei grosse islamische Städte. Ich konnte sehen, wie die Preise der Immobilien in einem Quartier jeweils rapide gesunken sind, wenn eine neue Moschee gebaut wurde. Wenn der Muezzin kommt, gehen viele Muslime nicht zum Gebet, sie verkaufen ihre Wohnung.

Herr Tibi, ich wurde auf Sie erst kürzlich aufmerksam und da habe ich mich gewundert: Wie ist es möglich, dass ein deutscher Islamexperte mit Ihrem Renommee, der dazu noch aus Syrien kommt, von deutschen Medien in Zeiten der Flüchtlingskrise nicht befragt wird?
Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert Denk- und Redefreiheit. Die deutsche politische Kultur steht aber nicht in Einklang mit dem Grundgesetz. Es gibt kritische Meinungen, die in diesem Land nicht gefragt sind. Für die gibt es einen Maulkorb. Ich war der Islam- und Nahostexperte des deutschen Fernsehens, ich war 17 Jahre lang regelmässiger Gastautor der FAZ und habe für alle grösseren deutschen Zeitungen geschrieben. Dann bin ich aus allen Medien entfernt worden. Erst 2016 bin ich mit Hilfe von Alice Schwarzer und einer Journalistin der Welt in die Medien zurückgekehrt. Ich hätte hier viel zu sagen, aber meine Meinung will man nicht hören.

Jetzt können Sie sich ja wieder äussern.
Ja, ich kriege langsam, aber sehr langsam, die Freiheit, meine Sorgen auszusprechen. Der Dosenöffner war Köln. (Basler Zeitung)

Erstellt: 07.07.2016

Ein Dokument der Schande – Martin Luthers antisemitische Hauptschrift

Von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Herausgabe Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ durch Matthias Morgenstern eröffnet der Verlag Berlin University Press eine Reihe wissenschaftlich kommentierter antijudaistischer Schriften. Im Falle dieses Vorhabens drängt sich die Frage nach dem Ziel und der Sinnhaftigkeit eines derartigen Unternehmens unweigerlich auf. Der Verlag gibt hierüber im Rahmen des Buches leider keine Auskunft. Im Geleitwort mahnt Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm an, es genüge nicht, bei einer historisierenden Debatte zu verharren. Vielmehr gehe es um „die selbstkritische Verständigung über das, was wir der Reformation verdanken“. Dass mit Morgenstern ein Judaist die Ausgabe eines seit 1936 in Deutschland nicht mehr vollständig erschienenen Schlüsselwerkes besorge, sei ein glücklicher Umstand. „… es ist die jüdische Sicht und damit der Blickwinkel der Opfer“, erklärt Bedford-Strohm.

In der Tat ist der Pfarrer Matthias Morgenstern als außerplanmäßiger Professor an der Universität Tübingen tätig und durch zahlreiche Publikationen ausgewiesen. Er hat dem von ihm sprachlich den heutigen Gewohnheiten angepassten Text einen umfassenden Kommentar und Anhang beigeordnet. Seinem abschließenden Essay zum lutherischen Werk gibt er die Überschrift „Erwägungen zu einem Dokument der Schande“. Ausgehend von den verheerenden Wirkungen, die Luthers Schrift in nationalsozialistischer Zeit anrichtete, erfährt der Leser das Ziel seiner Arbeit. Angesichts des Lutherjubiläums müsse „im Hinblick auf den Sachverhalt Luther und die Juden wirklich alles auf den Tisch“. Geht es Morgenstern also um Dekonstruktion einer historisch wirkmächtigen Persönlichkeit? Es gelte zunächst einmal, den Autor in seinen zeitlichen Kontext zu verorten und ihn so zu historisieren. Es dürfe nicht vergessen werden, in welcher kritischen Lebenslage die berüchtigte Schrift entstanden sei. Luther befand sich in der Verarbeitung des frühen Todes seiner Tochter Magdalena, die im Alter von 13 Jahren starb. Aber derartige Ausführungen könnten ja auf eine Entlastung des Reformators hinauslaufen. Morgenstern konstatiert eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit Luthers antijudaistischen Schriften im Ausland, „von der man nicht wünschen will, sie in absehbarer Zeit hierzulande Platz greifen zu sehen.“ Ziel sei es, sich dem Text aus der Opferperspektive anzunähern, ihn in ein annehmbares Neuhochdeutsch zu übertragen und mit Hilfe jüdischer Quellen zu kommentieren.

Luthers im Original ungegliederte Schrift wird vom Herausgeber in acht Abschnitte unterteilt. So wird der Argumentationsstrang verdeutlicht und gleichsam die Traditionslinie sichtbar, die Luther aufnahm und bestärkte. Neben Angriffen auf die von den Juden behauptete edle Abstammung ihres Volkes, auf den Ritus der Beschneidung und den „Besitz“ der Gesetzestafel vom Sinai führt der Reformator zum jüdischen Umgang mit dem Messias. Luther versucht zunächst das den Juden unterstellte Argument zu entkräften, es handle sich um ein von Gott auserwähltes Volk. Zwar fänden sich entsprechende Passagen im Alten Testament, doch hätten die Juden dieses Recht vor Gott längst verwirkt. Im Falle der Gesetzestafel erklärt Luther in scharfem Ton: zwar sei sie dem Volke Israel eröffnet worden, doch missachteten die Juden jene heiligen Gesetze. Es komme nicht darauf an, dieselben zu besitzen, sondern sie umzusetzen und nachzuleben.

Gott strafe die Juden seit 1500 Jahren. Deutlichstes Anzeichen hierfür sei die Verteilung des Volkes über die Erde. Die Lektüre erweist sich also als überaus unappetitlich und fordert dem Leser, trotz der textlichen Modernisierung, schon einige Geduld ab. Könnte im Falle des ersten Kapitels noch vermutet werden, Luther meine gar nicht direkt die Juden, sondern nehme sie nur als Beispiel, um Zeitgenossen vor hoffärtigem Verhalten zu warnen, so wird spätestens mit dem zweiten Kapitel unmissverständlich klar, dass der Reformator einen Generalangriff gegen die unliebsame Minderheit führt. Hierbei ist auffällig, und Morgenstern weist im Kommentar zu Recht darauf hin, dass Luther Juden permanent mit dem Teufel in Beziehung setzt, sie der Teufelskindschaft bezichtigt. Morgenstern vermutet diesbezüglich einen direkten Zusammenhang mit der gegen Luther gerichteten scharfen Verunglimpfung seiner eigenen Mutter. Interessant sind auch kleinere Einschübe, in denen Luther verdeutlicht, dass er Juden, Türken, Papisten und „Rotten“ gleichermaßen für Feinde der wahren Lehre hält. „Und wenn ich meine Papisten nicht erfahren hätte, so hätte ich es nicht geglaubt, dass auf Erden so böse Leute sein sollten … aber nun wundere ich mich weder über die Türken noch über die Blindheit, Härte und Bosheit der Juden, weil ich solches bei den allerheiligsten Vätern der Kirche, beim Papst, bei Kardinälen und Bischöfen (ebenfalls) sehen muss “.

Luthers Schrift ist in hohem Maße vom eigenen theologischen Selbstverständnis getragen. Erst im letzten Drittel werden konkrete Maßnahmen gegen die Juden gefordert. Diese allerdings in einer Form, die die Klassifizierung als „Dokument der Schande“ durch Morgenstern in der Tat rechtfertigt. Luther fordert hier Synagogen niederzubrennen, die Zeugnisse jüdischer Religiosität vom Erdboden zu tilgen, „damit kein Mensch mehr davon in Ewigkeit einen Stein oder Schlacke sehen kann“. Gleiches rät er die jüdischen Häuser betreffend. Er fordert, die Juden zusammenzutreiben und gemeinschaftlich unterzubringen, ihnen jegliche Freizügigkeit zu verbieten, Rabbinern Lehrverbot zu erteilen, den Geldhandel zu verbieten und stattdessen „Dreschflegel, Axt, Hacke, Spaten … in die Hand (zu) gebe(n) und lasse sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen.“ Sofern jedoch „Unheil“ von ihnen drohe, solle man mit ihnen abrechnen, wie in Spanien, Frankreich und anderen Ländern. Angesichts derartiger, von unverhohlenem Hass getragenen Äußerungen nimmt es wenig Wunder, dass die Forschung zum Antisemitismus bislang den Schlusspassagen höheres Augenmerk widmete als den wesentlich umfassenderen übrigen Textabschnitten.

Morgenstern lenkt das Augenmerk nun jedoch stärker auf die theologische Auseinandersetzung Luthers mit den Juden im Rahmen der Bibelexegese. Zu Unrecht hätte die bisherige Antisemitismusforschung die umfassende Auseinandersetzung mit der jüdischen Auslegung am Anfang des Buches unterschätzt und sich in zu hohem Maße auf die erst am Ende des Buches formulierten Aufrufe zur gewaltsamen Unterdrückung der Juden fokussiert. Die Lügen der Juden aber sind für Luther in erster Linie Lügen im Zuge der Bibelauslegung. Seine Wut habe sich gerade aus der seiner Ansicht nach falschen jüdischen Auslegung der Bibel gespeist. „Offenbar sind es gerade die Streitigkeiten um das richtige Bibelverständnis, die beim Autor Aggressionspotential freisetzen“, konstatiert Morgenstern. Die somit von der Forschung nur gering beachteten Passagen seien der eigentliche Kern der lutherischen Schrift. Morgenstern verleiht seiner Interpretation besonderes Gewicht durch die Einteilung in Kapitel und die Formulierung „Das Hauptstück: Der Messias“. Seine Neubewertung wirkt überaus anregend und darf Morgenstern als bedeutendes Verdienst angerechnet werden.

Bemerkenswert ist die ruhige und sachliche Auseinandersetzung mit einem von Hass getragenen Text. Morgenstern verweist auf die beachtlichen Detailkenntnisse, über die Luther bezüglich des Judentums verfügte. Der Reformator habe zudem eine ausgesprochene Vorliebe für das Hebräische besessen. Gerade dies erschwere die Wertung der Äußerungen Luthers.

Morgensterns Anmerkungen wirken bereichernd, wo sie die lutherischen Aussagen kommentierend erklären, indem sie die Bezüge zur jüdischen Überlieferung offenbaren. Auch die Hinweise auf sprachliche Abweichungen vom Original sind vorbildlich und sinnvoll. Interessant wäre ein Vergleich zur späteren antisemitischen Literatur, deren Hauptargumentationslinien sich ja hier bereits andeuten. Andererseits hätte ein derartiger Kommentar gewiss den Rahmen der Darstellung gesprengt. Kritisierbar ist jedoch, dass relevante Publikationen von Morgenstern nicht rezipiert wurden, so der 2015 erschienene Sammelband von Oelke, Kraus, Schneider-Ludorff, Schubert, Töllner zur Rezeptionsgeschichte der lutherischen Judenschriften.

Morgenstern legt ein wichtiges historisches Dokument vollständig und neu kommentiert vor. Es wird helfen, die Geschichte des antijudaistischen und antisemitischen Denkens in Deutschland besser zu verstehen. Dass zur Herausgabe des Textes Mut gehört, äußert schon Bedford-Strohm in seinem Vorwort. Der Rezensent schließt sich dieser Aussage an und hofft, dass die Reihenherausgeber an die Qualität des ersten Bandes mit weiteren Quellenpublikationen anknüpfen können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

http://literaturkritik.de/luther-juden-ihren-luegen-ein-dokument-schande-martin-luthers-antijudaistische-hauptschrift-wissenschaftlich-kommentiert,22855.html

Titelbild

Martin Luther: Von den Juden und Ihren Lügen. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern.
Mit einem Geleitwort des Landesbischofs Dr. Heinrich Bedford-Strohm, EKD Ratsvorsitzender.
Berlin University Press, Berlin 2016.
328 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783737413206

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kritik theologischer Fundierungen des Antisemitismus als Forschungsdesiderat

Dieses Jahr steht ein großes Jubiläum an. 500 Jahre ist es nun her, dass mit der Reformation die evangelische Kirche entstand. 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den katholischen Ablasshandel. Wer der Römischen Kurie damals Geld bezahlte, sollte damit für sich oder seine bereits verstorbenen Verwandten einen zeitlichen Erlass der Leidenszeit im Fegefeuer erwirken können. Eine lehrreiche Erinnerung daran, mit welchen idiotischen Methoden die christliche Kirche über Jahrhunderte hinweg ihre Gläubigen zum Narren hielt, um ihnen mit drohenden Phantastereien über den Teufel und die Hölle das letzte Hemd zu rauben. Die beträchtlichen euopaweiten Erlöse dieser Geschäfte mit lügenhaften Versprechen wurden seinerzeit nach Rom geschleust und erlaubten es den Päpsten, dort den prunkvollen Petersdom zu erbauen.

