’nen Platz an der Sonne erlangen? / Nicht leicht. / Denn wenn er erreicht, / ist sie untergegangen. Karl Kraus
Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen.« Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, freute sich mächtig. Der hundertjährige Kampf der Deutschen um die Eroberung Europas schien siegreich zu enden.
Was war ihnen nicht alles schiefgegangen, seit das kaiserliche Deutschland das Ziel in seinem Ersten Weltkrieg (siebzehn Millionen Tote) verfehlt hatte? Erst waren die Deutschen von ihren Nachbarn in Quarantäne gesteckt worden. Aufs schrecklichste aus dieser befreit, war die Nazion in ihren nächsten, den Zweiten Weltkrieg (sechzig Millionen Tote) gezogen, dessen Ende sie sich reichlich verdient hatte.
Eingedenk des Mißerfolgs mit der Isolierung und weil für das letzte Gefecht gegen den Kommunismus auf derart einschlägig erfahrene Kombattanten nicht zu verzichten war, versuchte der geplagte Kontinent diesmal, die Deutschen durch Umarmung zu entwaffnen. Es dauerte, bis die ihre Chance be- und ergriffen: Europa zu umarmen, bis sie es im Schwitzkasten hätten.
Was folgte, war die Epoche der deutschen Mimikry als Musterknabe des »Westens«, der »freien Welt«, des »Abendlands«, der das Maul nicht allzu weit aufriß und andere für sich sprechen ließ. Wer sich einfand, den Feind von gestern zu entsühnen, wurde – man war ja doch das Land der Dichter und Denker geblieben, die kulturelle Instanz des Kontinents – von so hochgeschwollenen Einrichtungen belohnt wie dem »Aachener Karlspreis für Verdienste um die Europäische Einigung« für besonders anstellige Premiers, Präsidenten und Könige wie Juan Carlos I., François Mitterrand, Václav Havel oder Tony Blair.
Und doch hörten die weniger Dummen unter den Nachbarn nie auf, die deutsche Gefahr zu wittern. 1989, beim Fall der Mauer, brach die britische Premierministerin Thatcher in den spontanen Seufzer aus: »Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da.« Frankreichs Präsident Mitterrand bekniete den letzten Vorsitzenden der SED, einen gewissen Gregor Gysi, doch bitte die Wiedervereinigung der Deutschen zu hintertreiben. Zu spät.
Weitere zwölf Jahre später, als die »Frankfurter Allgemeine« anläßlich des deutschen Überfalls auf Jugoslawien klagen mußte, Frankreich und Großbritannien hätten diesen »großserbischen Staat« eingerichtet, um »Deutschland, Österreich und Ungarn zu bestrafen und am Boden zu halten«, und Springers »Welt am Sonntag« stöhnte, für Franzosen und Briten seien »die Serben vor allem die alten Alliierten gegen Deutschland, und ›Jugoslawien‹ vor allem ein antideutsches Bollwerk im Südosten Europas«, hatte Deutsch-Europa die seligen Sieger zweier Weltkriege längst in der Armbeuge.
Heute ist Europa eine deutsche Exportkolonie, regiert mit Hilfe eines Juniors, der sich, ein wenig selbstironisch wohl schon, noch immer die Grande Nation nennt. Was ein spanischer Arbeitsloser zu fressen bekommt, ein portugiesischer Lehrer verdient, wann ein Franzose in Rente geht und Irland der Dispo gestrichen wird, wessen öffentliches Eigentum an welchen – deutschen – Kapitalisten zu privatisieren ist, wie lange ein griechischer oder italienischer Ministerpräsident im Amt bleiben darf und von wem er ersetzt werden muß, wer sein Volk nach dessen Meinung fragen und wann er Wahlen abhalten darf, wird in Berlin entschieden und von Hiwis in Brüssel wie dem EURatspräsidenten van Rompuy verkündet: »Italien braucht Reformen und keine Wahlen.« Itaker, wegtreten!
Mitunter wird die ehemalige Sekretärin für Agitation und Propaganda der Freien Deutschen Jugend nun mit Bismarck verglichen, was außerhalb Deutschlands keine Schmeichelei ist, hinter ihrem Rücken aber auch gern mit einem andern: »Der Führer hat uns einbestellt«, soll, »Spiegel online« zufolge, »ein Diplomat aus einem Nachbarland Deutschlands« gesagt haben, als er und seine Kollegen beim Europa-Berater der Bundeskanzlerin antreten mußten. Selbst der intellektuell so bescheidene wie national unbedenkliche Helmut Schmidt meint, daß Merkels Berlin ein Zentrum »schädlicher deutschnationaler Kraftmeierei« geworden sei.
Des Volkes Mehrheit meint das ganz und gar nicht. Schmidts deutschnationaler Parteifreund Dohnanyi forderte den Kanzler a.D. ziemlich rüde auf, sich bei seiner Nachfolgerin zu entschuldigen. Gleichgesinnte Redner wie der Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europaparlament verlangen, Großbritannien müsse »sich entscheiden, ob es weiterhin als 27. Mitgliedsstaat der Europäischen Union seine Zukunft selbst gestalten oder lieber als 51. Bundesstaat der USA Befehle aus Washington empfangen will« (statt aus Berlin). Auch Deutschlands gefürchteter Arbeiterführer Sommer ist nicht von schlechten Großeltern: Der britische Premier David Cameron, sagte er, »führt sich auf als Schutzpatron der Spekulanten«. Die Eurogegner in der FDP aber tragen T-Shirts mit dem Aufdruck »EUdSSR« – Europa, die Union sozialistischer Sowjetrepubliken.
Wo immer die Stimme des Volkes sich hören läßt, haben Europa und der Euro als Deutschlands Unglück die Rolle der Juden übernommen. So gern nämlich die Deutschen Europa ausbeuten und kommandieren, so wenig hat sie ihr Neid und ihr Haß auf die alten Feinde verlassen: auf die Südländer, die nichts im Sinn haben als Dolce Vita und Bunga Bunga, auf die leichtlebigen Franzosen, auf das perfide Albion, das uns mit gerafftem Kapital piesackt und im Zweifel an die Wall Street verrät. Kalt bis an ihre Mördergrube hinan haben sie den Versuch der Briten, Italiener und Franzosen verfolgt, mit ihrer libyschen Militäroperette, der gleichwohl echte Menschen zum Opfer gefallen sind, einen Saisonerfolg zu ertrotzen, während eine Transall der Bundeswehr in die rauchenden Trümmer von Bengasi ein Spezialkommando absetzte, bestehend aus dem Staatssekretär des Bundesministeriums der Wirtschaft, dem Geschäftsführer des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft und Vertretern von zwanzig deutschen Unternehmen, um abzuräumen, was die Verbündeten erst zu erobern hofften.
Als die deutsche Kanzlerin Anfang Dezember Europa antreten ließ, salutierten 26 Nationen. Allein die 27., das von Thatcher und Blair entindustrialisierte und zu einem Wettbüro herabgewirtschaftete Großbritannien, versagte sich – eine Dummheit, die sich wohltuend von der servilen Schlaumeierei der 26 abhob. Die Frage der Macht wäre also vorerst geklärt. Nicht so die ökonomische: Was will Berlin mit einem Europa, dessen Bewohner sich den herrlichen Exportpofel nicht mehr leisten können, mit dem Deutschland seinen Reichtum erwirtschaftet? Oder denkt das nationale Kapital schon weiter, an ein Europa als Union der Dumpinglöhne, das mit billigen Qualitätsprodukten die Märkte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas plattmacht? War es das, was Angela Merkel im Kopf hatte, als sie posaunte: »Unsere soziale Marktwirtschaft muß in der ganzen Welt verankert werden«?
Sein könnte aber auch, und Indizien gibt es, daß andere Europäer den Gürtel nicht so ergeben enger schnallen wie die deutsche Frau und ihr kleiner Mann, es also zu Unruhen, Streiks, Generalstreiks gar kommt, womöglich grenzüberschreitenden, weil vereint in der europäisch- gemeinschaftlichen Wut auf die Diktatur der Boches, der Krauts, der Moffen, cabezas cuadradas, des tyske pak und so weiter. Schon heute gewinnt, wenn irgendwo in Europa gewählt wird, von zwei Kandidaten immer der eine, egal ob links oder rechts, der – anders als der erbarmungswürdige Sozialdemokrat Zapatero – noch nicht im Fernsehen gezeigt wurde, wie er Angela Merkel die Schleppe trägt.
So keimt die vage Hoffnung, die Deutschen könnten sich zum dritten Mal in hundert Jahren übernommen haben.
Konkret 01/12, S. 9
Hermann L. Gremliza
Ami stay here
Deutschland, Deutschland über alles zu setzen, ihm einen »Platz an der Sonne« zu erstreiten, wie es Wilhelms Reichskanzler von Bülow zur letzten Jahrhundertwende versprochen hatte, ist zweimal, 1914/18 und 1939/45, mißlungen. Aber auch aller elenden Dinge sind drei: Ganz ohne Schlieffen-Plan und Unternehmen Barbarossa sieht sich US-Präsident Bush bereits genötigt, die Bundesrepublik einen »Partner in leadership« zu nennen, spricht der »Spiegel« – man soll die Nachbarn nicht zur Unzeit reizen – von einer »Mittelmacht de luxe«, die sich »auf eine Führungsrolle in der Beletage des europäischen Hauses« einrichte. Das »halbe Käsebrötchen«, als das Klaus Pohl die BRD in seinem »Milliardenspiel« gerade noch verspottet hat, ist auf dem Weg zur Weltmacht.
Geebnet wird er von einem Mann, dessen Titel dergleichen eher zu unterbinden als zu fördern versprach: dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Er und seine Begleiter haben auf ihrem Triumphzug durch die BRD einen »Schlußstrich unter die Vergangenheit« gezogen und den Rechtsnachfolgern der Belagerer von Leningrad nicht Zusammenarbeit, nein: »Freundschaft« angeboten. »Unsere neue Sicht internationaler Fragen«, schrieb Gorbatschows »Deutschland-Berater« Nikolai Portugalow, werde es »den Deutschen« erlauben, »ihre nationalen Interessen viel wirksamer zu verteidigen«. (Wenn auch nicht mehr in einem »heiligen Verteidigungskrieg«.) Im Westen wie im Osten – »ist doch das Schicksal der Deutschen untrennbar mit dem einen Europa vom Atlantik bis zum Ural verbunden« (und nicht mehr bloß von der Maas bis an die Memel). Die DDR gibt’s als no name-Produkt zum Discountpreis dazu, indem »wir die historische Dimension aller Fragen, die mit der deutschen Nation und ihrer künftigen staatlichen Existenz zusammenhängen, ausdrücklich anerkennen«. Einen Kritiker der Bonner Großmachtpolitik wie den US-Kolumnisten William Safire nennt Gorbatschows Mann den »Deutschen-Hasser« und »keifenden Thersites«. Wenn Schönhuber wüßte, was Thersites ist, könnte er das gesagt haben.
(Nebenbei, lieber Nikolai: Sind die Erfolge, die deine Partei in den siebzig Jahren seit der Oktoberrevolution im Umgang mit »nationalen Fragen« errungen hat, wirklich so umwerfend, daß Ihr Euch an den Geschäften anderer Patridioten beteiligen solltet? Ihr wollt, höre ich, den »Wolgadeutschen« vielleicht wieder ein autonomes Gebiet einräumen; paßt bloß auf, daß die Euch, wenn Ihr die Meßcheten aus den usbekischen Pogromen dorthin evakuiert, nicht mit »Türken raus«-Plakaten empfangen.)
Als wäre »Deutschen-Hasser« nicht die einzige moralisch vertretbare Haltung, die ein Beobachter dieser widerwärtigen Nation einnehmen kann. Er haßt ja nicht die Bürger der BRD oder der DDR, sondern den stinkenden Kadaver »Deutschland« und jene »Deutschen«, die ihn ausbuddeln und wiederbeleben wollen. Von diesen gibt es in der Bundesrepublik mehr, als selbst ein Thersites beschimpfen könnte. Eine Woche, nachdem Gorbatschow den von ihnen verlangten »Schlußstrich unter die Vergangenheit« gezogen und »den Deutschen« Freundschaft angetragen hat, bedankten sich die Bayern mit 15 Prozent für die neuen Braunen. Und es werden noch weit mehr, wenn die letzten Reste von Furcht vor dem Ausland schwinden.
Gorbatschow hat ihnen Mut gemacht. Es war stets nur Irrtum oder Propaganda, wenn aus dem Wahlverhalten und der offiziellen Politik ihrer rechten Staatsparteien geschlossen wurde, »die Deutschen« seien zu aufgeklärten bürgerlichen Demokraten mutiert. Sie sind geblieben, was sie waren, und hatten immer bloß Schiß vor politischen und wirtschaftlichen Sanktionen. Nur in dem, was sie sich zu sagen trauen, nicht in dem, was sie denken, unterscheiden sich Schönhuber und Dregger. Bis heute haben Kohl, Waigel oder Geißler zu den Parolen der »Republikaner« nicht einen inhaltlichen Einwand zu formulieren vermocht – zu »radikal« seien sie halt. Und wiederum ist es nur die Furcht vor den Reaktionen der westlichen Nachbarn, die schwarzbraune Koalitionen (noch) verbietet: Könnte ja sein, daß die Unterwerfung West- und Südeuropas unter ein auch von Schönhuber repräsentiertes BRD-Kapital weniger reibungslos verliefe.
Gorbatschow verlangt, wohin er kommt, »neues Denken«. Tun wir ihm den Gefallen: Die Truppen, die 1945 das Deutsche Reich besetzten, taten das nicht, um »die Deutschen« vom Nazismus zu befreien, sondern um die tödliche Politik zu beenden, die von Deutschland gegen sie getrieben worden war. Die Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs blieben bis heute, nicht um den demokratischen Rechtsstaat BRD zu schützen – dafür haben sie noch nie und nirgends auch nur eine Kugel vergeudet – sondern um erstens von hier aus den Sozialismus zu bekämpfen und zweitens »die Deutschen« unter Kontrolle zu halten.
Die erste Aufgabe haben die Sozialisten inzwischen selbst übernommen, und so gewinnt die andere, von der öffentlich nie die Rede war, neue Bedeutung. Frau Thatcher hat es zuerst ausgesprochen, als sie die Unverzichtbarkeit alliierter Atomraketen in der BRD mit der Bemerkung begründete, die Deutschen sollten merken, daß sie den Zweiten Weltkrieg begonnen haben. Der wirtschaftliche Riese soll politisch der Schrumpfgermane bleiben, mit dem allein die Nachbarn und der Rest der Welt es aushalten können.
Ami go home ist längst zum Votum nicht nur Schönhubers und deutschtümelnder Grüner, sondern auch der etablierten Rechten avanciert. Alfred Dregger, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der es den US-Amerikanern bis heute nachträgt, daß sie nicht vor den Gräbern von SS-Mördern knien wollten, hat angekündigt, die Haltung zur Rolle und Präsenz der USA in Europa könne revidiert werden, wenn ein System der europäischen Sicherheit geschaffen werde, und »für diesen vernünftigen Gedanken« wird er aus Moskau heftig gelobt; man habe ihn »auch von anderen Persönlichkeiten gehört«.
Ami go home ist schließlich, auch 44 Jahre »danach«, immer noch: die Befreiung von den Befreiern vom Faschismus und von den Weltherrschaftsplänen »der Deutschen«. Das Bewußtsein, wie zukunftsträchtig diese Vergangenheit sein könnte, ist im alternativen Talk-Show-Geschwätz über den Durchbruch der Bundesrepublik zu einer »neuen politischen Kultur« fast versintert: Was sind schon Schönhubers paar unbelehrbare Männeken im Vergleich zu den Massen, die der multikulturelle Dezernent mobilisiert (der freilich auch schon die Ausländer in solche aufteilt, die »unsere Kultur« mit Gyros bereichern und deshalb bleiben sollen, und in andere, die – aber bis er das deutlicher sagt, braucht’s noch ein paar Wochen).
Das Kalkül »der Deutschen« leuchtet ein: Die BRD, die Westeuropa fast schon im Sack hat, nimmt sich nun Osteuropas an. Die Sowjetunion, Polen, Ungarn, denen es heute nicht gut geht, aber bei weitem nicht so dreckig, wie es ihnen in zehn Jahren gehen wird, stellen dem deutschen Kapital Rohstoffe, Märkte und billige Arbeitskräfte zur Verfügung, damit es seine Beletage im »europäischen Haus« (daß einmal ein Nachfolger Lenins mit einer solchen Latrinenparole hausieren gehen würde!) ausstaffieren kann. Die andern beziehen peu à peu die Räume im Souterrain des »europäischen Hauses«. Und dann darf der Rest der Welt am deutschen Unwesen genesen.
Die DDR? Gibt’s dann schon lang nicht mehr: »Wenn die Deutschen (!) von eventueller Wiedervereinigung im Rahmen Europas sprechen, dann betrachte ich das als ein positives Moment… Die Bundesrepublik kann unser Partner nur für den Fall sein, daß sie gemeinsam mit uns den Weg zur Errichtung des gesamteuropäischen Hauses beschreitet, das eigentlich ein System der europäischen Sicherheit darstellt. Wird ein solches System geschaffen, dann wird auch eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu einer Frage, die nur sie selbst angeht. Die ‚deutsche Frage‘ kann nur im Rahmen des ‚gesamteuropäischen Hauses‘ gelöst werden.« Sie ist nämlich noch offen, meint der Vizedirektor des Instituts für Europa der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in der Botschafts-Zeitschrift »Sowjetunion heute«, und er heißt keineswegs Herbert Czaja, sondern Wladimir Schenajew.
Die USA waren und sind, spätestens seit dem Korea-Krieg, die bei weitem aggressivste imperialistische Macht; ihre Opfer zahlen nach Millionen; wer, wie ich, ihr mörderisches, verhaßtes Militär auffordert, in der BRD zu bleiben und die Reste des Besatzungsrechts nicht aufzugeben, sondern notfalls mit aller Macht wahrzunehmen, muß Schlimmeres fürchten: eine große Koalition der Wähler von Kohl, Mayer-Vorfelder, Schönhuber und Gorbatschow, den Abriß der Mauer, die Wiedervereinigung, »die Deutschen« und Deutschland, Deutschland über alles. Ami stay here!
konkret 07/89, S. 8
Hermann L. Gremliza
Wir sind wieder mehr
September 1989. Ein nationaler Herbst. Die Deutschen, vierzig Jahre zuvor von einer zivilisierteren Welt in verträgliche Portionen zerlegt, kommen zu sich: »Kater Willi: Nach DDR-Flucht neues Leben in Hamburg – Nun schnurrt er wieder, Gott sei dank« (»Morgenpost«); »Sie küssen die Freiheit« (»Bild«); »Ungarns Kommunisten: Sie dürfen wieder an Gott glauben« (»Hamburger Abendblatt«); »Unsere Ideen haben weltweit gesiegt« (Bundeskanzler Kohl).
Auf den ersten Blick: sie sind vollends meschugge geworden; auf den zweiten: sie haben sich endlich das Recht genommen, von Oswiecim (Auschwitz) nichts mehr hören zu müssen. Freiheit statt Sozialismus in den Grenzen von 1937 in einem Europa ohne Grenzen – das scheint möglich, das haben sie sich träumen lassen. Daß am deutschen Wesen die Welt genesen wird – darauf kommt es ihnen an, das erhebt sie über die Konkurrenz, die westlichen »Händlernationen«, das ist ihnen noch in der fünften Generation »unheimlich wichtig«: daß sie die Welt nicht des schnöden Mammons wegen erobern und auspressen, sondern um sie zu reinigen und zu heilen, mit dem Recht des moralisch Besseren, nicht dem des bloß Stärkeren. Deutschland, die verfolgende Unschuld (K.K.), macht sich wieder auf die Socken.
Und so darf es nicht sein, daß das Gesindel, das da im Trabbi rübermacht, um den Run auf den tiefergelegten 3er BMW anzutreten, den das ortsansässige Gesindel schon fährt, nichts anderes will als alle die andern, obwohl doch nichts dagegen spräche, warum sollten sie nicht, wer würfe den ersten Brilli auf Angela?
»Warum Angela (18) die DDR verließ: Als Angela 16 Jahre wird, empfiehlt ihr die Kaderleitung eine Ausbildung als Lehrerin. Sie ist begeistert. Doch sehr bald merkt die Studentin, daß der Beruf nicht ihren Vorstellungen entspricht. ‚Ich wußte ja überhaupt nicht, was mich erwartet. Berufsberatung und die Möglichkeit, während der Schulzeit ein Praktikum zu machen, gibt es bei uns nicht.’« Und dann die Mode: »Das Zeug liegt zwar massenhaft in den Regalen, aber so häßlich, daß es keiner anziehen will. Schicke Pullis oder Jeans gibt es nur im Exquisit-Laden…«
Neineinein, so profan, so »materialistisch« können deutsche Brüder und Schwestern nicht sein. Sie sind einer schändlichen Diktatur entronnen, ihrem Gewissen gefolgt, dürstend nach Freiheit; ihre Flucht ist Anklage. Und wenn sie, durch kommunistische Zwangserziehung und das ZDF-Werbefernsehen dem deutschen Wesen doch geringfügig (aber nur vorübergehend) entfremdet, freimütig den Wunsch nach schickeren Pullis, schnelleren Autos und weiteren Reisen als Grund für die Übersiedlung bekennen, muß der Bundeskanzler sie sogleich moralisch aufrüsten: Wage keiner, von »Wirtschaftsflüchtlingen« zu sprechen, denn auch das Streben nach Wohlstand sei »ein Menschenrecht«. Was natürlich nichts für die »Ausländerproblematik« und die vor dem Hungertod geflohenen »Scheinasylanten« besagt – der Kanzler sprach von deutschen Menschen, nicht von Kanaken. Rassismus pur.
Keiner widerspricht, alle sind dabei. Seit dem Bau der Mauer ist über die DDR nicht so einstimmig bösartig geredet worden wie in diesen Herbsttagen 1989. Bei Bildausfall könnte man nicht mehr sagen, wen man gerade hört – den sozialliberalen Wetterkarten-Onkel oder den Vorsitzenden der schlesischen Landsmannschaft, Schönhuber oder die Talkshow-Modistin, die einst den knieenden Willy umschwärmte, den Verehrer von Tucholsky oder den Verleger von Konsalik. Sie kennen keine Parteien mehr, sie kennen nur noch Brüder und Schwestern. Fällt der Name Honecker, verfestigt sich die Gemeinsamkeit der Demokraten zur Verschworenheit der Volksgemeinschaft.
Warum? Warum gerade jetzt? Geht es den DDR-Bürgern heute schlechter als vor Jahren? Im Gegenteil. Ist Stalin in Berlin/Ost auferstanden? Nicht daß ich wüßte. Werden die Knäste mit Oppositionellen gefüllt? Die Zahl politischer Häftlinge ist kleiner denn je. Werden Kirchen abgerissen? Leider nein. Alles Böse, was sich über die DDR sagen läßt, hätte sich mit mehr Recht sagen lassen, als die sozialliberale Bundesregierung den zweiten deutschen Staat anerkannte. Und doch wird erst heute wieder vom Generalsekretär der CDU ein »Verräter« genannt, wer noch mit den »Unterdrückern« redet. Warum?
Weil sie den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen hören und den Zipfel erwischen wollen. Polen ist offen, Ungarn, die Sowjetunion auch. Drum Koppel umgeschnallt, Gott mit uns bzw. Jesus lebt, auf zum dritten Ritt nach Osten, zur doppelten Revanche für Stalingrad: Die deutsche Bourgeoisie kriegt, was sie immer wollte, die Töchter und Söhne schütteln die Schuld der Väter ab, indem sie, die Besseren im Troß der Stärkeren, die Freiheit bringen; Schuldgefühle gegenüber Kommunisten beseitigt man am einfachsten dadurch, daß man die Kommunisten beseitigt. (Nach dem Rezept des von einem Bettler angeflehten Reichen, der, den Tränen nahe, seinen Diener bittet: Schmeiß den Kerl raus – er bricht mir das Herz!)
Jesus lebt, und er schnurrt auch wieder, Gott sei dank. Ob aber auch Marx wirklich so mausetot ist, wie der Herz-Jesu-Marxist Blüm sich das wünscht, und der Marxismus-Leninismus, »die Schande unserer Zeit« (»FAZ«), endgültig ausgemerzt? Der Schaum vor den Mündern der Redner, die fein genug erzogen sind, über Tote nichts Schlechtes zu sagen, verrät, daß sie Gründe haben, die Nachricht vom Tod ein wenig übertreiben zu sollen.
Einer davon, und der ihnen peinlichste, ist die DDR, das heißt: die störrische Führung der SED, die sich, entgegen der sonst bei Kommunisten so beliebten Salami-Taktik, kein Scheibchen vom ungarischen Vorbild abschneiden will. (Daß sie auch sonst sich nicht bewegt, in entgegengesetzter Richtung, wäre ein Thema unter Kommunisten und gehört also nicht hierher.) Unter den Staaten des Warschauer Pakts ist die DDR der ökonomisch erfolgreichste und, nach der Sowjetunion, der politisch gewichtigste. Gelänge es der SED, bis zur absehbaren Pleite der polnischen und ungarischen Abenteuer durchzuhalten, könnte ihr Beispiel die Realisierung des Konkursgewinns gefährden, auf den die Investoren spekulieren. Schlösse sie sich hingegen dem gelobten und geforderten Trend an, gäbe es kein Zurück, für niemand.
Deshalb die Eile – jetzt (oder vielleicht nie) muß die SED in die Knie! – , deshalb die Hektik, der Geifer, die Erhebung des Wunschs nach schicken Pullis in den Rang eines Menschenrechts. Es sind, beim Barte seines Propheten, nicht die besonderen Schönheiten ihres realen Sozialismus, die der DDR jetzt eine historische Mission zuweisen; es sind Mauer und Stacheldraht, es ist das real existierende Hindernis für den Endsieg »unserer Ideen, europa- und weltweit«.
Steht anderes im Weg? Vielleicht die Erinnerung der Westmächte an ihre Erfahrungen mit deutschen Siegern; gewiß nicht eine bundesdeutsche Opposition, die in der Lage oder auch nur willens wäre, den Griff ihrer Landsleute zur Weltmacht zu vereiteln. Was einmal Linke oder neue Linke hieß, hat längst die Vorzüge des vormals »Schweinesystems« entdeckt und daß, wer jetzt kein Haus kauft, vielleicht keines mehr kriegt. Die Deutschen sind ein pünktliches Volk. Den Anschluß ans Vaterland haben sie noch nie verpaßt.
konkret 10/89, S. 8
Hermann L. Gremliza
United Krauts
Genosse Schliefke (Teltow): … Auch der Genosse David handelte korrekt, wenn er der Einladung des Kronprinzen folgte. Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre Partei – sie muß deshalb auch, wenn es die veränderten Verhältnisse erfordern, mit alten Traditionen brechen –
Ein Zwischenrufer: Bei Hof ?
Schliefke: – ich meine mit ihren eigenen Traditionen! Sie muß in ihren eigenen Reihen revolutionieren. Sie ist eben eine durch und durch revolutionäre Partei.
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
Die letzten Tage der Menschheit ziehen sich. Feindselig wie 1914, da ihr Kaiser nur noch Deutsche kannte, stehen sich die Parteien gegenüber, aber auch reifer: Sie brauchen keinen, der es ihnen sagt – sie kennen sich von selbst nicht mehr. Zur äußersten Rechten ruft der Nazi Franz SS. die fast sofortige Wiedervereinigung des Deutschen Reiches aus, von der äußersten Linken schleudert die christliche Revolutionärin Antje Vollmer-Luxemburg die Bitte zurück, nichts zu überstürzen. Im weiten Raum zwischen den beiden Extremen stoßen sich die Unversöhnlichkeiten, über die nur eine gewisse Unübersichtlichkeit hinwegtröstet, indem der Alfred Dregger, der die Ausladung des Ministerpräsidenten der DDR verlangt, Horst Ehmke heißt, und der Steinkühler, der ein gutes Wort für ein volkseigenes Kombinat einlegt, sich als Wolff im Schafspelz bzw. v. Amerongen entpuppt, wenn er von Gerhard Aust oder Lea Löwenthal herausgefordert wird.
»Wir bekennen uns zu Deutschland«: Ist das schon das letzte, international-sozialistische Wort des Willy Brandt oder der erste Satz, den ein anderer Autor seines Memoiren-Verlegers in das neue Programm der nationalsozialistischen Partei hineingeschrieben hat? Mit Gewißheit läßt sich sagen, daß eine »positive Haltung zum eigenen Volk« auf dem grünen Mist des »Netzwerk«-Gründers Joseph Huber gewachsen ist, während man der Klage, »mit dem Nationalgefühl als einem Bindemittel moderner Gesellschaften« könnten »viele Sozialdemokraten und die meisten Grünen so wenig anfangen wie Puritaner mit Sex«, den spießigen »Republikaner«-Muff geradezu anriecht. (Wie sich die Sinne doch täuschen lassen.) Und auch zwischen den publizistischen Antipoden der Republik, der »TAZ«, die ihrem Freund Willy Brandt ein »fast schon provozierendes Selbstbewußtsein« attestiert und täglich »die erste deutsche Revolution« besingt, und der »FAZ«, die täglich die »friedliche deutsche Revolution« besingt und ihren Feind als einen »zu erstaunlicher Form auflaufenden Ehrenvorsitzenden Brandt« beschimpft, klaffen Welten von Grammatik- und Satzzeichenfehlern.
Die 17 Millionen Brüder und Schwestern an westdeutschen Fernsehgeräten, die noch vor Wochen scharf auf die »Tagesschau« gewesen waren, am 12. Januar aber schon den ersten Kanal voll hatten und, unter Zurücklassung einer lächerlichen Einschaltquote für das Neueste von der Revolution, zu den »Drombuschs« in den zweiten flüchteten, könnten sich fragen, wo denn all die schönen Kontroversen sind, mit denen die schwarzen, gelben, braunen, roten und grünen Männchen und Frauchen das Publikum zur Alf-losen Sendezeit einst unterhalten haben, wo sind sie geblieben?