Dass Luther derlei katholischem Gebaren – er geißelte es als Beutelschneiderei – mit robuster Rhetorik Einhalt gebot, war sicher ein Fortschritt für die Aufklärung. Allerdings gibt es auch im Jahr 2017 immer noch einen Papst, wenn auch keinen Ablasshandel mehr. Die katholische Kirche, die nach wie vor Frauen das Priesteramt verbietet, die systematischen Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen vertuschte und in Sachen Sexualität stets genau das Falsche predigt, ist keineswegs die einzige religiöse Organisation auf dieser Erde, die den Menschen auf der Grundlage unbelegbarer Hirngespinste alle möglichen Dinge verbieten möchte, die das Leben schön machen. Im Namen des Islam ist mittlerweile sogar ein ganz neuer Terrorismus unterwegs, der die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzt und dem Irrsinn der Religion ein Comeback verspricht, das die mittelalterlichen Folter- und Hinrichtungsinstitution der katholischen Inquisition bald wie eine bloße Fußnote der Geschichte erscheinen lassen könnte.

Nun gibt es allerdings ein klitzekleines Detail, welches das geplante evangelische Kirchentags-Gejubel über die Reformation in diesem Jahr zumindest aus der Sicht kritikfähiger Christen empfindlich trüben dürfte. Mit den Massenmördern des Islamischen Staats, den Israel-Hassern von der Hamas und vielen anderen antisemitischen Gruppen unserer Zeit hatte Luther etwas gemein, das unter anderem auch der Propaganda des „Dritten Reiches“ gelegen kam, die sich immer wieder begeistert auf den Urvater der evangelischen Kirche berief. Julius Streicher, dessen NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ zu den krassesten Publiktionen in der Geschichte des Antisemitismus zählt, schrieb in einer Ausgabe von 1943: „Dieser Judenkenner Martin Luther spricht in unsere Zeit hinein als großer Mahner, der Erkenntnis die Tat folgen zu lassen: Das Verbrechervolk der Juden muß vernichtet werden, auf daß der Teufel sterbe und Gott lebe.“

Dass sich führende und einflussreiche Nationalsozialisten wie Streicher plötzlich derartig auf einen Kirchenmann berufen konnten, obwohl sich ihre Ideologie im Kern antichristlich gab, lässt aufhorchen. Genauso wie die Antisemitismusforschung die Rolle der Emotionen für den Judenhass, der sich schon in seinem Namen als Gefühl ausweist, bislang sträflich vernachlässigt hat, darf nicht vergessen werden, dass Judenverfolgungen seit jeher – und bis heute – immer wieder mit fundamentalistischen religiösen Begründungen mehrheitsfähig gemacht werden konnten. Zu Luthers Zeiten, gegen Ende des Mittelalters, war es vor allem die damalige christliche Weltanschauung, die seit Jahrhunderten Pogrome gegen jüdische Minderheiten provoziert hatte, und heute sind es islamistische Ideologien, die derzeit den spektakulärsten, regelmäßig stattfindenden Attentaten auf Juden in Israel und in Europa den Weg bereiten.

Doch der Antisemitismus ist und bleibt erfinderisch. Er bewegt sich in der Wahl seiner zentralen Hass-Motive und affektiven Skripts in der Geschichte äußerst flexibel vor und zurück. Wie etwa die verstörenden Forschungsergebnisse von Monika Schwarz-Friesel und Yehuda Reinharz zeigen, ist er auch in Deutschland wieder auf dem Vormarsch, also in einer heute zum Großteil säkularen, wenn auch immer noch eher christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft. Nicht nur fanatischen muslimischen Demonstranten erschien es im Sommer 2014 einleuchtend, den demokratischen Staat Israel auf deutschen Straßen als „Kindermörder“ zu denunzieren. Deutsche Polizisten fanden damals nichts dabei, dem Mob noch bereitwillig das Megaphon dafür zu reichen, derartige antisemitische Dämonisierungen ungehindert durch deutsche Innenstädte zu brüllen. So gut wie niemandem fiel jedoch dabei auf, dass es sich bei dem „Kindermörder“-Vorwurf schlicht um ein modernes Remake eines uralten Ritualmordvorwurfs gegen ‚die Juden‘ handelte, Kinder zu religiösen Zwecken zu rauben und grausam zu schlachten, der ursprünglich aus dem frühen Mittelalter stammt.

Wo kommen die zentralen, oftmals uralten Narrative des Antisemitismus im Einzelfall her? Ein Blick zurück auf Martin Luther und seine Rezeption in der Moderne, die bislang verblüffend wenig untersucht worden ist, verspricht Aufschluss. Das Thema Religion für die Antisemitismusforschung fruchtbar zu machen, liegt dieses Jahr aus gegebenem Anlass ohnehin in der Luft. So fällt eine Berliner Tagung mit prominenten VorträgerInnen zum Thema auf, deren Folgepublikation erhellend auszufallen verspricht. Heißt es doch in der Ankündigung:

In der bundesdeutschen und europäischen Antisemitismusforschung spielen Theologie und Kirchengeschichte kaum eine Rolle. Sowohl die Wurzeln des säkularen Antisemitismus wie auch Teile seiner Gegenwart sind aber religiös bestimmt. Damit kommen zentrale Motive, die das schwierige Verstehen von Antisemitismus möglich machen, nicht in den Blick. […] Für die Theologie gilt, dass die Bearbeitung des Antisemitismus zentral ist für die Aufarbeitung von Gewalttraditionen, für ein Akzeptieren der Ambivalenzen im Glauben und für den Verzicht auf christliche Identitätsbildung durch Ab- und Ausgrenzung. Solche Motive sind auch im säkularen Antisemitismus virulent. Die Antisemitismusforschung müsste sich theologischen Fragen öffnen. Dann würde sichtbar, dass der säkulare Antisemitismus eine Form politischer Theologie ist. Die Tagung wird diesen Zusammenhang analysieren.

Grund genug, einmal einen genaueren Blick auf bereits vorliegende jüngere Publikationen zum Thema zu werfen – einerseits auf Dietz Berings Studie zur Grundsatzfrage „War Luther Antisemit?“ und andererseits auf einen ersten kirchengeschichtlichen Band zur Rezeption des Reformators im 19. und 20. Jahrhundert, untersucht anhand der späteren Resonanz seiner „Judenschriften“ in der Theologie und im politischen Antisemitismus.

Sie braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und gut

Genau 400 Jahre vor Julius Streichers zitierter Berufung auf Luther, 1543, hatte sich der Reformator aus Sicht der Nazi-Propaganda den Rang eines kardinalen Vorboten des „Dritten Reichs“ mit seinem radikalen Pogrom-Aufruf „Von den Juden und ihren Lügen“ redlich verdient. Diese hasserfüllte Schrift begründete aus NS-Sicht maßgeblich Luthers „Ruhm als führender Antisemit“. Das Pamphlet, so der euphorisierte Luther-Editor Walter Holsten 1936 weiter, sei „geradezu das Arsenal zu nennen, aus dem sich der Antisemitismus seine Waffen geholt hat“.

Wieso konnte diese ahistorisch erscheinende Behauptung angesichts der beispiellosen Diskriminierungsmaßnahmen gegen Juden, die in Deutschland ab 1933 sukzessive verschärft worden waren, der Mehrheitsgesellschaft des „Dritten Reichs“ so unmittelbar einleuchten, dass auch die landesweiten Gräuel der Reichspogromnacht zwei Jahre später, exakt zum Datum von Luthers Geburtstag, keine öffentlichen Proteste mehr nach sich zogen? Luther forderte in seinem Text tatsächlich bereits ein knappes halbes Jahrtausend zuvor, alle Synagogen und jüdischen Schulen niederzubrennen oder mit Erde zu überhäufen, die Juden für vogelfrei zu erklären, sie zur Zwangsarbeit heranzuziehen, sie „wie die tollen Hunde“ aus dem Land zu jagen und sie in großer Zahl totzuschlagen.

Die Quelle ist ein Beleg dafür, wie fragwürdig die strikte Trennung zwischen einem christlichen „Antijudaismus“ und dem eliminatorischen modernen Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert seit jeher war. Ersterer forderte angeblich nichts weiter als die Konversion der Juden zum Christentum, um es dabei bewenden zu lassen, wenn sich die Juden tatsächlich taufen ließen, während der moderne Antisemitismus primär biologistisch und rassistisch hergeleitet worden sei und auf die ‚Ausmerzung‘ der Juden zielte – unabhängig von ihrem religiösen Glauben oder ihrer säkularen Assimilation. Dietz Bering stellt jedoch in seiner 2014 erschienenen Studie fest, dass es in Luthers zitierter Schrift „kaum abweisbare Parallelen zu den dominanten Argumentationen des Antisemiten des 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts gibt“.

So schreibt Luther, die Juden seien eine „schwere Last, wie eine Plage, eine Pestilenz“, und sie seien „durch und durch ein Unglück in unserem Land“. Hier klingt bereits Heinrich von Treitschkes Diktum „Die Juden sind unser Unglück“ (1879) aus dem Berliner Antisemitismusstreit an, das dieser sogar direkt von Luther übernommen haben soll, und der Vergleich der Juden mit einer Plage und Seuche liest sich heute wie eine dunkle, verfluchende Prophetie angesichts ihrer tatsächlichen Massenvernichtung durch ein Insektenvertilgungsmittel im Holocaust.

Bering entdeckt bei Luther sogar die Warnung vor „Rassenmischung“, in der Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543). Demnach seien die Juden „begierig“, die „losen, abtrünnigen, abgefeimten Christen an sich zu ziehen und einzusammeln“, wodurch das „israelitische Blut“ jedoch „stark vermischt, unrein, wässrig und wild“ werde. Nicht zuletzt sieht Bering bei Luther schon die Verschwörungstheorie der Weltherrschaft des Judentums angelegt. Wo Antisemiten heute (wieder) glauben, ,die Juden‘ dominierten die internationalen Banken und eine ungreifbare ‚Hochfinanz‘ der Wallstreet, um nationale Wirtschaftssysteme zu zerstören, da schrieb Luther:

Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Lande gefangen, sie lassen uns arbeiten im Schweiß unseres Angesichts, Geld und Gut gewinnen sie; sie sitzen derweil hinter dem Ofen, faulenzen, feiern großmächtig und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und gut von unserem erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, dass wir arbeiten und sie faule Junker sein lassen von dem Unseren und in dem Unseren, sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.

Der Autor solcher geifernder Tiraden musste zweifelsohne ein radikaler Judenhasser sein. Bering stellt deshalb nüchtern fest, dass Luther „seit dem Ende der 1530er Jahre Antisemit“ im Sinne der modernen Definition des Wortes gewesen sei: Wie die Nazis habe Luther den Glauben dezidiert über die (jüdische) Vernunft gestellt. Bering widerspricht damit dem Luther-Biographen Martin Brecht und dem Hagiographen Walther Bienert, die wie viele andere meinen, Luther habe mit dem „späteren rassistischen Antisemitismus“ nichts zu tun gehabt. „Denn: Es kommt auf die Unaufhebbarkeit der Negativexistenz der Juden an. Rassismus ist nur eine, vermeintlich durch Wissenschaft gestützte Variante von Unabänderlichkeit – ein religiös fundierter Glaube an die Unrettbarkeit der Juden eine andere. Die Verankerung im Glauben galt den Menschen ihrer Zeit nicht weniger unerschütterlich als das im 19. und 20. Jahrhundert von den wissenschaftlichen Wahrheiten angenommen wurde.“ Bei Luther hätten demnach bereits „erschreckend komplett“ jene Kategorien vorgelegen, die „auch Hitler und seine Vor- und Mitläufer nutzten“.

Des Rätsels Lösung: Kontrastbetonung

Die Sachlage verleiht dem Titel von Dietz Berings Studie, „War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe“, den Beiklang einer lauwarmen rhetorischen Relativierung. Das hat mit einer Einschränkung zu tun, die Bering in seinem Buch geltend macht und dort zum Beleg seiner zentralen These weiter ausführt. Demnach sei der „unbezweifelbare Antisemitismus“ nicht „der ganze Luther“ gewesen. Es war nach Berings Dafürhalten vielmehr Luthers offensichtliche Nähe zu zentralen Werten der jüdischen Kultur, die ihn im Sinne einer sogenannten Kontrastbetonung dazu brachte, deren Vernichtung zu wünschen, um das eigene Glaubenskonzept aufrecht erhalten und sich gegenüber der konkurrierenden Religion behaupten zu können: „Luther bekämpfte die Juden womöglich nicht dermaßen radikal, weil sie ihm so fremd, so andersartig waren, sondern weil er ihnen so nahe gerückt war, dass unweigerlich Reibungshitze und Gegnerschaft entstehen musste.“

Berings Berufung auf ein naturwissenschaftliches Prinzip, die bei der Lektüre seiner Ausführungen ferne Erinnerungen an den Physik- oder Biologieunterricht im Gymnasium weckt, klingt auf Anhieb verblüffend einleuchtend. Die Kontrastbetonung meint eine umso größere Abgrenzung zwischen Lebensformen oder Wahrnehmungsweisen, die sich tatsächlich sehr nahe und ähnlich sind. Doch ist es angemessen, den Antisemitismus, der selbst einmal ‚biologisch‘ begründet worden ist, nunmehr bei der Analyse des Judenhasses Martin Luthers ebenfalls auf eine biologische Grundannahme unserer Zeit zurückzuführen?

Von dem Naturgesetz der Kontrastbetonung will Bering seiner skurrilen Danksagung im Anhang des Buchs nach im Jahr 1989 an einem Kopierer im Wissenschaftskolleg in Berlin von einem namenlosen (und ihm bis heute nicht bekannten) Biologen erfahren haben. Bering erzählte dem zufällig angetroffenen Mann von seinem Projekt. Der antwortete ihm nur trocken, in seinem Fach habe er damit dauernd zu tun. Spiele doch dort der Begriff der Kontrastbetonung eine große Rolle: „Der werde überall dort angesetzt, wo sich bei Populationen mit deutlicher Ähnlichkeit und gleichzeitiger Verschiedenheit massive Abwehr entwickele.“

So entstehen Universaltheorien. Nach dem geschilderten Erweckungserlebnis am Uni-Kopierer scheint sich die Kontrastbetonung bei Bering zu einer Forschungskonstante der kommenden Jahrzehnte entwickelt zu haben. Zumindest figuriert das schlichte Theorem nun auch in Berings Luther-Buch als Passpartout zur Erklärung der gesamten Antisemitismusgeschichte als Urphänomen eines ‚Zwillingskonflikts‘: „Nach Beispielen von Kontrastbetonung muss man nicht lange suchen. Jeder kennt die Geschichte von Kain und Abel, zahlreiche auch die von Esau und Jakob, den Zwillingskindern, die sich schon im Bauch der Mutter stoßen und später hart aneinander geraten. (Gen 24–32) Fast alle haben die besonders geprägte Geschichte von Völkern mit gemeinsamen Grenzen vor Augen: Deutsche und Franzosen, Deutsche und Polen.“

Doch kann der „longest hatred“, wie Robert S. Wistrich den Antisemitismus nannte, wirklich einfach nur dadurch erklärt werden, dass sich Judenhasser wie Luther von ihren halluzinierten Feinden stets gerade deshalb so radikal absetzen wollten, weil sie ihnen ‚zu ähnlich‘ waren? Hatte Luther die Juden in Wahrheit alle ganz doll lieb, nur leider ein bisschen zu sehr? Von da aus ist es zum Beispiel auch nicht mehr weit zur heute so beliebten Behauptung, sowohl Araber als auch Juden seien „Semiten“, weswegen Palästinenser und Israelis in Wahrheit identisch seien und die Hamas eigentlich gar nicht antisemitisch sein könne. Quod erat demonstrandum!

Derartigen Unsinn schreibt Bering in seinem Buch zum Glück aber auch gar nicht. Stattdessen bemüht er sich redlich, die bisherige Forschung zu Luthers Antisemitismus kurz und bündig zusammenzufassen und die auf den ersten Blick tatsächlich äußerst ambivalent erscheinende Wandlungsgeschichte von Luthers Auffassungen über das Judentum greifbar zu machen. Luther meinte zum Beispiel, das Hebräische sei die wichtigste Sprache überhaupt, und zeitlebens setzte er sich geradezu obsessiv mit dem Alten Testament auseinander. Zudem schätzte er die Jahrtausende alte jüdische Tradition des zweisprachigen Schriftstudiums von Kindesbeinen an und forderte auch in der deutschsprachigen Kultur einen christlichen Glauben als Bildungsmultiplikator, ohne die Notwendigkeit seiner entmündigenden Vermittlung durch die autoritäre Figur eines Priesters oder gar Papstes: Jeder Mensch sollte in die Lage versetzt werden, die von Luther eigens ins Deutsche übersetzte Heilige Schrift zu allererst selbst zu lesen, zu verstehen und zu deuten.

Es musste also Liebe sein. Bering hat zudem keine Probleme, zur Untermauerung seiner Allzweck-These bei Sigmund Freud fündig zu werden. In der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) diskutierte der Vater der Psychoanalyse die Tendenz sich besonders nahe stehender Gemeinschaften zu radikalisierter Distanznahme. Die „Intoleranz der Massen“, so Freud später weiter in seinem letzten publizierten Werk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939), äußere sich „merkwürdigeweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen“.

Derart variabel gefasst, ist diese Beobachtung, auf Luthers „Judenschriften“ angewandt, also sicher vertretbar. Bering hätte hier sogar auch noch auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) verweisen können, in dem von der „pathischen Projektion“ der Antisemiten die Rede ist, die verleugnete Anteile ihrer eigenen Wunschproduktion auf ‚die Juden‘ verschieben und so von sich abzuspalten versuchen. Im Antisemitismus geht es nie um ‚die Juden‘, sondern immer nur um die Antisemiten selbst, die eine verzerrte Phantasie ‚des Judentums‘ entwerfen, um sich innerhalb dieser geschlossenen erzählten Welt Emotionen zu erlauben, die ihnen – aus welchen Gründen auch immer – Erleichterung verschaffen. Bei Horkheimer und Adorno heißt es:

Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.

Letztlich bleibt Luther in Berings Buch als weiteres Beispiel für die grundsätzliche tiefe Ambivalenz der Antisemiten stehen. Seit jeher bewunderten sie insgeheim vieles an ihrem Feindbild und modellierten es nach eigenen psychischen Bedürfnissen. So konnten sie auch gerne Bewunderung für bestimmte Juden oder bestimmte Aspekte der jüdischen Kultur äußern, um im nächsten Moment ihre komplette Ausrottung zu fordern. Luther kann gewiss viel Anschauungsmaterial dazu liefern, wie sehr sich Philosemitismus und Antisemitismus spiegeln und ineinander umzuschlagen vermögen.

Die evangelische Kirche müsste damit beginnen, ihre eigenen theologischen Grundannahmen zu reformieren

Wichtiger ist es aber wohl, herauszufinden, warum die Geschichten, die derartige Populisten wie Luther von den Juden erzählten, bis in unsere heutige Zeit hinein bei ihren Rezipienten so wirksam geblieben sind. Damit ist nicht gemeint, dass sich heutige Antisemiten – oder gar Kirchenvertreter – nach wie vor explizit auf Luther berufen, um judenfeindliche Lügen zu tradieren. Doch viele Christen in Deutschland stehen, rein statistisch betrachtet, antisemitischen Weltbildern nach wie vor keineswegs kritisch gegenüber. Viele der judenfeindlichen Fiktionen, denen sie folgen, stammen aus der Kirchengeschichte – und wurden auch von Luther tradiert. Meistens jedoch dürften Leute, die behaupten, ,die Juden‘ seien stets reich und lebten bestens von dem mühsam erarbeiteten Geld anderer, gar nicht mehr wissen, dass sie damit eine Phantasie aufgreifen, an die bereits Luther fest geglaubt hat.

Das war bis ins 20. Jahrhundert hinein aber noch anders. Über Jahrhunderte hinweg begriff man und erzählte man sich sehr wohl, welche Haltung Luther den Juden gegenüber eingenommen hatte. Diese lange und teils intensive Rezeptionsgeschichte nachzuzeichnen, kann verstehen helfen, warum heute eine positive Berufung auf Luthers Antisemitismus zwar kaum noch anzutreffen ist, während zugleich viele von Luthers judenfeindlichen Narrativen auch ohne das Wissen über ihre problematischen Quellen nach wie vor im kollektiven Gedächtnis abrufbar sind, wiedererkannt und dabei als etwas ,Reales‘ verstanden bzw. affirmiert werden können.

Kurz: Anstatt darüber zu spekulieren, wie nah der Reformator den Juden nun ideell gewesen sein mag oder nicht, also Menschen, die er letztlich buchstäblich vertrieben und massakriert sehen wollte, wirkt ein analytischer Blick auf die faktische Rezeption seiner fatalen „Judenschriften“ vielversprechender – so werden Luthers antisemitische Hasspredigten in der theologischen Forschungen übrigens tätsächlich immer noch genannt, wenn auch (meistens) in Anführungszeichen. Zu den kirchengeschichtlichen Folgen von Luthers geifernden Pamphleten im 19. und 20. Jahrhundert haben fünf TheologInnen einen Band publiziert, in dem diesem bisher kaum behandelten Thema genauer nachgegangen wird.

Tatsächlich lässt sich die von dem Münchner Professor für Kirchengeschichte Harry Oelke und einer Reihe von FachkollegInnen herausgegebene Aufsatzsammlung gut neben Berings Studie legen. Wird doch auch hier aufgrund des fokussierten Zeitabschnitts erneut die Frage virulent, wie sich TheologInnen heute zum Problem der Definition von Luthers Judenhass im Kontext der späteren Geschichte des Antisemitismus positionieren sollen. Oelkes Überblick zur Nachkriegsforschung, der aufgrund der strikten chronologischen Anordnung der Aufsätze erst am Ende des Bandes steht, sich aber gleichwohl wie eine Art Vorwort liest, zeigt auf, dass sich nach wie vor nur sehr wenige Theologen dazu haben durchringen können, die alte Kontinuitätsthese, wie sie bereits 1941 von dem amerikanischen Historiker William Montgomery McGovern in seinem Buch „From Luther to Hitler“ aufgestellt worden war, einmal ernsthaft auf den Prüfstand einer kritischen Geschichtsschreibung des Antisemitismus seit der Reformation zu stellen.

Allerdings handelt es bei diesen wenigen Autoren (nicht nur in der Theologie) um einflussreiche Forscher, und die Kirche wird nicht darum herumkommen, ihnen mehr Gehör zu verleihen. Der Antisemitismus-Spezialist Klaus Holz stellte im Dezember 2016 in der Zeit fest, dass die „Transformation des christlichen Antijudaismus zum modernen, nationalistischen Antisemitismus“ in der Folge der Reformation in der gegenwärtigen Selbstkritik des Protestantismus nach wie vor „randständig“ bleibe. Dagegen stellt Holz klar:

Der deutsche Protestantismus war entscheidend daran beteiligt, den alten christlichen Antijudaismus in den modernen Antisemitismus zu verwandeln. Er stellte die Mehrzahl der antisemitischen Vordenker und Propagandisten. Im Protestantismus entstand 1879 die erste antisemitische Partei, die Christlich-soziale Arbeiterpartei des Hofpredigers Adolf Stoecker. Schließlich formierte sich mit den Deutschen Christen bereits vor 1933 eine protestantische Nazikirche, der sich in Berlin mehr Pfarrer anschlossen als der gegen sie gerichteten Bekennenden Kirche.