Ihnen ließe sich, wenn sie hören wollten oder lesen könnten, sagen, daß die vormals festgestellte Uneinigkeit der Parteien ja vor allem darin bestanden hatte, daß jeder eine andere Rolle bei der Befreiung der Welt vom Kommunismus zugewiesen war: Die einen sollten am liebsten einmarschieren wollen und beschränkten sich widerwillig aufs Totrüsten, auf Boykott und Subversion; die andern sollten mit einem demokratischen Sozialismus oder mit einer ökologischen Basisdemokratie oder irgendeiner anderen Banane locken – Hauptsache: die Kommunisten kommen weg. Nun sind sie weg, jeder sieht, daß ihnen nichts anderes folgt als das, was sie verfolgt hat, und mit ihnen verschwindet die bunte Vielfalt der Verfolger.
(Es ist wie nach dem gewonnenen Krieg: dem abgemusterten Soldaten sieht keiner mehr an, ob er bei der Marine, bei der Kavallerie oder an der Gulaschkanone gekämpft hat. Nur manchmal, wenn sie, endlich in Zivil, zum Kameradschaftsabend in der Talkshow zusammentreffen, erkennt man noch an den Gesten der Subordination, daß Otto Wolff der General der Luftlandetruppen gewesen sein muß und Egon Bahr der hilfswillige PK-Leutnant. Die MarketenderInnen werden nicht mehr eingeladen.)
Einigkeitundrechtundfreiheiheit. Alle singen mit, erstens, weil sie es so gewollt haben, und zweitens, weil auch die wenigen, die es ungern tun, wissen, daß sie sonst vielleicht bald wimmern oder sogar brummen, mindestens aber nix mehr werden. Denn es gibt keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Voraussetzung der Freiheit ist, sagt Kohl, sagt Lambsdorff, sagt Vogel, sagen alle, der einige, freie Markt. Voraussetzung für den einigen, freien Markt ist, sagt Schiller der andere, das freie Unternehmertum. Das Recht des freien Unternehmertums ist, sagen Marx und Haussmann, die Akkumulation von Kapital. Keine Freiheit, sagt die Logik, für die Feinde des Kapitals!
Jeder hat das Recht, mit allen andern über diese Freiheit einig zu sein. Freiheit ist, wenn die Kommunisten im Knast sitzen oder wenigstens keinen Job kriegen. Polen und Ungarn sind schon kommunistenfrei, Rumänien wird es per Volksabstimmung (über ein Verbot der Kommunisten und, weils irgendwie dazugehört: über die Wiedereinführung der Todesstrafe) werden, demnächst die Tschechoslowakei, Bulgarien und, so um den 7. Mai, die DDR, deren einst führende Partei in dem Bemühen, das Schlimmste, das Vierte Reich der Deutschen, zu verhindern, lieber in opportunistischen Windungen sich stranguliert, bis auch sie, nach dem bekannten Vorbild, eben eine durch und durch revolutionäre Partei geworden ist, als jene außerparlamentarische Opposition zu bilden, aus der allein eine Politik gegen Einigkeitunrechtunfreiheit noch sinnvoll wird agieren können, und die Last der Verantwortung für die Existenz des zweiten deutschen Staats jenen Damen und Herren (Gorbatschow, Thatcher, Bush, Mitterand) zurückzureichen, deren Politik daran mitgewirkt hat, den United Krauts eine neue Chance zu geben, und die sich jetzt, ganz entspannt im Dort und Gestern, darauf beschränken, in Gesprächen unter vier Augen den Vorsitzenden der SED heimlich zum Durchhalten zu animieren. (Ein bißchen billig, nicht wahr, François?).
Ein solcher Rückzug gäbe den gescheiterten Revolutionären auch Zeit, über das einzige große Verbrechen nachzudenken, das sie – neben den vielen kleinen und größeren Fehlern, vermeidbaren dummen und unvermeidlichen – begangen haben: eine Bevölkerung, ja man muß schon sagen: ein Volk zu hinterlassen, das in einigen seiner öffentlichen Manifestationen täglich und besonders montags beweist, daß es die Brüder und Schwestern hüben an Dummheit, Feigheit, Raffgier, Fremdenhaß und Chauvinismus noch übertrifft. Vieles davon stammt aus großer deutscher Zeit – Psyche verändert sich noch träger als Bewußtsein – , zu vieles aber auch nicht. Wer nicht weiß, vielleicht nicht einmal wissen will, warum dem Kommunismus dies geschah und von wem, soll in Zukunft anderes vertiefen und ausbauen als Beziehungen zur Partei, zum Beispiel seine Liebe zur volkstümlichen Musik und seine Datsche, oder einfach, wie wir Westler sagen: sich verpissen. Freundschaft!
konkret 02/90, S. 8
Hermann L. Gremliza
Nation in Not
Die Einheizer der Nation haben Stress: Die Deutschen (West) sorgen sich mehr um ihre Prämiensparzinsen als um die baldige Vereinigung mit ihren Brüdern und Schwestern Leider ist auch das hin Grund zur Schadenfreude
Als der Kreis »Radikale Linke« vor einem Jahr Kritik an seinem ersten Entwurf einer politischen Grundlage sammelte, blieb ein Satz fast gänzlich unbestritten: daß die Bundesrepublik in eine Epoche rosa-grüner Besoffenheit eingetreten sei. Diese Annahme war falsch, die Epoche, die mit der Westberliner Koalition begann, ist kein Jahr alt geworden; mit dem Kollaps des realen Sozialismus war die Rolle der ökopazifistischen Alternative hier so ausgespielt wie dort. Als vor einem halben Jahr die Frankfurter Demonstration gegen die Wiedervereinigung vorbereitet wurde, war ebenso unbestritten von nationaler Besoffenheit und von Deutschtümelei die Rede. Wieder falsch. Wie es, gut ein halbes Jahr nach der realen Besoffenheit unterm Brandenburger Tor, in der Wirklichkeit der Bundesrepublik aussieht, sagt uns in diesen Tagen die bürgerliche Presse:
Zum Beispiel der Chefredakteur der Illustrierten »Stern«: Wo bleibt denn das »Das kriegen wir hin, wir haben schon ganz anderes geschafft, das wäre doch gelacht!« aus den Anfangstagen der Einheit? Der kleinkarierte Mief ist dabei, sich der Einheit zu bemächtigen. Einverstanden, wir können froh sein, daß der befürchtete neue Nationalismus (noch) nicht über uns hereingebrochen ist. Er ist aber prächtig ersetzt worden durch das Zetern um die Groschen.
Zum Beispiel der Chefredakteur der Wochenzeitung »Die Zeit«: Hinter der Kritik am Staatsvertrag verberge sich nichts anderes als der Sozialneid der Stammtische und die Besitzstandsmentalität der beati possedentes in der Bundesrepublik.
Zum Beispiel die Westberliner Kinder-FAZ: Auch vom westdeutschen Mann auf der Straße drohen weniger Euphorie und Überschwang als Ressentiments und marktwirtschaftlich geschultes Mißtrauen gegenüber den Brüdern und Schwestern.
Alle drei beklagen den Mangel an sog. Nationalgefühl, denunzieren dessen Abwesenheit als Zeichen einer minderwertigen Gesinnung, als Zetern um den Groschen, Besitzstandsmentalität und Kleinkrämergeist. Nach einer Emnid-Umfrage von Ende Mai, welche politischen Aufgaben sie für »besonders wichtig« halten, nennen von den befragten BRD-Bürgern: 77 Prozent den Umweltschutz, 68 Prozent die Drogenbekämpfung, 54 Prozent das sog. »Ausländerproblem« und ganze 28 Prozent die deutsche Einheit. Kurz vor der Erfüllung des »nationalen Traums«, der Wiedervereinigung, der Gründung des Vierten Reichs, scheint der deutsche Nationalismus in Nöten, jedenfalls in der BRD. Warum?
Ganz allgemein ist Nationalismus in einem modernen Industriestaat, also jenseits von Stammesgesellschaften, ein ideologisches Programm, das den Beherrschten, dem »kleinen Mann auf der Straße«, dem Stammtischbruder, nicht aus ihren unmittelbaren Interessen ablesbar ist und auch nicht gemacht werden kann. Nationalismus fingiert als ein höheres gemeinsames, ein volksgemeinschaftliches Interesse, das es real in einer Klassengesellschaft nicht gibt.
Diese Fiktion eines gemeinsamen Interesses muß immer wieder durch Propaganda erneuert werden, beispielsweise durch das tägliche Absingen einer nationalistischen Schnulze auf allen Fernsehkanälen oder durch Intellektuelle, die einer Bevölkerung, deren 90-Prozent-Mehrheit nicht weiß, wie man Goethe schreibt, einredet, sie bilde eine Kulturnation oder sei das Volk der Dichter und Denker. Das Vaterland ist eine Erfindung, an die die Armen glauben sollen, damit es ihnen leichter fällt, dran glauben zu müssen. Die Sorge um seine und seiner Kinder Ernährung hat noch keinen Schuster dazu gebracht, sich freiwillig nach Verdun oder auch bloß verdrossen nach Stalingrad zu melden.
Soweit die gesellschaftlich Herrschenden selbst die nationale Propaganda betreiben, hat diese an Wirksamkeit von 1870/71 über 1914, 1933 und 1939 bis 1989 erheblich eingebüßt: Einer Klasse, die im Fall, daß im feindlichen Ausland drei Prozent mehr zu holen sind, das Vaterland flieht, wird selbst im glaubensstarken Deutschland nicht mehr so recht geglaubt, wenn sie ans Nationalgefühl appelliert. Dafür braucht sie a) den Sport, Boris und Steffi und den guten Kaiser Franz, aber auch das laßt nach, und b), viel wichtiger, eine Opposition, die als sozialpolitische Vertreterin der beherrschten Klasse(n) die vaterländische Lüge mit »Glaubwürdigkeit« versieht: Ohne die Liberalen hätte Bismarck 1870/71 keine nationale Kriegsbegeisterung entfachen können, ohne Sozialdemokraten Wilhelm 11. nicht 1914, und Hitler 1933 nicht ohne eine deutsche Linke, die sich in der nationalistischen Agitation gegen das Versailler Diktat von keinem übertreffen ließ und – in Form der SPD-Fraktion – am 17. Mai 1933 im Reichstag nach der außenpolitischen Erklärung des Führers und Reichskanzlers zusammen mit der NSDAP das Deutschlandlied anstimmte. Eine Cover-Version dieses Titels wurde dann im November 1989 im Bundestag eingespielt, wieder mit der SPD und nun auch mit den Grünen.
So ist es gar nichts Neues, sondern es bestätigt bloß die historische Erfahrung, daß auch 1989/90 (und in der Vorbereitung dieses Datums) die nationalen Töne vor allem die Linke beizusteuern hat: Von den Alternativen, die die »deutsche Frage« dadurch offengehalten hatten, daß sie den realen Sozialismus der DDR zum Problem der westdeutschen Linken erklärten und sozusagen um der Schönheit eines besseren Sozialismus willen den zweiten deutschen Staat nicht anerkannten, vom Sohnemann Peter, der die »nationale Frage von links« schon vor Jahren inszenierte, über eine Friedensbewegung, welche den eigentlichen Schrecken da atomaren Rüstung darin erblickte, daß ihr Einsatz zuerst die Deutschen treffen würde, vom Vater Willy, der rassistisch-biologistisch zusammenwachsen lassen will, was zusammengehört, und damit besser als Schönhuber das »Ausländerproblem« als eines von Leuten definiert, die nicht zusammengehören, bis hin zu den Feuilletonisten des Fortschritts, den Augsteins und Hartungs.
Warum ist ihr nationalistisches Engagement dennoch in Nöten, warum macht der nationale Fusel, den sie austeilen, nur sie selbst besoffen, den kleinen Mann und den Stammtisch aber nicht? Weil das Nationale und das Soziale, im Nationalsozialismus schon nur noch gewaltsam zusammengezwungen, so offenkundig auseinanderfallen (ein Erlebnis, das spätestens beim dritten Besuch der DDR-Verwandten in vier Wochen zum Alptraum wird), daß keine Propaganda in der Lage ist, die Stimme des Interesses, oder, wie Theo sagt, den Sozialneid der beati possedentes, zum Schweigen zu bringen.
Diese Diagnose wird bestätigt durch den Niedergang der neuen national-sozialistischen Partei: Noch vor einem Jahr waren die REPs auf dem Weg von 10 zu 20 Prozent der Wählerstimmen; heute, da ihre deutschnationalen Parolen von Augstein und anderen Bundesverdienstmännern verbreitet werden, geben die Demoskopen ihnen noch zwei Prozent. Dafür hätten sie nun gute Chancen in der DDR: Dort ist der Eindruck, das Nationale falle mit dem Sozialen zusammen, noch zu erwecken, jedenfalls solange, als große Teile der DDR-Bevölkerung glauben, die Wiedervereinigung werde die BRD zwingen, in der dann ehemaligen DDR die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen wie in der heutigen BRD. Daß dies nicht so kommen muß, könnten die Beispiele Norditalien/Mezzogiorno oder England/Schottland lehren.
Natürlich haben die einstigen REP-Wähler sich um keinen Deut verändert, sind sie, zurückkehrend zu CDU, SPD, FDP, den Grünen oder den Nichtwählern, dieselben geblieben. Aber es ist so naheliegend wie falsch, ihre Abkehr von den REPs damit zu erklären, daß sie an anderem Ort ihre nationalistischen Ressentiments besser aufgehoben finden. Die Nation, und das belegt die Studie, die Wolfgang Pohrt zur Zeit erstellt, interessiert die Wähler der Republikaner einen Dreck. Sie sind, obwohl treu-deutsch-doof, nicht deutschtümelnd, sondern Liebhaber von sog. Negermusik, und der Ausländer, den sie noch mehr fürchten als den Türken, ist der Sachse aus Siebenbürgen oder aus Chemnitz. (Nebenbei: Wen freut der Gedanke, daß dieses Kaff wieder den zu ihm passenden Namen trägt, nicht?)
Der deutsche Sozialcharakter, der natürlich nicht erbbiologisch, sondern durch gemeinsame historische Erfahrung erworben ist, zeichnet sich gerade nicht durch ein übertriebenes Zusammengehörigkeitsgefühl aus, sondern durch dessen Gegenteil: Weil jeder reichlich Gelegenheit hatte, sich an Verbrechen zu beteiligen oder von ihnen zu profitieren, hat er auch Entdeckung zu fürchten durch den lieben Nächsten, den er deshalb fürchtet und haßt und mit dem zusammen er es nur im Ausnahmezustand aushalten kann, im sentimentalen oder alkoholischen Exzeß, betroffen oder besoffen. Am Morgen danach heißt das Vaterland wieder Wüstenrot, wird der heilige Verteidigungskrieg im Wohngebiet, am Arbeitsplatz oder auf dem Sozialamt geführt.
Daß die Nation den Deutschen/West im Normalfall ziemlich wurst ist, bedeutet freilich nicht, daß ihr Sozialverhalten deshalb weniger aggressiv wäre: Ihre Abneigung gegenüber dem Nationalen gilt ja nicht dessen Versprechen, die Eigenen auf Kosten anderer zu bereichern, sondern im Gegenteil: Das Nationale scheint die individuelle Bereicherung (jedenfalls auf absehbare Zeit) zu behindern und den sozialen Besitzstand zu gefährden. Blüms aufs nationale Sentiment zielender Appell, die deutsche Einheit sei nicht zum Nulltarif zu haben, wurde als Drohung verstanden und bei den Wahlen in NRW und Niedersachsen entsprechend quittiert.
Dennoch: kein Grund für Schadenfreude und Hoffnungen. Denn die herrschende Klasse, deren Haushaltsbücher etwas weitsichtigere Spekulationen erlauben, und die ja weiß, daß die Verwertungsbedingungen für das Kapital durch die Erschöpfung der Dritten Welt und den Bankrott des Ostblocks sich so verschlechtert haben, daß – wie Pohrt zurecht meint – jetzt ein mittelschwerer Weltkrieg angesagt wäre, wird sozusagen ersatzweise das Vierte Deutsche Reich auch gegen den Willen der Wähler durchsetzen. Die Selbstverständlichkeit, mit der alle Kommentatoren der Bürgerpresse die DDR, den immerhin zehntgrößten Industriestaat der Erde, mit dem kriegszerstörten Deutschland von 194S verglichen, verrät mehr über die ökonomische Notwendigkeit ihrer Eroberung, als die Autoren sagen wollen. Und die fast hysterische Ablehnung einer Volksabstimmung über die Wiedervereinigung durch die Propagandisten des »Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk« zeigt, wie sie die Lage einschätzen. (Daß das Verlangen nach einer solchen Volksabstimmung dennoch zurückgewiesen werden muß, weil es ein völkisches Recht der Deutschen voraussetzte, über die Größe ihres Staates selbst zu bestimmen, soll zur Vermeidung von Mißverständnissen gleich dazugesagt sein.)
Gegen den Willen heißt zunächst einmal: auf Kosten. Wie hoch die hier und dort sein werden. weiß keiner genau. auch die sogenannten Experten handeln nach dem Motto: Augen zu und durch! Nur wer sie zu tragen haben wird, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Und daß sie von oben nach unten durchgebucht werden: vom westdeutschen Kapital auf die westdeutschen Angestellten und Arbeiter, auf die westdeutschen Frauen, auf die Rentner, auf die ostdeutschen Arbeiter und Bauern, auf die Frauen, auf die Rentner, auf die Ausländer: zunächst auf die Türken hier und die Polen dort.
In einem Land, dessen Geschichtsschreibern der Verlust des Arbeitsplatzes und Mieterhöhungen immer als entschuldigende Begründung für Rassismus und Pogrome gegolten haben und noch gelten, darf man sich auf alles gefaßt machen. Denn erst, wenn die inneren sozialen Konflikte einerseits auf einen inneren Feind – auf wen wohl? – und vor allem, weil der nicht mehr so sehr viel hergibt und ein Jude namens Gysi doch nicht Beleg genug ist für eine jüdische Verschwörung, nach außen abgelenkt werden müssen; wenn die Rolle, welche die französischen Truppen im Rheinland bis 1933 für den Erfolg der nationalistischen und nationalsozialistischen Propaganda spielten, die auf dem Gebiet der heutigen DDR stationierten Truppen der Roten Armee übernommen haben; wenn, was damals die Reparationszahlungen waren, demnächst die noch von der DDR eingegangenen Lieferverpflichtungen an die Sowjetunion und andere osteuropäische Entwicklungsländer sein werden – dann wird die nationalistische Propaganda wieder die Resonanz finden, die sie heute noch vergeblich sucht, wird das habeigezwungene gemeinsame Soziale sich wieder mit dem Nationalistischen zusammenzwingen lassen.
Was gäbe es dagegen zu tun?, Mitmachen, um Schlimmeres zu verhindern, wie die approbierte deutsche Opposition rät? Mir scheint, das Schlimmste, was zu verhindern wäre, sind Illusionen, die sich die Nachbarn in Ost und West von den wundersam gewandelten Deutschen machen. Solche Illusionen verbreitet natürlich die staatsloyale Linke, aber auch andere tun es, ungewollt, wenn sie mit Demonstrationen und Kongressen oder mit der Herausgabe einer Zeitschrift wie KONKRET den Eindruck erwecken, es gebe in diesem Land eine nennenswerte, womöglich sogar einflußreiche antivölkische Opposition, die mehr ist als eine Gruppe »hypermarginalisierter Outlaws«, wie das Blatt der Massenbewegung SOST die »Radikale Linke« nennt. Dieser auch integrierenden, auch Illusionen weckenden Funktion wäre freilich nur durch die Einstellung aller politischer Tätigkeit ganz zu entgehen. Immerhin stellt diese Einsicht aber die Aufgabe, zugunsten keines wie auch immer gearteten »breiten Bündnisses« die Kritik zu domestizieren und – nach dem Vorbild der Friedensbewegung – die Quantität wieder einmal der Qualität zu opfern.
Also: Nein zu Deutschland, nicht obwohl wir wissen, daß es nicht zu verhindern ist, und bis zum letzten Augenblick noch so tun wollen als ob, sondern weil wir es wissen und es auch sagen, hier und den Nachbarn, vor denen wir unsere politische Ohnmacht nicht verbergen und denen wir mitteilen wollen: daß auf das, was sich in Deutschland die Linke nennt, im Fall des Falles kein Verlaß ist; daß ihre Neinsager nicht zählen und ihre Jasager, angeführt von der SPD und noch ein Weilchen begleitet von den Grünen, nicht beiseite stehen werden, wenn das Vaterland ruft.
Konkret 07/90, S. 26
Hermann L. Gremliza
Viertes Reich, fünfter Gang
»Irgendwelche Reminiszenzen« halte er im »Jahre eins« nach der Wiedervereinigung für nicht mehr in die politische Landschaft passend.
Wolfgang Bötsch, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, laut dpa auf die Frage, ob es nicht Gründe für eine Zurückhaltung Deutschlands im jugoslawischen Krisengebiet gebe
Wer zu spät kommt… Daß ein Volk, dessen Blitzkrieg unübersetzt in die Wörterbücher der Nachbarn eingegangen ist wie the kindergarten und le berufsverbot, sich das nicht zweimal sagen lassen würde, war vorauszusehen. Und doch hat wohl keiner seiner näheren und ferneren Nachbarn für möglich gehalten, daß die Deutschen ab sofort Politik als Fortführung ihrer unübersetzbaren Autobahn mit anderen Mitteln betreiben würden: ohne jedes Tempolimit, nichts achtend als das eigene Vorankommen, ohne Rückblick in den Spiegel, und der übrigen Welt, so sie dem Hupen und Auffahren nicht weicht, mit der Faust drohend oder den Vogel zeigend.
Das Vierte Reich gibt Vollgas. Der Sowjetunion schreiben seine Politiker täglich dreimal vor, in welche Portionen sie sich zu zerlegen und welche Gesetze sie sich zu geben hat. Japan und die USA, die das Deutschland-Magazin »Spiegel« en passant »innen- und finanzpolitisch verrottet« nennt, bekommen täglich dreimal gesagt, wie sie den Wandel in Osteuropa zu verstehen und was sie dafür zu bezahlen haben, da die Deutschen wegen der Hilfe für die Landsleute »an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit sind« und die letzten paar Mark für Infrarot-Nachtsichtgeräte und Hubschrauber zur Sicherung der Ostgrenze gegen Asylantenpack zusammenkratzen müssen. Den Westeuropäern aber bläst ein multimedialer Spielmannszug den Marsch, an dessen Spitze, als Tambourmajor, die »Frankfurter Allgemeine« den Takt angibt:
An der Katastrophe haben der holländische Außenminister van den Broek und seine Mitarbeiter maßgeblichen Anteil… Von Anfang an haben sie sich derart einseitig auf die Seite der Gegner selbständiger jugoslawischer Teilstaaten gestellt, daß sich ernsthaft nach der Ermächtigung für ein solches Handeln fragen läßt. Man vermutet, der »jugoslawische Integralismus« der Holländer sei mit den Vereinigten Staaten abgestimmt… Wird der Alleingang der Holländer und ihrer Verbündeten in der EG nicht bald gestoppt, können die Folgen auch für die Gemeinschaft schwerwiegend sein… Neben den Holländern bestehen (auf der Bewahrung Jugoslawiens) besonders ausdrücklich die Spanier und die Briten, teilweise auch Italiener und Franzosen… Die deutsche Politik hat sich allzulang einer aktiven Minderheit innerhalb der EG gebeugt.
Engländer, Franzosen, Holländer, Italiener und Spanier, mögen ihnen auch die verrotteten Amis beistehen, sind eine Minderheit in der Europäischen Gemeinschaft – gegenüber einer deutschen Mehrheit, die sich lang genug gebeugt hat und deren Leitartikler keiner Gleichschaltung bedürfen, um wie im Traum das treffende Wort zu finden: Ermächtigung. Wie, die Franzosen erlauben sich, Zicken zu machen? Den entsprechenden Auftrag erledigen Springers »Hamburger Abendblatt« und Bertelsmanns »Spiegel« Schulter an Schulter:
Mitterrand sieht sich auf der Verliererstraße. Erfolglos hatte er sich gegen das Tempo bei der Vereinigung Deutschlands gestemmt… Mitterrand ist der politische Kompaß abhanden gekommen. Bei der deutschen Wiedervereinigung, beim Putsch der Moskauer Betonköpfe, in der Jugoslawien-Krise – er steuerte immer den falschen Kurs… »Ewig steht der Präsident mit dem Fuß auf dem Bremspedal«, kritisierte Libération, »um den rasanten Lauf der Geschichte zu mildern.« (»Libération«, die einzige publizistische Zeugin des »Spiegel«, ist das französische Vorbild der Kinder-»FAZ«.)
Gebremst wird nur für Tiere. Wenn Letten, Litauer und Esten, einst die besten Kumpane deutscher Nazis beim Schlachten roter Schweine, unabhängige Staaten ausrufen, um sogleich ihre NS-Verbrecher zu rehabilitieren und die Vertreibung der russischen und polnischen Minderheiten vorzubereiten, scheißt das Vierte Reich im Jahre eins auf Reminiszenzen und beeilt sich, zwecks Erneuerung »traditionell enger Beziehungen« noch vor den Russen und den Amerikanern seine Botschafter an die Front zu schicken, darunter, wie in allen Blättern und auf allen Kanälen gelobt wird, zwei Angehörige »alter baltendeutscher Familien«, einen Herrn von und einen Grafen.
Wenn die Russen Leningrad in St. Petersburg umbenennen, hält sich die deutsche Presse für ermächtigt, Kaliningrad sofort in Königsberg umzutaufen, und eins der gleichgesinnten Blätter konstatiert, zwanzig Jahre nach dem Moskauer Vertrag, unbefangen und unwidersprochen, daß »Ostpreußen seit 1945 unter sowjetischer Verwaltung steht«. Wenn am Brenner südtiroler Lodengruppen aufmarschieren, nennt die »Zeitung für Deutschland« deren Führerin Eva Klotz »die Tochter des legendären Freiheitskämpfers der sechziger Jahre«, als hätte das Alto Adige in den Sechzigern unter einem blutigen italienischen Diktator gelitten und nicht unter deutschvölkischen, von alten österreichischen und reichsdeutschen Nazis finanzierten und bewaffneten Terrorbanditen.
Und wenn, wie die nördlichen, auch die alten südöstlichen Verbündeten des Dritten Reichs dort weitermachen wollen, wo ihre Väter und Großväter aufgehört haben, entzieht der Herausgeber Reißmüller ihren früheren und künftigen Opfern den Arier- bzw. Europäerausweis: »Jugo-Serbien ist eine gänzlich uneuropäische Macht. In der heutigen Staatenwelt ähnelt ihm am ehesten der Irak; die serbischen… Führer haben zur Wahrheit ein orientalisches Verhältnis. Deshalb darf für Serbien auf alle absehbare Zeit kein Platz in der Europäischen Gemeinschaft sein.«
Aktuelle Rassenkunde. Keiner widerspricht, was hier steht, steht auch dort, und nur Art und Häufigkeit der Satzfehler und syntaktischen Havarien zeigen an, ob man in der Allgemeinen, der Rundschau oder der Alternative blättert. Und wie stets suchen sie die Defekte des eigenen Kollektivs einem Gegner anzudichten:
An der Propagandafront konzentrieren die Serben ihren Haß jetzt ganz auf die Deutschen… Der antideutsche Sturmlauf offenbart den Informationsrückstand einer Nation, deren Weltbild jahrzehntelang durch staatliche Desinformation geprägt wurde. Mitteleuropa ist für die Mehrheit der Serben ein von den Deutschen kontrollierter Machtblock, der nach der Herrschaft über ganz Südosteuropa giert.
So sehr kann monatelanger Einsatz an der Propagandafront verblöden, daß der Redakteur des »Spiegel« es nicht mehr merkt, wenn er den Mond zur beleuchteten Scheibe erklärt. Was die staatlich desinformierte Mehrheit der Serben glaubt, glaubt freilich nicht sie allein, denn ein paar Absätze später ist der Mond, ohne daß es dem Redakteur auffiele, wieder eine Kugel:
Umsichtige nichtdeutsche Journalisten bekleben neuerdings die Windschutzscheiben ihrer Mietautos mit den Kennzeichen-Kürzeln ihrer Heimatländer – um nicht für Deutsche gehalten zu werden.
Sie scheinen es nicht zu merken, daß die Welt, die ja vorläufig leider zu größeren Teilen noch von Nichtdeutschen bevölkert bleiben wird, nach nur wenigen Monaten Viertem Reich die deutschen Einheitsjournalisten so satt hat wie die Regierungen in Washington, London, Paris, Den Haag, Brüssel, Rom und Madrid den sächsischen Praeceptor Hans-Mundi Genscher, jenen bei den Deutschen derzeit beliebtesten Politiker, dessen allgemeine Unbeliebtheit außerhalb der Landesgrenzen jüngst sogar dem Redaktionsatlantiker der »FAZ« aufgefallen ist: »Der Bonner Außenpolitiker glaubt, besser als alle anderen Verbündeten zu wissen, wie man die Sowjetunion behandeln muß, und wird dabei zum Zensor der Verbündeten, der mit kleinen, versteckten Hieben dazu beiträgt, daß sie ihm nicht trauen, selbst da, wo er es verdiente.«
Keiner traut ihnen, und keiner traut sich, es mit dem erwachenden Deutschland sich zu verderben. Die Regierungen im Osten wollen und können keine Mark (die sie nicht kriegen werden) riskieren, die im Westen fürchten, die ökonomischen Folgen ihrer Kritik könnten »schwerwiegend« sein.
So könnte es denn geschehen, daß die Welt ihre bekannte Entschlossenheit, aus der Geschichte nichts lernen zu wollen, so weit treibt, daß sie den Deutschen mit ihrem Vierten Reich eine dritte Chance gibt.
Konkret 10/91, S. 8
Hermann L. Gremliza
Die Krauses als Krupps
Ich sah, daß man Worte wie Keuschheit und Reinheit, moralische Grundsätze, sittliches Verhalten und Nächstenliebe im Munde führen und dabei sein schmutziges Einkommen aus den baufälligen Mietskasernen des Negerviertels ziehen konnte – schmutzstarrenden Bruchbuden, die man nicht einmal Schweinen als Behausung angeboten hätte.
Thomas Wolfe
Irgendwer würde von der Wiedervereinigung was haben, das war gewiß, und daß es weder die Leipziger Armleuchter noch die vietnamesischen Vetragsarbeiter wären, ließ sich denken. Profitieren sollten die Krupps, ein Synonym für die großen Kapitalisten und kleinen Spekulanten aus dem Westen, und die Krauses, dies aber nicht ein Synonym für die Massen ostdeutscher Arbeiter und Bauern, sondern der Name einer einzelnen Familie aus dem Mecklenburgischen, an der sich die Wünsche und Hoffnungen von sechzehn Millionen Doppelzentner Heldenvolk aufs wunderbarste erfüllen sollten.