Der Lutherkenner Thomas Kaufmann ist als einer derjenigen zu nennen, die den behaupteten Bruch zwischen dem frühen, angeblich judenfreundlicheren Luther von 1523 und dem Hassprediger von 1543 in eine „Kontinuität einer theologisch begründeten Ablehnung der Juden“ umgedeutet haben, wie Oelke betont. Aus dieser Beobachtung heraus spricht Kaufmann ausdrücklich von einem „frühneuzeitlichen Antisemitismus“ bei Luther und bricht damit das zähe Diktum, jeglicher (christliche) Judenhass vor dem Ende des 19. Jahrhunderts sei als bloßer Antijudaismus abzuhandeln. Auch der Theologe Peter von der Osten-Sacken ist hier zu nennen, der in seinem 2002 erschienenen Buch „Martin Luther und die Juden“ den Begriff „Proto-Antisemitismus“ verwendet.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel hat Kaufmann, ähnlich wie Bering, ausdrücklich auf Vorformen rassistischer Denkweisen bei Luther hingewiesen. Gebe es doch bei dem Reformator bereits „Formulierungen, die die Juden als bestimmte Menschenklasse ansprechen, geradezu biologistisch“:

Da wird es antisemitisch. In Luthers Tischreden finden sich Äußerungen wie: „So wie die Elster das Rauben nicht lassen kann, so kann der Jude nicht davon absehen, Christen umzubringen.“ Diese Vorstellungen, die mit biblischen Befunden nichts mehr zu tun haben und von einer geradezu naturhaften Andersartigkeit der Juden ausgehen, sind für mich vormoderne Formen dessen, was dann ab dem späten 18. Jahrhundert rassetheoretisch ausformuliert wurde. Die häufig aufgestellte Behauptung, der rassische Antisemitismus sei etwas völlig Neues, muss meines Erachtens korrigiert werden. Denn Luther war ein Kind seiner Zeit, er hat diese vormoderne Form des Antisemitismus nicht erfunden. Schon im Spanien des 15. Jahrhunderts wurde das Konzept der Geblütsreinheit als Motiv zur Vertreibung der Juden verwendet.

Doch auch ohne die Annahme, Luther habe geradezu biologistische Vorstellungen von ‚den Juden‘ tradiert, wird seine Ideologie in der Forschung zunehmend als Antisemitismus definiert. Der Professor für Neuere Kirchengeschichte Berndt Hamm fasst das betreffende Ergebnis der Tagung an seiner Erlanger Universität, aus welcher der hier nun vorzustellende Band hervorgegangen ist, in seinem Schlusskommentar so zusammen: Dass Luthers Wunsch einer ‚judenfreien‘ Christenheit nicht im Sinne eines biologisch hergeleiteten Rassenantisemitismus geäußert worden sei, mache die Botschaft seiner „Judenschriften“ nicht weniger bedrohlich. „Die Begründungen des diskriminierenden, verfolgenden und mörderischen Antisemitismus veränderten sich mit der Zeit und ihren weltanschaulichen Koordinaten; konstant aber blieb sein e-liminatorischer (aus-grenzender) Charakter.“ Aus dieser Sicht sei es verharmlosend, heute noch davon zu sprechen, Luthers Spätschriften seien Ausdruck des Antijudaismus, wie er bisher definiert wurde.

Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Punkt. Hamm betont, dass Luthers Auffassung, das Alte Testament sei aufgrund des von ihm konstruierten sensus litteralis, eines buchstäblichen christologischen Schriftsinns, ausschließlich in der Folge Jesu zu verstehen und vom Judentum daher nicht mehr für seine Religion reklamierbar, bereits eine Zuspitzung des bis dahin bekannten christlichen Antijudaismus gewesen sei. Da jedoch dies bereits der Standpunkt des frühen Luther in seiner angeblich noch so toleranten, letztlich jedoch rein missionsstrategischen Schrift von 1523 war, müsse klar sein, dass das Judentum für den Reformator von Anfang an eine Religion „ohne Eigenwert und Existenzrecht“ war, die „durch die christliche Wahrheit der Schriftauslegung zum Verschwinden gebracht werden“ müsse.

Von hier aus fällt es selbst dem theologischen Laien nicht mehr schwer, eins und eins zusammenzuzählen: Wenn Luther also letztlich schon immer Antisemit war und man bedenkt, welche zentrale Rolle seine theologischen Grundannahmen für die gesamte evangelische Kirche nach wie vor haben, fragt sich, wie diese ihre eigene Existenzberechtigung vor den heutigen Menschenrechten, dem Gebot der Toleranz und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch sinnvoll begründen will, ohne sich komplett von Luther loszusagen. Die Frage wäre, was danach von der protestantischen Kirche, wie wir sie kennen, noch übrig bliebe.

Tatsächlich wird dies auf einer der letzten Seiten des Sammelbands bereits angedeutet. Wolfgang Kraus, Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes, fasst es in seinem abschließenden Kommentar zu aktuellen kirchenpolitischen Entwicklungen so: „Die Judenfeindschaft, die sich in Luthers Judenschriften zeigt, stellt kein Randphänomen der Theologie Luthers dar, sondern führt ins Zentrum seiner Theologie. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis müssten gleicherweise reflektiert werden.“

Der letzte Satz klingt unscheinbar, hat es jedoch unter den geschilderten Voraussetzungen in sich. Angesichts der dürren, teils widersprüchlichen und selbst schon wieder problematischen Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bzw. ihrer einzelnen Landeskirchen, die diese erst seit 1988 hier und da über Luthers Antisemitismus absonderten, merkt Kraus nur trocken an: „Eine Distanzierung von Aussagen Luthers in dessen Judenschriften allein ist nicht ausreichend.“

Man muss sich vor Augen halten, wie wenig die EKD in dieser Sache bisher unternommen hatte: Die Chance, anlässlich des 500. Geburtstags Luthers im Jahr 1983 eine klare Erklärung zu der Problematik abzugeben, ließ man ungenutzt verstreichen. In den teils verharmlosenden Erklärungen, die seit 1988 publiziert wurden, findet sich unter anderem immer wieder die küchenpsychologische Schein-Begründung von Luthers später „Judenschrift“, diese sei entstanden, weil der Reformator allzusehr darüber enttäuscht gewesen sei, dass sich seine Hoffnung von 1523, die Juden könnten ein Einsehen haben und sich bald in großen Zahlen bekehren lassen, nicht bewahrheitet habe.

Um diesen nun seit Jahrhunderten tradierten Unsinn loszuwerden, muss sich die Kirche endlich klarmachen, dass es für den Antisemitismus keinerlei Kausalbegründungen geben kann und dass es selbstverständlich niemals auch nur das geringste irgendwie sinnvoll herleitbare Recht auf Seiten des Christentums gegeben hat, Juden oder irgendwen sonst auf der Welt zu missionieren. Religiöse „Mission“ hat in der Weltgeschichte am Ende nichts anderes bedeutet als die humanistische Verbrämung von Unterwerfung, Vertreibung und Völkermord. Siehe die Eroberung der Amerikas. Siehe die Kolonialgeschichte und den Sklavenhandel. Siehe das islamische Expansionsstreben und seine terroristischen Pervertierungen im 21. Jahrhundert. Siehe Luthers „Judenschriften“.

Immerhin scheint hier und da der Groschen gefallen zu sein. So meldete sich 2015 der Dietrich-Bonhoeffer-Verein mit einem Appell an den damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Nikolaus Schneider, zu Wort. Man möge angesichts des kommenden Reformationsjubiläums doch bitte endlich ein „unüberhörbares und öffentlichkeitswirksames Wort“ zu Luthers Antisemitismus beschließen. „Denn für uns gehört ein deutliches Wort der Distanzierung von Luthers Judenfeindschaft unabdingbar zum Reformationsjubiläum. Ohne einen solchen Akt können wir uns im Dietrich-Bonhoeffer-Verein e.V. nicht vorstellen, das Jubiläum recht mitzufeiern.“

Wie gesagt: Solche bloßen Erklärungen werden in Zukunft aber nicht mehr reichen. Dem scheinen auch Schneiders vier „Konkretionen“ Rechnung zu tragen, die sich der Ex-Präses der EKD für 2017 wünschte. In ihrer Tragweite dürften sie aber kaum über Nacht umzusetzen sein. Im November 2015 folgte dann tatsächlich die erbetene Absage an den Antisemitismus Martin Luthers. Allerdings wird darin dem Reformator von 1523 entgegen dem oben erwähnten Forschungsstand nach wie vor eine „bedingt judenfreundliche Haltung“ unterstellt. Manche Formulierung in dem Entschluss gleicht einem fortgesetzten Eiertanz. So habe man sich in der Rezeption zwar „auf Luthers Spätschriften zur Rechtfertigung von Judenhass und Verfolgung berufen, insbesondere mit dem aufkommenden rassischen Antisemitismus und in der Zeit des Nationalsozialismus“, wie der Text korrekt einräumt. Andererseits seien jedoch „Kontinuitätslinien“ nicht einfach zu ziehen. Um dann weiter zu formulieren: „Gleichwohl konnte Luther im 19. und 20. Jahrhundert für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen werden.“ Was denn nun?

Es ist sicher begrüßenswert, dass sich die EKD im November 2016 in einem offiziellen Synodalbeschluss auch noch von der sogenannten Judenmission distanziert hat – die Kirche im Rheinland hatte dies bereits 1980 schon einmal getan, in einem wichtigen, aber damals noch singulären Vorstoß, maßgeblich initiiert von dem Dietrich-Bonhoeffer-Biographen Eberhard Bethge. In dem von Irmgard Schwaetzer unterzeichneten Abschlussdokument der aktuellen „Kundgebung“ fallen allerdings erneut unfreiwillig komische Aspekte auf, wenn man etwa in Betracht zieht, dass dieser Beschluss erst im Jahr 2016 erging und man also nach dem Holocaust etwa 70 Jahre brauchte, bis der erwähnte ‚Wandel im Denken‘ halbwegs publizierbare Gestalt annahm: „Das nach 1945 gewachsene Bekenntnis zur Schuldgeschichte gegenüber den Juden und zur christlichen Mitverantwortung an der Schoah hat zu einem Prozess des Umdenkens geführt, der auch Konsequenzen im Blick auf die Möglichkeit eines christlichen Zeugnisses gegenüber Juden hat.“

Die Redensart „Gut Ding will Weile haben“ lässt sich in dem Fall also nur bedingt anbringen. Wie es kirchliche Synodalbeschlüsse so an sich haben, kann man die eine oder andere Wendung darin zumindest missverstehen. Derartig verklausulierte theologische Merksätze können vieldeutig oder sogar drohend klingen. So wird auch im letztgenannten Fall bedeutungsvoll offengelassen, wie „Gott“ am Ende über die Tatsache entscheiden werde, dass das Judentum nicht an Jesus als Retter der Welt glauben wolle: „Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen zur eigenen Glaubensgeschichte und Identität. Sie bekennen sich ,zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist‘ (EKIR, Synodalbeschluss von 1980). Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim.“

Wie schrieb doch Martin Luther im Jahr 1534 so treffend an einen Kaufmann namens Hans Kohlhase, der dem Land Sachsen und einem adeligen Pferdedieb, dem Junker Günter von Zaschwitz, eine pivate Fehde erklärte, danach angeblich brandstiftend Amok lief und zum Vorbild für Heinrich von Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“ (1810) wurde? Luther riet ihm brieflich, von seiner Selbstjustiz abzulassen: „Die Rach ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten.“

Luthers komplexe Rezeption seit dem 19. Jahrhundert

Doch wie sieht es nun mit den fraglichen Kontinuitätslinien von Luther zum modernen Antisemitismus aus, welche die EKD einerseits einräumt, andererseits aber 2015 doch noch nicht ‚einfach‘ ziehen will? Man muss sagen: Die Sachlage der Luther-Rezeption seit dem 19. Jahrhundert ist tatsächlich denkbar kompliziert. Einerseits wurde immer wieder behauptet, Luthers antisemitische Schriften seien bis zur Nazizeit ohnehin kaum noch gelesen worden. Die Antisemitin Mathilde Ludendorff postulierte sogar, man habe deren Tradierung gezielt unterdrückt. Ludendorff publizierte dazu 1928 eine Artikelserie in der Berliner Deutschen Wochenschau, dem Vereinsorgan des Tannenbergbundes, einer schon bald darauf in der Bedeutungslosigkeit versunkenen „Arbeitsgemeinschaft völkischer Frontkrieger und Jugendverbände“. Die antisemitische Autorin warf den Kirchen in ihren verschwörungstheoretischen Anschuldigungen vor, Luthers Reformation verfälscht zu haben, indem sie dessen judenfeindliche Schriften verschwieg.

Davon kann, wie der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin nachweist, nicht die Rede sein. So war unter anderem bereits 1920 Band 53 der Weimarer Ausgabe der Werke Luthers erschienen, der die maßgeblichen Texte „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“ enthielt. In einem weiteren Grundlagenartikel demonstriert andererseits Anselm Schubert, Professor für Neuere Kirchengeschichte in Erlangen-Nürnberg, dass Luther-Biographen das heikle Thema der „Judenschriften“ seit dem 19. Jahrhundert kaum mehr beachtet hatten, weil sie – wie der bis 1917 kanonische Biograph Johannes Mathesius – gar kein Problem darin sahen. Luthers Verschwörungstheorie über eine zeitgenössische jüdische Bekehrungskampagne in Mähren, bei der ,die Juden‘ viele Christen zu ihrem Glauben verführt und beschnitten haben sollten („Wider die Sabbater“, 1538), wurde nicht weiter hinterfragt und also auch nicht ausführlich behandelt.

Da Mathesius dies alles ganz einfach für bare Münze nahm und daran offenbar auch nichts Negatives erkennen konnte, vermochte er das Thema gleichsam im Nebensatz abzuhaken. Meistens aber erwähnten die Biographen Luthers antisemitische Schriften fortan lieber gar nicht mehr – womöglich, weil ihnen der wutschnaubende Luther in solchen Texten peinlich war. Diese bezeichnende Verleugnung von Luthers Judenhass von Seiten der (populärwissensschaftlichen) Biographik, die Mathilde Ludendorffs Verschwörungstheorien eine ironische Note verleiht, gipfelte in einer ganzen Reihe von Luther-Porträts, die nach 1945 erschienen und das Thema nach der Shoah abermals ignorierten. Dieses dröhnende Schweigen der deutschen Nachkriegsbiographen dauerte aufgrund meist zahlreicher Neuauflagen ihrer Luther-Darstellungen teils bis in die Gegenwart an – im Fall von Hanns Liljes sage und schreibe 27-fach aufgelegter Beschreibung von Luthers Leben und Wirken de facto sogar bis zur (vorläufig letzten) Auflage bei Rowohlt 2008.

Wesentlich offenherziger war da bereits der jüdische Historiker Heinrich Graetz, der in seiner 1853-1876 zuerst erschienenen „Geschichte der Juden“ festhielt, dass Luthers antisemitische Altersschriften das Verhältnis des Protestantismus zu den Juden nachhaltig beschädigten. Wie schmerzhaft mussten solche Wahrheiten jenen Theologen, die nach 1945 über Luther publizierten, erst angesichts der seinerzeit noch kaum eingestandenen Mitschuld der evangelischen Kirche an der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ in den Ohren geklungen haben, wenn sie sie denn zur Kenntnis nahmen (hier zitiert nach dem Beitrag von Hanns Christof Brennecke):

Wie der Kirchenvater Hieronymus die katholische Welt mit seinem unverhüllt ausgesprochenen Judenhasse angesteckt hat, so vergiftete Luther mit seinem judenfeindlichen Testamente die protestantische Welt auf lange Zeit hinaus. Ja, die protestantischen Kreise wurden fast noch gehässiger gegen die Juden, als die katholischen. Die Stimmführer des Katholizismus verlangten von ihnen lediglich Unterwerfung unter die kanonischen Gesetze, gestatteten ihnen aber unter dieser Bedingung den Aufenthalt in den katholischen Ländern. Luther aber verlangte ihre vollständige Ausweisung. Die Päpste ermahnten öfter, die Synagogen zu schonen; der Stifter der Reformation dagegen drang auf deren Entweihung und Zerstörung. Ihm war es vorbehalten, die Juden auf eine Linie mit den Zigeunern zu stellen.

Wie drei weitere Beiträge demonstrieren, war die ambivalente jüdische Luther-Rezeption seit Heinrich Heine und Ludwig Börne bis hin zu Hermann Cohen und Leo Baeck oftmals von dem Bestreben gekennzeichnet, die eigene prekäre Assimilation mit einer Preisung und Betonung von Luthers früher ‚toleranter‘ Phase im Umkreis seiner Reformationsschrift „Das Jesus ein geborner Jude sei“ (1523) zu untermauern. In diesem Text mahnte Luther noch zur Milde gegenüber den Juden, allerdings wie gesagt in der Hoffnung, sie würden sich auch alle brav missionieren und bekehren lassen.

Christian Wiese, Professor für jüdische Religionsphilosophie in Frankfurt am Main, fasst die lange positive jüdische Rezeption Luthers im 19. und 20. Jahrhunderts als tragische Liebesgeschichte. Gleiche sie doch jenem unbeantworteten, verzweifelten Schrei nach Anerkennung, den Gershom Sholem als Mythos eines deutsch-jüdischen Gesprächs charakterisierte, das es nie gegeben habe, weil es von der deutschen Mehrheitskultur nicht aufgenommen wurde. In der Tat, mag man hinzufügen, eine seltsame „Liebesgeschichte“, in welcher der jahrhundertelang – und sogar mit Luther-Rühmungen – angeflehte ‚Partner‘ am Ende mit der Gaskammer antwortete. Zumal ja selbst der von den werbenden Autoren so nachsichtig behandelte Luther in seinem Alter bereits die Vernichtung der jüdischen Kultur gefordert hatte.

Wie völkische und theologische Antisemiten Luther im 20. Jahrhundert lasen

Ein anderes Thema, das Wiese in seinem Beitrag ausführlicher aufrollt, ist die Luther-Rezeption von kirchenfernen Antisemiten und judenhassenden Theologen bis ins „Dritte Reich“ hinein. Seit 1917, einer Zäsur, die das Ende des Einflusses der Mathesius-Biographik markiert, waren alle Dämme völkischen, rassistischen und biologistischen Hasses gebrochen, dessen Wortführer sich nunmehr plötzlich begeistert auf Luthers finsterste Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ berufen zu können glaubten. Zu nennen sind hier zunächst einmal die extremen AntisemitInnen Theodor Fritsch, Houston Stewart Chamberlain, der völkische Schriftsteller Alfred Falb, Mathilde Ludendorff und der Autor Arthur Dinter. Aus dem Rahmen fiel dabei nur Alfred Rosenberg, der Luther und die Reformation in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts (1930) anders als beispielsweise Julius Streicher beschuldigte, eine „Verjudung“ des deutschen Volkes eingeleitet zu haben.

Alle anderen sahen es genau umgekehrt: Luther habe, so Fritsch, das Christentum mit dem Deutschtum verbunden und so vor dem Judentum und dem ‚verjudeten‘ Papst gerettet. Falb wiederum meinte, der treuherzige Luther sei 1523 noch ganz naiv auf ‚die Juden‘ hereingefallen, aber dennoch zu würdigen, da er sich im Alter zum „allerschärftsten Judengegner“ entwickelt habe. Dieser kraftvollen Wendung in Luthers Leben komme, so fasst Wiese Falbs Machwerk „Luther und die Juden“ von 1921 mit einem sprechenden Zitat zusammen, für die „arische Menschheit“ höchste Bedeutung zu, als „innerste Empörung und jähe Abschüttelung jüdisch-orientalischer Wesensvergewaltigung, als erstes Erwachen der germanischen Seele zu arischer Gotteserkenntnis und Wiedergeburt“.

Im „Dritten Reich“ gesellten sich zu solchen verräterischen antisemitischen Wunschträumen handfeste Taten. Zum Novemberpogrom 1938 steuerte der evangelische thüringische Landesbischof Martin Sasse, ein Vertreter der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Deutschen Christen, folgenden feierlichen Kommentar bei:

Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. […] In dieser Stunde muss die Stimme eines Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von seinen Erfahrungen und der Wirklichkeit der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.

Ab 1933 dominierten aber auch unter evangelischen Theologen, die sich selbst nicht unbedingt als begeisterte Nationalsozialisten sahen, eher halbherzige Abgrenzungsstrategien, mit denen sie den radikalen Antisemitismus des „Dritten Reiches“ zu ihren Zwecken zu domestizieren trachteten. Während sie Luthers Interesse am Alten Testament im Sinne einer kirchlichen Besitzstandswahrung gegenüber den zensierenden Angriffen der germanisierten Theologie der Deutschen Christen verteidigten, die es abschaffen wollten, machten sie gleichzeitig weitgehende Zugeständnisse gegenüber der faktisch einsetzenden Judendiskriminierung in Deutschland.

Man stimmte Luthers Hasspredigten zu und ließ alle nur erdenklichen Maßnahmen gegen die jüdischen Bürger unkommentiert. Kritiker mahnten höchstens an, dass es dumm sei, die ‚jüdischen Teile‘ der Bibel gleich ganz abzuschaffen, weil sich darin doch ganz wunderbare Belege für die Verkommenheit der Juden finden ließen – so jedenfalls der Rostocker Lutherforscher Wilhelm Walther bereits 1921 in seiner fortan für lange Zeit wegweisenden Artikelserie „Luther und die Juden. Und die Antisemiten“. Ähnlich urteilte der schwäbische Pfarrer Richard Widmann 1935 in einer Broschüre des Evangelischen Gemeindedienstes, die sich dem gleichlautenden Thema „Luther und die Juden“ widmete, um Plänen wie denen des Württembergischen Kultusministeriums entgegenzutreten, alttestamentliche Texte aus den Lehrplänen zu tilgen, weil sie „artfremd“ seien. Handele es sich doch beim Alten Testament um Luthers „schärfste Waffe gegen das Judentum“, so Widmann. Wenn dieses nur noch als „Judenbuch“ verstanden und verboten werden solle, habe „der Jude“ gesiegt.

Wilhelm Walther hatte seine erwähnte Reihe von Beiträgen in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung als Reaktion auf die gleichnamige Publikation Alfred Falbs verfasst. Gury Schneider-Ludorff, Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte in Neuendettelsau, stuft diesen publizistischen Vorstoß als Verteidigung gegen den Angriff des völkischen Antisemitismus auf die Kirchen und ihre theologischen Grundlagen ein. Walthers Artikelserie habe aber zugleich jenes verhängnisvolle Deutungsmuster vorgeprägt, das nach 1933 dafür sorgte, dass von Seiten der evangelischen Theologen im Nationalsozialismus kaum nennenswerter Widerstand gegen die Judenverfolgung entstand.

Alles in allem stellt nicht nur Wiese in seinem Beitrag der evangelischen Kirche ein vernichtendes Zeugnis aus. Erst nach der Shoah habe sich der christlichen Forschung erschlossen, dass die „protestantische Theologie dem Antisemitismus keine Tradition der Achtung entgegenzusetzen hatte“, wie es der Beiträger am Ende denn doch sehr vornehm und nachsichtig formuliert.

Klar ist jedenfalls nach der Lektüre dieses Bands, dass man sich selbst in gemäßigten Kreisen der Kirche zur NS-Zeit, wenn überhaupt, höchstens in verklausulierten Ansätzen um die sogenannte Judenfrage kümmerte, wie das notorische Stichwort deutscher Theologen seinerzeit lautete, obwohl es eine solche ‚Frage‘ bekanntlich nie gegeben hat. Jedenfalls, solange man nicht meinte, es sei erwägenswert, die Existenz einer jüdischen Minderheit im Lande als Problem anzusehen, das die Erörterung gewisser ‚Antworten‘ erforderte.

Schuld an diesem Komplettversagen war nicht zuletzt Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“, die es den Theologen leicht machte, den Staat einfach machen zu lassen, während man selbst guten Gewissens im stillen Kämmerlein an gewichtigen Denkschriften im Stile des Jargons der Eigentlichkeit (Theodor W. Adorno) herumfeilte, die immer wieder auf das Gleiche hinausliefen: Die Juden seien in der Tat ein furchtbar verdammtes und verstocktes Volk und die abstruse Halluzination der Judenfrage eine Tatsache, wobei es lediglich darauf ankomme, in welchem Stil der Staat nun darauf antworten werde, was allerdings die Kirche nichts anginge.