Herr Günther Krause und Frau Heidrun haben getan, was ihre Mitbürger auch gern getan hätten und nicht gekonnt haben. In den drei Jahren nach der friedlichen Konterrevolution haben sie größeren privaten Reichtum erworben als das ganze Politbüro der SED in vierzig Jahren. Herr Krause, der Bundesminister, bringt zu jedem Monatsende 30.000 Mark plus Spesen nach Hause, Frau Krause, die Grundbesitzerin, zieht von seinen Geschäftspartnern für einen zum Büro umgewidmeten Stall monatlich 19.000 Mark Miete ein und verkauft auch mal für die eine oder andere Million einen Teil eines Ackers, den Herr Krause, der Gemeinderat, zum Bauland erklären läßt. Wenn Krause, der Sohn, schwach in Englisch ist, bringen Vati und Mutti ihn auf Kosten der Luftwaffe (180.000 Mark) nach San Francisco zur Schule. Frau Krause, die Gattin des Ministers, erlöst beim Kauf eines 50.000 Mark teuren Autos, mit dem der 16jährige Sohn des Ministers in Börgerende den Schulweg unsicher machen will, auf Vorlage eines Diplomatenpasses einen Rabatt von 25 Prozent, was aber schon deshalb not tut, weil das Rostocker Arbeitsamt für die Putzfrau der Krauses nur 700 von den 800 Mark Monatslohn übernimmt und das Haushaltsgeld durch die Monatsmiete von 780 Mark für das von Krause, dem Staatssekretär der DDR, kurz vor der Wende requirierte Anwesen am Müggelsee fast so sehr angegriffen ist, daß die Familie in Versuchung geraten könnte, ihr Budget mit Provisionen für die preiswerte Vergabe von Konzessionen für Autobahnraststätten aufzufüllen, die Krause, der Verfasser des Staatsvertrags, in den letzten Tagen der DDR vergeben hat.
Es wird jedoch, das darf man Herrn Krause glauben, »alles nach Recht und Gesetz« zugegangen sein, und auch zwischen seinem Engagement bei der Privatisierung eines DDR-Baukonzerns und den Millionen, die seine Frau von den frisch Privatisierten erlöst hat, dürfte es, wie der Minister versichert, »keinen anfechtbaren Zusammenhang« geben, sondern nur einen unanfechtbaren. Die Krauses werden sich nicht anders verhalten haben als die Krupps, die ihnen vierzig Jahre lang als Vorbilder freien Unternehmertums hinübergefunkt worden waren – ein bißchen hektischer und ruppiger vielleicht, wie man das von Leuten kennt, die neu im Geschäft sind, aber strikt nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft und, weil in den Grenzen, die das Strafrecht zieht, ohne jenes schlechte Gewissen, das viele Kollegen Krauses nötigt, den halben Arbeitstag mit der Camouflage ihrer Nebeneinkünfte zu verbringen.
Warum dann aber trifft die Krauses eine Entrüstung, als hätten sie kleine Kinder gegrillt? Frau Matthäus-Meier von der SPD spricht dem Minister »die charakterliche Eignung« ab, die »Bild-Zeitung« verlangt seine Entlassung, die »Berliner Zeitung« seinen Rücktritt, »der politischen Hygiene wegen«, ein Hamburger Wochenblatt schimpft ihn die »Personifizierung des neudeutschen Raffke, gierig, prinzipienlos, egoistisch«, ein Herausgeber der »FAZ« greift wie im Traum in die Sprache, in die ein Herausgeber der »FAZ« stets wie im Traum greift, wenn er sich von einem Kumpan bis aufs Blut distanzieren möchte: »Was Krause zeigt, ist Chuzpe«, und der Gemeindepfarrer von Börgerende klagt, »der alte Grundsatz, daß Gemeinnutz vor Eigennutz geht«, habe seine Wirkung verloren.
Der alte Grundsatz war die Parole einer Bewegung, die zur Wiederherstellung der politischen Hygiene der Nation das Land von gierigen, prinzipienlosen Raffkes zu reinigen versprach, aber das braucht ein deutscher Gemeindepfarrer sechzig Jahre später nicht zu wissen, um doch, traumhaft sicher wie ein Fack, das in die Zeit passende Wort zu finden. Wieder ist die Verwertung des Kapitals so schwierig, daß seine christlichen Medizinmänner schon feindlichste Götter anrufen. Denn ginge der Gemeinnutz tatsächlich vor Eigennutz, wäre die private Aneignung des gesellschaftlichen Produkts ja abgesagt, das herrschende System over and out. So war es natürlich nie gemeint, und wie es gemeint war und ist, konnte man damals bei Hugenberg lesen wie heute bei Springer: »Jenseits von Werteverfall und Normenbeliebigkeit steht fest, daß ein freiheitliches System wie das unsere sofort zusammenbrechen würde, wenn alle seine Glieder wert- und vorbildfrei den Spielraum nutzen und ausfüllen würden, den ihnen die Gesetze lassen.«
Solange die Kapitalverwertung funktioniert, ist jeder Beteiligte verpflichtet, bei Strafe der Pleite oder des Rauswurfs jede sich bietende Chance zu nutzen. Wer den größten Erfolg hat, ist der Wertvollste und das Vorbild – in den Siebzigern waren es »die Japaner« (namenlos), in den Achtzigern Rausschmeißer wie Iacocca und Lopez, die jeden Spielraum genutzt und ausgefüllt haben, den ihnen die Arbeits- und Sozialgesetze ließen. Doch seit materielle Erfolge kaum mehr zu erringen sind, ist der Bedarf an Idealen steil angestiegen. Die Renner sind Solidarität, Patriotismus, Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit. Die hohen Kurse, zu denen die ideellen Werte gehandelt werden, zeigen an, wie tief die materiellen stehn.
Was soll es bedeuten, daß die in Redaktionen versammelte Lumpenbourgeoisie, die noch keinen Veilchenstrauß zum Muttertag gekauft hat, den sie nicht von der Steuer hätte absetzen können, Ehrenkodici für Politiker erschwitzt und dafür dreimal mehr Zeilen und Sendeminuten verbraucht als für Deutschlands dritten Kriegseintritt in diesem Jahrhundert? Es bedeutet, daß da jemand glaubt, er werde von der Moralisierung der Politik etwas haben. Das glauben zwar auch die Journalisten, die aber so wenig wie die Leipziger Kerzenhalter wissen, wer sie gerade für sich leuchten läßt. Die Bourgeoisie, die diese nicht nur intellektuell bankrotte Meinungsmacherei bezahlt, tut es, weil sie erkannt hat, daß die Moralisierung der Politik ihr in der Stunde der Not das so lange entbehrte Mittel, mit dem das nicht mehr verwertbare Kapital entsorgt werden kann, zurückzugeben verspricht: den Krieg. Physisch möglich gemacht hat ihn die Kapitulation der sozialistischen Staaten, um ihn psychisch erträglich zu machen, müssen aus Politikern, die nichts sind als bezahlte Vertreter von Interessen, selbstlose, »glaubwürdige« Apostel der Menschheit und ihrer unveräußerlichen Rechte werden – solchen wird man folgen, heute nach Sarajevo, morgen nach Berg-Karabach.
Einen Bosnien-Boom, vergleichbar dem Korea-Boom, der die Ökonomie der USA für ein Jahrzehnt saniert hat, können die Awacs-Einsätze nicht bringen. Wenn es aber gelänge, die Moralisierung der Politik gegen die eigenen, eigenhändig korrumpierten Streibls, Waigels, Schwätzers, Stoibers undsoweiter durchzusetzen – denn es ist zwar süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben, nicht aber für den Amigo – , wenn also moralische Aufrüstung den Politikern jene »Glaubwürdigkeit« gäbe, nach der die Bürgerpresse verlangt, könnte auch Größeres in Angriff genommen werden.
Noch gibt es auch andere Hoffnung. Einer Umfrage zufolge »kennt mehr als die Hälfte der 18- bis 25jährigen keinen vertrauenswürdigen Politiker mehr«. Das ist doch was. Und dann ist da die Familie des Ministers Günther Krause. Solange er durchhält, ragt sie wie ein Fels der Aufklärung aus der Schlammflut öffentlicher Moral.
Konkret 05/93, S. 9
Hermann L. Gremliza
Kampfgruppe Großer Wurf
Es ist der Zeitpunkt gekommen – die Nachkriegszeit ist mit der deutschen Einheit endgültig zu Ende gegangen – dieses Ereignis als einmaliges Ereignis einzuordnen.
Steffen Heitmann
Aber warum diese (Carl) Schmitt-Renaissance gerade jetzt? Mir scheint, in Zeiten großer Umbrüche suchen die Menschen verschüttete Eingänge zu einer großen und erlösenden Erkenntnis.
Rudolf Augstein
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die Bundesrepublik am Ende scheitert.
Arnulf Baring
Nachdem jetzt das Schlagwort »Antifaschismus« nicht mehr alle auf die Knie zwingt, beeindrucken manche Anlagen Mussolinis durch ihren großen Wurf.
»Frankfurter Allgemeine«
Gerade mal dreieinhalb Jahre alt geworden sind die submissesten Versprechen, mit denen es der Bundesregierung gelang, die Ängste der Siegermächte vor einem größeren Deutschland zu zerstreuen. Nichts, nicht das Geringste werde sich an der Politik der Bundesrepublik ändern, an ihrem Bekenntnis zur westlichen Demokratie, ihrer Treue zum Bündnis und ihrer Absage an den Nationalismus. Zum Beweis werde das neue Deutschland seine politische Macht noch schneller als geplant in der Europäischen Gemeinschaft aufgehen lassen.
Frau Thatcher hat es schon damals nicht geglaubt. Ob sie geahnt hat, wie schnell die Deutschen ihr Recht geben würden? Daß schon zum dritten Jahrestag der Wiedervereinigung der bayerische Ministerpräsident Europa eine »Kopfgeburt« nennen würde, die nicht mehr in die »neue Lage« passe? Daß Kanzler Kohl, bis gestern »der letzte Europäer« genannt, die Formel »Vereinigte Staaten von Europa« aus seinen Redemanuskripten streichen und mit den Worten abwinken würde: »Wir sind ja alle mal als Idealisten gestartet«? Daß der »Spiegel«, das Magazin dieses neuen Deutschland, das Resümee zöge: »Für Deutschland, das aus der Randlage in die Mitte Europas gerückt wurde, macht das sture Weiterwerkeln am westeuropäischen Haus keinen Sinn mehr. Der Bauplan muß geändert werden«? Daß brave Christdemokraten, die an den Schwur von 1990 erinnern, vom Generalsekretär der brandenburgischen CDU zum »Chor der linken, am Bestand der alten Bundesrepublik reaktionär Festhaltenden« geschlagen werden?
Geht man den »Bestand der alten Bundesrepublik« durch, begegnet einem nichts, was einen CDU-Funktionär in Rage bringen sollte. Die herrschende Klasse hat die Gesellschaft, die Ökonomie, den Staat und seine Abteilungen (Justiz, Polizei, Verwaltung) sicher im Griff, die traditionellen Organisationen der beherrschten Klasse treten nur noch als Claque auf (wenn sie nicht, äußerster Fall deutscher Revolution, dem Fabrikherrn drohen, für ihr Recht auf Lohnarbeit zu verhungern). Was am »Bestand der alten Bundesrepublik« stört, ist aber eben ihr Bestand, ist die von den Siegermächten entlang der Marken: Faschismus und Krieg gezogene Grenze politischen Redens und Handelns, deren Anerkennung einst die Voraussetzung gewesen ist für die Rückkehr der Westdeutschen in Welthandel und Weltpolitik. Wann immer sie versuchten, die gesetzten Grenzen zu übertreten, wurden sie durch Erinnerung zur Ordnung gerufen – durch französische und englische Filme, durch US-Fernsehserien, durch Gedenktage und Denkmale. Nach links, in den Sozialismus, wollten sie nicht, nach rechts durften sie nicht. Der status quo war ihr Schicksal. Es war leicht zu ertragen, solange er ständig wachsenden Wohlstand zu bedeuten schien.
Daß Zeiten und Umstände nahten, die diesen »Bestand der alten Bundesrepublik« und seine Grenzen als unerträglich eng erscheinen ließen, merkte zuerst der Nachwuchs. Die Zeitung der Söhne und Töchter, der als Minensuchhund der Bourgeoisie manche Verdienste und manches Verdienst anzurechnen sind, hat schon früh ihre Duftmarken an einen der beiden Grenzsteine deutscher Politik gesetzt, besonders eindrucksvoll im April 1989, als in der »Tageszeitung« ein zweiseitiges Interview mit einem emeritierten Kommunarden unter der redaktionellen Ankündigung erschien: »Die fehlgeschlagene Gottsuche der Nazis und der heillose Antifaschismus der Linken«. Neben dem »heillosen« wurden wahlweise auch der »altbackene«, der »orthodoxe« und der »verordnete Antifaschismus« denunziert und zugleich die »Nation von links« in die Diskussion gebracht.
An diese Vorarbeiten der Kinder können die Herren Eltern jetzt anknüpfen, da summa summarum sechs Millionen Deutsche arbeitslos sind und sogar die Wirtschaftsweisen begriffen haben, daß daran nicht einmal ein unerwarteter Aufschwung etwas ändern würde. Was materiell nicht zu kurieren ist, muß ideell gepackt werden. Nicht, wie der Nachwuchs meinte, mit einem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, sondern mit einem ideologischen und ordnungspolitischen Umbau der Bundesrepublik – durch Lohnsenkung zur Verteidigung des »Standorts Deutschland«, durch Schaffen statt Raffen (»Da auf der Rechten der produzierende und nicht der fordernde Teil der Bevölkerung angesiedelt ist, sieht sich genau der Teil unseres Volkes, der den Wohlstand schafft, heute politisch nicht mehr repräsentiert«, sagt Baring, der Redner des völkischen Bauchs), Deutschmark statt Europa, Zerschlagung des Sozialstaats und Ausbau der Polizei, Deutschland den Deutschen, Ausländer raus. Nicht mehr die »Tageszeitung« sondern die »Welt am Sonntag« führt jetzt den Diskurs über das Heillose und die Gottsuche an:
Tabuisiert sind Begriffe wie »Nation«, »deutsche Normalität« oder »Geopolitik«, aber auch ganze gesellschaftliche Problemfelder werden nach dem Willen der politisch Korrekten ausgegrenzt, mit Denk- und Diskursverbot belegt. Kein Nachdenken (oder gar politisches Handeln) zum Thema »Ausländerkriminalität«, kein öffentliches Räsonieren über die totalitären Aspekte des militanten Feminismus, über eine Strafrechtspraxis, die der »Resozialisierung« die Gerechtigkeit opfert, über eine rigidere Aids-Prophylaxe, die Infizierte kenntlich macht, um Opfer zu schützen, über die biologischen, phylogenetischen und sozialpsychologischen Prämissen von Mutterschaft, Fremdenabwehr oder nationalem Wehrwillen. Wo die Grenze zu diesen Tabus überschritten wird, droht Exkommunikation, das Totschlag-Etikett »faschistoid«.
Die Rede von den Tabus und dem Totschlag-Etikett ist natürlich bloß eine rhetorische Figur, deren ständige Wiederholung (und implizite Widerlegung) in den Blättern der großen Konzerne dazu dient, das Angriffskommando Herrschender als Hilferuf Unterdrückter auszugeben. Denn überall ist Tabubruch, überall werden Nazis und Faschisten (Horthy, Schmitt, Jünger) wiederentdeckt. »Ohne die Eingriffe des Faschismus wären die Verkehrsprobleme in Mailand unerträglich«, schreibt, aus Angst vorm Totschlag-Etikett, die Samisdat-Zeitung »Frankfurter Allgemeine«, die zugleich im Untergrund die »Erkenntnis« verbreitet, »daß die Besinnung auf die NS-Vergangenheit keine verbindlichen politischen Maßstäbe für Gegenwart und Zukunft erbringt«, und aus dieser Abkehr von der Vergangenheit die Lehre zieht, in ihrer Tiefdruckbeilage zum Sonntag einen Pornoverleger, den sie zu Zeiten der alten Bundesrepublik nicht mit der Kneifzange angefaßt hat, eine ganze Seite über die »Lebenslüge Antifaschismus« vollschmieren zu lassen.
Der Angriff auf den »Bestand der alten Bundesrepublik« soll der deutschen Politik eine Option zurückgewinnen. Ob und wann welche Variante deutschen Faschismus’ Lebenswahrheit wird, ist ungewiß. Ein wenig hängt es auch davon ab, wie lange die Nachbarn auf Lob- und Schönredner des neuen Deutschland hereinfallen wie auf diesen:
Sie stellen es so dar, als ob das, was sich heute in Deutschland abspielt, die Kultur bedrohe, die Zivilisation bedrohe, als ob eine Horde Wilder die Ideale schlechthin der Menschheit bedrohe, aber… der Mensch ist älter als die französische Revolution, schichtenreicher als die Aufklärung dachte.
Was sich liest wie eine Gemeinschaftsproduktion von H. Enzensberger, B. Strauß und M. Walser, ist schon einmal gesprochen worden: als Kritik an den Antifaschisten, die nicht bis zu ihrem Totschlag in Deutschland geblieben waren, im Berliner Rundfunk, 1933, von Gottfried Benn.
Konkret 12/93, S. 9
Hermann L. Gremliza
Deutschland,Euro Gnaden
Warum das übrige Europa der deutschen Politik gegen Jugoslawien gefolgt sei, könne »der Stammtisch mit dem Wimpel ›Nie wieder Deutschland‹« doch nur erklären, indem er die eigene Weltsicht mit der Behauptung immunisiere, Deutschland habe die anderen schon so unterjocht, daß sie alles machen müssen, was es will. Das hat Georg Fülberth in der zweiten Kriegsausgabe dieser Zeitschrift behauptet. Der Stammtisch schuldet eine Antwort:
Sie beginnt mit der Erinnerung, daß die anderen, Frankreich und Großbritannien allen voran, dem deutschen Vorsatz, Jugoslawien zu zerstückeln, mit etwa dem gleichen Enthusiasmus begegnet waren wie der Vereinigung Deutschlands kurz zuvor, und der daran geknüpften Frage, wie die bereitwillige Begeisterung gerade der Franzosen und der Briten, zu dem einst gehaßten Zweck und ohne Rücksicht auf die einst gemeinsam gegen Deutschland formulierte Uno-Charta sogar einen Angriffskrieg zu führen, entstanden sein mag. Sind die beiden in sich gegangen? Sind sie schlauer geworden?
Es haben die Regierenden gewechselt, in Frankreich vom Sozialisten Mitterrand zum Sozialisten Jospin, in Großbritannien von der Konservativen Thatcher erst zum Konservativen Major, dann zum Sozialdemokraten Blair. War das der Grund? Aber in Frankreich war es Mitterrand selber, der die französische Politik auf deutschen Kurs brachte, weil er von dem mächtigen Nachbarn nicht noch einmal so schmählich vorgeführt werden wollte wie mit seinem zaghaften Widerstand gegen die Wiedervereinigung. Jospin weiß, daß er sich eine Revision dieser Entscheidung nicht leisten könnte. Margret Thatcher hatten die britischen Unternehmer gestürzt, weil die Premierministerin (ihr Motto: »Die Deutschen sollen merken, daß sie den Zweiten Weltkrieg verloren haben«) sich geweigert hatte, Großbritannien als Juniorpartner Deutschlands in Europa zu etablieren. Ihr Nachfolger Major war wohl willens, aber zu unbeweglich, der gewünschten Politik eine Mehrheit zu schaffen, so daß die britische Bourgeoisie (wie kurz darauf die deutsche) einen Mann der anderen Partei erkor, der (wie jener) die Gewähr bot, allzeit zu allem bereit zu sein, was man ihm sagt, der aber zugleich ein beträchtliches Geschick bewies, Unterwerfungen als Triumphe zu feiern und seine Arbeit als Butler in der Uniform Lord Nelsons anzutreten: Wenn England schon mußte, was es nicht gewollt hatte, dann in vorderster Front, noch vor den Deutschen. Schön, wenn man dann noch Atommacht ist, wie die USA, und an deren Seite jeden Tag beim Bombenschmeißen auf den Irak ein bißchen Weltmacht spielen darf, um zu überspielen, was jeden Tag in der Zeitung steht:
Daß Brüssel Sitz der Europäischen Zentralbank werden soll, und Frankfurt es wird; daß ein Franzose ihr Chef werden soll, und Wim Duisenberg, der Kandidat der Deutschen, es wird; daß der deutsche Kanzler die Entscheidung, Bodo Hombach zum Vizekönig des Generalgouvernements Balkan zu ernennen, ganz alleine trifft und verkündet; daß alle andern Europäer murren, und alle andern Europäer ja sagen; daß alle Verlage, auch die deutschen, erwarten, der zuständige Kommissar Karel Van Miert werde sich mit der Forderung, die Buchpreisbindung aufzuheben, durchsetzen, er es nicht kann und der deutsche Kulturminister Naumann mitteilt, warum: »Die Europäische Kommission unter Jacques Santer hat damit Augenmaß bewiesen«, und das sei auch auf die Initiativen aus Deutschland zurückzuführen. Zuletzt habe Bundeskanzler Schröder in einem Schreiben an Santer darum gebeten …
Die Europäische Union einigt sich darauf, die Autohersteller an den Kosten für die Entsorgung ihrer Rostlauben zu beteiligen. Deutschlands grüner Umweltminister kippt die Vorlage. Warum er das kann, erklärt die »Frankfurter Allgemeine«: »Zugleich verdichteten sich die Anzeichen dafür, daß sich nach der erfolgreichen Intervention von Volkswagen-Chef Ferdinand Piëch bei Bundeskanzler Schröder auch die Regierungen Spaniens und Großbritanniens anschickten, der Regelung die Zustimmung zu verweigern. Der spanische Autohersteller Seat ist eine VW-Tochtergesellschaft, der britische Hersteller Rover gehört zu BMW.«
Die EU-Kommission entscheidet, daß die Westdeutsche Landesbank 1,6 Milliarden Mark unerlaubter Beihilfe zurückzahlen muß. Sie muß nicht – dank einer höheren Gewalt, wie das Deutschland-Magazin »Spiegel« (»Mit dem neuen Selbstbewußtsein der 68er, die der Gnade der späten Regierung teilhaftig wurden, tritt Rot-Grün nun in Europa auf«) voller Nationalstolz meldet: »Noch während der Verhandlungen über die Atomkraftwerke in Kiew entschied Gerhard Schröder: Den Brüsseler Anordnungen sei nicht zu folgen, nichts werde gezahlt …«
Von der Bitte des ebenfalls vom deutschen Kanzler ausgesuchten Präsidenten der EU-Kommission, Romano Prodi, ihm andere deutsche Kommissionskandidaten vorzuschlagen als annonciert, nimmt Schröder nicht einmal Notiz. Prodi muß das rot-grüne Gespann Verheugen/Schreyer nehmen wie nicht bestellt. Die Finnen, Nachfolger der Deutschen in der EU-Präsidenschaft, weigern sich, Deutsch von einer der offiziellen EU-Sprachen, die es ist, zur dritten Amtssprache zu erheben? Der deutsche Kanzler ordnet an, Sitzungen des Ministerrats in Helsinki zu boykottieren. »Berlin«, schreibt die französische Tageszeitung »Libération«, »hat die große Artillerie herausgeholt, um die deutsche Sprache zu verteidigen.«
Wovon die kuschenden Regierungen voll sind, des geht ihr intellektueller Troß über. De la prochaine guerre avec L’Allemagne heißt der Titel eines kürzlich erschienenen Buchs von Philippe Delmas, Vorstandsmitglied des von Deutschland dominierten Airbus-Konzerns. Springers »Hamburger Abendblatt« ist konsterniert: »Krieg mit Deutschland? In Frankreich ist das – man mag es glauben oder nicht – ein Buchthema. Und obwohl vorausgesetzt werden kann, daß der Autor bewußt übertreibt, sollte diese Absicht allein zu denken geben.« Zur selben Zeit schlägt in der »Sunday Times« (Auflage 1,34 Millionen) deren Starautor AA Gill vor, am Brandenburger Tor ein großes Schild aufzustellen: »Amnesie macht frei«. In Buchenwald habe er, Gill, verstanden, »warum wir die Deutschen hassen«. Ihr Verbrechen stehe »jenseits der Vergebung«. Zu dieser Nachricht stößt ihr Hamburger Bote nur noch den wehleidigen Seufzer aus: »Die Briten können es nicht lassen.« Wie sollten sie es können, wenn sie in der »Bildzeitung« lesen müssen, unter wessen Befehl ihre Streitkräfte gestellt werden und in welchem Ton: »Ein deutscher General sorgt künftig für Ordnung im Kosovo! General Klaus Reinhardt soll noch in dieser Woche offiziell zum Oberbefehlshaber der Kfor-Friedenstruppen (45.000 Mann) berufen werden.«
Aber natürlich ist es nicht, noch nicht, die Bundeswehrmacht, bei deren Anblick die Nachbarn sich verkriechen. Den Briten hat es der scheidende EU-Kommissar für Währungsfragen, Yves-Thibault de Silguy, schriftlich gegeben: Wenn Großbritannien sich den Luxus erlaube, das Pfund als »kleine Satelliten-Währung des Euro« beizubehalten, werde es dafür sowohl wirtschaftlich wie politisch einen hohen Preis bezahlen. Wer ihn kassieren wird, ist nach einem Blick auf eine einzige Seite des Wirtschaftsteils der »Frankfurter Allgemeinen« an einem einzigen Tag (26. Juli) unzweifelhaft:
· Über den Zusammenschluß der Deutschen Telekom mit der spanischen Telefónica heißt es da: »Der Verzicht der Telekom, Telefónica zu übernehmen, klingt nicht nur im Hinblick auf deren hohen Börsenwert intelligent. Mit der internationalen Allianz umgehen beide Partner geschickt spanische Widerstände, die bei einem Verkauf des national führenden Unternehmens zu erwarten gewesen wären … Immerhin handelt es sich um das größte Unternehmen des Landes mit einem Jahresumsatz von zuletzt 34 Milliarden DM und einem Börsenwert von rund 90 Milliaden DM.« Das ist jetzt, wie Chrysler nach der Fusion mit Daimler, unser.
· »Im vergangenen Jahr verbesserte sich die Weltmarktposition Deutschlands nach Angaben des DIHT spürbar. Der Weltmarktanteil stieg von 10,1 auf 10,6 Prozent.« Zusammen mit nur zwei Staaten seines europäischen Commonwealth, Frankreich (6,0) und Italien (4,5), bringt es Euro-Deutschland auf bereits fünf Prozentpunkte mehr als die USA mit ihren 16,5 Prozent.
· »Europäische Luftfahrtindustrie vor einer Neuordnung – Aus einer Fusion von Aerospatiale-Matra und Dasa entstünde nach Boeing der zweitgrößte Luftfahrt- und Rüstungskonzern der Welt mit einem Umsatz von rund 46 Milliarden DM.« Zur gleichen Zeit wird gemeldet, daß Airbus seinen US-Konkurrenten Boeing bei Bestellungen im ersten Halbjahr 1999 mit 242 zu 104 hinter sich gelassen und bei der Gesamtzahl aller Aufträge mit 1.413 zu 1.577 fast mit ihm gleichgezogen hat.
Ob wir es nun Unterjochung, Dominanz oder bloß Hegemonie nennen, was die andern Deutschland gefügig macht: Einen Anlaß, seinen Wimpel »Nie wieder Deutschland« auf Halbmast zu setzen, hat unser Stammtisch nicht.
Konkret 09/99, S. 9
Hermann L. Gremliza
Die Weltmacht zu Erlangen
Ein deutscher Wegweiser
Seit gestern gehört uns Deutschland und heute Europa, wie wir aber an die ganze Welt kommen, darüber müssen wir noch reden. Daß man damit seine Zeit, die doch nur vom Geschäft abgeht, nicht selber vertut, hat man seine Leute. Wozu denn gibt es, beispielsweise, eine Universität ausgerechnet in dem für nichts als Namenswitze prädestinierten Erlangen, und dort einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte. Der war zur Zeit des Kanzlers Helmut Kohl besetzt mit dem Professor Michael Stürmer, der in Leitartikeln der »FAZ« dem Kanzler durch Lob und sanften Tadel dessen, was er tat, Mitteilung machte, was er zu tun hatte. Wenn Bismarck, der Eiserne Kanzler, gemeint hatte, man solle nur immer darauf achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht, dann zuspringen und sich an seines Mantels Zipfel klammern, war Professor Stürmer des Fetten Kanzlers Zipfel.
Mit Kohl verließ auch Stürmer sein Amt, was zur Folge hatte, daß er von der offiziellen »FAZ«, wo gesagt wird, was zu geschehen hat, zur gemütlichen »Welt« gehen mußte, wo er seit einiger Zeit am Donnerstag jeder Woche sagen darf, warum, was geschieht, doch sehr unzulänglich ist:
Die Führungseliten sind überfordert. Deutschland, klug geführt, europäisch denkend und im Innern gesund, könnte die Holding des Unternehmens Europa sein. Innerhalb der Pax Americana könnte dieses Europa von gleich zu gleich mit Washington reden. Nur, dank Berlin, existiert es nicht. So ist nicht auszuschließen, daß zum dritten Mal in einem Jahrhundert die Deutschen ihre europäische Chance verpassen.
Das war Stürmers Beitrag zu jener Woche, in der Außenminister Joschka Fischer das Buch Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne vorstellte, verfaßt von einem Gregor Schöllgen, der, bitte, was ist?: amtierender Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen. Dessen Erkenntnisse faßt der Verlag in die Sätze:
Das war nicht vorhersehbar: Innerhalb eines guten Jahrzehnts haben zwei revolutionsartige Schübe Deutschland in eine Schlüsselstellung katapultiert. Der Zusammenbruch der alten Weltordnung und Deutschlands Wiedervereinigung ließen 1989/90 in Europas Mitte erneut eine wirtschaftlich und politisch bedeutende Macht entstehen. Kaum hatten sich die Deutschen und ihre Nachbarn daran gewöhnt, erklärte Kanzler Schröder im Herbst 2002, in der Irak-Krise den »deutschen Weg« einschlagen zu wollen. Erstmals läßt ein Bundeskanzler keinen Zweifel daran aufkommen, wo die deutsche Außenpolitik gemacht wird: in Berlin.