Antijudaismus und Antisemitismus in der Bekennenden Kirche

Selbst jener dissidente Teil der evangelischen Kirche, der im „Dritten Reich“ mit tapferen Widerständlern wie Dietrich Bonhoeffer gegen die regimetreue Schule der Deutschen Christen stand, bekommt im Blick auf ihr Judenbild bei Wiese schlechte Noten. Wiese benutzt dabei Luthers unnachahmliches Wort der „scharfen Barmherzigkeit“, um die Richtlinie dieser ‚Ethik‘ gegenüber den Juden zu beschreiben: „Unter Berufung auf die lutherische Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten Gottes gaben weite Kreise selbst der Bekennenden Kirche die Juden der ‚scharfen Barmherzigkeit‘ staatlichen Handelns preis und beanspruchten allenfalls das Recht zu einem anderen Handeln an den Judenchristen im Bereich der Kirche. Theologisch aber hatten sie der Diffamierung des Judentums nichts Wirksames entgegenzusetzen.“

Eine nicht anders als desillusionerend zu nennende quellenkritische Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt es im folgenden Aufsatz des Kölner Theologen Siegfried Hermle, einem der bestürzendsten Beiträge zu „Martin Luthers ‚Judenschriften‘“. Nach Durchsicht der einschlägigen Publikationen der Bekennenden Kirche sei darin zu dem Thema des Bandes zunächst einmal größtenteils „Fehlanzeige“ zu vermelden, so die entwaffnende Nachricht Hermles zum Stand der Antisemitismus- und Lutherkritik in den einschlägigen Zeitschriften „Junge Kirche“ und „Theologische Existenz heute“. Noch niederschmetternder ist jedoch Hermles Befund anhand der wenigen Beispiele von Positionierungen von Vertretern der Bekennenden Kirche zu Luthers „Judenschriften“, die Hermle in diesen Periodika überhaupt gefunden hat. Sieht sich der Autor doch gezwungen festzustellen, dass alle dort publizierenden Theologen die „seit den Zeiten der Alten Kirche geltend gemachten Vorwürfe gegen die Juden teilten“. Dazu zähle auch die Forderung einer Abwehr eines angeblich „zersetzenden“ Einflusses des „religionslosen Judentums“ auf „mancherlei Gebieten unseres Volkslebens“, wobei die deutsche Politik, Wirtschaft, Kultur, Presse und das Rechtswesen Erwähnung fänden.

Im Großen und Ganzen kann man die immer wieder vertretenen Standpunkte der Bekennenden Kirche in dieser Sache so zusammenfassen: Luther habe Recht damit gehabt, das Alte Testament rigoros als ein ‚christliches Buch‘ gegen die Juden und ihre ‚rabbinischen‘ und damit ,diebischen‘ Deutungen zu lesen. Da ist sie wieder, Luthers antisemitische Idee eines christologischen sensus litteralis: Anhand der Schriften einer Reihe von einschlägigen Autoren belegt Hermle die haarsträubende und von Luther hergeleitete Auffassung, das Alte Testament sei kein Produkt der „vorderasiatischen Kultur und Rasse“, sondern es sei vielmehr allein von Christus her zu verstehen. Problematisch und wenig einleuchtend daran war laut Hermle unter anderem, dass man in dieser ‚Verteidigungsstrategie‘ gegen die Deutschen Christen je nach Belieben einfach Luther gegen Luther ins Feld führte, also lediglich bestimmte Schriften des Reformators betont wissen wollte, während die nationalsozialistische Propaganda problemlos auf andere verweisen konnte, die ihre Standpunkte zu untermauern schienen: Luther-Zitat stand damit ganz einfach gegen Luther-Zitat.

Wie Hermle unterstreicht, waren in dieser gespenstischen Debatte alle Parteien antijudaistisch bis antisemitisch. Teilweise wurden traditionelle antijudaistische Stereotype von Vertretern der Bekennenden Kirche sogar noch verschärft, indem man der allgemeinen theologischen Auffassung der Zeit folgte, das gegenwärtige Judentum habe keineswegs mehr das Recht, sich noch als solches zu verstehen. Letztlich wurde sogar den Deutschen Christen vorgeworfen, mit ihrem Ziel, das Christentum zu germanisieren und das Alte Testament abzuschaffen, die Deutschen zu einem ‚jüdischen Volk‘ zu machen. Hier kam also selbst bei der Bekennenden Kirche jenes antisemitische Grundprinzip zum Tragen, das David Nirenberg in seiner beeindruckenden Studie „Anti-Judaismus“ als Grundkonstante ‚westlichen Denkens‘ seit vorchristlichen Zeiten analysiert: Wer auch immer als Gegner ausgemacht war, wurde bezichtigt, einer frei erfundenen ‚Verjudung‘, dem ‚Judaisieren‘ oder, wie es zu Luthers Zeiten hieß, ‚Judenzen‘ der eigenen nicht-jüdischen Gruppe Vorschub zu leisten.

Allerdings, so die Linie der Bekennenden Kirche, müsse man gegen die Deutschen Christen und den „Stürmer“, welche die Taufe von Juden und den Schutz vormals jüdischer Gemeindemitglieder als ‚Zersetzung‘ des deutschen Volkes unter den Fittichen des Protestantismus strikt ablehnten und verhöhnten, daran festhalten, dass Luther selbst noch in seiner letzten Predigt nicht ausgeschlossen habe, dass es immerhin möglich sei, einzelne Juden zu missionieren, woran also auch die Bekennende Kirche weiter festzuhalten habe. Der völkische Theologe Gerhard Hahn konterte diesen Standpunkt auf der Reichstagung der Deutschen Christen 1935 in Bremen mit den markigen Worten:

Und wenn nun der Staat den jüdischen Einfluß mehr und mehr ausschaltet und die arische Art schützt vor dem Gift der jüdischen Rasse und damit stehn muß und soll gegen den fanatischen Haß des gesamten internationalen Judentums, dann kann und darf der deutsche Christ nicht feige abseits stehn oder gar dulden, daß der Jude durch die bewährte Praxis vergangener Zeiten, das heißt, durch die Hintertür der Taufe sich wieder hineinschmuggelt in seine alten Einflußkreise. Der Jude wird durch die Taufe nie und nimmer ein Deutscher.

Während also die Deutschen Christen, die sich ebenfalls auf Luther beriefen, die Trennung zwischen Kirche und Staat aufgehoben sehen wollten, um alle jüdische Kultur in Deutschland gemeinsam mit Adolf Hitler ‚restlos auszumerzen‘ und daran tatkräftig mitzuarbeiten, beharrte die Bekennende Kirche auf dem Recht der Bekehrung der Juden in ihrem Zuständigkeitsbereich. So radikal war der Unterschied zwischen diesen beiden Strömungen bei Lichte besehen aber nicht: Selbstverständlich seien alle Juden schlimm, räumten auch die von Hermle zitierten Theologen der Bekennenden Kirche immer wieder ein, und die „Judenfrage“ habe sich zweifelsohne zu einer entscheidenden ‚Bedrohung‘ entwickelt – aber man möge doch wenigstens versuchen dürfen, auch noch im „Dritten Reich“ den Versuch zu unternehmen, einige wenige Juden zum Taufbecken und damit auf den ‚rechten Weg‘ zu führen.

Dies alles ist gleichermaßen lehrreich wie enttäuschend zu lesen. Wie auch im Fall mancher befremdlich nachsichtiger Wendungen in einigen der anderen zitierten Beiträge aus dem besprochenen Band ist Hermles erhellende Zusammenstellung von Argumentationsmustern aus der Bekennenden Kirche lediglich dort zu kritisieren, wo der Autor Formulierungen wie diejenige verwendet, die von ihm zitierten Theologen seien mit ihren problematischen Ansichten „Kinder ihrer Zeit“ gewesen. Dabei handelt es sich um eine notorische Redewendung, die in der Umgangssprache immer wieder dann gerne zum Einsatz kommt, wenn historische Schuld aus heutiger Sicht relativiert werden soll. In dem vorliegenden Fall ist dies aber gewiss nicht das Ziel. Zusammen mit Oliver Arnholds Beitrag über die Luther-Rezeption der Deutschen Christen vermag Hermle dem Leser vor Augen zu führen, dass es zwischen den Grundsätzen der Bekennenden Kirche und denen der NS-Opportunisten unter den Protestanten nach 1933 mehr Überschneidungen gab, als man in der Geschichtsschreibung zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus lange angenommen hat.

Verständliche Überblicke, aber teils holzschnittartige Thesen

Beide hier besprochene Bücher sind, obwohl für ihren Inhalt teils Theologen verantwortlich sind, in einer klaren und verständlichen Sprache verfasst. An Berings Buch stört der ältliche „Wir“-Stil, der ganz einfach nicht mehr zeitgemäß ist und sein Buch passagenweise klingen lässt, als befinde man sich im falschen Film. Dafür hat der Autor darauf Wert gelegt, seine Studie nachvollziehbar zu strukturieren. Sie ist bündig formuliert und bietet dem Publikum eine gute Einführung in Luthers Verhältnis zum Judentum seiner Zeit – besser gesagt, wie er es sich vorstellte. Im Schlusskapitel weitet Bering seine skizzierte These sogar noch einmal zu einer Theorie zum Verständnis der gesamten Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses aus, was jedoch etwas zu schematisch wirkt.

Der Band zu Martin Luthers „Judenschriften“ bietet im Schnitt ebenfalls eher knappe und klar verständliche Aufsätze und ist für die theologische Forschung vielleicht sogar so etwas wie ein erster kleiner Meilenstein auf dem Weg zu einer kritischeren Betrachtung der kirchlichen und politischen Folgen von Luthers Antisemitismus.

Soviel ist nach der Lektüre beider Bände jedenfalls endgültig klar: Viel dürfte die evangelische Kirche im Reformationsjahr 2017 nicht zu feiern haben. Angesichts der jahrhundertelangen Tradition des Antisemitismus insbesondere im Protestantismus seit Luther wäre es wohl angemessener, dieses Jahr mindestens einmal täglich für mehrere Stunden in den Keller zu gehen und dort bitterlich über die mörderische Dummheit, die Bigotterie, die Heuchelei, die Gemeinheit und den Hass in einer Kirche zu weinen, die einst dazu angetreten war, gegen die Intoleranz der katholischen Kirche die Botschaft der Liebe zu verkünden.

Um mit einer optimistischeren persönlichen Note zu enden: Der Rezensent wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus auf und wurde stets im Sinne von Toleranz und Gerechtigkeit erzogen. Die Konzentration auf die Deutung von Texten, die Offenheit der Diskussionen in diesem Umfeld haben ihn keineswegs zu einem Antisemiten gemacht. Die Zukunft dieser Welt liegt in der Beschäftigung mit Literatur. Wenn Luther also in einem Recht hatte, dann war es wohl diese ursprüngliche Idee, die er schließlich selbst ad absurdum führte: Früh mit dem Lesen zu beginnen und gemeinsam die Deutung von Texten zu erproben, kann die Menschen klüger machen und ihre Herzen öffnen. Es dürfte sich sogar um eine Tätigkeit handeln, die in unserer heutigen Welt wichtiger denn je geworden ist. Nicht zuletzt für die Überwindung des Antisemitismus in aller Welt.

http://literaturkritik.de/500-jahr-feier-reformation-luther-antisemit,22908.html

Titelbild

Dietz Bering: War Luther Antisemit? . Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe.
Berlin University Press, Berlin 2014.
321 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783862800711

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Kraus / Gury Schneider-Ludorff / Anselm Schubert / Axel Töllner / Harry Oelke (Hg.): Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
338 Seiten, 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783525557891

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In „Das Stereotyp als Metapher“ beleuchtet Paula Wojcik sechs Romane

Von Olaf Kistenmacher

Unter dem Stichwort „literarischer Antisemitismus“ wird seit rund 20 Jahren untersucht, inwieweit die Belletristik mit daran beteiligt war, dass die moderne Judenfeindschaft zu einem „kulturellen Code“ wurde. Die Historikerin Shulamit Volkov schrieb in ihrem berühmten Essay Antisemitismus als kultureller Code, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts judenfeindliche Vorstellungen zu einem festen „Bestandteil einer ganzen Kultur“ geworden waren und so selbstverständlich schienen, dass „sogar Menschen jüdischer Herkunft“ sie übernahmen. Romane spielten bei dieser Entwicklung eine besondere Rolle, da sich die jeweiligen Erzählerinnen und Erzähler häufig aufgeklärt und vorurteilsfrei gaben und die zeitgenössische antisemitische Gewalt verurteilten. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger hat in dem Sammelband Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz diesen Mechanismus am Beispiel von Wilhelm Raabes 1864 erschienenem Roman Der Hungerpastor nachgezeichnet: Zunächst distanzierte sich der Erzähler von den Hepp-Hepp-Krawallen und, wie es bei Raabe heißt, von der „Mißachtung der Juden, die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet“. Im weiteren Verlauf stellt der Erzähler selbst die jüdische Familie Freudenstein in einer Weise dar, die, so Klüger, herablassend und verächtlich sei. Gerade indem sich der Erzähler zunächst „als toleranter Mensch legitimiert“ habe, diente laut Klüger die Kritik des gewalttätigen Antisemitismus dazu, die „negativen Eigenschaften von Raabes erfundenen jüdischen Figuren zu beglaubigen“.

Ähnliches lässt sich über Gustav Freytags Roman Soll und Haben sagen, der bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Bestseller war und in dem, wie Christine Achinger in Gespaltene Moderne. Gustav Freytags Soll und Haben schreibt, die jüdischen Figuren zwar nicht rundweg als negativ dargestellt werden, aber die abzulehnenden Aspekte der modernen Gesellschaft verkörpern: Es mangele ihnen in Freytags Roman, so Achinger, „keineswegs an Fleiß und Disziplin, sondern spezifischer am Sinn für die Arbeit in der deutschen Weise, am Sinn für Arbeit als moralischer Imperativ statt als Mittel zum Erwerb“.

Danach ließe sich fragen, ob nicht die schöne Literatur zugleich ein geeigneter Austragungsort wäre, diese Vorstellungen des modernen Antisemitismus zu unterlaufen und zu analisieren. Immerhin war die moderne Judenfeindschaft in der Literatur schon lange Thema, etwa in Klassikern des 20. Jahrhunderts wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder James Joyce’ Ulysses. 1882 veröffentlichte Fritz Mauthner den Roman Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin, um, wie er im Vorwort schreibt, dem „Pöbel höherer und niederer Stände, der sein Gift gegen den jüdischen Stamm verschwendet“, etwas entgegenzusetzen.

Paula Wojcik analysiert in ihrer anregenden Untersuchung Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur sechs Romane, die im 21. Jahrhundert erschienen sind und die judenfeindliche Vorstellungen auf der Ebene der Metaphern unterlaufen. Zu den bekannten gehören Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union und Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated, andere Titel – wie Mariusz Sieniewicz’ Żydòwek nie absługujemy (Jüdinnen werden nicht bedient) – liegen bislang nicht auf Deutsch vor. Zwar richtet Wojcik ihren Fokus auf die Post-Shoah-Literatur, doch es geht ihr explizit nicht um die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschsprachigen Literatur, weswegen sie Romane aus den USA, aus Polen und der Schweiz hinzunimmt. Mit Chabons Die Vereinigung jüdischer Polizisten oder Thomas Hürlimanns Fräulein Stark hat sie sich allerdings eine schwere Bürde aufgeladen, denn beiden Texten wurde kurz nach dem Erscheinen vorgeworfen, selbst antisemitische Vorstellungen zu schüren. Dass gerade die Schriftsteller, die im Deutschunterricht wegen ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelesen werden, selbst nicht frei sind von antisemitischen Vorstellungen, hat 2010 nicht nur der Fall Günter Grass gezeigt. Wojcik geht am Ende in ihrer Studie auf Bernhard Schlink ein, in dessen Erzählung Die Beschneidung der nichtjüdische Protagonist zum Opfer seiner jüdischen Freundin und ihrer Familie wird, indem er „für etwas angegriffen [wird], für das er nichts kann: für seine Herkunft“.

Wojciks anspruchsvolle Analysen versuchen, der Tiefenstruktur des modernen Antisemitismus, des „kulturellen Codes“, gerecht zu werden. So reiche es nicht, lediglich eine positive Darstellung von Jüdinnen und Juden zu geben, was sich als Motiv bereits im 18. Jahrhundert finde. Die antisemitischen Vorstellung müssten selbst demontiert werden. Als „eines der ersten Beispiele einer positiven Hauptfigur“ nennt Wojcik Lessings Stück Die Juden (1754), das sie dem bekannten „mustergültige[n] Toleranzstück“ Nathan der Weise dem Vorzug gibt, weil in Die Juden das stereotype Denken selbst im Fokus der Kritik stehe. Wojcik warnt vor zu großem Optimismus: Selbst eine literarische Dekonstruktion im Sinne einer Sichtbarmachung des Herstellungsprozesses sei allein nicht ausreichend, weil „auch das dekonstruierende Zitieren der Stereotype zu ihrem Fortbestehen“ beitragen könne.

Trotzdem böten Romane, Theaterstücke, Erzählungen ein Potential, denn so wie die Literatur seit mehr als zwei Jahrhunderten einerseits das Denken beeinflusse und mitgeholfen habe, Judenfeindschaft salonfähig zu machen, könnte die Belletristik andererseits das Spiel umkehren. Dabei seien Metaphern „aktiv an der Verarbeitung von Erfahrungen sowie an der Erkenntnisgewinnung“ beteiligt. Zu den grundlegenden Metaphern der Moderne gehört die Vorstellung, menschliche Gesellschaften seien wie ein menschlicher Körper und Menschen wie Pflanzen. Gesellschaftliche Probleme und Krisen erschienen demnach als Krankheiten, Personen, die die Störung tatsächlich verursachten oder nur für sie verantwortlich gemacht werden, werden als Krankheitserreger imaginiert. In Jan Koneffkes Roman Paul Schatz im Uhrenkasten gibt sich ein antisemitischer Arzt, der sich nicht als „Judenfeind“ versteht, zuversichtlich, dass er sich seine Finger „nicht an einem Juden schmutzig machen [müsse]. Das erledigt sich von alleine.“ Die Hauptfigur stellt diese Vorstellung infrage, indem sie sie wörtlich nimmt: „Was hieß das? Mußten alle Juden an einem bestimmten Tag sterben? Fielen sie einfach um wie Eintagsfliegen?“

Jonathan Safran Foers Alles ist erleuchtet, so Wojcik, führe „jegliche Vorstellungen von territorial gebundener Identität ad absurdum“. Zu Beginn des Romans heißt es über das Schtetl, aus dem die Familie der Hauptfigur stammt, dass nicht nur die „Grenzlinie“ ständig verschoben wurde, sondern im 18. Jahrhundert „Räder an die Gebäude [angebracht wurden], um beim ständigen Hin und Her des Schtetls zwischen jüdischem und menschlichem Leben weniger Kraft zu vergeuden“. Zugleich rekonstruiert der Protagonist, der wie sein Autor den Namen Jonathan Safran Foer trägt, den Stammbaum seiner Familie. Allerdings, schreibt Wojcik, ist es am Schluss von Alles ist erleuchtet kein Spezifikum von Jüdinnen und Juden, nicht mit einem Ort verwurzelt zu sein, sondern das Schicksal aller Menschen. Sein ukrainischer Reiseführer Alex schreibt Jonathan später, dass er er sei, „und du bist du, und dass ich du bin, und du bist ich“. „Wir sprechen jetzt zusammen, Jonathan, zusammen und nicht getrennt. Wir schreiben zusammen und schreiben an derselben Geschichte […]“.

Michael Chabons Roman Die Vereinigung jüdischer Polizisten erzählt eine kontrafaktische Geschichte, nach der Alaska zum Zufluchtsort und die neue Heimat der von den Nazis verfolgten Jüdinnen und Juden geworden ist und in der auch die Frage aufgeworfen wird, was wäre, wenn „all die Gerüchte von einer jüdischen Verschwörung wahr wären“. Die bei Chabon dargestellten Jüdinnen und Juden sind alles andere als sympathische Figuren, sie erinnern vielmehr an Kriminalromane Raymond Chandlers. Die vermeintlich „jüdische“ Intrige entpuppt sich im Lauf des Romans allerdings „als eine Farce“, die „tatsächlichen Übeltäter“ stammen aus einer „christliche[n] Vereinigung“.

Wojciks Lektüren sind tiefsinnig und laden zu einer Relektüre der behandelten Romane ein. Über die tatsächliche Wirkung einer „Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur“ ist damit allerdings noch nichts gesagt. Es bleibt grundsätzlich offen, welche Breitenwirkung die besprochenen Romane entfalten, oder etwas konkreter, inwieweit die literarischen Strategien judenfeindliche Vorstellungen innerhalb der „gebildeten Schichten der Bevölkerung“ unterlaufen können. In diesem Zusammenhang ist es beispielsweise bemerkenswert, dass in der Verfilmung von Alles ist erleuchtet der Großvater des Reiseführers Alex am Schluss als jüdisch erkennbar wird – wohingegen der Roman in dieser Frage nicht eindeutig ist. Ob die „Demontage“ gelingt, kann ohnehin nicht allein werkimmanent, sondern müsste durch Rezeptionsanalysen überprüft werden. Die Gefahr der Belletristik könnte gerade in ihrem besonderen Reiz liegen, dass sie vieldeutig ist, sodass missverständliche Deutungen der Romane, auch eine „Fehlinterpretation“, wirkmächtiger sein könnten als die Interpretationen, die Wojcik favorisiert.

Der Untersuchung ist das berühmte Zitat von Shylock aus Shakespeares Der Kaufmann von Venedig vorangestellt: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften?“ Das Zitat wird bis heute als Anklage gegen jede Form von Rassismus gebraucht. Zugleich ist Shylock in Shakespeares Stück keine sympathische Figur, und so überrascht es nicht, dass auch Antisemiten sich durch die Darstellung bestätigt sahen. Dies könnte auch für die Gegenwartsliteratur gelten, und es ist möglich, dass der Reiz und die Gefahr von beispielsweise Chabons Roman Die Vereinigung jüdischer Polizisten darin bestehen, dass er beides zugleich macht – antisemitische Vorstellungen zu kritisieren und sie dennoch zu reproduzieren.

Titelbild

Paula Wojcik: Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
306 Seiten, 33,80 EUR.
ISBN-13: 9783837622461

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Norwegen ist in wenigen Wochen »judenfrei«. Die letzten 819 in Norwegen lebenden Juden verlassen derzeit wegen des wachsenden Antisemitismus das Land.

Norwegen ist in wenigen Wochen »judenfrei«. Die letzten 819 in Norwegen lebenden Juden verlassen derzeit wegen des wachsenden Antisemitismus das Land.

 

Norwegen ist in wenigen Wochen »judenfrei«. Die letzten 819 in Norwegen lebenden Juden verlassen derzeit wegen des wachsenden Antisemitismus das Land. Damit wird Norwegen das erste europäische Land, in dem nicht ein Jude mehr leben wird. Die gleiche Entwicklung gibt es in allen europäischen Staaten.

Wer jetzt in den Nachrichten Berichte über den Terroranschlag auf Juden in Bulgarien hört, der erfährt nicht, dass Juden in Europa jeden Tag Angriffen ausgesetzt sind. Im Februar 2012 berichtete die norwegische Zeitung Aftenposten über den Auszug der Juden aus dem Land. Anne Sender, Vorsitzende der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Norwegen, sagte damals über die Gründe: »Viele Zuwanderer bringen den Antisemitismus aus ihren Heimatländern mit. Das Beschämende

aber ist, dass ihnen hierzulande niemand entgegentritt.« Es ist die muslimische Einwanderungswelle, die Europa den Antisemitismus zurückbringt. Eine ähnliche Entwicklung wie in Norwegen zeichnet sich im Nachbarland Schweden ab – und in allen EU-Staaten. Es sind Muslime, welche überall die Juden vertreiben. Der Informationsdienst Kopp Exklusiv berichtet als einer von wenigen ganz offen über das Thema.

In Frankreich fing es an. Kein Tag vergeht dort ohne Angriffe von Muslimen auf Juden. Die Zeitungen berichten kaum noch darüber, es sind zu viele Fälle. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2012 gab es in Frankreich 268 Angriffe auf Juden. Frankreich ist jetzt ein zutiefst antisemitisches Land. Die sozialistische Regierung unternimmt unter Präsident Hollande nichts, um die Juden zu schützen – im Gegenteil. Die vielen Muslime sind eine wichtige Wählergruppe. Und sie stehen unter dem Schutz der Sozialisten. Am 5. Juli 2012 wurde ein 17 Jahre alter Jude nahe Toulouse von zwei muslimischen Nordafrikanern in einem Zug fast zu Tode getreten, weil an seiner Halskette ein Davidstern hing. Die Polizei mochte nicht einmal die Strafanzeige aufnehmen. Juden werden in Frankreich jetzt ganz offen dazu ermuntert, das Land zu verlassen.