Gerhard Schröder, heißt das, ist der erste, den Kurt Schumachers Verdikt über Konrad Adenauer, er sei ein »Kanzler der Alliierten«, nicht mehr trifft, und somit der seit 1949 erste deutsche Bundeskanzler. Das verdrießt besonders, weil Schöllgen, wie es sich für einen Professor aus Erlangen ziemt, von aller und also auch von Springers »Welt« bislang »üblicherweise der Rechten zugeschlagen« werden konnte, bedeutet es doch eine Beleidigung so untadeliger Patrioten wie Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger (der bei Springers aber heute schon als »Hans-Georg Kiesinger« vergessen ist) und Helmut Kohl.
Schöllgen der Rechten zuzuschlagen, war kein Irrtum. Auch jetzt beklagt er die »krasse Unterfinanzierung der Bundeswehr«, walsert er über die Schuld von Versailles am Nazireich und lobt Europas »zivilisatorische Kompetenz, seine kulturelle Vielfalt, aber auch den Umgang mit der eigenen Geschichte«, die keinen »Vergleich zu scheuen« brauchten, jedenfalls nicht denjenigen mit den USA«. Vielleicht wegen deren Negermusik. (Auch seine Dummheit ist milieugerecht: Den Sozialdemokraten dichtet er eine »ausgeprägt pazifistische Tradition« an, die sich bekanntlich in der Gewährung von Kriegkrediten wie in der Bombardierung von Belgrad bewährt hat; Milosevic läßt er »einen Vernichtungsfeldzug gegen die albanische Minderheit im Kosovo« führen, wo die Albaner drei Viertel der Bevölkerung stellten; Kriege fallen vom Himmel: »Mit dem Zusammenbruch der alten Weltordnung hielten die Geschichte und mit ihr der Krieg wieder Einzug in die Welt … Das Jahr 1991 brachte erstmals wieder seit einem halben Jahrhundert Kriege und Bürgerkriege nach Europa … » Wer stellt das Jahr vors Kriegverbrechertribunal?)
Der Irrtum war und ist, Schröder irgendeiner Linken zuzuschlagen. Er ist Bundeskanzler. Er ist, heißt das, angestellt, die Verwertungsbedingungen des nationalen Kapitals zu optimieren, im Land und in der Welt. Kanzler unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine das tut und der andere nicht, sondern daß der eine dabei mehr Geschick zeigt als der andere. »Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne«, von der Schöllgen nicht genug kriegen kann, dient dem Zugriff auf Rohstoffe und Märkte wie dem Schutz investierten Kapitals. Alle sind dafür. Umstritten ist, wie weit deutsche Politik dabei schon wieder gehen kann und soll.
Die alte Rechte, beispielhaft vertreten durch Kohls Stürmer, will Deutschland noch einige Zeit unter den Fittichen des American Eagle mästen, bevor es – als »Holding des Unternehmens Europa« – die politischen Kampfhandlungen eröffnet. Die neuere Rechte hält die Zeit schon heute für reif, wobei Schröder das Heute bereits bei seiner ersten Wahl gekommen sah, Schöllgen und andere seiner Hofsänger es aber erst gemerkt haben, als der Kanzler »den entscheidenden Schritt« getan hat, »um Deutschland aus der Abhängigkeit von Amerika zu lösen«.
»Wie oft«, klagt Schöllgen, »hatte man sich seit den fünfziger Jahren auf die Lippen beißen müssen«, doch endlich habe Schröder »instinktsicher Witterung« aufgenommen und »in der Volksstimmung ein verbreitetes Unbehagen an der amerikanischen Außenpolitik« registriert. Enthusiastisch zitiert Schöllgen immer wieder Schröders diesbezügliche Appelle an das gesunde Volksempfinden: »Dieses Deutschland, unser Deutschland, ist ein selbstbewußtes Land … Wir reagieren nicht auf Druck … Das hat mit unserem Selbstbewußtsein zu tun … Wir haben uns auf den Weg gemacht, auf unseren deutschen Weg … Über die existentiellen Fragen der deutschen Nation wird in Berlin entschieden und nirgendwo anders.«
Schöllgen, der, wie nicht oft genug hervorgehoben werden kann, Professor in Erlangen ist, erspart jener Mehrheit der deutschen Eliten, der im Vorfeld des Irakkriegs, als Schröder in Verdacht geriet, den Mund etwas zu voll genommen zu haben, die Manschetten flatterten, ihre damaligen Ängste vorzuhalten. Nicht einmal ihr Lautsprecher Olaf Henkel findet mit seinem Ultimatum, sofort das Verhältnis mit Washington in Ordnung zu bringen, Erwähnung. Auf das Lamento über die Isolation, in die Schröder Deutschland sogar in Europa gebracht habe, erinnert allein Schöllgens Frage: »Wie sollte Deutschland die Rolle der europäischen Gegenmacht zu den USA, in welche die Republik gleichsam über Nacht geraten war, überzeugend und ohne schwere Folgeschäden ausfüllen?«
Im Herbst 2003 scheint es so, als habe Schröder alles richtig gemacht. Den Irakkrieg haben, wie nicht nur von ihm erwartet, viele gewonnen: die Kurden, Saddam Husseins politische Gefangene, die Franzosen, die Deutschen. Die USA, deren Führungseliten weit überfordert sind, verlieren ihn jeden Tag ein bißchen mehr. Den Ordinarius für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen haben sie schon verloren. Ein böses Zeichen.
Gregor Schöllgen: Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Propyläen, 176 Seiten, 18,50 Euro
Literatur-Konkret 2003, S. 15
Hermann L. Gremliza
Ab nach rechts bei Rot
Über Segen und Fluch der DDR.
Sag mir, wo die Errungenschaften sind, wo sind sie geblieben? Daß die materiellen verschwänden, der ordentlich beheizte, jedermann und jeder Frau zugängliche Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplatz, die Zweiraumwohnung zur Monatsmiete von 37 Mark 56, der Elternschaftsurlaub und die Betriebskrippe, durfte keinen der Heldenstadt-Helden, die über jahrzehntelange Indoktrination mit den Lehren der Herren Marx und Engels geklagt haben, überraschen.
(Wunder freilich gibt es immer wieder, und eines der wunderlichsten sind die Massen ehemaliger Bürger der ehemaligen DDR, trottend hinter jenen Pfaffen, denen sie vor fünfzehn Jahren aus dem real existierenden Sozialismus in die realer existierende Bredouille gefolgt sind. In entsprechend engen Grenzen hält sich das Mitleid, zumal das Prinzip des bürgerlichen Rechts, wonach Unkenntnis der Gesetze – auch derer des Marktes – nicht vor Strafe schützt, ein durchaus sympathisches ist.)
Eine real existierende Errungenschaft immerhin hat überlebt, und nicht zufällig ist es jene, die mir am ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat schon zu einer Zeit verhaßt war, als ich ihre symbolische Bedeutung, daß den Bürgern auch bei Rot erlaubt sei, nach rechts abzubiegen, noch nicht erkannt hatte: der grüne Pfeil. Inzwischen haben die Automänner in den Rathäusern westdeutscher Städte die Eignung dieser Verkehrsregel zum Totfahren von Schulkindern erkannt und die Gelegenheit ergriffen.
Was aber ist mit den geistigen, den ideologischen Errungenschaften? Wie es in den Köpfen der ehemaligen Arbeiter und Bauern des ehemaligen ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaats brummt, fünfzehn Jahre nach dem Ende der DDR, ist jetzt jeden Montag den Sprechchören abzuhören, mit denen Demonstranten durch Leipzig und Magdeburg ziehen und in denen die letzten Illusionen über den gewesenen Staat und seinen Sozialismus verwehen. Spät, zu spät faßt mancher Zeitgenosse Zuneigung zum »Todesstreifen« und zur Stasi, die Deutschland vierzig Jahre lang geteilt, die Schwestern und Brüder unter Kuratel gehalten haben.
Bert Brecht hatte, als im Frühling 1953 zum erstenmal versucht wurde, was im Herbst 1989 gelingen sollte, der Regierung seines Staates den Rat gegeben, dieses Volk aufzulösen und sich ein neues zu wählen. Ob der Dichter sein Wort so sarkastisch hatte verstanden wissen wollen, wie es das Feuilleton bis heute versteht? Andere seiner Worte über die Aufständischen (»Ihre Losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den Klassenfeind«) ließen eine andere Deutung zu.
Tatsächlich wäre es nach 1945 und also auch nur acht Jahre später um nichts weniger gegangen als die Auflösung eines Volks von Nazis, Wehrmachts- und Volkssturmmännern, Hitlerjungen und BDM-Mädchen, seine Abstrafung und seine Umerziehung zu einem neuen, ganz anderen. Die größten Verbrecher waren, das ist wahr, schlau genug gewesen, in den von ihresgleichen bereits wieder beherrschten Westen zu fliehen. Und so erging – weil man ja das Ja der Massen brauchte, der Nationalsozialismus bloß eine Variante des Faschismus war und der Faschismus eine Variante der Kapitalherrschaft, also Proleten bzw. kleine Leute seiner Verbrechen nicht schuldig, sondern zu ihnen nur gezwungen oder, schlimmstenfalls, verführt – der Beschluß, die vielen kleinen zu exkulpieren.
Er wurde zur Lebenslüge der DDR und sollte sich rächen. Ihr verdankte sie, die sich in dieser Sache vierzig Jahre lang von niemandem hineinreden ließ, und auch von ihrem größten Dichter nicht (Peter Hacks: »Mit der Partei geht zu leben. Mein Wunsch, hätt ein Recht ich zu wünschen, / Wäre, daß sie vielleicht etwas parteilicher wär«), ihren Untergang in völkischer Aufwallung, und wir verdanken ihr die Hoheit der Naziglatzen über die nächtlichen Marktplätze Mecklenburg-Vorpommerns oder die Beliebtheit des Mitteldeutschen Rundfunks.
Und zuletzt die Erhebung im Auftrag des Statistischen Bundesamts, nach der nur 49 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie für die beste Staatsform halten, aber 76 Prozent der Meinung sind, daß Sozialismus eine gute Idee sei, die nur schlecht ausgeführt worden ist. Was das Herz der Populisten höher schlagen läßt, sind alles andere als Gründe zur Freude, jedenfalls für den, der nicht vergessen hat, wie jener Sozialismus, den das »Wir sind ein Volk«-Volk, solange er währte, für nicht nur die beste, sondern auch die bestausgeführte Staatsform gehalten hat, mit Vornamen hieß.
Die Anpassung an die Vorurteile und Instinkte des vorhandenen »Volks«, die Bedienung seiner seelischen Bedürfnisse und, nicht zuletzt, seiner ästhetischen Vorlieben für NS-Ufa-Filme und »Volksmusik«, die Verherrlichung seines Spießergemüts als »sozialistische Moral«, die allesamt zu verzeihen vielleicht die Gewißheit erlaubte, daß anders die Existenz der DDR und also die Teilung Deutschlands nicht zu erhalten sei, erweisen sich nun, anderthalb Jahrzehnte nach dem Scheitern des guten Vorsatzes, als ideeller Sondermüll. Und niemandem ist die Frage zu verwehren, ob es zum Zwecke der Abwehr jenes Westens, der im Kampf gegen den Kommunismus zu jedem Mittel griff, wirklich erlaubt war, völkisch-kleinbürgerlichen Haß auf die Moderne zu schüren.
Hochverrat ist eine Frage des Datums (Talleyrand). Der Erfolg heiligt die Mittel. Der Mißerfolg verflucht sie. Kommunisten, die mehr gewollt haben, als die Welt richtig zu interpretieren, könnten sagen, sie hatten keine Wahl. Nachdem das Proletariat Westeuropas sich dem Roten Oktober verweigert hatte, blieben nur Bündnisse mit Kräften, die sehr oft sehr notdürftig zu »fortschrittlichen« ernannt werden mußten, oder Kapitulation. Aber dann: Haben solche Bündnisse den Untergang, den sie hinauszuschieben halfen, nicht um so sicherer herbeigeführt?
»Fragen über Fragen!« endete hier der Lokalzeitungsredakteur, der glückliche, um sich im Morgenblatt wieder den berechtigten Sorgen und Ängsten der Ostdeutschen zuzuwenden, die zwar weniger Geld verdienen, aber mehr Verständnis. Ihre mitten in einem, ja in dem Projekt der Moderne, im Kommunismus, vormoderne, gegenaufklärerische Zurückgebliebenheit hatte sich ja schon vor dem Ende der DDR einiger Beliebtheit auch westlicher Beobachter erfreut, als sie in den »Nischen« des Realsozialismus jene Idyllen entdeckten, die im Kapitalismus längst plattgemacht oder, marxistisch gesprochen: aufgehoben waren. In den Städten und Städtchen der DDR-Provinz, unberührt von Tchibo, Karstadt, der Deutschen Bank und Beate Uhse, finde man noch richtig echtes, unverfälschtes Deutschland, schwärmte mir Mitte der Achtziger nach seiner Rückkehr aus Sachsen der sozialdemokratische Bürgermeister einer westdeutschen Millionenstadt ins Ohr.
Materiell hat die Wiedervereinigung den deutschen Fiskus ein Mehrfaches dessen gekostet, was sie den Ostdeutschen gebracht hat. Ideell aber hat Deutschland das längst wieder rein. Beim Marsch auf dem »deutschen Weg« des Kapitalismus, den Kanzler Schröder im Wahlkampf proklamiert hat, sind die Ostdeutschen starke Bataillone. Wer natürlich die Prozente der PDS in Sachsen oder Brandenburg für Kennziffern sozialistisch-kommunistischer oder auch nur irgendwie linker An- und Absichten hält, geht großen Siegen entgegen.
Literatur-Konkret 2004, S. 9
Hermann L. Gremliza
Eiskalter Nachkrieg
Die USA waren und sind, spätestens seit dem Korea-Krieg, die bei weitem aggressivste imperialistische Macht; ihre Opfer zählen nach Millionen; wer, wie ich, ihr mörderisches, verhaßtes Militär auffordert, in der BRD zu bleiben und die Reste des Besatzungsrechts nicht aufzugeben, sondern notfalls mit aller Macht wahrzunehmen, muß Schlimmeres fürchten: eine große Koalition der Wähler von Kohl, Meyer-Vorfelder, Schönhuber und Gorbatschow, den Abriß der Mauer, die Wiedervereinigung, »die Deutschen« und Deutschland, Deutschland über alles. Ami stay here!
Der Appell, der im Juli 1989 an dieser Stelle stand, verhallte ungehört. Die Regierenden der USA hatten Besseres zu tun, als die einsame Stimme eines Hamburger Kommunisten wahrzunehmen, der über Gods own country so despektierlich redete. Sie hörten auf ihre Freunde, auf Kohl und Brandt und die »FAZ«.
Das haben sie nun davon. Berauscht von der Vorstellung, das »Reich des Bösen« (Ronald Reagan) endgültig von der Weltkarte zu streichen, haben sie sich mit der Liquidierung der Nachkriegsordnung einen Gegner erschaffen, der sie insgeheim schon heute nach dem verschwundenen sich zurücksehnen läßt. Er besitzt, wovon dieser nur prahlte, ökonomisch, technisch, auch militärisch. (Zu welch jämmerlichem Haufen die Rote Armee längst heruntergekommen war, kann den beobachtenden Diensten nicht verborgen geblieben sein.) Und nun haben sich die USA durch ein tölpelhaftes politisches Personal auch noch in einen Konflikt manövrieren lassen, aus dem sie, wenn alles schlechtgeht, nicht einmal, wie noch in Vietnam, durch eine ehrenhafte Kapitulation sich werden befreien können.
In alle Welt hatten die Deutschen posaunt, daß sie keinen Krieg wünschten gegen den Irak. Dabei wünschte die Berliner Regierung nichts dringlicher als den Krieg – geführt von den USA, gegen den Willen der sogenannten Völkergemeinschaft und ohne Legitimation durch die Vereinten Nationen; einen Krieg, in dem alle außer den Irakern, die wenigstens ihren Folterherrn loswurden, verlieren sollten, insonders die USA und Israel, und niemand etwas gewinnen konnte außer Deutsch-Europa und Al-Qaida (auch als Synonym für den ganzen islamistischen Islam).
Was die USA können, und besser als alle andern, haben sie in Jugoslawien und Afghanistan gezeigt: draufhauen und abhauen. Das hat dort genügt, wo sie Alliierte hatten, die genug Geld und Leute schickten, um den Nachkrieg zu führen und an dessen Scheitern Mitschuld zu übernehmen. Bushs »Koalition der Willigen« aber ist eine der allzu Billigen: hier ein Prime Minister, der über seine politischen, ökonomischen und intellektuellen Verhältnisse lebt, dort dreitausend arbeitslose Polen unter Waffen, für deren Einsatz die EU noch schmerzhafte Gebühren kassieren wird, und drumherum, zwischen Litauen und Pakistan ein paar Maulhelden, die keinen Mann und keinen Groschen schicken. Bleibt Berlusconi, mit dem Bush wirklich ein besonderes Schnäppchen erjagt hat: Erst klammert er sich, ein gnädiges Lächeln erhoffend, an den deutschen Kanzler, der ihn am Abend zuvor in der Arena von Verona durch stürmische Umarmung von Romano Prodi, Berlusconis Gegner, abgestraft hatte, dann stellt sich Bushs Williger aller Welt als Parteigänger Benito Mussolinis vor, der niemand umgebracht, sondern seine Gegner nur »ferienhalber« in die Verbannung geschickt habe. (Zur Erinnerung: Bei der Eroberung Libyens hatte Berlusconis Duce Giftgas eingesetzt. Von den zehntausend Juden, die er nach Deutschland deportierte, haben keine fünf Prozent überlebt. Einem Bewunderer Mussolinis kann es also ganz recht sein, wenn Hamas und – man muß wohl sagen: – ihr Arafat heute besser dastehen als seit Jahren.)
Knapp achtzig Milliarden Dollar mehr pro Jahr hat Bush für seinen Krieg beim Kongreß beantragt, und der weiß nicht, bei welchem Gläubiger er noch was kriegt. Für seinen Weg vor die Vereinten Nationen, die er im Frühjahr noch verhöhnte, empfiehlt die deutsche Friedenspresse (hier die »Süddeutsche Zeitung«) dem Präsidenten deshalb äußerste Bescheidenheit:
Diesmal müßte er sich eigentlich kleinmütig geben, weist seine Jahresbilanz doch Verluste aus … Der Irak ist nicht befriedet, geschweige denn im Aufschwung … Amerika erfährt einen dramatischen Ansehensverlust in allen Weltregionen. Es droht zum Führer ohne Gefolgschaft zu werden.
Ganz wie es Schröder und Fischer sich erträumt haben. Der Leitartikler von Springer, der durch eine Klausel des Anstellungsvertrags zur Solidarität mit den USA verpflichtet ist, rät Bush dringend zur Umkehr:
Hinter der Kurskorrektur Washingtons steht nicht nur innenpolitischer Druck, sondern auch das unausgesprochene Eingeständnis, im Irak nicht mehr so recht weiterzuwissen. Dies verschafft am Potomac der Einsicht zunehmend Gewicht, daß sich die US-Strategie des Alleingangs und des Ausscherens aus dem transatlantischen Konsens, wie sie seit dem Anschlag auf das World Trade Center verfolgt wurde, am Ende doch nicht auszahlt. Amerika bewegt sich auf die UN und damit auch auf seine »abtrünnigen« Partner zu und wird dies durch den Zwang der Ereignisse weiter tun müssen.
Drastischer noch der US-Wissenschaftler Minxin Pei vom Carnegie Endowment for International Peace, wiederum bei Springer:
Wenn die USA nicht in der Lage sind, die Probleme in der Bronx und in Harlem oder in den Slums von Washington D. C. in den Griff zu bekommen, warum sollten sie dann Probleme wie Armut, schlechtes Government und Kriminalität in Haiti, Kambodscha oder im Irak in den Griff bekommen?
Die USA stehen, was ihre wirtschaftlichen und organisatorischen Ressourcen angeht, lange nicht mehr so glänzend da wie 1945, als sie das Problem schlechtes Government in Deutschland in den Griff genommen und bekommen haben. Es waren aber nicht zuerst ihre Dollars, die damals halfen, es war ihre Bereitschaft, die Einführung der Demokratie den vorhandenen, zur Führung von Wirtschaft und Verwaltung ausgebildeten Eliten anzuvertrauen: die Konzerne dem Freundeskreis des Reichsführers SS, die Polizeiführung den Beamten der Gestapo, die Dienststellen den Leitern der Einsatzgruppen, die Armee den Offizieren der Wehrmacht, die Gerichte den Leuten vom NS-Rechtswahrerbund, die Presse den Mit- und Zuarbeitern von Goebbels’ Propagandaministerium und der Propagandakompanien, die bald den Grundstock so mancher Springer-Redaktion bildeten. Daß sie diesem Erfolgsrezept im Irak heute nicht konsequent folgen, ist der ehrenwerteste unter den Gründen ihres Scheiterns. Die Deutschen hätten nicht gezögert.
Sie brauchten es nicht, sie haben den Krieg auch so gewonnen. Vor ein, zwei Monaten haben kleingläubige Kommentatoren noch darum gebangt, ob Minister Rumsfeld seinem deutschen Kollegen je wieder die Hand geben werde. Heute erwidert Struck, wenn er nach deutscher Hilfe im Irak gefragt wird, aufs pampigste: »Keine Soldaten, kein Geld … Wir müsse den Amerikanern nicht irgendwelche Geschenke anbieten.« Erst müsse, sagt sein Kanzler, die politische Macht im Irak den UN und dann den Irakern zurückgegeben werden.
Aber wie sie die USA zu dem Krieg, gegen den sie auftrat, animiert hatte, wird die deutsche Regierung die Übertragung der Verantwortung der USA für den Irak an die UN, die sie fordert, so lange wie möglich hintertreiben. Jeder Tag, den die USA dort bleiben, verlieren sie nicht nur Leute, sondern auch sehr viel Geld und Ansehen, also Macht. Und die wächst ihren Gegnern zu. Wer Amerika haßt, muß diesen Krieg lieben.
Be patient, work hard, follow your passions, take chances and don’t be afraid to fail.
Hochverrat ist eine Frage des Datums (Talleyrand).
Die Skandalisierung eines Skandals ist eine in deutschen Medien meisterhaft beherrschte Disziplin.
„Es ist eine alte Weisheit, dass Macht stets die Verführung mit sich bringt, sie zu missbrauchen.“ – Wolfgang Schmidbauer
„C.G.Jung war ein psychoanalytischer Faschist, ein faschistisch schäumender Psychoanalytiker. “ – Ernst Bloch
„Die tatsächlich bestehenden und einsichtigen Leuten schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden, was der Wissenschaft nur förderlich sein kann“ (…) „Die Gesellschaft (die Internationale Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (IAÄGP). Anm.JSB) setzt von allen ihren schriftstellerisch und rednerisch tätigen Mitgliedern voraus, daß sie Adolf Hitlers grundlegendes Buch ›Mein Kampf‹ mit allem wissenschaftlichen Ernst durchgearbeitet haben und als Grundlage anerkennen. Sie will mitarbeiten an dem Werke des Volkskanzlers, das deutsche Volk zu einer heroischen, opferfreudigen Gesinnung zu erziehen.“ C.G.Jung
„Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert.“ „Ulrike Maria Stuart“ von Elfriede Jelinek
„Auch der sublimste erkenntnistheoretische Idealismus führt unweigerlich zum Solipsismus, zur Vergottung des Ichs, einer Elite, einer Rasse und endet schließlich im blutigsten Imperialismus.“ John F. Rottmeister
„Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist.“ – Angela Merkel
Psychoanalyse ist eine Erhebung über die Situation. Von oben hat man bessere Aussicht.
„Kritische Theorien, wie die Freudsche, artikulieren eine Erfahrung, die mit den jeweils herrschenden Denk- und Wahrnehmungsweisen unvereinbar ist. Gerade in dem, was der Konvention als unbrauchbar, als Abfall gilt und wovon in Wissenschaft und Lebenspraxis methodisch abgesehen wird, entdecken die Revolutionäre der Denkart das Neue, das ei¬ne bestehende Einrichtung des Lebens in Frage stellt. Indem sie an das Ausgegrenzte und erfolgreich Vergessene erinnern, markieren sie den Mangel der Ordnung, die über dem Grab der verworfenen Alternativen triumphierend sich erhebt. Und das dem Status quo verschworene Kollektiv stempelt solche Alchimisten, die aus Dreck Gold zu machen schei¬nen, stets zu Außenseitern6 . Aus der Erfahrung dessen, was den vorherrschenden, institutionalisierten Zwecken widerstrebt, erschüttern die Neuerer deren fraglose Geltung.“ – Helmut Dahmer
Die Umwälzung nach 1945 führte nicht zur Überwindung des Nationalsozialismus als Ideologie der deutschen Volksgemeinschaft, sondern rief lediglich die eitle Illusion hervor, daß mit der Kritik am Nationalsozialismus das nationalsozialistische Dünken selbst und seine innere Konflikthaftigkeit mit dem Judentum überwunden sei.
„Wie es Tatbestände gibt, die die Sinne in die Irre führen, wie im Fall der optischen Täuschung, so gibt es welche, die die unangenehme Eigenschaft haben, dem Intellekt Schlüsse zu suggerieren, die gleichwohl falsch sind.“ – Christoph Türcke
Das Geschlecht ist ein sozialer Konstrukt? Berg, Tal, See und das Meer auch!
Bereits Marx diagnostizierte den Deutschen das Umkippen von Ideologie in Wahn und Lüge. Wie gegenwärtig der Fall ist, neigen die Deutschen zu Ausbrüchen des kollektiven Wahns, der Massenpsychose mit zunehmendem Realitätsverlust. Der Wahn ist kurz, die Reue lang, pflegte meine Großmutter zu sagen.
Nach dem I. Psychosputnik-Gesetz verwandelt sich der frei florierende Zynismus ab gewissem Verdichtungsgrad seiner Intensität in hochprozentige Heuchelei, analog zu einer atomaren Kernschmelzereaktion. Diesen Prozess der zunehmenden Zynismuskonzentration mit anschliessender Explosion der Heuchelei kann man sehr deutlich gegenwärtig in Deutschland beobachten. Das Denken ist weggeblasen, pulverisiert, das (Hoch)Gefühl ist voll an seine Stelle getreten.
»Indem (der gesunde Menschenverstand) sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Einheit der Bewußtseine. Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.« – G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes
„Die Verschleierung eigener Positionen durch Zitate und Zitatselektion dient dazu, eigene Positionen unkenntlich zu machen.“ – Ursula Kreuzer-Haustein
„Die Neurose ist das Wappen der Kultur.“ – Dr. Rudolf Urbantschitsch, Seelenarzt; „Sehr schön, aber es laufen derzeit schon weit mehr Heraldiker als Adelige herum.“ – Karl Kraus, Schriftsteller
„Zuerst verlieren die Menschen die Scham, dann den Verstand, hernach die Ruhe, hierauf die Haltung, an der vorletzten Station das Geld und zum Schluß die Freiheit.“ – Karl Kraus
„Ausbeutung heißt Beute machen, sich etwas durch Gewalt aneignen, was nicht durch eigene Arbeit geschaffen wurde, sich etwas nehmen, ohne Gleichwertiges zurückzugeben“ – Maria Mies
»Die Psychoanalyse ist eine Panne für die Hierarchie des Denksystems« – Pierre Legendre
Psychoanalyse entwickelt sich nicht weiter, weil sie nicht angewandt wird, es wird nur über sie gesprochen.
»Sie wissen, daß der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung nicht zu Ende gekommen ist, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab … Die erste Einwendung, die man hört, lautet, … die Wissenschaft ist zur Beurteilung der Religion nicht zuständig. Sie sei sonst ganz brauchbar und schätzenswert, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt, aber die Religion sei nicht ihr Gebiet, da habe sie nichts zu suchen … Die Religion darf nicht kritisch geprüft werden, weil sie das Höchste, Wertvollste, Erhabenste ist, was der menschliche Geist hervorgebracht hat, weil sie den tiefsten Gefühlen Ausdruck gibt, allein die Welt erträglich und das Leben lebenswürdig macht … Darauf braucht man nicht zu antworten, indem man die Einschätzung der Religion bestreitet, sondern indem man die Aufmerksamkeit auf einen anderen Sachverhalt richtet. Man betont, daß es sich gar nicht um einen Übergriff des wissenschaftlichen Geistes auf das Gebiet der Religion handelt, sondern um einen Übergriff der Religion auf die Sphäre des wissenschaftlichen Denkens. Was immer Wert und Bedeutung der Religion sein mögen, sie hat kein Recht, das Denken irgendwie zu beschränken, also auch nicht das Recht, sich selbst von der Anwendung des Denkens auszunehmen … Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (Freud, 1933, S. 182 ff. und S. 197).
„Freuds »Religions«-Kritik galt den »Neurosen« genannten Privatreligionen (Heiraten, romantische Liebe, Gier, Ethik und Moral, etc. Anm. JSB) ebenso wie den kollektiven (Nation, Gutmenschen, Sport, etc. Anm. JSB);“ – Helmut Dahmer
Freud prognostizierte, die bestehende Gesellschaft werde an einem Übermaß nicht absorbierbarer Destruktivität zugrundegehen. (sofern nicht »Eros« interveniere (Eros ist nicht Ficken, sondern Caritas. Anm. JSB)).
„Wer dem Kult der »Werte« frönt, kann unsanft erwachen, wenn im Kampf der Klassen und Parteien, von dem er sich fernhält, Gruppen obsiegen, auf deren Programm eine »Umwertung der Werte«, z. B. die Aufwertung von »Unwerten« steht.“ – Helmut Dahmer
»Hinsichtlich der allgemeinen nervlichen Belastung wirkte die Lage im Dritten Reich auf den psychischen Zustand des Volkes ziemlich ambivalent. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Machtergreifung zu einer weitverbreiteten Verbesserung der emotionalen Gesundheit führte.Das war nicht nur ein Ergebnis des Wirtschaftsaufschwungs, sondern auch der Tatsache, daß sich viele Deutsche in erhöhtem Maße mit den nationalen Zielen identifizierten. Diese Wirkung ähnelte der, die Kriege normalerweise auf das Auftreten von Selbstmorden und Depressionen haben. (Das Deutschland der Nazizeit verzeichnete diese Erscheinung zweimal: nämlich 1933 und 1939.) Aber gleichzeitig führte das intensivere Lebensgefühl, das von der ständigen Stimulierung der Massenemotionen herrührte, auch zu einer größeren Schwäche gegenüber dem Trinken, Rauchen und Vergnügungen« – Richard Grunberger
Von Anfang an hatte Hitlers Regime auch den Anstrich der Rechtmäßigkeit
„Die psychiatrischen Truppen der »kaiserlichen deutschen Psychiatrie« (Alexander und Selesnick, 1966, S. 214) jedoch, die 1914 ins Feld zogen, bekriegten immer noch die Krankheit, den äußeren Eindringling in ein gesundes System, und nicht die Neurose, das innere Ungleichgewicht zwischen Psychodynamik, Umwelt und Geschichte.“ – Geoffrey C. Cocks (Diese Einstellung herrscht bis heute in der deutschen Psychotherapie und findet explosionsartige Vermehrung im KOnzept der sog. „Traumatisierung“. Anm- JSB)
Der Plural hat kein Geschlecht.
„Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“ -Albert Einstein
„Der psychoanalytische Beitrag zur Sozialpsychologie der jüngsten Vergangenheit (und Gegenwart Anm.JSB) und ihrer Verarbeitung ist heute ebenso unerwünscht wie die Libidotheorie zu Anfang des Jahrhunderts.“ – I.Kaminer
»Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom >freien Ausleben< der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, daß die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit.« – Sigmund Feud, Gesammelte Schriften«, Band XI, S. 201 ff.)
Liebe: nur bestenfalls eine Mutter akzeptiert ihr Kind, so wie es ist, ansonsten muß man Erwartungen anderer erfüllen, um akzeptiert zu werden.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein soziales Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein soziales Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
„Ich bin eine Feministin. Das bedeutet, daß ich extrem stark behaart bin und daß und ich alle Männer haße, sowohl einzelne als auch alle zusammen, ohne Ausnahmen.“– Bridget Christie
„Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoß der Persönlichkeit mit dem Kollektiv.“ – LeoTrotzki 1923
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.
„We needdamagedbuildings, so you can seethroughtheircrackedwallsto winat least one viewpoint to startto begin to think.“ –VictorTausk
„What good is health if you are an idiot then?“ – Theodor Adorno
„What one must be judged by, scholar or no, is not particularised knowledge but one’s total harvest of thinking, feeling, living and observing human beings.“ (…) „While the practice of poetry need not in itself confer wisdom or accumulate knowledge, it ought at least to train the mind in one habit of universal value: that of analysing the meanings of words: of those that one employs oneself, as well as the words of others. (…) what we have is not democracy, but financial oligarchy. (…) Mr. Christopher Dawson considers that “what the non-dictatorial States stand for today is not Liberalism but Democracy,” and goes on to foretell the advent in these States of a kind of totalitarian democracy. I agree with his prediction. (…) That Liberalism is something which tends to release energy rather than accumulate it, to relax, rather than to fortify. (…) A good prose cannot be written by a people without convictions. (..) The fundamental objection to fascist doctrine, the one which we conceal from ourselves because it might condemn ourselves as well, is that it is pagan. (..) The tendency of unlimited industrialism is to create bodies of men and women—of all classes—detached from tradition, alienated from religion and susceptible to mass suggestion: in other words, a mob. And a mob will be no less a mob if it is well fed, well clothed, well housed, and well disciplined. (…) The rulers and would-be rulers of modern states may be divided into three kinds, in a classification which cuts across the division of fascism, communism and democracy. (…) Our preoccupation with foreign politics during the last few years has induced a surface complacency rather than a consistent attempt at self-examination of conscience. (…) What is more depressing still is the thought that only fear or jealousy of foreign success can alarm us about the health of our own nation; that only through this anxiety can we see such things as depopulation, malnutrition, moral deterioration, the decay of agriculture, as evils at all. And what is worst of all is to advocate Christianity, not because it is true, but because it might be beneficial. (…) To justify Christianity because it provides a foundation of morality, instead of showing the necessity of Christian morality from the truth of Christianity, is a very dangerous inversion; and we may reflect, that a good deal of the attention of totalitarian states has been devoted, with a steadiness of purpose not always found in democracies, to providing their national life with a foundation of morality—the wrong kind perhaps, but a good deal more of it. It is not enthusiasm, but dogma, that differentiates a Christian from a pagan society.“ (…) It would perhaps be more natural, as well as in better conformity with the Will of God, if there were more celibates and if those who were married had larger families. (…) We are being made aware that the organisation of society on the principle of private profit, as well as public destruction, is leading both to the deformation of humanity by unregulated industrialism, and to the exhaustion of natural resources, and that a good deal of our material progress is a progress for which succeeding generations may have to pay dearly. I need only mention, as an instance now very much before the public eye, the results of “soil-erosion”—the exploitation of the earth, on a vast scale for two generations, for commercial profit: immediate benefits leading to dearth and desert. I would not have it thought that I condemn a society because of its material ruin, for that would be to make its material success a sufficient test of its excellence; I mean only that a wrong attitude towards nature implies, somewhere, a wrong attitude towards God, and that the consequence is an inevitable doom. For a long enough time we have believed in nothing but the values arising in a mechanised, commercialised, urbanised way of life: it would be as well for us to face the permanent conditions upon which God allows us to live upon this planet. And without sentimentalising the life of the savage, we might practise the humility to observe, in some of the societies upon which we look down as primitive or backward, the operation of a social-religious-artistic complex which we should emulate upon a higher plane. We have been accustomed to regard “progress” as always integral; and have yet to learn that it is only by an effort and a discipline, greater than society has yet seen the need of imposing upon itself, that material knowledge and power is gained without loss of spiritual knowledge and power. “ – T.S.Eliot
“I am a feminist. All this means is that I am extremely hairy and hate all men, both as individuals and collectively, with noexceptions.” – Bridget Christie
Alles Heil, das Motto ist von mir und heißt, das andere bessere Deutschland gibt es nicht. Es gibt die Deutschen und ein paar Menschen, die auch in dieser Gegend leben. Die Deutschen teilen sich rigoros in zwei Hälften. Die eine, die ihre Sentimenz und Ressentimenz im gar nicht weiten Feld zwischen Pegida und den Grünen ausleben und die andere, der die Muffe saust, weil die Abführung ihres inneren Drangs in reale Politik scheiß teuer werden könnte. Das und nicht viel mehr ist der Unterschied zwischen dem, was als rechts und dem, was als links firmiert und sich rauft. Nicht selten auf dieselbe Rechnung wie in dem Fall, wo der Ja-Fleischhauer und der Nein-Augstein miteinander gegen die sinkende Auflage des Spiegel fechten. In diesem Milieu geschieht es, dass ein Abgeordneter der Partei, die den Namen Die Linke usurpiert und damit unbrauchbar gemacht hat, ein heldenhaftes J’accuse ins Plenum ruft, Zitat: „Die Bundestagsmehrheit aus Unionsfraktion und SPD nimmt billigend in Kauf, dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in Europa Schaden zuzufügen, schweren Schaden“. Zola heißt So so lala, dieser wahre Feind der herrschenden Verhältnisse freute sich an jedem Schaden, den das Ansehen des real existierenden Deutschland im Ausland erleidet, um ihn zu mehren, auf das nicht noch mehr europäische Lotsen der Deutschen ohne Gefahr für ihr Ansehen das Ansehen Deutschlands mehren können, an dem eine Welt, der zwei Versuche nicht genügt haben, ein drittes Mal genesen soll. Nicht alle scharwenzeln so liebedienerisch um der Kanzlerin Rockschoss wie der Nippesnapoleon Hollande und Polens McDonald Tusk, von den baltischen Faschos nicht zu reden. Tschechiens Präsident Miloš Zeman etwa begründete seine Zusage an der Moskauer Parade zum Jahrestags des Siegs über die Deutschen teilzunehmen als „Ausdruck der Dankbarkeit dafür, dass wir in diesem Land nicht Deutsch sprechen müssen“. Dass Merkel und ihr resteuropäisches Gesindel dem frechen Tschechen das nicht durchgehen lassen würden, war abzusehen. Zeman musste seine Zusage zurücknehmen. Während die eine Hälfte der Landsleute das deutsche Interesse im Blick hat, das es nur gibt, wenn es ein anderes ist als das der Menschen anderer Länder, ja der Menschheit überhaupt, spricht die andere ihren geliebten Klartext, zeigt klare Kante. Die NPD gab den Ton an: „Wir sind nicht das Sozialamt für die Welt“, die Alternative für Deutschland stimmte ein: „Wir sind nicht das Weltsozialamt“. Horst Seehofer prostete in jedes Festzelt: „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt“ mit dem Zusatz „Das gilt besonders für den Balkan“. Seinen bayerischen Nazis muss man nicht sagen, welche Zigeuner im Besonderen er da meint. Auch die Kanzlerin ist auf Stimmungs- und Stimmenfang nicht zimperlich. „Die EU ist keine Sozialunion“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland rügt: „Eine Rechtsprechung, die Europa als Solidargemeinschaft sieht mit Deutschland als zentralem Sozialamt“. Gute Gelegenheit sich ruhig niederzulassen, wo man denkt: Deutschland, Sozialamt der Welt für den Abschaum, der die Hände aufhält. Ein Lied von Saccara aus Meppen, deren CD-Titel „Sturmfest und erdverwachsen“ jenes Niedersachsen-Lied zitiert, zu dessen Klängen Gerhard Schröder in seinem Wahlkampf 1997 unter dem Motto „Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: Raus und zwar schnell“ in die Festzelte einzog. Die 6,6 Millionen in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass haben 2012 in den Sozialkassen für einen Überschuss von 22 Milliarden Euro gesorgt. Jeder Ausländer zahlt jährlich 3.300 Euro mehr Steuern und an Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält. Man schämt sich dem aufgerufenen Lumpen die Ehre solcher Widerlegung durch Tatsachen zu geben. Vergebene Liebesmüh ist es außerdem, ein Antisemit braucht keine Juden, eine Rassist keine Ausländer. Wo Deutschland 2015 hält, markiert die Zeitung für Deutschland, die ihrem Ressortchef für Innenpolitik nach dem Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim in Tröglitz einen Text druckt, in dem es nach dem peinlichen Eingeständnis, dass auch die NPD Bürgermeister stellt, so weiter geht. Damit es auch in Zukunft davon nicht noch mehr gibt, sollte auch Widerstand von berufener Seite gegen Überforderung und zu viele Flüchtlinge, Migranten, Asylbewerber zulässig sein und nicht sofort verbal niederkartätscht werden, sollten also die Bilder vom verkohlten Tröglitzer Dachstuhl eine Bedeutung haben, dann auch die von der Gefahr allein gelassener ausgebrannter Gemeinden in Deutschland, sonst ist am Ende Tröglitz doch noch überall. Wer die Deutschen mit ihrem Hass allein lässt und ihnen den Widerstand „Jeder Nazi ein Stauffenberg“ gegen die zu vielen Flüchtlinge, Migranten, Asylbewerber, kurz die Undeutschen verargt, muss Verständnis dafür haben, dass sie bald im ganzen Land bekennende Nazis wählen und Häuser, in denen Ausländer leben, niederbrennen. Am Antisemitismus sind die Juden Schuld, am Rassismus die zu vielen Flüchtlinge, die Russen und die Schmarotzer aus dem Süden. „Wer ist gefährlicher? Der Russe oder der Grieche?“ fragt Bild, die FAZ für Hauptschüler. Wer die Antwort weiß, der trete vor, akklamiert die Redakteurin von der Welt, die es zitiert. Die Antwort ist einfach, dass Leute, die so fragen, völkische Beobachter sind und ihr ewiger Feind gleich neben dem Itzik, der Ivan. Nur noch Nazis also überall? Und was wäre das heute ein Nazi? Ist es das Mitglied der NPD, der Pegida, der AfD, der CSU, der CDU, der FDP, im Zweifel auch der SPD, der Grünen, der Linkspartei? Am 07. Mai 1945 hatte Deutschland 50 Millionen Nazis. Am 09. Mai gab es so gut wie keine mehr, der es sein oder gewesen sein wollte. Ihre herzensgute Oma, lieber Leser, Ihr treusorgender Opa, liebe Leserin, waren in neun von zehn Fällen erst irgendwas, dann zwölf Jahre lang Nazis, schließlich Demokraten, ohne je ihre Ansichten geändert zu haben. Nazis in Nicht-Nazi-Zeiten sind nämlich ganz normale deutsche Demokraten, Genossen und Genossinnen des Volks, die sich selber Ottonormalverbraucher, Normalbürger oder ich als Steuerzahler identifizieren und unfreiwillig diffamieren. Bei ganz normalen Deutschen, sagen Demoskopen, genießt die Polizei das größte Ansehen, 84 Prozent, vor dem eigenen Arbeitgeber 75 Prozent. Das geringste Ansehen Wirtschaftsmanager 13 Prozent. Die konkreten eigenen Ausbeuter lieben, die der anderen, die Abstrakten hassen. Gibt es eine knappere Formel für die Ökonomie einer Naziseele? Dass Deutschland ein Naziland sei, kann natürlich nicht sein. Sogar der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland muss das zugeben: „Ich sehe keinen Grund für die hiesigen Juden, Deutschland aus Angst vor Terror und Antisemitismus zu verlassen“. Zwei Seiten weiter ist im selben Blatt zu lesen: Polizisten unter Naziverdacht. Sie hatten einen Weihnachtsbaum mit Hakenkreuzen behängt, ins Internet gestellt, einer mit dem Kommentar „Habe gerade den Weihnachtsschmuck aus dem Keller geholt, alles Heil“. Der erfahrene Objektschützer, wie er genannt wird, hatte bis dahin vor dem amerikanischen Generalkonsulat und einer jüdischen Grundschule im Hamburger Millionärsbezirk Harvestehude Dienst getan, die, wie alle jüdischen Einrichtungen in diesem Land, rund um die Uhr bewacht werden muss. Der Heilbulle ist ein krasser Einzelfall. Wer einmal beobachten durfte, mit welch innerem Widerstand deutsche Polizisten ihren Freunden von der NPD die Straße freiprügeln, wird das gern bestätigen.
Früher galt als mutig, wer ein Revolutionär war, heute reicht es schon, wenn einer seine Meinung behält.
“Jeder fünfte Bewohner des Westjordanlandes ist ein israelischer Siedler”, greint die Generaldelegation Palästinas heute auf ihrer Homepage. Und jeder fünfte Bewohner Israels ist ein palästinensischer Araber. So what?
Nonkonformistische Attitüde und affirmative Inhalte – einer Kombination, die schon immer die linksdeutsche Ideologie gekennzeichnet hat. – Stephan Grigat
Es sind dieselben, die behaupten, das Geschlecht wäre nicht biologisch angeboren, sondern nur ein sozialer Konstrukt, und zugleich daß die Homosexualität kein sozialer Konstrukt wäre, sondern biologisch angeboren.
„Es gibt zwei Dinge“, so wußte Hitler schon 1923, „die die Menschen vereinigen können: gemeinsame Ideale und gemeinsame Kriminalität“ .
Nach der gewaltsamen Beendigung des Mordens durch die Alliierten waren die Deutschen (und sind es bis heute geblieben) noch deutscher als zuvor.
„Der Staat sind wir“: Dies Credo der Sozialdemokratie Ferdinand Lassalles war die Wahrheit der Volksgemeinschaft, und der Nazismus war die vermittlungslose Basisdemokratie der Deutschen.
Die Demokratie der Bürger ist die interessierte Demutsadresse an den autoritären Staat.
„Die deutsche Nation ist das Apriori dieser seltsamen Wissenschaft, die
vorgibt, nichts zu kennen als Quellen, Quellen und nochmals Quellen, nichts als das
lautere Plätschern der Tatsachen und das ungetrübte Sprudeln der Empirie. Die
Quelle aber ist der Historie, was der Jurisprudenz das Indiz: Spielmaterial, bloße
Illustration des Systemzwangs zum Rechtsfrieden, d.h. empirische Legitimation der
vorab existenten letzten Instanz, an der jede Berufung aufhört und jede Revision
endet. Egal, wer Recht hat, solange nur Recht ist; was immer die Quellen sagen,
ein Beweis gegen die Nation wird sich daraus nie und nimmer folgern lassen.“ (…)
„Historische Wahrheit wird nach dem Modell von Meinungsumfragen vorgestellt;
kein Sample jedoch wird je repräsentativ genug sein,
um der deutschen Nation als solcher die Taten der Nazis zuzurechnen.
Die juristische Methode dieser seltsamen Wissenschaft, die sich die Behandlung der
Geschichte anmaßt, weiß so überaus sorgfältig zwischen Intention und Resultat zu
scheiden, daß der einzig noch mögliche Weg historischer Wahrheitsgewinnung, der
allerdings leider ausgeschlossen ist, Psychoanalyse wäre.“ – Joachim Bruhn
Da die Psychoanalyse heute auch nur noch ein korruptes Racket ist, würde sie nicht helfen.
Der Himmel, wenn er sich schon öffnet, zitiert sich am liebsten selbst.
Je verkommener eine menschliche Kreatur, desto eher fühlt sie sich beleidigt, respektlos behandelt, in ihrer Ehre verletzt.
Der religiöse Rassismus der Islamisten, der den völkischen Rassismus der Nazis ersetzt hat, erklärt Allah zum Führer und die Jihadisten zu seiner privilegierten Kampftruppe: Wenn man so will, zu Allahs SS. Der Zusammenhalt dieser Kampftruppe wird über die Jenseitserwartung von Hölle und Paradies, also über das Instrument der religiösen Angst, sichergestellt. Diese Selbstbildfantasie der Islamisten ist mit ihrer (zumeist antijüdischen) Feindbildfantasie untrennbar verknüpft. – Matthias Küntzel
Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des “Lernens aus der Geschichte”; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose “Befreiung der Arbeit” und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren “Antifaschismus” sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert. (…) Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese “Kritiker” der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als “Diktatur des Proletariats”, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die “Diktatur des Proletariats”, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen. (…)
Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an.Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand:Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines “Rassismus” durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden. (…) Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das “aufgelöste Rätsel der Geschichte” begriffen. –
Der ostentative Muslimeifer aber, der sich im Alltag mancher ‚Allahu-Akbar‘-Brüller vielleicht doch sehr in Grenzen hält, findet im blanken Judenhass unverhoffte Nahrung, wo ihnen unter unendlich öden Koranrezitationen und geistlosen, absurden Vorschriften längst das bisschen ungeglaubten Glaubens zwischen den Fingern zerrann und ihr Muslimsein kaum je mehr ist als das typisch dauerbeleidigte, immer schon jeder Verantwortung ledige Gruppengefühl. Überhaupt will jeder Eifer – insbesondere der aktuelle, rasende Eifer des weltweit angreifenden Islam – den Stachel eines weniger drohenden als hinterrücks längst geschehenen Glaubensverlustes kompensieren.“ Mit anderen Worten: Muslime wurden nicht für ihr abstraktes Muslimsein kritisiert, sondern dafür, was – global betrachtet – die Mehrheit konkret darunter versteht: Die von Gott gegebene Ermächtigung zu Terror, Entrechtung, Antisemitismus.Wer differenziert, sollte nicht unerwähnt lassen, dass Osama bin Laden, Hassan Nasrallah und wie all die schrecklichen Figuren so heißen, in der muslimischen Welt als Helden gefeiert werden – und zwar nicht von einer minoritären Sekte, sondern von Millionen Muslimen, auch in Deutschland. (,,) Der unfreiwillige und verborgene Essentialismus der Postmoderne macht das Begreifen unmöglich, weil er die Beziehung zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem nicht mehr zu thematisieren vermag. Wenn nur noch Vielfalt herrscht und Einzelnes und Allgemeines gewaltsam auseinandergerissen werden, bleibt die Verstandesleistung des begreifenden Subjekts auf der Strecke und die scheinbar ursprüngliche Differenz wird zum Mythos. Nicht nur dem Begriff des Allgemeinen, das ja ein noch einzulösendes ist, wird Gewalt angetan, auch dem Besonderen, dessen Unglück darin besteht, nur ein Besonderes zu sein, und das sich, weil es kein versöhnendes Ganzes gibt, dem schlecht-Allgemeinen, dem Racket nämlich, anschließen muss. – JAN HUISKENS
„Vernunft und Rationalität sind in dieser durchmedialisierten Welt chancenloser denn je. Ein unangenehmer Typ „Heckenschütze“ terrorisiert die Gesellschaft. Seine aktuelle Waffe: Der Phobienvorwurf.“ – Bettina Röhl
„Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, mit Wissenschaft sich umgibt, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. […] Je tiefer man ahnt, daß man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, daß man über die Apparatur verfügt.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie und Lehrer, AGS 10.2, 491)
„Vieles, was im Sinne von Foucaults »Mikrophysik der Macht« populär werden sollte; also die Erkenntnis, daß Macht nicht pyramidal hierarchisch, sondern durch sämtliche gesellschaftliche Bereiche hindurch wirkt, findet sich bereits in der Medizinkritik der Kritischen Theorie. Daß diese Thesen häufig übersehen wurden, mag daran liegen, daß sich Horkheimers entscheidende Äußerungen über Medizin und Psychiatrie nicht in den breit rezipierten Hauptwerken finden, sondern über die Gesamtausgabe verstreut sind. Wiemer suchte sie zusammen und zeigt, wie Horkheimer anhand der Medizin einen wesentlichen Charakterzug des modernen Kapitalismus ausmachte. Mediziner funktionieren laut Horkheimer wie fast jede wirtschaftliche Gruppe im Sinne eines Rackets. »Ein Racket«, erklärt er, »ist eine unter sich verschworene Gruppe, die ihre kollektiven Interessen zum Nachteil des Ganzen durchsetzt.« Allgemein betrachtet heißt das, daß sich die Klassengesellschaft in eine »neofeudale« Struktur verwandelt hat, innerhalb der Interessenverbände »nach dem Prinzip der Selbsterhaltung und der Machtakkumulation« funktionieren. Diesen Wandel macht Horkheimer an den Medizinern fest; und alles, was Horkheimer in seiner Kritik aussparte, von den Krankenversicherungen bis zum Pfusch in Krankenhäusern, wird von Carl Wiemer polemisch auf den neuesten Stand gebracht“ – Max Horkheimer
„Ein Shitstorm hat auch seine positive Seite. Da politisch korrekte Gülle meist in Richtung Originalität, Kreativität und Intelligenz geworfen wird, fliegt sie oft genug auf Leute, die zu lesen wirklich lohnt.“ – Evidenz-basierte Ansichten
Eine Frau wird als Frau geboren. ein Mann muß erst ein Mann werden.
Keine Paternalisierung, sondern fortschreitende Maternalisierung. Die Feminisierung und Genderisierug marginalisiert und zerstört die Vaterposition in den modernen »Gesellschaften«, die Vaterrolle erlitt allgemeine Degradierung, die Kanonisierung der Homosexulität im Speziellen und der sexuellen Diversität im Allgemeinen tilgt die noch übriggebliebenen Spuren einer Männlichkeit restlos aus, die nur noch als Schimpfwort der angeblichen „Paternalisierung“ im Jargon der Medien herumgeistert.
Post-Pop-Epoche: der Sieg der Mode über die Sitten.
„Wir brauchen schadhafte Gebäude, durch deren geborstene Wände man hindurch sehen kann, um wenigstens einen Anfang zum Denken zu gewinnen.“ – Victor Tausk
„Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“ – Peter Sloterdijk
„Was nützt einem die Gesundheit wenn man ansonsten ein Idiot ist.“ – Theodor Adorno
They are the samewho claimthe sex/genderwould not bebiologicallyinnate, butonlyasocialconstruct, andat the same timethathomosexualitywas not asocialconstruct, butbiologicallyinnate.
„Reasonandrationalityarechance-less than everinthistotallymediatisedworld. An unpleasanttype„Sniper“ terrorizedsociety. Hiscurrent weapon: Thephobiaaccusation.“ – Bettina Röhl
„AShitstormhas also itspositiveside. Aspolitically correctmanure it isusuallythrowninthe direction oforiginality, creativity and intelligence, she fliesoftentopeople whoare really worth to read.“ – Evidenz-basierte Ansichten
A woman is born as a woman. a man has to become a man.
No paternalization but advancing maternalization. The feminization and genderization marginalized and destroyed the father position in the modern „societies,“ the father role suffered general degradation, the canonization of homosexuality in particular and the sexual diversity generally wipes out the still remaining traces of masculinity completely out, only as an insult haunts the alleged „paternalization“ in the jargon of mass media.
Mit der Parole »Serbien muß sterbien« zogen deutsche und österreichische Soldaten im August 1914 in den Ersten Weltkrieg. Dies geschah keineswegs zufällig oder schlafwandelnd, wie der australische Historiker Christopher Clarke behauptet. Und dies geschah nur vordergründig als Reaktion auf das Attentat auf den österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Seit Ende 1912 plante die deutsche Regierung einen Krieg mit Serbien und wartete auf eine serbische Provokation, um nicht als Kriegsverursacher zu erscheinen. Seit dem ersten Balkankrieg von 1912 galt Serbien im Deutschen Reich als größtes Hindernis für die Realisierung des seit den 1890er Jahren angestrebten zollfreien mitteleuropäischen Großraums unter deutscher Führung. Nach dem Sieg über das Osmanische Reich wollte die selbstbewusster gewordene Belgrader Regierung die Eisenbahnstrecken auf ihrem Gebiet verstaatlichen. Dies hätte eine Blockade der Bagdad-Bahn, dem zentralen Verkehrsprojekt des deutschen Expansionismus bedeutet. Um diesen »Riegel« zu beseitigen, setzte die deutsche Regierung auf Krieg gegen Serbien und seinen Bündnispartner Russland. Der einflussreiche liberale Politiker Friedrich Naumann, bis heute Namensgeber der Parteistiftung der FDP, erklärte das Kriegsziel der deutschen Öffentlichkeit: »Alles, was an der Balkanbahn liegt, liegt an der für uns notwendigen Linie Hamburg-Suez, die wir uns von niemandem dürfen sperren lassen. […] Schon darin liegt, dass das serbische Gebiet nicht als feindliches Kastell innerhalb des mitteleuropäischen Schützengrabenverbandes geduldet werden kann.« Der Badische Beobachter ergänzte 1915: »Bezwingen wir Serbien, dann ist diese Verbindung hergestellt. […] Der Weg Berlin-Wien-Konstantinopel wird nicht nur eine militärische, sondern nach dem Kriege auch eine mächtige Handelsstraße freilegen, auf der wir die Türkei und das unerschlossene Klein-Asien mit unseren Erzeugnissen versorgen könnten.«
Der Geopolitiker und »Orientexperte« Ernst Jäckh aus dem Kreis um Kanzler Bethmann-Hollweg und Naumann sah darin auch die Chance, den großen Handelskonkurrenten Großbritannien zu besiegen: »Der Krieg geht um den Orient (den Landweg Deutschlands in die Welt, den die Einkreisungspolitik uns sperren lassen will).«»Wenn die Berlin-Bagdad-Bahn in diesem Kriege sichergestellt werden kann, dann ist der Untergang Britanniens sowohl in Indien wie auch zur See […] besiegelt.«
Ideologisch unterfüttert wurde diese wirtschaftspolitische Zielsetzung durch den vom Kaiser ausgegebenen Leitsatz eines bevorstehenden Endkampfs zwischen dem Slawen- und dem Germanentum, einer Vorstellung, der viele Deutsche, auch sozialdemokratische und linksorientierte, bereits seit Jahrzehnten anhingen.
Das zentrale Kriegsziel Mitteleuropa
In einen größeren Rahmen stellte Kanzler Bethmann-Hollweg diese Kriegsziele in seinem geheim gehaltenen Septemberprogramm 1914. Darin heißt es: »Das allgemeine Ziel des Krieges: Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann. Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden. Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes […]. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.« Heute ist dieses zentrale deutsche Ziel des Ersten Weltkrieges realisiert. Nicht mehr unter dem Namen »Mitteleuropa«, sondern als Europäische Union.
Popularisiert wurde dieses Ziel einer europäischen Zollunion unter deutscher Hegemonie durch das 1915 veröffentlichte Buch »Mitteleuropa« von Friedrich Naumann. Die Schrift erreichte innerhalb von zwei Jahren eine Auflage von 137.000 Exemplaren und war das am stärksten diskutierte deutsche Buch während des Ersten Weltkrieges. Naumann gab der deutschen Bevölkerung ein greifbares Kriegsziel. Er inspirierte den Glauben, der Krieg könne eine Epoche langfristiger deutscher Prosperität auf der Basis eines Wirtschaftsraums von der Nord- und Ostsee bis zur Adria, dem Schwarzen Meer und dem Persischen Golf einleiten. Den Kern des von der deutschen Wirtschaft bestimmten und gelenkten Großraums »Mitteleuropa« sollten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bilden. 1890 begann unter der Leitung der Deutschen Bank der Bau der Eisenbahnlinie von Berlin nach Bagdad, gleichzeitig gründete sich der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein; seitdem hatten sich die Pläne für das deutsch beherrschte »Mitteleuropa« kontinuierlich ausgeweitet. In den Vorkriegsjahren verband die deutsche Öffentlichkeit mit »Mitteleuropa« einen von der Berliner Regierung kontrollierten Großwirtschaftsraum von Borkum bis Basra, d.h. ein Gebiet, das neben dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, die Staaten Südosteuropas und große Teile des Osmanischen Reiches mit dem heutigen Irak umfassen sollte. Funktionieren sollte dieses Wirtschaftsgebiet ohne Zölle nach der Logik: Das Deutsche Reich produziert Industriegüter, die anderen Staaten liefern, Rohstoffe, Agrarprodukte und billige Arbeitskräfte.