Nicht anders ist es in Italien. Wer jüdischen Glaubens ist, der muss ständig um sein Leben fürchten und in einer Art Hochsicherheitstrakt leben. Seit sechs Jahren berichten auch britische Medien über den Auszug der Juden aus Großbritannien. An dem Trend hat sich nichts geändert. Gab es 1990 noch 340.000 Juden in Großbritannien, so sind es heute weniger als 240.000. Muslimische Zuwanderer machen ihnen das Leben zur Hölle und vertreiben sie. Auch aus dem belgischen Antwerpen wurden die Juden vertrieben. In den Niederlanden haben führende Politiker den Juden ganz offen dazu geraten, das Land möglichst bald zu verlassen. Der frühere EU-Kommissar Frits Bolkestein sagte, die Niederländer marokkanischer Herkunft seien antisemitisch und es sei besser, wenn die Juden freiwillig gingen. Sie könnten in die USA oder nach Israel auswandern. Niederländische Politiker aus den Reihen der Sozialdemokraten marschierten sogar gemeinsam mit Muslimen, die öffentlich zum Vergasen von Juden aufriefen. Im deutschsprachigen Raum wird von den Medien nicht darüber berichtet. Schließlich sind Muslime aus der Sicht deutscher Journalisten aufrechte Menschen, die nichts mit Rechtsextremisten gemein haben. Deutsche Journalisten leisten mit dieser Einstellung Beihilfe zur Vertreibung der Juden aus Europa. Denn den Albtraum der islamischen Zuwanderung verdrängen sie.


http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/udo-ulfkotte/europa-soll-mal-wieder-judenfrei-werden.html

Statement der Bank für Sozialwirtschaft (BFS) zur Kontokündigung „Jüdische Stimme“ wegen Unterstützung der Kampagne „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS)“

Am 1. Dezember 2016 hat die Bank für Sozialwirtschaft dem Vorstand der Jüdischen Stimme e.V. die Beweggründe für die Kontokündigung in einem persönlichen Gespräch erläutert. Die Kündigung richtet sich nicht gegen den Verein Jüdische Stimme e.V. an sich.

Maßgeblich für die Kündigung ist vielmehr, dass die Jüdische Stimme die Kampagne „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS)“ unterstützt. Diese hat eine Destabilisierung des Staates Israel zum Ziel, die mit den Grundsätzen der BFS unvereinbar ist.

Der Spitzenverband der jüdischen Wohlfahrtspflege in Deutschland gehört zu den Gründungsgesellschaftern der 1923 gegründeten Bank für Sozialwirtschaft. Daher fühlt sich die Bank seit dem Ende der Nazi-Gewaltherrschaft der Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel verpflichtet und unterstützt das Existenzrecht des jüdischen Staates. Selbstverständlich akzeptiert die BFS, dass es stark divergierende Meinungen zum Nahost-Konflikt und dem Verhältnis zwischen den Palästinensern und dem Staat Israel gibt. Demgegenüber gehen die Positionen der Kampagne BDS in Inhalt und Stil nach Einschätzung der Bank weit über den Rahmen des üblichen demokratischen Diskurses hinaus. Sie sieht sich daher nicht mehr als der geeignete Geschäftspartner eines Vereins, der die BDS-Kampagne unterstützt.

Die Bank für Sozialwirtschaft hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht und sie erst nach der Auswertung verschiedener Untersuchungen zur BDS-Kampagne getroffen.

Hintergrundinformationen zur Kritik an der BDS-Kampagne

Die Friedrich Naumann Stiftung („Boykott des Friedens: Die BDS-Bewegung und der Westen“, 6.10.2015) kommt zu folgendem Fazit: „BDS richtet sich geographisch gegen ganz Israel und kulturell gegen alles Israelische. Die moderne Boykott-Bewegung verfolgt nur oberflächlich das Ziel, Israel durch Kooperationsverweigerung wirtschaftlich zu schädigen. Die ökonomischen Fol-gen des Boykotts gegen Israel hat der jüdische Staat zu jeder Zeit verkraftet. Vielmehr liegt die Motivation darin, das Außenbild Israels in der unbeteiligten Weltgemeinschaft durch eine minutiös geplante und mittlerweile reflexartig eingespielte Kampagne zu schwärzen: BDS möchte Köpfe, nicht Kassen erreichen. (…) Mit dem finalen Ziel, dem Staat Israel den Boden unter den Füßen wegzuziehen, will das BDS Movement den Stein ins Rollen bringen.“

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Der deutsche Soziologe Prof. Dr. Samuel Salzborn (Universität Göttingen) beschreibt BDS und ihre Forderungen als „eine moralisch imprägnierte palästinensische Interessenartikulation, mit der international der politische Druck auf Israel erhöht und die palästinensische Politik flankiert werden soll“ („Israelkritik oder Antisemitismus? Kriterien für eine Unterscheidung“, in Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift, Heft 1/2013). Die Kampagne beziehe sich dabei zu Unrecht auf den Kampf gegen das südafrikanische Apartheidregime und sei „nicht um Kritik bemüht […], sondern ihrer Intention nach antisemitisch“.

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Köln, 12.12.2016

Hass gegen Israel als Lehrfach

Von Armin H. Flesch.

Nun ist es heraus. Am 2. November 2016 ging die nachfolgende Erklärung des Senats der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Hildesheim an die Medien:

Der Senat würdigt die bisherige Zusammenarbeit mit der Präsidentin Frau Prof. Dr. Christiane Dienel. Er hat jedoch den Eindruck gewonnen, dass ihr Krisenmanagement in Folge der Antisemitismusvorwürfe der Hochschule schadet. Der Senat ist weiter der Überzeugung, dass die dadurch entstandenen Verwerfungen nicht mehr von der amtierenden Präsidentin behoben werden können. Daher zieht der Senat seine Empfehlung an das MWK zur Wiederernennung von Frau Prof. Dr. Dienel vom 18.05.2016 zurück.

Verpasste Gelegenheit

Soweit so gut. Dass die Präsidentin der HAWK nicht mehr zu halten sein würde, zeichne­te sich bereits auf einer Podiumsdiskussion am 15. September in Hannover ab. Die Ver­anstaltung stand unter der Überschrift „Wo beginnt israelbezogener Antisemi­tis­mus?“, doch im Zentrum der Diskussion standen vor allem das Hildesheimer Köhler-Semi­nar und der Umgang der Hochschulleitung mit substantieller öffentlicher Kritik. Der Abend war Dienels große Gelegenheit, die Kri­tiker der Hoch­schu­le nicht länger als Teil einer „Hass-Kampagne ziemlich einflussreicher Kreise“ dar­zustellen, sondern inhaltlich auf sie ein­zu­gehen.

Doch die Präsidentin blieb sich treu, wie sich bereits in ihrem Eingangs-State­ment zeigte. Zunächst freut sie sich, aufs Podium gekommen zu sein. Sie habe auch in der Ab­sicht, endlich „ver­nünf­­­tig miteinander zu reden,“ ihre Teilnahme sofort zugesagt. Doch bereits im näch­sten Satz ändert Dienel die Richtung und geht zum Angriff über: Das vernünftige Mit­ein­ander-Reden hätte „günstigerweise schon früher stattfinden sollen,“ stellt sie zutreffend fest, verschweigt aber, dass es gerade sie selbst und Dekanin Paulini gewesen waren, die das verhindert hatten.

In dem Stil geht es über den Abend weiter, und am Ende ist klar: Dienel unternimmt lediglich den erneuten Versuch der Schadens­begren­zung und der Kritik an den Kriti­kern. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit deren Argu­menten bleibt sie schuldig.

Hass gegen Israel als Lehrfach

Nicht die Größe der Kampagne oder gar Hass sind es, die Dienel schließlich zu Fall brin­gen. Viel­mehr unterschätzt sie von Anfang an die Ernsthaftigkeit des Problems ihrer Hoch­schule, das sie als deren Präsidentin zu lösen hatte. Es lässt sich in zwei Sätzen darstellen: Mehr als 15 Jahre lang verbreitet eine als Israelhasserin bekannte Lehrbe­auftragte ohne einschlägige wissen­schaft­­­liche Qualifikation antiisraelische Propaganda unter dem Deckmantel eines Hochschulse­mi­nars. Alle Dekane seit 2000 wissen darum, es gibt mehrfach substantielle Kritik, doch nie­mand in der Leitung von Fakultät oder Hoch­schule macht diesem Zu­stand ein Ende.

Erst nachdem die niedersächsische Wissenschaftsministerin die erneute Ernennung Dienels zur HAWK-Präsidentin vom Ausgang eines beim Berliner Zentrum für Antisemi­tismusforschung in Auftrag gegebenen Gutachtens abhängig macht, erst als es nun um ihre eigene Karriere geht, erkennt Dienel zumindest die Tragweite der Affäre und drängt Dekanin Paulini zum Rücktritt.

Doch für Bauernopfer ist es bereits zu spät. Längst haben sich neue Beweise für Antisemitismus an der HAWK gefunden, sind E-Mails aufgetaucht, die beweisen, dass Dienel viel früher um die Kritik am Seminar hätte wissen müssen, als bislang behauptet. Zunächst treten Mitglieder der hochschulinternen Ethik-Kommission zurück, dann distanziert sich der Senat von seiner Präsi­den­tin. Jetzt hat Christiane Dienel noch zwei Wochen Zeit, ihr Hildesheimer Büro auszuräumen. Der Inhalt des Berliner Gutachtens wird für sie keine Bedeutung mehr haben.

Grund zum Feiern?

Grund zum Feiern? Für Frau Dienel, die nun endlich ganz nach Berlin zurückkehren kann, si­cherlich nicht. Noch ihre letzte Erklärung nach dem Raus­wurf ist ein schwer erträgliches Doku­ment der Selbstgerechtigkeit, das alle Schuld am Ende ih­rer „engagierten Arbeit“ anderen in die Schuhe schiebt. Christiane Dienel, die Kämpfe­rin für die Freiheit der Lehre und die Ehre ihrer Hoch­schule, fiel als letzte Aufrechte mit der Fahne in der Hand. Und wie steht es mit der Hoch­schule oder dem Wissenschaftsministerium in Hannover? Darf man sich dort nun beruhigt zu­rücklehnen und darüber freuen, ein lästiges Pro­blem endlich losgeworden zu sein?

Möglich, dass es so kommen wird, aber zu empfehlen ist es nicht. Denn frei nach einer alten Politikerweisheit ist nach dem Skandal immer schon vor dem Skandal. Die Affäre um das an­ti­semitische und israelfeindliche Seminar der Ibtissam Köhler war zu jedem Zeitpunkt auch eine der gesamten Hochschule, des akademischen Lehrbe­triebs, ja der ganzen Gesellschaft. Sämtliche einschlägigen Untersuchungen beweisen: Antisemitismus ist kein Reservat fürs glatzköpfige Pre­kariat, er wurzelt in allen Schichten, durch alle ethnischen, reli­giösen und Bildungshin­ter­gründe hindurch mitten in der Gesellschaft.

Worauf also käme es an? Die Hochschule in Hildesheim, unter tätiger Mithilfe der niedersäch­sischen Landespolitik, müsste bereit sein, ihre unrühmliche jüngste Vergangenheit gründlich aufzuarbeiten, um Wiederholungen in Zukunft nach Möglich­keit zu verhindern. Diese Aufklärung müsste auch andernorts Schule machen, ohne dass Ver­ant­wortliche durch medialen Druck dazu getrieben wären. Schließlich sollte die öffent­liche Dis­kussion, die der Fall Köhler ausgelöst hat, nicht einschlafen, sondern wachsen.

Den ganz gewöhnlichen, alltägli­chen Antisemitismus, die nachgerade zwanghafte negative Fixierung großer Teile un­se­rer Gesellschaft auf Israel, sollten wir in den Blick nehmen und die Ursachen erkennen. Damit wären unsere Stamm­tische, Medien, Hochschulen und Parlamente noch keine besseren, aber sie wüssten wenigstens, was sie tun.

Grund zum Feiern besteht jeden­falls nicht.

Siehe auch: Hochschul-Senat zieht Empfehlung für Präsidentin Dienel zurück 

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