Die Bedeutung des Sieges über Serbien
Nach der Okkupation Serbiens 1915 und der Niederwerfung Rumäniens 1916 war das deutsche »Mitteleuropa«-Projekt militärisch realisiert. Kanzler Bethmann-Hollweg feierte den Sieg über Serbien vor dem Reichstag mit den Worten: »Meine Herren, die Siege in Serbien haben die Donau befreit; Kontakt mit der Türkei ist hergestellt. […] Die Verwirklichung eines freien Weges zum Nahen Osten ist ein Meilenstein in der Geschichte dieses Krieges. […] Importe von Gütern aus den Balkanstaaten und der Türkei sind eine willkommene Ergänzung unserer Ressourcen.«
In der deutschen Zeitschrift Balkan-Revue sah man mit dem Sieg über Serbien die »Mitteleuropa«-Pläne und damit den Aufstieg des Deutschen Reiches zur Weltmacht gesichert: »Die Kornkammern und erzenen Rohstoffe Kleinasiens wie die Erdölfelder Rumäniens bekommen durch diesen gesunden Ausbau eines geschichtlich notwendigen Imperialismus eine für Mitteleuropa geradezu gigantische Bedeutung: Der alte Traum weitsichtiger deutscher Wirtschaftspolitiker, Deutschland durch die Vereinigung mit dem Balkan, dann mit der asiatischen Türkei und mit den Niederungen des Euphrat und Tigris zu verbinden, und damit den Kontinent von Amerika und England in bestimmten Grenzen unabhängig zu machen, beginnt zur Wirklichkeit zu werden. Der Entwicklung der Produktivkräfte sind neue ungeahnte Möglichkeiten gegeben.«
Der spätere tschechoslowakische Präsident Masaryk wies seit 1916 gemeinsam mit britischen und französischen Publizisten in Artikeln und Memoranden auf die Kontinuität des deutschen Drangs nach Osten und Südosten hin. Masaryk erkannte das Hauptziel des deutschen Imperialismus in einer ökonomischen und politischen Union mit Österreich-Ungarn, dem die Balkanstaaten und das Osmanische Reich angeschlossen und untergeordnet werden sollten. Dieser Plan werde mit dem Slogan »Mitteleuropa« umschrieben. Langfristig ziele das »Mitteleuropa«-Konzept auch auf eine Annexion des Baltikums und einiger russischer Provinzen sowie auf eine deutsche Hegemonie über Polen. Wenn das Deutsche Reich dieses Konzept verwirkliche, habe es sein wesentliches Kriegsziel erreicht. Masaryk wandte sich gegen einen Friedensschluss auf der Basis eines deutschen Rückzugs in Westeuropa. Allein die Abtretung Elsass-Lothringens und die Wiederherstellung eines souveränen belgischen Staates könne keine Grundlage für einen dauerhaften Frieden sein, da die deutsche Politik in diesem Fall angesichts des Kriegsverlaufs ihre Hauptziele in Ost- und Südosteuropa sowie im Nahen Osten verwirklicht hätte. Nur der vollständige Sieg der Entente könne das Deutsche Reich dazu zwingen, seinen Plan der Vorherrschaft von der Nordsee bis zum Persischen Golf aufzugeben. Eine unerlässliche Voraussetzung für die Beendigung des deutschen Militarismus und Expansionismus sah Masaryk in der Bildung eines tschechoslowakischen Staates. Ein Zusammenschluss von Tschechen und Slowaken stehe dem Plan Berlin-Bagdad im Wege, denn der kürzeste Weg von Berlin nach Konstantinopel (heute Istanbul) führe über Prag. Als weitere Maßnahme müssten ein polnischer und ein jugoslawischer Staat gegen die deutschen Expansionsabsichten geschaffen werden.Auch US-Präsident Wilson wandte sich in der New York Times vom 15. Juni 1917 ausdrücklich gegen die deutschen »Mitteleuropa«-Pläne, die nach seiner Überzeugung darauf zielten, eine breite Zone deutscher Militärmacht und politischer Kontrolle von Hamburg bis zum Persischen Golf auszudehnen.
Das Konzept des »Ethischen Imperialismus«
Die deutsche Regierung legitimierte derweil ihre Kriegsziele und Kriegserfolge mit einer neuen Ideologie. Maßgeblich wurde sie von Paul Rohrbach aus dem Kreis von Naumann in der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes konzipiert. In einem Artikel der Zeitschrift Deutsche Politik erläuterte Rohrbach im Mai 1917 die Strategie des »Ethischen Imperialismus«. Seine Überschrift war Programm: »Moralische Eroberungspolitik«. Diese solle als ideelle und taktische Kriegswaffe eingesetzt werden und erfüllt diesen Zweck bis heute. Konkret solle sich die deutsche Regierung unter Berufung auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« zum Anwalt der angeblich vom russischen, britischen und französischen Imperialismus unterdrückten »Völker« ernennen, um auf diese Weise unter anderem die Abtrennung des Baltikums von der Sowjetunion, die Schwächung der britischen Hegemonie in Persien und die Zurückdrängung des französischen Einflusses im Osmanischen Reich durchzusetzen. Die Strategie der »moralischen Eroberungspolitik« manifestierte sich in der Denkschrift über den Ethischen Imperialismus, die der letzte Kanzler des Kaiserreiches, Prinz Max von Baden im Frühjahr 1918 unterzeichnete. Zur Zielsetzung hieß es, die Schrift solle dazu beitragen, »die Anerkennung unserer Vormachtstellung im Osten und in Mitteleuropa und unsere Weltgeltung über See sicher im Friedenskongress herauszubringen«. Um dies zu erreichen, wurde folgende Strategie vorgeschlagen: »Eine so ungeheure Kraft, wie wir sie in diesem Krieg entfaltet haben, muss sich vor der Welt ethisch begründen, will sie ertragen werden. Darum müssen wir allgemeine Menschheitsziele in unseren nationalen Willen aufnehmen. […] Kolonisieren heißt Missionieren.« (heute: „Freiheit und Demokratie.“ Anm. JSB)
Revolutionierung und Bündnis mit dem Islamismus
Die deutsche Regierung und die Oberste Heeresleitung versuchten ihre Kriegsziele nicht allein mit militärischen und publizistischen, sondern auch mit geheimdienstlichen Methoden durchzusetzen. Im Mittelpunkt stand dabei das Programm der »Revolutionierung« Russlands in Form der Unterstützung sozialistischer Exilpolitiker und der Schürung des Separatismus der sog. russischen »Randvölker« in Finnland, den baltischen Gebieten, Polen, der Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbeidschan. Paul Rohrbach entwickelte hierfür die Strategie der »Dekomposition« Russlands, d.h. einer völkischen Aufsplitterung des Zarenreiches. Die Militärführung ergänzte diese Strategie im Oktober 1914 mit einem eigenen Exposé. Es enthält folgende Kernpunkte: »a) Russland muss durch die Ukraine von Konstantinopel und den Meerengen zurückgedrängt werden; b) Russland muss durch die Ukraine von den Balkanvölkern getrennt und damit der Weg Berlin-Bagdad gesichert werden.«
Ein weiterer Bestandteil des Revolutionierungsprogramms war die Schwächung der britischen und französischen Hegemonie im Nahen und Fernen Osten durch Bündnisse mit islamistischen Kräften. Mit diesem Geheimdienstprogramm begründete die Berliner Kriegsregierung eine bis heute fortbestehende Tradition der deutschen Politik. In seinem antibritischen Furor forderte der deutsche Kaiser: »Unsere Konsuln in Türkei und Ägypten, Indien etc. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen.«
Das Bündnis zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich vom 2. August 1914 wurde gerade in Blick auf die Entfesselung einer panislamischen Bewegung abgeschlossen, als deren wichtigstes Mittel der »Heilige Krieg« galt. Für die Umsetzung des »Revolutionierungsprogramms« arbeiteten u.a. Jäckh und Rohrbach in der »Nachrichtenstelle für Auslandsdienst«, die zu Beginn des Krieges aufgebaut wurde, um die deutsche Propagandaarbeit im Ausland aufzubauen. Im Auftrag von Reichsstellen unternahmen sie Vortrags- und Erkundungsreisen nach Ost- und Südosteuropa sowie in das Osmanische Reich und ließen sich mit geheimen Missionen betrauen.Eine weitere zentrale Figur dieses Programms war der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, Freiherr Max von Oppenheim. Dieser hatte bereits 1897 eine Denkschrift über die Möglichkeiten der islamischen Welt für die deutsche Politik verfasst, die den Kaiser 1898 zu seiner grundlegenden Rede in Damaskus inspirierte. Dabei erklärte er sich zum Schutzherrn von 300 Millionen Mohammedanern. Oppenheim sah 1897 im Bündnis mit Islamisten große Chancen für eine künftige deutsche Weltmachtpolitik. Er schrieb z.B.: »Die mohammedanischen Algerier und Tunesier, von Hass gegen Frankreich beseelt, sehnen sich nach Befreiung.« Vorgesehen war 1914 die Aufwiegelung der islamischen Bevölkerung gegen Großbritannien und Frankreich in Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Syrien, Arabien (dem heutigen Saudi-Arabien), Ägypten, Persien (dem heutigen Iran), Afghanistan und Indien. Während die hier entstehende Kooperation mit islamistischen Bewegungen bis 1918 noch keine kurzfristigen Erfolge für den deutschen Griff nach der Weltmacht zeitigte, spiegeln sich die Ziele des Revolutionierungsprogramms gegen Russland im sowjetischen Kapitulationsvertrag von Brest-Litowsk vom 3.März 1918 wider. Infolge von Hunger und Kriegsmüdigkeit der russischen Bevölkerung war es 1917 zur Oktoberrevolution und der Kapitulation der Sowjetunion im Ersten Weltkrieg gekommen. Im Vertrag von Brest-Litowsk mit dem Deutschen Reich verzichtete die Moskauer Regierung auf alle Ansprüche auf das Baltikum, die Ukraine, Finnland und Polen. Damit war das Ziel des »Septemberprogramms«, die Herrschaft der russischen Regierung über die nichtrussischen »Vasallenvölker« zu brechen, realisiert.
Die Folgen der deutschen Kriegsniederlage
Doch Vertreter der Schwerindustrie und der Obersten Heeresleitung verlangten darüber hinaus die Eroberung Elsass-Lothringens, die deutsche Kontrolle über Belgien und den Sieg über Frankreich und Großbritannien. Die deshalb erfolgte deutsche Entfesselung des uneingeschränkten U-Bootkrieges führte 1917 zum Kriegseintritt der USA und besiegelte die deutsche Niederlage im November 1918. Die daraufhin von der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff in die Welt gesetzte »Dolchstoßlegende«, d.h. eines angeblichen Verrates des »im Felde unbesiegten« deutschen Heeres durch zivile und demokratische Kräfte, und das beständige deutsche Klagen über die Versailler Friedens- und Reparationsverträge waren wesentliche Faktoren für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Das Sich-Nicht-Abfinden mit der Niederlage führte zum erneuten Griff nach der Weltmacht im Zweiten Weltkrieg. Die infolge der Nachkriegsverträge proklamierten neuen Staaten Tschechoslowakei und Jugoslawien entstanden nicht zuletzt als Hindernis für einen erneuten deutschen Expansionismus nach Ost- und Südosteuropa sowie dem Nahen Osten.
Der nachträgliche (oder: späte) deutsche Sieg im Ersten Weltkrieg
1992 erreichte das wiedervereinigte Deutschland dann doch die Revidierung europäischer Grenzziehungen der Friedensverträge von 1919. Trotz deutlicher Warnungen des UN-Generalsekretärs, des britischen Vermittlers der EU Lord Carrington und der US-Regierung vor einem Krieg in Bosnien-Herzegowina infolge einer Aufsplitterung Jugoslawiens förderte die deutsche Regierung den Separatismus und setzte die rechtswidrige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens gegen alle Widerstände und alle Vernunft durch. In einem Brief vom 14. Dezember 1991 schrieb UN-Generalsekretär Perez de Cuellar an den deutschen Außenminister Genscher: »Ich hoffe, dass Sie die große Besorgnis der Präsidenten von Bosnien-Herzegowina und Mazedonien sowie vieler anderer zur Kenntnis genommen haben, wonach eine vorzeitige selektive Anerkennung die Ausweitung des gegenwärtigen Konflikts auf diese politisch hochgradig sensiblen Gebiete nach sich ziehen könnte. Eine solche Entwicklung könnte schwerwiegende Konsequenzen für den gesamten Balkan haben…«. Doch trotz dieser klaren Hinweise, dass die deutsche Politik einen Krieg in Bosnien-Herzegowina provozierte, setzte Genscher am 16. Dezember 1991 bei der »Mutter aller Schlachten«, wie ein Berater von ihm die dramatische Nachtsitzung der EU-Außenminister in Brüssel nannte, die völkerrechtliche Anerkennung Kroatiens und Sloweniens von Seiten der EU und damit die Zerstörung Jugoslawiens durch. Später wurde bekannt, dass die deutsche Regierung den Anerkennungsbeschluss nicht allein mit List und Tücke erreichte, sondern mit ökonomischen Mitteln erkauft hatte. Frankreich hatte sie im Vorfeld Unterstützung in der Auseinandersetzung um Agrarsubventionen mit den USA zugesichert, Großbritannien erhielt eine Ausnahmeregelung für die Sozialklauseln der Maastrichter Verträge und Griechenland, Portugal, Spanien und Irland Zusagen für erhöhte deutsche Zahlungen an den EU-Ausgleichsfonds. Im April 1992 begann der provozierte Krieg in Bosnien-Herzegowina. Eine Anklage Kohls und Genschers vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag blieb jedoch aus. 1995 besiegelte der Friedensvertrag von Dayton ein erneutes Protektorat über Bosnien-Herzegowina, das nach dem Berliner Vertrag von 1878 bereits einmal 40 Jahre bestanden hatte und mit dem Attentat von Sarajevo zum Ausgangspunkt des Ersten Weltkrieges wurde. Der dritte deutsche Angriff auf Belgrad nach 1915 und 1941 besiegelte während des Kosovokrieges 1999 die endgültige Zerschlagung des multikulturellen Jugoslawiens nach den deutschen Vorgaben völkischer Separierung. Vorangegangen war die in der Tradition der »Revolutionierungspolitik« von 1914 stehende Aufstandsaufwiegelung durch die deutsche Unterstützung der kosovo-albanischen Terrorgruppe UCK, die heute die Regierung in Pristina stellen darf. Gleichzeitig war die deutsche Beteiligung am NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999 die erste deutsche Militärintervention nach 1945, durchgesetzt und zu verantworten von der rot-grünen Schröder/Fischer-Regierung. Verteidigungsminister Scharping erfand einen Hufeisenplan zur Untermauerung der angeblichen serbischen Kriegslüsternheit. Derweil redete Joschka Fischer als Wiedergänger Paul Rohrbachs und dessen »moralischer Eroberungspolitik« von serbischen Menschenrechtsverletzungen und relativierte den Holocaust, indem er ein drohendes neues Auschwitz durch die Milosevic-Regierung halluzinierte. Auf dieser Grundlage eines neuen Ethischen Imperialismus durften deutsche Soldaten wieder in den Krieg ziehen.
Mit der Aufteilung der CSSR in Tschechien und die Slowakei, der von Deutschland durchgesetzten Zerschlagung Jugoslawiens und der Auflösung der Sowjetunion sind alle nach dem Ersten Weltkrieg errichteten Hindernisse für einen deutschen Expansionismus nach Ost- und Südosteuropa verschwunden. Die Ziele des Septemberprogramms von 1914 und des Vertrages von Brest-Litowsk wurden so 80 Jahre später erreicht. Auf dieser Basis und mit der anschließenden Osterweiterung der Europäischen Union wurde Deutschland zur unbestrittenen Führungsmacht eines seit 1890 angestrebten zollfreien Großraums in Europa. Nur mit dem Russland Putins kommt es zuweilen zu Scharmützeln um die Hegemonie in einzelnen osteuropäischen Staaten, wie aktuell in der Ukraine zu beobachten.
Die aktuelle deutsche Hegemonie in Europa
Heute geht es, anders als zu Zeiten des Ersten Weltkrieges, nicht so sehr um einen deutschen Griff auf die Rohstoffe und Agrarprodukte Ost- und Südosteuropas. Es geht jedoch weiterhin darum, sich diese Staaten als Absatzmärkte und Reservoir billiger Arbeitskräfte für den Exportweltmeister Deutschland zu sichern und deren eigenständige, konkurrenzfähige Industrialisierung zu verhindern.
Von 2009 bis 2011 betrug Deutschlands Exportüberschuss, der die Übernahme fremder Produktion anzeigt, gegenüber der Eurozone 255 Milliarden Euro. Mit seinen Handelsüberschüssen und einer schwach gehaltenen Binnenkonjunktur verstärkt Deutschland beständig die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa. Im September 2013 erreichten die Überschüsse der deutschen Exporte über die Importe mit 20,4 Milliarden Euro einen neuen Höchstwert. Die Folge der aggressiven deutschen Exportpolitik und des deutschen Preis- und Lohndumpings ist die hohe Verschuldung der Staaten Süd- und Südosteuropas, die wie im Fall Griechenlands zu deren Zahlungsunfähigkeit führt. Diese Wirtschaftspolitik und die dann unter deutscher Führung verordneten Strukturanpassungsprogramme der EU führen zur weiteren Deindustrialisierung dieser Länder, zu exorbitant hohen Arbeitslosenraten und zur weiteren Verarmung der Bevölkerung.
1994 drohte die Fraktion der Regierungsparteien CDU und CSU unter Beteiligung des heutigen Finanzministers Schäuble Frankreich, Großbritannien und anderen Regierungen, die bei der EU-Osterweiterung zögerten: »Ohne eine solche Weiterentwicklung der europäischen Integration könne Deutschland aufgefordert werden […], die Stabilisierung des östlichen Europa und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.« Mit anderen Worten: Wenn Ihr Euch unseren Expansionsplänen nicht friedlich unterordnet, könnten wir uns gezwungen sehen, wieder zum traditionellen Mittel des Krieges zu greifen. Doch vorerst hat Deutschland sein altes Kriegsziel einer Hegemonie in Europa mit wirtschaftlichen Mitteln durchgesetzt.
Nicht in Athen, Madrid oder Lissabon, ja nicht einmal in Brüssel wird heute entschieden, wie viele spanische Arbeiter zu entlassen sind, wie viele griechische Staatsbetriebe zu privatisieren und welche portugiesischen Unternehmen geschlossen oder aufgekauft werden. All dies sind letztendlich Ergebnisse bzw. Diktate der Berliner Hegemonialpolitik. Und in Wolfsburg wird entschieden, ob ein spanischer, tschechischer oder serbischer Autokonzern liquidiert oder als Dependance bzw. Zulieferbetrieb von Volkswagen weitergeführt wird. Im Falle des serbischen Autokonzerns Zastava beschleunigte eine NATO-Bombe 1999 die Entscheidung zur Schließung. Für das Jahr 2014 erwartet das IFO Institut für Wirtschaftsforschung ein kräftiges Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 1,9 Prozent. »Das ist ein Geschenk vom Weihnachtsmann«, sagte IFO-Chef Hans-Werner Sinn. Doch nicht der Weihnachtsmann, sondern die Abhängigkeit der übrigen EU-Staaten vom deutschen Markt beschert diesem das Wachstum auf Kosten aller anderen, z.B. einer Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern Europas von fünfzig Prozent. Heute traut sich keine europäische Regierung mehr Entschädigungs- und Reparationszahlungen für die Massaker und Schäden der beiden Weltkriege gegenüber der Berliner Regierung einzufordern, obwohl längst nicht alle deutschen Schulden beglichen sind und deutsche Zahlungen wesentlich zur Entschuldung im südlichen Europa beitragen könnten.
Stattdessen rückt mit der von Präsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar erhobenen Forderung nach einer stärkeren und selbstbewussteren deutschen Militärmacht in der Welt nun auch diese Option und die damit verbundene, bereits im Ersten Weltkrieg geplante Verdrängung Frankreichs als Hegemonialmacht in Nord- und Zentralafrika wieder ins Visier der Berliner Politik. Deutschland hat den Ersten Weltkrieg heute nachträglich gewonnen. Ost- und Südosteuropa sind deutscher »Ergänzungsraum«, halbkolonialer Hinterhof und Informal Empire der Berliner Republik. Was sie 1914-1918 mit militärischen Mitteln nicht erreichte, fällt ihr heute mit kapitalistischen Mitteln quasi in den Schoß. Offen bleiben aktuell vor allem zwei Fragen: Ob sich die ukrainische Bevölkerung für die Unterwerfung unter Deutschland oder Russland entscheidet und welche Gefahren Israel und anderen Staaten langfristig von der deutschen Bündnis- bzw. Appeasement-Politik mit Islamisten wie den Wahabiten in Saudi Arabien, den Muslimbrüdern in Ägypten und dem iranischen Mullah-Regime drohen.
~ Von Klaus Thörner.
Vgl. Klaus Thörner, »Der ganze Südosten ist unser Hinterland«. Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Freiburg 2008, 239.
Friedrich Naumann, Werke, herausgegeben von Theodor Schieder, Köln/Opladen 1964, Bd. 4, 828 f., 834.
Zit. nach Salomon Grumbach (Hrsg.), Das annexionistische Deutschland. Eine Sammlung von Dokumenten, die seit dem 4. August 1914 in Deutschland öffentlich oder geheim verbreitet wurden, Lausanne 1917, 199.
Ernst Jäckh, Bukarest-Saloniki, in: Deutsche Politik 37, 8.9.1916.
Ernst Jäckh, Die Wendung im Orient, in: Deutsche Politik 45, 8.11.1918.
Zit. nach Wolfgang Schumann/Ludwig Nestler (Hrsg.), Weltherrschaft im Visier. Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945, Dokument 26, 86 ff.
Zit. nach Henry Cord Meyer, Mitteleuropa in German thought and action, The Hague 1955, 219.
Balkan-Revue, Jg.2, 1915/16, 379 ff.
Vgl. Thörner, Hinterland, 289 f.
Meyer, Mitteleuropa, 5.
Vgl. Thörner, Hinterland, 304 f.
Zit. nach Reinhard Opitz (Hrsg.), Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977, 423.
Ebd., 433, 436.
Zit. nach Fritz Fischer, Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Bewältigung eines historischen Tabus, Düsseldorf 1977, 180.
Zit. nach Fritz Fischer, Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild, 162.
Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 4. Aufl., Düsseldorf 1971, 144.
Vgl. Fischer, Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild, 161, 185.
Zit. nach Fischer, Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild, 185.
Ebd. 161.
»Genscher widerspricht Perez de Cuellar«, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung vom 16. Dezember 1991.
»Ein großer Erfolg für uns«, in: Der Spiegel 52 (1991).
Vgl. Andreas Zumach, »Deutsche Balkanpolitik unter Beschuss«, in: Tageszeitung vom 21. Juni 1993.
Vgl. Rainer Trampert, »An die Wand gedeutscht. Deutsche Hegemonie in Europa«, in: Jungle World 16 (2013); ders., »Deutsche Exporte unter der Lupe«, in: Nordwest-Zeitung vom 11.November 2013.
Zit. nach: konkret 4 (2003), 23.
»Experten verbreiten Optimismus für 2014«, in: Nordwest-Zeitung vom 18. Dezember 2013.
Das Schöne am Euro war, dass die Gewinner immerzu gewinnen konnten, ohne dass ihnen gleich die Quittung präsentiert wurde. Denn sie verdienen ja am Ausland, was heißt, eigentlich ein im Maße des Verdienens zunehmend schlechtes Geld – das ist durch den Euro aufgehoben worden: Man konnte ständig an einer anderen Nation verdienen, ohne dass das Geld dieser Nation darunter gelitten hat, weil sie gar kein eigenes hat. Der Wert dieses Geldes repräsentiert nicht die Leistungsfähigkeit dieser Nation. So hat der Euro von dem innereuropäischen Verdienen aneinander sogar noch gelebt; er hat vor der Krise absurderweise nur den Konkurrenzerfolg der Gewinner repräsentiert.
— Das ist ja mit der Idylle charakterisiert. Dass zunächst mal alle Seiten Gewinner des neu eingeführten Euro waren. Auch die, die ihre vergleichsweise Weichwährung gegen den Euro getauscht haben und damit auf einen Schlag Kredit zu ganz anderen Konditionen und Möglichkeiten hatten. Insofern waren die späteren Verlierer erst mal auch Gewinner.
Das ist etwas anderes als zu sagen: Die konnten über ihre Verhältnisse leben. Die haben Kredit gehabt und diese für sie günstige Bedingung so eingesetzt, dass sie möglichst viel Wachstum in ihrem Land geschafft haben. Sie haben ihn benutzt, um neue Projekte aufzuziehen, und nicht einfach den Rentnern geschenkt.
Worüber Staaten verfügen, wenn ihnen ihre Kreditwürdigkeit flöten geht, ist normalerweise ihre Geldhoheit. Wenn man an eine intakte Souveränität (also nicht gleich an Afrika) denkt, dann ist sie auf jeden Fall in der Lage, ihre Gesellschaft zu nötigen, das gesetzliche Zahlungsmittel als die letztlich und einzig gültige Form des ökonomischen Reichtums zu handhaben. Das vermag eine Staatsgewalt immer. Sie verschafft sich damit die Position, das Geld „zu drucken“, was den Pferdefuß hat, dass es verfällt.
Man kann es auch umdrehen und sagen, normalerweise bringt die Krise den Sachverhalt an den Tag, dass die Länder bei weitem nicht in der Lage sind, den kapitalistischen Reichtum zu reproduzieren, auf den hin sie sich verschuldet haben und von dem sie leben. Das passiert in Form des Wertverfalls ihres eignen Kreditgeldes. Das findet im Euro-Raum nicht statt.
Außerhalb des Euro-Raumes verfügen schwache Länder ja noch über das eigene Geld. Dass die Währung verfällt ist eine Folge davon. Es ist nicht so, dass sie das Geld entwerten wollen; Währungsverfall ist nicht ihr Zweck. Nein, sie wollen über das Geld verfügen und die Konsequenz davon ist die Entwertung ihres Geldes.
Die Geldhoheit steht den Euro-Krisen-Ländern nicht zu Gebot, die haben kein eigenes Geld, deswegen nimmt bei denen diese Kredit- und Schuldenkrise nicht die Form der Geldentwertung, sondern die Form des Geldmangels an.
Sie können, wenn es so weiter läuft, ihre Beamten nicht bezahlen und alle anderen Ausgaben nicht mehr tätigen, weil sie kein Geld haben. Wenn sie nach wie vor ihre Geldhoheit hätten, würden sie denen ihre Drachmen geben.
Die wären zwar nichts wert, die Bevölkerung wäre damit auch nicht glücklich, aber der Staat würde weiter seine Wirtschaft am Laufen halten. Über diese Fähigkeit verfügt Griechenland nicht mehr.
Es wird klargestellt, dass der Standpunkt der EZB – Wir machen Inflation, weil die gehört zum Wachstum, und wenn mangelndes Wachstum an mangelnder Inflation liegt, können wir die erzeugen – ein, ihrer Politik hinzugefügter, idealistischer Instrumentalismus ist. In Wirklichkeit folgen sie einer ganz anderen, viel elementareren Notwendigkeit, nämlich überhaupt dafür zu sorgen, dass in Europa die Staaten weiter über Geld verfügen. Sie monetarisieren die Staatsschulden, die von sich aus nicht mehr marktgängig sind. Dass die EZB dem Standpunkt dieser Notwendigkeit folgt, liegt daran, dass keine andere Instanz das mehr kann, die Staaten verfügen nicht mehr über ein eigenes Geld. Das wird negativ in der Krise geltend gemacht, so dass sie nicht einfach das Geld selber drucken können, wenn sie keinen Kredit mehr haben. Das war ja das, was immer für den Euro gesprochen hat: Er ist nicht hemmungslos einfach im Sinne der Benutzung der Geldhoheit zu gebrauchen von allen, die mit ihm und in ihm konkurrieren. Das war seine Güte. Das macht sich jetzt andersherum geltend.
— Wenn Griechenland kein Geld mehr hat, ist es aus eigener Kraft zu gar nichts mehr imstande. Das ist das Resultat, bei dem aufgedeckt wird, damit haben sie jedes eigene Mittel, in dieser Krise irgendwas zu machen, verloren. Sie sind angewiesen darauf, dass die andere Seite ihnen das Geld gibt.
— Die Griechen können kein Geld drucken, weil das im Euro anders reglementiert ist. Am (griechischen) Euro ist zwar noch die Akropolis drauf, aber es ist nicht ihr eigenes Geld. Euros herauszugeben ist, wie jetzt, in großem Maße, EZB-Aktion.
Die EZB ist das Subjekt, nicht Griechenland, und sie sortiert, wem sie zu welchen Bedingungen die Kredite gibt.
(Griechenlands Staatsschulden sind bei dem neuen Billionen-Aufkaufprogramm der EZB nicht dabei.)
In den Zeiten der Idylle war der Euro stark, weil diese einseitigen Verdienstverhältnisse im Euro für das Finanzkapital Sphäre und Mittel des Verdienstes war. Kriterium dafür waren die Erfolge der Gewinner. So hatten auch die (relativen) Verlierer Kredit, für den nicht sie, sondern die Gewinner der Grund waren. Jetzt in der Krise stellt sich das Finanzkapital zu seinen Kreditgeschäften mit den Krisenländern so, dass es diese ziemlich durchweg für prekär hält und diese Länder als kreditunwürdig einstuft – eben mit der Konsequenz: die haben nicht nur keinen Kredit, sondern auch kein Geld mehr.
Dem steht gegenüber (nach wie vor und wieder neu): Die Staatsschulden der wenigen Länder, die von den anderen profitiert haben – allen voran Deutschland –‚ erfahren mangels Alternative eine relative Aufwertung.
Was ist die Idylle gewesen, die die Finanzkrise zerstört hat?
— Die Benutzung des Euro hat sich an den starken Nationen orientiert, so dass auch die schwächeren Nationen den Kredit billiger bekommen konnten, als es der Leistungsfähigkeit ihrer Nationalökonomie entsprochen hat. Dass diese Länder viel mehr an Kreditwürdigkeit hatten, weil die nicht auf sie selbst, sondern auf den gesamten Euroraum bezogen war, wird durch die Krise aufgedeckt. Wenn jetzt diese Länder: Griechenland usw., in ihrer Kreditwürdigkeit an ihrer eigenen Leistungsfähigkeit gemessen werden, bekommen sie ihn nicht mehr zu den gleichen Konditionen wie andere Euro-Länder. Das ist für die die prekäre Stärke.
— Nur erinnert diese Aussage etwas an die Art, wie hierzulande üblicherweise über Griechenland geredet wird:
Die waren eigentlich gar nicht fähig mitzumachen, haben sich reingemogelt, was sich jetzt herausstellen würde.
Der Witz ist doch, dass es Verlierer gibt, ist erst ein Resultat dieses Projekts und nicht der Ausgangspunkt. Im Rahmen der neuen Währung wurde erst einmal Konkurrenz in Gang gesetzt in und um diese neue Währung, die erst den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern produziert hat.
Nein: Gewinner und welche, auf deren Kosten die Gewinne gemacht wurden, hat es schon vorher gegeben. Es gab von vornherein Unterschiede, die den Schwächeren aber nichts ausgemacht haben. Die konnten damit umgehen, auch deswegen, weil sie das Vertrauen des Finanzkapitals in ihren Kredit hatten. Sie haben das als ihren Nutzen gesehen, was sich jetzt in der Krise als Riesennachteil herausstellt. Die Krise bringt nicht erst Gewinner und Verlierer hervor, sondern offenbart das. Wenn ihnen der Kredit entzogen wird, dann stellt sich heraus, dass das, was sie vorher betrieben haben, sich sehr zu ihrem Nachteil ausgewirkt hat.
— Der Vorteil, dass sie 300 Mrd. € an Krediten bekommen haben, stellt sich jetzt, nachdem ihre Schulden neu bewertet werden, als der Nachteil raus. Sie sitzen auf den Krediten und können sie nicht bedienen.
Die hatten eben nicht einfach nur mehr Kredit, als sie selbst auf sich gestellt gehabt hätten, sondern diesem quantitativen Verhältnis lag ein qualitatives zugrunde. Die Idylle des Euro hat darin bestanden, dass diese Länder diesen hohen Umfang an Kreditwürdigkeit genossen haben, weil es nicht ihr Kredit war, nicht das Geld ihres Kredits, nicht ihr Nationalkredit. Der Euro ist das nationale Kreditgeld von allen, die mitmachen, also von keinem. Und ausgerechnet das haben sie positiv zu spüren bekommen und benutzt: Sie waren in einer Weise verschuldungsfähig,
die alles überschreitet, was Ökonomien ihrer Größe eigentlich an Kredit zukommt, und ohne dass es das Geld ad absurdum führt.
— Die europäische Staatsräson beruht nicht darauf, dass eine europäische Nation den Willen der anderen bricht. Aber an diesem Punkt sind sie angelangt bei der Notwendigkeit zu beweisen, dass sie in der Lage sind, fremde Souveränität (Griechenland) zu brechen, als die einzige Art und Weise wie sie für sich die Souveränität behaupten und den Laden zusammenhalten können.
— Mit dem Kredit, den die unterlegenen Länder beanspruchen, können sie versuchen, die eigene Konkurrenzposition zu Lasten anderer Staaten zu verschieben. Aus diesem Grund hat der Gewinner der Konkurrenz (Deutschland) kein Interesse, Kredit auszugeben für die Stärkung Griechenlands. (…)Das zuvor Gesagte betrifft mehr das Verhältnis der Nationen innerhalb Europas, dass durch die Zunahme der ökonomischen Stärke der bisher schwachen Nationen die relative Stärke Deutschlands abnimmt.
Das erste ist, ganz allgemein zu sagen, Deutschland hat kein Interesse, den starken Euro als Konkurrenzunternehmen zum Dollar zu gefährden. Und zweitens hat es kein Interesse, an seiner speziellen Konkurrenzsituation innerhalb Europas und in der Welt durch die Schwächung des Euro etwas ändern zu lassen.
— Das ist die offizielle Lüge dazu, dass die selbstverschuldeten Defizite der Grund seien, dass die wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen.Der Standpunkt dahinter ist, dass deutscher Kredit nicht für die schwachen Nationen verschleudert werden soll. Dabei ist es umgekehrt: die Defizite der Krisenstaaten wachsen gerade wegen der deutschen Erfolge.
(…) Also der Reichtum, den sie angehäuft haben, ist auch ein Zugriffsmittel auf fremden Reichtum. Das sind die widersprüchlichen Seiten bei einer Währung: Für den Export wäre es günstiger, wenn sie nicht so stark wäre, andererseits gibt es das Interesse an einem hohen Kurs, eben weil der das Zugriffsmittel ist. (…) also besteht die Gefahr, dass der Euro tatsächlich irgendwann einmal auch nur deren Zahlungsunfähigkeit repräsentiert.
— Ich verstehe den Satz so: Die Sorge um den Wert des Euro, dass der in Gefahr gerät durch die Unmenge von Schulden, die geschöpft werden, ist identisch mit dem Konkurrenzstandpunkt der Gewinnernationen unter den EU-Mitgliedsstaaten. Um die Erhaltung dieses Werts gibt es den Streit – die Gewinnernationen wollen den Wert erhalten und stärken, weil auch der Reichtum, den sie angehäuft haben, in Euro gemessen wird – das heißt 1., deren Reichtum würde entwertet werden und 2. geht es um die Stärke dieses Geldes, „mit dem sie in der weltweiten Konkurrenz noch allerhand vorhaben“.
Also der Reichtum, den sie angehäuft haben, ist auch ein Zugriffsmittel auf fremden Reichtum. Das sind die widersprüchlichen Seiten bei einer Währung: Für den Export wäre es günstiger, wenn sie nicht so stark wäre, andererseits gibt es das Interesse an einem hohen Kurs, eben weil der das Zugriffsmittel ist.
— Letzter Diskussionsstand war, dass auch die Verliererstaaten die Standortkonkurrenz nicht aufgeben, sie brauchen und wollen Kredit. Dazu ist das Argument, dass da etwas dran ist, wenn diese Staaten das Programm der EZB mit dem Argument begrüßen, dass ein schwacher Euro gut für den Export wäre, denn ein schwächerer Euro verbilligt die produzierten Waren im Ausland ganz ohne Produktivitätssteigerung. Falsch liegen sie darin, dass, wenn dieser schwache Euro durch ein Überangebot durch Euros zustande kommt, dies eine dauerhafte Schwächung bewirken würde, weil sie eben nur durch geldpolitische ‚Manipulation‘ erzielt ist. Dadurch wird zweitens keine dauerhafte Verbesserung der Konkurrenzsituation erreicht, im Wirtschaftsteil der Zeitungen sorgt man sich um den fehlenden ‚Innovationsdruck‘, der sich auf Dauer wieder nachteilig auswirken könnte. Und drittens kommt dieser schwache Euro gar nicht so sehr den schwachen Staaten zugute, weil diese gar nicht die fürs Euro-Ausland interessanten Produkte anzubieten haben. So hat jetzt Deutschland einen Exportboom nach dem anderen.
— Ob die Schwächung des Euro dauerhaft ist, weiß man nicht. Es wird darauf hingewiesen, dass ein schlechter Wechselkurs (im Normalfall) Resultat z. B. einer schlechten Konkurrenzsituation ist, aber nicht selber eine Produktivkraft, auch nicht, wenn man ihn künstlich herstellt.
Der erste Beitrag sagt, der Wechselkurs sei ein unsicheres Mittel, hier wird gesagt, der Wechselkurs ist ein Ausdruck fehlender Produktivkraft. Dies ist die Erklärung der Situation, des ökonomischen Zustands. Politiker und Finanzgurus dagegen suchen aus ihrer funktionalistischen Sicht nach Maßnahmen.
Die beiden Ebenen sind nicht zu vermischen: Das Eine ist, den Widerspruch des staatlichen Anspruchs zu bestimmen, mit der Verfügung über Kredit die Krise zu bewältigen. Das ist etwas anderes als die Einwände, die die sich dann wechselseitig machen. Wenn deutsche Zeitungen schlaumeiern, dass das ein Strohfeuer sei und den notorischen Reformverweigerern nur Luft verschafft bei ihrer Verweigerungshaltung, handelt es sich um ein instrumentelles Argumentieren, das seinen Grund nicht in den VWL-mäßigen Auffassungen hat, sondern als Wirkungen und Wirkungsketten ausgedrückte politische Standpunkte sind, die von ganz woanders herkommen. Auch bei dem Argument, dass ein schwächerer Euro nicht den geringen Produktivitätsstatus bei z. B. Griechenland ändert, wird dann nur immanent weitergedacht, wenn es heißt, dass dadurch sicherlich nicht Griechenland zu den ersten Gewinnern von verstärkten Exportgeschäften gehört.
Das Sinken der Währung hat auch eine Kehrseite. Es ist erstens Ausdruck einer mangelhaften ökonomischen Stärke einer Nation und zweitens hat es auch eine negative Wirkung auf die Nation.
— Es ist doch ein Widerspruch, dass ausgerechnet die Tatsache, dass der Reichtum einer Nation weniger wert ist, (und sich seine Zugriffsmacht verringert) ein Hebel dafür sein soll, mehr Reichtum zu schaffen. Und das gilt sowohl für Deutschland wie auch für Griechenland.
Nun zur Gegenposition Deutschlands:
— Dem, dass die Krisenländer sagen, ihnen geht es so schlecht, weil sie nicht über Geld verfügen und deswegen mehr Kredit fordern, setzt Deutschland die umgekehrte Sichtweise entgegen, dass sie deswegen so schlecht beieinander, so erfolglos sind, weil sie so viele Schulden aufgehäuft haben. Und entsprechend dieser Diagnose wird gefordert, die Nationen sollen ihre Defizite abbauen, indem sie nur noch so viel investieren, wie ihre Wirtschaft gerade noch hergibt und nicht durch mehr Kredit. Sparen sei also angesagt.
— Das ist die offizielle Lüge dazu, dass die selbstverschuldeten Defizite der Grund seien, dass die wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen.Der Standpunkt dahinter ist, dass deutscher Kredit nicht für die schwachen Nationen verschleudert werden soll. Dabei ist es umgekehrt: die Defizite der Krisenstaaten wachsen gerade wegen der deutschen Erfolge.
Ihr schließt immer gleich die Sachen zusammen. Es heißt zunächst, dass Deutschland fordert, die Länder sollen keine zusätzlichen Schulden machen; dafür ist dort das erste Argument: es bringt nichts. Da ist ja, wie zuvor schon gesagt, etwas dran, denn einfach nur Schulden zu machen führt noch zu keinem Wachstum und schon gar nicht in der Krise. Was macht Deutschland aber daraus? Deutschland verspricht den Ländern, wenn sie eine verstärkte Haushaltsdisziplin übten, dann käme Wachstum zustande. Das ist die Umdrehung. Dann kommt das Argument, dass dieser Standpunkt dem deutschen Interesse geschuldet ist, diese Länder sollen nicht noch mehr Schulden machen. Dies zum einen wegen des Euro, dessen Wert nicht angegriffen werden soll, zum anderen der deutschen Konkurrenzposition wegen, die nicht leiden soll.
— Mit dem Kredit, den die unterlegenen Länder beanspruchen, können sie versuchen, die eigene Konkurrenzposition zu Lasten anderer Staaten zu verschieben. Aus diesem Grund hat der Gewinner der Konkurrenz (Deutschland) kein Interesse, Kredit auszugeben für die Stärkung Griechenlands.
— Das Zweite ist, dass ein starker Euro mehr Zugriffsmacht einer erfolgreichen Nation auf der ganzen Welt bedeutet. Mit der Schwächung des Euro nimmt diese Zugriffsmacht ab. Das betrifft das Projekt, dass der Euro als Weltgeld gegen den Dollar installiert werden soll. Das zuvor Gesagte betrifft mehr das Verhältnis der Nationen innerhalb Europas, dass durch die Zunahme der ökonomischen Stärke der bisher schwachen Nationen die relative Stärke Deutschlands abnimmt.
Das erste ist, ganz allgemein zu sagen, Deutschland hat kein Interesse, den starken Euro als Konkurrenzunternehmen zum Dollar zu gefährden. Und zweitens hat es kein Interesse, an seiner speziellen Konkurrenzsituation innerhalb Europas und in der Welt durch die Schwächung des Euro etwas ändern zu lassen. Dagegen gibt es jetzt das „Investitionsprogramm“ von EU-Kommissionspräsident Juncker:
— Der Plan will beiden Seiten gerecht werden, indem europäisches Wachstum, v. a. auch in den Krisenländern angestoßen wird, ohne dass dafür der EU-Haushalt strapaziert wird. Das Projekt, das immer noch (ohne große Medienaufmerksamkeit hierzulande) verhandelt wird, ist so gedacht, dass die Staaten in Vorleistung gehen und Bürgschaften übernehmen, auf deren Basis die Geschäftswelt sich in alle möglichen Projekte stürzt.
— Der aktuelle Stand ist, dass jeweils Deutschland, Frankreich und Italien – aus ganz verschiedenen Interessenlagen – Bürgschaften in Höhe von jeweils 8 Mrd. Euro (Spanien will 1,5 Mrd. zuschießen) übernehmen für einen darauf aufzubauenden öffentlichen Fonds, der für Verluste der Privaten haften soll. Insgesamt sollen so 315 Mrd. € mobilisiert werden. Die Förderung von Investitionen, die rein staatlicher Natur sind, ist nicht erlaubt, was speziell Italien betrifft, das sich vom Fonds eine Wachstumsförderung erhofft.
— Wie ja ausgeführt wird, stehen die ärmeren Länder auf dem Standpunkt: Wir brauchen einen Kredit fürs Wachstum; die Reicheren sagen: Nein, es soll nur ’solides‘ Wachstum, ohne Kredit zustande kommen. Diese widersprüchlichen Standpunkte können nicht zusammengehen. Der EU-Kommissions-Präsident will mit seinem Plan dagegen vorführen: Doch, es geht. Man kann mit ganz wenig Belastung der Haushalte sehr viel Geld mobilisieren.
— Es ist aber nicht mehr ein ‚Kompromiss‘ nach der alten Technik der EU, mit etwas Nachgeben von jeder Seite. Deutschland lässt sich seinen Standpunkt durch diesen Vorschlag ja gar nicht abhandeln, sondern beharrt darauf: Es darf nicht der Reformdruck auf die Länder weggenommen werden. In den Verhandlungen stellt sich heraus, welchen Stand Europa erreicht hat, wenn ein solches beide Seiten verbindendes Projekt durch die Macht, die sich durchgesetzt hat, abgeschmettert wird.
— Dabei wird der Plan nicht wirklich abgeschmettert, sondern Deutschland beharrt darauf, dass durch das Projekt auf jeden Fall nicht der Spardruck auf diese Länder vermindert werden darf. Und dass die Projekte, die finanziert werden, sich von Haus aus schon lohnen müssen. (EU-Kommission: „nur tragbare Objekte mit echtem Mehrwert werden gefördert“.) So wenden sie ihren Standpunkt auf die Maßnahme an.
Man kann sagen, es ist viel schlimmer, als dass sie ihn abschmettern. Die nehmen ihn beim Buchstaben und verlangen ihren Geist. Der Juncker-Vorschlag ist auf Ausgleich berechnet, gegen den Streit der Euroländer hätte er ein Mittel: Man muss nur ein bisschen öffentliche Mittel locker machen, um ganz viel (Privat-)Kredit anzuziehen, dann bleibt dem Wachstum nicht anderes übrig, als zu kommen. Dazu wird sich einiges ausgedacht; ein Teil der Gelder soll aus existierenden Programmen herausgekürzt werden, wie aus der Forschungsförderung. Darum wird gestritten. Kaum kommen die Vorschläge, kommt aus Deutschland eine Klarstellung darüber, wie alle deutschen Einwände schon immer gemeint waren: Dass die anderen sich auf diese Weise heraus-kaufen aus dem, was Deutschland für sie und für ganz Europa vorgesehen hat, geht gar nicht. Auf diese Weisheit bringen sie es runter, damit konfrontieren sie den Vorschlag.
Die Widersprüchlichkeit und der Idealismus des Vorschlags selbst ist die eine Seite. Die andere ist die Reaktion, die der EU-Kommissions-Präsident auf seinen, auf Versöhnung zielenden Vorschlag präsentiert bekommt: von Deutschland aus (moralisch ausgedrückt) die pure Missgunst gegenüber den anderen: Das geht nicht, dass die anderen plötzlich in die Verfügung über Kredit kommen, den sie nicht verdient haben: Unsere hohen Standards haben wir uns hart erarbeitet, unserem Volk aufgenötigt und die kommen einfach durch einen Trick dazu; dann sinkt der Reformdruck und eine künstliche Angleichung von Konkurrenzbedingungen findet statt. Das sind Einwände, die beziehen sich nur zum Teil und nur zum Schein darauf: der Vorschlag funktioniert nicht. Einerseits machen sie sich an dem Widerspruch fest; auf der anderen Seite geben sie sehr klar zu Protokoll, wie unvereinbar jetzt die Interessen geworden sind. Deutschland sagt, sogar wenn das klappt, dann in einer Weise, die wir gar nicht wollen. Die Krise ist nur zu bewältigen dadurch, dass jeder einsieht, dass Staaten gefälligst mit dem zu wirtschaften haben, was ihre Standorte ihnen hergeben. Das ist die notwendige Lehre aus der Krise und alles andere ist des Teufels. Die Wahrheit ist: Genau so gedenkt Deutschland seinen Konkurrenzerfolg und das Euro-Projekt als Ganzes zu verewigen, aus der Krise zu holen und voranzutreiben. Das ist das Unvermittel-bare; da steht das eine Interesse gegen das der anderen.
— Wenn Deutschland sagt, allenfalls machen wir kleine Umschichtungen und zwar in Abteilungen, die als „investiv“ gelten, dann habe ich das als ziemlich ironische Formulierung gelesen, „die so elementare Geschäftsbedingungen wie solide Eisenbahnbrücken betreffen“, d.h. in der Form der Konzession wird sich gezielt etwas ausgesucht, das den Charakter eines Trostpflasters hat.
— Die Krisenstaaten bestehen dagegen darauf: Dieses Programm: Infrastrukturmaßnahmen zu fördern, ist für sie wesentlich, dafür steht z. B. Breitbandnetz, dass das elementar befördert und vorangebracht wird, was in diesen Ländern bisher unterblieben ist. Oder dass schnelle Zugverbindungen finanziert werden – das steht für große Projekte dieser Länder. Bei uns liest man nichts von einem ‚Neuanfang‘. Da ist die Optik, mit der dieses Programm betrachtet wird, von beiden Standpunkten sehr verschieden.
Solche Infrastruktur-Investitionen sind nur die Bedingung für ein Geschäft und wer das Geschäft macht, ist auch noch längst nicht gesagt. Das kann genauso den deutschen Kapitalen nützen, die vielleicht ihre Produkte schneller ans Ziel bringen. Wenn es diese allgemeinen Voraussetzungen für Produktion überhaupt betrifft, ist gar nicht ausgemacht, dass das dem Wachstum des jeweiligen Landes dient.
— Das Hauptaugenmerk ist diese politische Einordnung, die von Deutschland ausgeht: Das oberste Gebot ist: die Regeln sind einzuhalten; das Spargebot hat zu gelten, und daneben gibt es vielleicht noch was. Da achten sie auf die Reihenfolge. Da heißt dann der Kompromiss: die Italiener müssen die 8 Mrd., die sie einbringen, nicht auf die Staatsverschuldung anrechnen. Also die Kompromisse stehen in einem Verhältnis zur Gültigkeit dessen, was Deutschland Europa als Sparpolitik diktiert.
Das ist der Punkt. Daran merkt man endgültig, dass der Streit sich nicht um unterschiedliche Krisenbewältigungs-Theorien dreht, der Art: Die einen sind mehr Idealisten von: viel Kredit hilft viel, die anderen sind mehr dafür: alles auf den Kopf zu stellen, hat auch noch nie geschadet. Der politische Gehalt und Grund davon ist ein anderer. Der Vorschlag von Juncker macht sich fest an den unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Konzepten, versucht da die Vermittlung: Man kann Kredit mobilisieren, ohne dass man das Sparen aufgibt. Das ist für sich selbst nicht ganz unkomisch. Aber endgültig bekommt er es um die Ohren gehauen durch die Reaktion, die er darauf erntet. Da deckt gerade der Vermittlungsvorschlag die Gegensätzlichkeit auf, die er eigentlich weg-vermitteln wollte. (Da ist man dann bei II.)
— Das, was vordergründig ein Streit um die Wachstumsmethode ist, ist der Sache des Spardiktates nach eine Entwertung zum Schaden dieser Länder. Es kommt einem abenteuermäßig vor, wie Deutschland darauf besteht, dass diese Länder bei sich zu Hause die Krise durchsetzen, also ein Entwertungsprogramm machen.
— Deutschland sagt, auf diese Länder kommt es nicht fürs europäische Wachstum an. Es kommt darauf an, dass sie sich mit ihren Zwecken ganz dem Diktat – sparen, um den Euro stark zu halten – unterwerfen; und verlangen, dass sie ihre Souveränität über ihren Haushalt aufgeben.
— Das II. Kapitel beginnt aber nicht damit: Deutschland setzt sich als europäische Führungsmacht durch, sondern das gilt für alle Euro-Staaten, dass sie beschlossen haben, mit der gemeinsamen Währung die Souveränität über ihr ökonomisches Machtmittel abzutreten, die Verlierer wie die Gewinner.
Das ist kein Gegensatz; die Souveränität über das Geld haben sie schon vorher aufgegeben. Das macht sich in der Krise so bemerkbar, dass die Krisenstaaten über die ökonomischen Mittel, die der Staat braucht, überhaupt nicht mehr verfügen können. Sie merken jetzt den Souveränitätsverzicht als großen Mangel.
— Das ist ja bei den schwachen Ländern offensichtlich, weil sie (ohne Kredite der anderen) über gar kein Geld mehr verfügen. Die Deutschen dagegen haben ja noch genügend Kredit, deren Problem ist nicht, dass sie auch zu ihrem Vorzeige-Sparhaushalt gezwungen gewesen wären, sondern, dass sie mit ihrer Politik, für die Stabilität des Euro zu sorgen, jetzt auflaufen. Sie stellen fest, auch sie können ihre Politik nicht einfach so durchsetzen. (Das Billionen-Staatsschulden-Aufkaufprogramm der EZB z. B. wurde gegen den Einspruch von Bundesbankpräsident Weidmann beschlossen.) Deutschland muss notgedrungen mit haften. Deutschland befürchtet, dass dieses Programm des „leichten Geldes“, womit sie die anderen Staaten herauskaufen, den Euro schwächt, und es dann nicht mehr das mit dem Euro machen kann, was es damit vorhatte.
— Es ist aber nicht nur so, dass sich das Resultat, das Deutschland haben will, nicht einstellt. Es ist ein Argument vorher zu sagen, der Krisengewinner sieht sich in der Austragung seiner Konkurrenz zugleich behindert. Dadurch, dass er mit ihnen im gleichen Geld ist. Er kann sich nicht trennen von deren Konkurrenzniederlage und sagen, das ist deren Problem, sondern sieht sich genötigt, alle möglichen Rettungsschirme aufzuspannen. Noch bevor man sagt, das hat immer nicht den Effekt, den sie haben wollen, ist das der Schaden für die Krisengewinner.
Und das hat eine ökonomische und inzwischen auch richtig institutionelle Seite. Es ist dann eine Frage der machtmäßigen Durchsetzung, sich ins Benehmen zu setzen über die vereinbarten Verträge usw.
— Die Besonderheit, das quasi Automatische war, dass der Euro den Erfolg der Gewinnerstaaten für alle Mitglieder des Euro-Projekts dargestellt hat. Diese „Idylle“, die auch für den friedlichen Umgang der Euro-Länder miteinander gesorgt hat, ist in der Krise verschwunden. Die gemeinsame Notwendigkeit des sich Küm-merns um den Wert der Währung ist inzwischen zugespitzt in dem Gegensatz: Den Verliererländern wird als Dienst an der Währung (deren weitere Benutzung sie für vorteilhafter halten, als die Rückkehr in ihre frühere Währung) aufgezwungen, mit diesem Geld in einer für sie widersprüchlichen Weise umzugehen: Es nicht mehr als Wachstumsmittel einzusetzen, sondern jetzt werden sie auf etwas verdonnert, was vom Standpunkt eines kapitalistischen Staates aus eine Absurdität ist: Sparpolitik zu seiner Räson zu machen. Dieser Umgang, der notwendig ist, damit dieses Geld überhaupt das glaubwürdige Mittel für alle sein kann, ist keine Sache der Einsicht, sondern – auch wieder sehr konsequent – eine der Durchsetzung durch die anderen erfolgreichen Souveräne.
Da fehlt noch der Punkt, dass sie für die anderen auch ökonomisch gerade stehen müssen. Dann aber gleichzeitig darauf bestehen, dass das nur gegen die Auflagen, die sie bestimmen, zum Zuge kommt. Dafür müssen sie die Zustimmung der anderen erhalten.
— Das ist der Grund für die neue Form von Gemeinsamkeit. Der Gegensatz, der bisher unter dem Gesichtspunkt lief: alle stehen letzten Endes für den Erfolg der Gemeinschaftswährung und jeder rechnet sich für sich den Vorteil aus, ist vorbei, zugunsten von Haftung der bisher Erfolgreichen für die, deren Misserfolg jetzt überhaupt erst richtig sichtbar wird.
Das Europa-Projekt war gar nicht angelegt als einseitige Unterordnung, sondern war der Widerspruch einer Vergemeinschaftung von Souveränität für allseitigen Nutzen, welcher sich in der Krise in einen allseitigen, aber unterschiedlichen Schaden verwandelt hat.Jetzt kann man sagen, die Deutschen sehen sich gefordert und sehen sich auch in der Lage, jetzt den Zuchtmeister zu spielen. Aber das, was sie damit machen, ist, ihrerseits den Willen und die Fähigkeit der anderen zu ruinieren, in dem Europa (so wie es auch für Deutschland getaugt hat und weiter taugen soll) mitzumachen. Das darf man jetzt auch nicht wieder auflösen: eigentlich wollten sie ihnen gar keine Diktate machen, aber sie sind dazu gezwungen. Das ist ja das Eigenartige an der Überschrift: „Europa vollendet und zerstört dadurch seine Union“. Was jetzt auffliegt ist, dass alle ihre Souveränität abgeben, aber der, an den sie sie abgeben, nur in dem Willen dazu existiert.Dass Souveränitätsabgabe auch wirklich die Unterordnung unter eine Instanz ist und sein muss, der Wahrheit kommen sie auf eine Art und Weise näher, quasi ganz im Gegensatz zu dem, wie sie es sich jemals gedacht haben.Jetzt ist es ein Kampf um die Institutionen, der davon lebt, dass der gemeinsame Nutzen perdu (= futsch) ist. Aber das ganze Projekt hat so funktioniert, war darauf berechnet und beruht nach wie vor darauf, dass es den Willen zu ihm gibt.
— Die Unterordnung, die Deutschland zustande bringt, wird in Debatten oft als Synonym dafür verwendet: dann ist das Problem gelöst. Aber wenn sie Griechenland tatsächlich in die Unterordnung zwingen, dann ist es auch der Ruin ihres Willens, in diesem Laden mitzumachen.
— Dass die Auseinandersetzung diese Form von Gehässigkeit bekommen hat, diese Infragestellung des Inhalts jeder Staatsräson, ist die Zerstörung der europäischen Räson, auf die alle gesetzt haben.Klar, ist es ein Prozess, aber in dem Moment, wo das, was alle gemeinsam wollten, endgültig verabschiedet ist zugunsten von: jetzt zählt für die Qualität des Euro nur noch die Durchsetzung des Regimes, ist das die Zerstörung der europäischen Staatsräson. Dann kommt ja im Fortgang, wie die Völker damit umgehen.
Der Streit zusammengefasst: Mit diesem Streit „machen die Partnerstaaten sich gegenseitig das politische Ziel kaputt, das jeder von ihnen verfolgt, nämlich als mit den anderen gleichberechtigter, von allen respektierter Souverän vom immer engeren Zusammenschluss national zu profitieren, ökonomisch wie weltpolitisch.“
— Die europäische Staatsräson beruht nicht darauf, dass eine europäische Nation den Willen der anderen bricht. Aber an diesem Punkt sind sie angelangt bei der Notwendigkeit zu beweisen, dass sie in der Lage sind, fremde Souveränität (Griechenland) zu brechen, als die einzige Art und Weise wie sie für sich die Souveränität behaupten und den Laden zusammenhalten können. Das ist was anderes als die frühere Souveränität, die darauf beruhte, dass sie sich mittels Europa vergrößert und das Vergrößern dann seine Streitgegenstände hat.
Eine Schwierigkeit kommt vielleicht darüber rein, dass hier unter ‚europäische Staatsräson‘ nicht mitgedacht wird, dass das die europäische Staatsräson der einzelnen europäischen Mitglieder ist. Es gibt nicht eineeuropäische Staatsräson, die über den Mitgliedern steht, sondern das ist die der Mitglieder, die alle darauf gezählt haben, in Europa national voranzukommen. Die auf Europa gerichtete Staatsräson der Mitglieder wird zerstört.
Wobei ‚auf Europa gerichtet‘ wieder zu schwach ist, weil es war ja gerade das Doppelte, dass Europa für alle, die da mitgemacht haben, nicht nur eine Option unter vielen war und auch nicht sein sollte. Gemeint war ein Staatenbund der besonderen Art, bis dahin, dass sie sogar ihr Geld vergemeinschaftet haben. Sie haben lauter Institutionen geschaffen, mit dem ausgesprochenen Idealismus: So bringen wir uns dahin, dass wir gar nicht mehr anders wollen können als in und mit Europa; dass Europa wirklich zu einem Sachzwang für uns wird. Diese Verrücktheit hatte für alle Staaten das Recht in dem Machtzuwachs, auf den sie gesetzt haben. Und jetzt bekommen sie in der Krise präsentiert, dass der Nutzen allseitig ausbleibt, aber den Sachzwang zu Europa haben sie sich eingehandelt. Bezüglich aller Momente ihrer Herrschaftsausübung und der Art, wie sie als Staaten und Standorte konkurrieren: im Geld, in allen Institutionen, in der Gesetzgebung usw., auch im Nutzen der Partner, der für sie unhintergehbar ist. Das liegt an der Krise; Kapital und staatlicher Kredit sind so erfolgreich gewesen, dass der Kredit nur noch Schulden und kein Kapital mehr darstellt. Für die Länder stellt sich dieser ökonomische Widerspruch ihrer Staatsräson (und das, wovon sie als politische Herrschaften leben) anders dar. Dazu hat sich der Artikel im Laufe von Kapitel I hingearbeitet. Für sie ist das Hindernis, ihr festgestellter Mangel, dass sie sich an der Souveränität ihrer Partner brechen. Die Fraktion der Griechen usw. stellt fest: es ist die Verbotspolitik der anderen europäischen Mächte, die uns den Kredithahn zudrehen; an dem leiden wir. Die anderen sagen, wir leiden an der Eigenmächtigkeit, mit der die Südländer über jedes vernünftige Maß hinaus Schulden gemacht haben und mit der sie sich auch jetzt noch jedem ökonomisch gebotenen Reformvorhaben verweigern.
— Diese Übersetzung von Souveränität in Eigenmächtigkeit, die sich gegen einen richtet, ist was anderes als ihre europäische Staatsräson von gestern, wo es für die Einhaltung des Sachzwangs, damit er wirklich ein solcher ist, den guten Grund haben musste, mit einem Nutzen verbunden zu sein.
Für Deutschland ist es das Prinzip, auf das die alles bringen: Man muss Griechenland dazu bringen, seine Souveränität seiner ökonomischen Lage anzupassen – das läuft auf so etwas Ähnliches wie Souveränität-Brechen hinaus: Den Machtbeweis müssen wir erbringen, das sind wir uns schuldig, und damit beweisen wir die Solidität des Euro, wenn wir die Griechen dazu bringen, sich dem Regime zu beugen, das wir im Sinne der gemeinsamen Währung für das Gebotene halten. Was ist da dran und was ist daran total verrückt? Eins ist klar, der ganze Erfolg, das, was erwirtschaftet worden ist, hat bisher jedenfalls nicht darauf beruht, dass die anderen europäischen Länder von ihrer Souveränität keinen Gebrauch gemacht haben. Wenn die Fraktion um Deutschland den Gegensatz zwischen Kredit und Souveränität, der sich jetzt für jede Nation in Europa ergibt, so an Griechenland entlang versucht auszubuchstabieren im Sinn von: Wenn wir unsere Hegemonie, unsere Art Souveränität und was wir hinsichtlich der jeweiligen (ebenfalls souveränen) Standorte für geboten halten, durchsetzen, dann ist das die Rettung für Europa – dann ist das genauso unwahr wie alle anderen Konzepte und vor allem ist es ein Gegensatz und in dem Sinne eine Zerstörung dessen, was die Europäische Union bis dato darstellt.*— In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bestimmt den Wert der Währung sowieso der Markt und nicht der Nationalstaat. Von daher ist diese Diskussion der EU-Länder – Aufgabe der nationalen Souveränität aufgrund der Währung – meiner Meinung nach ein Scheingefecht.
Gegen diesen Einwand – weil der Wert des Geldes sowieso durch die Finanzmärkte bestimmt wird und nicht durch einen nationalen Souverän, ist es egal, ob man im eigenen Geld wirtschaftet oder in einer gemeinsam bewirtschafteten Währung – lautet der Standpunkt des GS: Ein gemeinsames Geld von 19 souveränen Standort-bewirtschaftern ist ein Widerspruch. Die Souveränität streicht sich jedenfalls nicht damit weg, dass die Staaten sich darauf eingelassen haben, dass die Finanzmärkte das Geld bewirtschaften, das war seinerzeit ihre souveräne Entscheidung. Wird das weggestrichen, ist nichts mehr erklärbar: kein Streit, auf den die Staaten sich einlassen, keine Krise, in der sie sind, und keine Maßnahme, zu der sie sich angestachelt sehen.
‚Souverän’ heißt ja auch nicht: der Staat kann machen, was er will, sondern Staaten treffen auf Schranken und Widersprüche, wenn sie sich – wie im Euro-Projekt – aus Eigennutz mit anderen Staaten zusammentun. Dabei gibt es keinen quasi automatischen Souveränitätsverlust, sondern der ist eine Entscheidung der souveränen Staaten.
Es sind die Staaten, die den Märkten die Bedingungen setzen, und darauf reagieren konkurrierende Finanzunternehmen und können so den Wert einer Währung beeinflussen, ihn per Spekulation hochtreiben oder zum Sinken bringen. Das können sie aber nur auf Basis dessen, dass sie von den Staaten dazu ermächtigt worden sind. Was die Staaten mit ihren einzelnen Vorgaben beim Finanzkapital bewirken, was sie erreichen, ist eine andere Frage. Aber Souveränität ist eben nicht damit gleichzusetzen, was sie bewirkt.
Es war ja auch schon die Rede davon, dass das ein Widerspruch ist, auf den sich kapitalistische Staaten einlassen, nämlich, dass sie ihre Souveränität in einem Geld vergegenständlichen, dessen Werthaltigkeit das Derivat des Ge- oder Misslingens von finanzkapitalistischen Geschäften ist.Das ist verrückt, aber weder deren Souveränität noch deren Standpunkt sind da weggestrichen, die Streitereien also keineswegs ‚Scheingefechte’, wie sie es ja wären, wenn die Staaten nicht mehr die Subjekte wären; wenn bloß der Markt und das Geld zusammen und bei sich wären. Aber die Staaten leiden, weil das ihr Souveränitätsmittel ist, das da kaputtgemacht wird.
Diese Geldzettel sind der ökonomische Reichtum, den ein Staat mit seiner Gewalt seiner Gesellschaft verordnet und um dessen Erwerb es zu gehen hat. Mit der Aussage: Das legen die Finanzmärkte fest, wird die Art und Weise der Bewertung dieses Reichtums gegen ihn selber ausgespielt und seine Bedeutung heruntergespielt.
— Mit ihren Spielregeln, Freihandels- und sonstigen Abkommen, haben die Staaten aber auch einiges (an Annäherung) getrieben, haben die Währungen konvertibel gemacht, so dass es eigentlich egal ist, ob in DM, Euro oder Dollar gezahlt wird. Für einen freien Kapitalverkehr wäre eine (einzige) Währung sowieso am besten. Ökonomisch gesehen behandeln sich die Staaten gegenseitig wie ein Geschäftsbetrieb, der seine Einnahmen aus gelungenen Geschäften anderswo bezieht; bei den staatlichen Debatten anlässlich TTIP und anderen Handelsabkommen bekommt man mit, dass die Staaten sich selbst mit ihrer Gewalt immer mehr als das größte Hemmnis dabei ansehen.
Wenn was wichtig ist, dann, in welcher Währung gezahlt wird. Wenn egal wäre, in welcher Währung gezahlt wird, würde nicht erklärlich, wieso jetzt so ein Zirkus um den Euro gemacht wird.Staaten kümmern sich um den Wert ihrer Währung und das machen Geschäftsleute nicht – die gehen mit dem wechselnden Wert der verschiedenen Gelder um. Den Standpunkt: ich pflege mein Geld, gibt es nur bei Staaten.Worin besteht dieser Standpunkt? Wenn Merkel sagt, alles hängt vom starken Euro ab – Wohlstand, Zukunft der Enkel und unsere Rolle in der Welt –, worüber redet sie da? Ein Kapitalist redet so nicht, der achtet darauf, dass die Kasse klingelt und er ggf. rechtzeitig die Währung wechselt. Wenn ein Staat: ‚mein Geld’ sagt, dann hat das ‚mein’ einen ganz anderen Inhalt wie bei einem Kapitalisten.
Man darf nicht die beiden Fragen: Wieviel ist das Geld wert? und: Wer ist der Herr dieses Geldes? verwechseln. Es ist falsch zu sagen, das Geld ist nichts, solange es nicht vom Markt bewertet wird, sondern es geht darum, erst zu klären: Was ist das, was vom Markt bewertet wird?
Es zeugt auch von einem wissenschaftlich verdorbenen Blick, mit einer Tendenz zu argumentieren: Da wird behauptet, dass seit GATT bis TTIP die Wirtschaft immer mehr das Subjekt wird, bis der Staat ganz verschwindet. Es ist nicht einfach das Aufgeben der Verfügung über das Geld, auch nicht das Überlassen an den Markt, sondern die Verträge wurden und werden geschlossen für die Benutzung eines dann freieren Markts für den Zweck, den die Staaten damit verfolgen; darum streiten sie auch miteinander (und zwar via staatlicher Institutionen, z. B. ein US-Bezirksrichter gegen Argentinien): wer bei dieser Benutzung welche Bedingungen setzt und wer sich wie und inwieweit dem anbequemen muss. Wenn sich das von selbst durch den Markt klären würde, dass Griechenland den Kredit bekommt, der kalkuliert ist und der nach der ökonomischen Vernunft des Kapitalismus so zu haben ist, bräuchte es keine Verhandlungen.Und von wegen das Geld drucken im Euro (durch Griechenland): das hat doch eine Adresse – EZB – und einen Namen – Draghi –, und der hat per Gesetz und Verträgen die Macht, Schulden zu monetarisieren mit seinem merkwürdigen Aufkaufprogramm.
Bezüglich Griechenland ist es falsch, zu sagen, es träte nicht als Gewaltmonopolist auf;Syrizas Standpunkt ist: Schulden sind kein Sachzwang, wir reden hier doch unter Souveränen.Sie appellieren daran, dass das, was Schulden ökonomisch im Kapitalismus ausmachen, Sachzwang gewordene Eigentumsansprüche sind, und die sind selber ökonomisch so viel wert wie das Kapital Geschäft daraus machen kann. Dass sie überhaupt etwas wert sind, liegt daran, dass der Staat sein Gewaltmonopol dahinterstellt und sagt: diese Ansprüche gelten. Und es wäre kein Novum, wenn ein Staat aufgrund seiner Hoheit beschließt, diese Schulden durchzustreichen – es gibt überhaupt nichts Kapitalistischeres als einen soliden Schuldenschnitt. Ökonomisch hat das vielleicht nicht die gewünschte Wirkung, aber dass das, wie die Deutschen auftreten, gelogen ist – so zu tun, als ob Schulden-begleichen ein ökonomischer Sachzwang wäre –, daran appellieren die Griechen und liegen damit richtig.—
Jour fixe
Europas Krise 2014 Fortsetzung
Was ist die Idylle gewesen, die die Finanzkrise zerstört hat?
— Die Benutzung des Euro hat sich an den starken Nationen orientiert, so dass auch die schwächeren Nationen den Kredit billiger bekommen konnten, als es der Leistungsfähigkeit ihrer Nationalökonomie entsprochen hat. Dass diese Länder viel mehr an Kreditwürdigkeit hatten, weil die nicht auf sie selbst, sondern auf den gesamten Euroraum bezogen war, wird durch die Krise aufgedeckt. Wenn jetzt diese Länder: Griechenland usw., in ihrer Kreditwürdigkeit an ihrer eigenen Leistungsfähigkeit gemessen werden, bekommen sie ihn nicht mehr zu den gleichen Konditionen wie andere Euro-Länder. Das ist für die die prekäre Stärke.
— Nur erinnert diese Aussage etwas an die Art, wie hierzulande üblicherweise über Griechenland geredet wird:
Die waren eigentlich gar nicht fähig mitzumachen, haben sich reingemogelt, was sich jetzt herausstellen würde.
Der Witz ist doch, dass es Verlierer gibt, ist erst ein Resultat dieses Projekts und nicht der Ausgangspunkt. Im Rahmen der neuen Währung wurde erst einmal Konkurrenz in Gang gesetzt in und um diese neue Währung, die erst den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern produziert hat.
Nein: Gewinner und welche, auf deren Kosten die Gewinne gemacht wurden, hat es schon vorher gegeben. Es gab von vornherein Unterschiede, die den Schwächeren aber nichts ausgemacht haben. Die konnten damit umgehen, auch deswegen, weil sie das Vertrauen des Finanzkapitals in ihren Kredit hatten. Sie haben das als ihren Nutzen gesehen, was sich jetzt in der Krise als Riesennachteil herausstellt. Die Krise bringt nicht erst Gewinner und Verlierer hervor, sondern offenbart das. Wenn ihnen der Kredit entzogen wird, dann stellt sich heraus, dass das, was sie vorher betrieben haben, sich sehr zu ihrem Nachteil ausgewirkt hat.
— Der Vorteil, dass sie 300 Mrd. € an Krediten bekommen haben, stellt sich jetzt, nachdem ihre Schulden neu bewertet werden, als der Nachteil raus. Sie sitzen auf den Krediten und können sie nicht bedienen.
Die hatten eben nicht einfach nur mehr Kredit, als sie selbst auf sich gestellt gehabt hätten, sondern diesem quantitativen Verhältnis lag ein qualitatives zugrunde. Die Idylle des Euro hat darin bestanden, dass diese Länder diesen hohen Umfang an Kreditwürdigkeit genossen haben, weil es nicht ihr Kredit war, nicht das Geld ihres Kredits, nicht ihr Nationalkredit. Der Euro ist das nationale Kreditgeld von allen, die mitmachen, also von keinem. Und ausgerechnet das haben sie positiv zu spüren bekommen und benutzt: Sie waren in einer Weise verschuldungsfähig,
die alles überschreitet, was Ökonomien ihrer Größe eigentlich an Kredit zukommt, und ohne dass es das Geld ad absurdum führt.
— Hier ist das Argument, dass die Qualität des Geldes, mit dem sie wirtschaften, für Griechenland gesprochen hat, obwohl dieses in einem Missverhältnis zu dem steht, was sonst in dem Land ökonomisch los ist. Was nicht nur lange nichts gemacht hat in den Zeiten der Idylle, sondern sogar sowohl für das Finanzkapital eine Geschäftsbedingung als auch für Griechenland ein Wachstumsmittel war.
Der Euro war also nicht nur stark, obwohl es da Gewinner und Verlierer gab, sondern hier ist die Behauptung: weil es die gab. Die EG, dann die EU, war am Anfang schon eine sortierte Gemeinschaft; es ist nicht von Null losgegangen und dann haben sich die Unterschiede rausgestellt. Diese Defizite sind in guten Zeiten vom Finanzkapital benutzt worden, nämlich dadurch, dass sie ihre Kreditierungsgeschäfte mit den Defiziten gemacht haben, die die Verlierer ungestört anhäufen konnten.
Das Schöne am Euro war, dass die Gewinner immerzu gewinnen konnten, ohne dass ihnen gleich die Quittung präsentiert wurde. Denn sie verdienen ja am Ausland, was heißt, eigentlich ein im Maße des Verdienens zunehmend schlechtes Geld – das ist durch den Euro aufgehoben worden: Man konnte ständig an einer anderen Nation verdienen, ohne dass das Geld dieser Nation darunter gelitten hat, weil sie gar kein eigenes hat. Der Wert dieses Geldes repräsentiert nicht die Leistungsfähigkeit dieser Nation. So hat der Euro von dem innereuropäischen Verdienen aneinander sogar noch gelebt; er hat vor der Krise absurderweise nur den Konkurrenzerfolg der Gewinner repräsentiert.
— Das ist ja mit der Idylle charakterisiert. Dass zunächst mal alle Seiten Gewinner des neu eingeführten Euro waren. Auch die, die ihre vergleichsweise Weichwährung gegen den Euro getauscht haben und damit auf einen Schlag Kredit zu ganz anderen Konditionen und Möglichkeiten hatten. Insofern waren die späteren Verlierer erst mal auch Gewinner.
Das ist etwas anderes als zu sagen: Die konnten über ihre Verhältnisse leben. Die haben Kredit gehabt und diese für sie günstige Bedingung so eingesetzt, dass sie möglichst viel Wachstum in ihrem Land geschafft haben. Sie haben ihn benutzt, um neue Projekte aufzuziehen, und nicht einfach den Rentnern geschenkt.
— Auf der Basis des Euro war die Qualität der Konkurrenz natürlich eine neue. Diese nicht zu leugnenden Unterschiede zwischen den Teilnehmern haben dazu geführt), dass die schwächeren Länder, aufgrund dieses Unterschieds ihrer Konkurrenzpositionen, diesen Kredit gar nicht zu Kapital machen, sondern in
zunehmenden Maße zur Kompensation ihrer Konkurrenzschwäche verbrauchen.
— Gerade in der freigesetzten Konkurrenz in Europa war das Schrumpfen der nationalen Kapitale eine besonders günstige Geschäftsbedingung für das internationale, erfolgreiche Kapital, was den Euro stark gemacht hat und gleichzeitig das Prekäre ist. Das Schrumpfen der nationalen Kapitale ist erst einmal für die Stärke des Euro gut, aber heißt auch, dass Länder in ihrem nationalen Kapital geschwächt sind. Das offenbart, dass die Kredit genommen haben, der über das hinaus geht, was dann an Realisierung in ihrem Laden zustande kommt.
— Hier wird das von der Seite der Kreditgeber her erklärt, die gerne auf das Begehren dieser Länder nach mehr Kredit eingegangen sind, weil es ja Kredite im Euro waren und von daher eine gute Geschäftsgelegenheit. Das ist auch ein Argument gegen das moralische Urteil des ‚Reinmogelns‘. Damals waren sie in ihrem Bedarf ein Mittel für den Fortschritt der EU und des Euro.
— Es sind die zwei Seiten derselben Sache, wenn im gemeinsamen Geld gegeneinander konkurriert wird, dann ist das eine Resultat: Die einen nehmen einen Kredit nur mehr, um ihre Konkurrenzmisserfolge zu kompensieren, und
bei dem anderen gibt es Wachstum. Was den Kredit, der in beiden Fällen Euro-Kredit ist, stärkt.
Wenn hier gesagt wird, die haben ihre Schäden mit ihren Schulden kompensiert, fehlende Steuereinnahmen mit Kredit wettgemacht, dann haben sie doch kalkuliert wie ein Staat das macht, der den Kredit dafür einsetzt, dass Wachstum in seinem Land noch stattfindet. Wenn seine Industrie zusammenbricht, muss er andere Projekte aufziehen. Der kommt nicht auf das, was jetzt unter dem Stichwort Reformen gefordert wird, die Leute noch mehr zu verarmen und kleine Läden zu schließen. Sie haben gedacht, mit ihrer Wirtschaftspolitik könnten sie Wachstum schaffen, und damit die Kompensation von den Schäden, die sie ja auch registrieren, bewerkstelligen. Sie haben einige, auch größere, Projekte aufgezogen; Olympia war eines, mit dem sie dachten, etwas Größeres anstoßen zu können.
Mit dem Ende der Idylle kommt der Übergang von: Der Euro ist stark, aber prekär zu: er ist prekär, aber stark. Der aktuelle Stand der Krise des Euro ist, was man der Beschwörung der Gefahr einer Deflation und dem eingeleiteten Kampf dagegen entnehmen kann. Die Erklärung kommt durch die Konstruktion des Euro: Was ist die Logik, nach der das Finanzkapital diese europäische Staatsschuldenkrise macht und was decken sie damit auf?
— Es ist festgehalten, dass das Kapital, das in Massen als Kredit existiert, sich nicht verwertet, was als Unsicherheit fürs Investieren und als Gefahr einer Deflation gefasst wird. Dementsprechend betrachten die Kreditgeber auch ihre Kreditvergabe unter neuen Gesichtspunkten kritischer. Das Resultat ist, dass für die
Nationen die Schulden unterschiedlich bewertet werden bis dahin, dass ein Land wie Griechenland kreditunwürdig wird. Der Kredit in Euro wird nicht mehr am Gesamtresultat der Gemeinschaftswährung, sondern an der nationalen Eigenart gemessen, weil die Nationen ja immer noch innerhalb des Euro national bilanzieren müssen.
— Bei dem, was steht – „… Die Krise bringt es in der Form an den Tag, dass diese Länder überhaupt kein Geld mehr haben, … wird ihnen nicht geliehen“ – ist mir der Fortgang unklar: „ … und ein eigenes Kreditgeld, das ihrer Unfähigkeit zur Reproduktion ihres Geldreichtums die Form eines Wertverfalls der nationalen Maßeinheit geben würde, haben sie nicht mehr“?
Worüber Staaten verfügen, wenn ihnen ihre Kreditwürdigkeit flöten geht, ist normalerweise ihre Geldhoheit. Wenn man an eine intakte Souveränität (also nicht gleich an Afrika) denkt, dann ist sie auf jeden Fall in der Lage, ihre Gesellschaft zu nötigen, das gesetzliche Zahlungsmittel als die letztlich und einzig gültige Form des ökonomischen Reichtums zu handhaben. Das vermag eine Staatsgewalt immer. Sie verschafft sich damit die Position, das Geld „zu drucken“, was den Pferdefuß hat, dass es verfällt.
Man kann es auch umdrehen und sagen, normalerweise bringt die Krise den Sachverhalt an den Tag, dass die Länder bei weitem nicht in der Lage sind, den kapitalistischen Reichtum zu reproduzieren, auf den hin sie sich verschuldet haben und von dem sie leben. Das passiert in Form des Wertverfalls ihres eignen Kreditgeldes. Das findet im Euro-Raum nicht statt.
Außerhalb des Euro-Raumes verfügen schwache Länder ja noch über das eigene Geld. Dass die Währung verfällt ist eine Folge davon. Es ist nicht so, dass sie das Geld entwerten wollen; Währungsverfall ist nicht ihr Zweck. Nein, sie wollen über das Geld verfügen und die Konsequenz davon ist die Entwertung ihres Geldes.
Die Geldhoheit steht den Euro-Krisen-Ländern nicht zu Gebot, die haben kein eigenes Geld, deswegen nimmt bei denen diese Kredit- und Schuldenkrise nicht die Form der Geldentwertung, sondern die Form des Geldmangels an.
Sie können, wenn es so weiter läuft, ihre Beamten nicht bezahlen und alle anderen Ausgaben nicht mehr tätigen, weil sie kein Geld haben. Wenn sie nach wie vor ihre Geldhoheit hätten, würden sie denen ihre Drachmen geben.
Die wären zwar nichts wert, die Bevölkerung wäre damit auch nicht glücklich, aber der Staat würde weiter seine Wirtschaft am Laufen halten. Über diese Fähigkeit verfügt Griechenland nicht mehr.
Es wird klargestellt, dass der Standpunkt der EZB – Wir machen Inflation, weil die gehört zum Wachstum, und wenn mangelndes Wachstum an mangelnder Inflation liegt, können wir die erzeugen – ein, ihrer Politik hinzugefügter, idealistischer Instrumentalismus ist. In Wirklichkeit folgen sie einer ganz anderen, viel elementareren Notwendigkeit, nämlich überhaupt dafür zu sorgen, dass in Europa die Staaten weiter über Geld verfügen. Sie monetarisieren die Staatsschulden, die von sich aus nicht mehr marktgängig sind. Dass die EZB dem Standpunkt dieser Notwendigkeit folgt, liegt daran, dass keine andere Instanz das mehr kann, die Staaten verfügen nicht mehr über ein eigenes Geld. Das wird negativ in der Krise geltend gemacht, so dass sie nicht einfach das Geld selber drucken können, wenn sie keinen Kredit mehr haben. Das war ja das, was immer für den Euro gesprochen hat: Er ist nicht hemmungslos einfach im Sinne der Benutzung der Geldhoheit zu gebrauchen von allen, die mit ihm und in ihm konkurrieren. Das war seine Güte. Das macht sich jetzt andersherum geltend.
— Wenn Griechenland kein Geld mehr hat, ist es aus eigener Kraft zu gar nichts mehr imstande. Das ist das Resultat, bei dem aufgedeckt wird, damit haben sie jedes eigene Mittel, in dieser Krise irgendwas zu machen, verloren. Sie sind angewiesen darauf, dass die andere Seite ihnen das Geld gibt.
— Die Griechen können kein Geld drucken, weil das im Euro anders reglementiert ist. Am (griechischen) Euro ist zwar noch die Akropolis drauf, aber es ist nicht ihr eigenes Geld. Euros herauszugeben ist, wie jetzt, in großem Maße, EZB-Aktion.
Die EZB ist das Subjekt, nicht Griechenland, und sie sortiert, wem sie zu welchen Bedingungen die Kredite gibt.
(Griechenlands Staatsschulden sind bei dem neuen Billionen-Aufkaufprogramm der EZB nicht dabei.)
In den Zeiten der Idylle war der Euro stark, weil diese einseitigen Verdienstverhältnisse im Euro für das Finanzkapital Sphäre und Mittel des Verdienstes war. Kriterium dafür waren die Erfolge der Gewinner. So hatten auch die (relativen) Verlierer Kredit, für den nicht sie, sondern die Gewinner der Grund waren. Jetzt in der Krise stellt sich das Finanzkapital zu seinen Kreditgeschäften mit den Krisenländern so, dass es diese ziemlich durchweg für prekär hält und diese Länder als kreditunwürdig einstuft – eben mit der Konsequenz: die haben nicht nur keinen Kredit, sondern auch kein Geld mehr.
Dem steht gegenüber (nach wie vor und wieder neu): Die Staatsschulden der wenigen Länder, die von den anderen profitiert haben – allen voran Deutschland –‚ erfahren mangels Alternative eine relative Aufwertung. So bezieht der Euro seinen Wert daraus, dass das Finanzkapital diesen Unterschied macht; und gerade angesichts der Krise macht es diesen Unterschied erneut und befindet, dass der Euro nach wie vor ein solides Geld ist, weil es die Garantie-Nationen gibt. Das Finanzkapital agiert so, weil sich der Widerspruch für es genau umgekehrt darstellt:
Es gibt die Staaten, die nach wie vor und mehr denn je kreditwürdig sind und die mit den Programmen, die sie auflegen, das auch demonstrieren: Wir garantieren für die Zahlungsfähigkeit der Nationen, die ansonsten zahlungsunfähig wären. Das knüpfen sie an Bedingungen und an denen merkt man, was sie sich für einen Widerspruch damit einhandeln.
Das führt zur Frage, warum die Gewinnernationen darüber auch in die Bredouille kommen. Der Grund ist der Euro: Wenn der Euro nicht mehr das Geld der schwächeren Länder ist, dann geht es um deren (Über-)Leben als Souveräne ohne Euro, aber das wollen die starken EU-Staaten ja gar nicht. Insofern ist der Euro der Grund dafür, dass sie sagen: wir müssen diese Länder zahlungsfähig halten. Nur unter der Bedingung, dass sie sich darum kümmern, können sie den EU Staatenverbund aufrechterhalten – das ist die Kehrseite dessen, dass sie den Euro
geschaffen haben. Das steht im Widerspruch zu dem, was sie eigentlich mit dem Euro vorhatten und wie sie ihn haben wollten. Deshalb ist im Fortgang von der Gefahr für den kapitalistischen Erfolg der Konkurrenzgewinner die Rede, wenn sie die anderen Staaten aus ihren Notlagen herauskaufen. Das macht die EZB mit politischen Auflagen, die sich an den „Maastricht“-Kriterien orientieren. Weil sie schon etliche Länder auf diese Weise herausgekauft hat, gibt es die Gefahr, dass die Finanzmärkte sagen: Die Schulden, die da aufgehäuft werden, stehen in keinem Verhältnis zu dem Wachstum, das sie bewirken können; es sind Schulden, deren Zweck und Inhalt es explizit ist, die Zahlungsunfähigkeit dieser Nationen abzuwenden, also besteht die Gefahr, dass der Euro tatsächlich irgendwann einmal auch nur deren Zahlungsunfähigkeit repräsentiert.
— Ich verstehe den Satz so: Die Sorge um den Wert des Euro, dass der in Gefahr gerät durch die Unmenge von Schulden, die geschöpft werden, ist identisch mit dem Konkurrenzstandpunkt der Gewinnernationen unter den EU-Mitgliedsstaaten. Um die Erhaltung dieses Werts gibt es den Streit – die Gewinnernationen wollen den Wert erhalten und stärken, weil auch der Reichtum, den sie angehäuft haben, in Euro gemessen wird – das heißt 1., deren Reichtum würde entwertet werden und 2. geht es um die Stärke dieses Geldes, „mit dem sie in der weltweiten Konkurrenz noch allerhand vorhaben“.
Also der Reichtum, den sie angehäuft haben, ist auch ein Zugriffsmittel auf fremden Reichtum. Das sind die widersprüchlichen Seiten bei einer Währung: Für den Export wäre es günstiger, wenn sie nicht so stark wäre, andererseits gibt es das Interesse an einem hohen Kurs, eben weil der das Zugriffsmittel ist.
Es geht um den Widerspruch, von dem die beiden ‚Lager’ jeweils eine Seite repräsentieren: Die einen haben keinen Kredit = kein Geld mehr, sind auf das Geld der starken ‚Partner’ angewiesen. Die dagegen haben Kredit, aber lauter Notwendigkeiten der Benutzung – wegen des Geldes. Also auch bei denen legt die Krise diesen Widerspruch offen: Sie müssen sich um die Krisenstaaten kümmern, weil es gleichbedeutend ist mit: sich um das eigene Geld zu kümmern – also um die Materiatur all der Konkurrenzerfolge, die man darin eingeheimst und aller Konkurrenzprojekte, die man noch in Bezug auf den Rest der Welt vorhat. Dieser Widerspruch ist für keine der beiden Seiten endgültig: das ist der Widerspruch ihrer Konstruktion, der früher die ‚idyllische’ und derzeit die Krisen-mäßige Verlaufsform hat – das Ganze existiert für sie sowieso ausschließlich in der Form einer Konkurrenz um die Bewältigung dieser Krise. Es wird objektiv nachgezeichnet, was die Finanzkrise an Widersprüchen des Euro aufdeckt, es geht darum, wie sich die beiden Seiten dazu stellen und in was für eine Konkurrenz sie es überführen.
— Es fängt damit an, dass es nichts Außergewöhnliches ist, was die Krisenstaaten wollen, sondern „antizyklische Konjunkturpolitik“, die für jeden Staat zum Grundinstrumentarium bei der Krisenbewältigung gehört – denn das hat er als seine Aufgabe definiert, sein Land „aus der Krise herauszuwirtschaften und auf
Wachstumskurs zu bringen“. Das will er bewerkstelligen, indem er sich Kredit besorgt und seiner Wirtschaft gibt.
Das ist das Elementare, was die Krisenstaaten jetzt können müssten, aber nicht können, sondern sie müssen das bei den anderen beantragen.
— Die Funktion liegt insofern darin, dass die Erfordernisse und die Interessen der Krisenstaaten dargestellt werden. Das ist deswegen wichtig, weil es das ist, was die andere Seite nicht zulässt. Es geht darum, was es für die Krisenstaaten inhaltlich bedeutet, wenn Deutschland immer sagt, dass der Euro nicht für deren Krisenbewältigung da ist. Deutschland ist in dieser Konkurrenz die stärkere Seite, und
dessen Ansagen, wofür der Euro verwendet werden soll, hat tatsächlich mehr Gewicht als das, was die anderen Länder wollen.
Die Besprechung hierzulande kennt überhaupt nur zwei Spielarten – die eine geht so: Die Griechen & Co. Wissen immer noch nicht, was vernünftiges Wirtschaften ist; die andere ist: Aber die haben es auch schwer und man muss ihnen helfen. Das wird im Artikel in ein: ‚Da ist was dran’ (also die wirkliche Grundlage) und andererseits: ‚Da
täuschen sie sich‘, auseinandergenommen. Man darf ja auch nicht auf die Seite verfallen: Wenn sie den Kredit bekämen, wären sie fein raus. Insofern wird gesagt: Das ist ihr Standpunkt und der Kredit ist ja normalerweise auch das Mittel; aber jetzt ist eben zu klären, was das in dieser (Krisen)Lage ökonomisch bedeutet.
Mehr Kredit zur Verfügung haben, heißt ja nur, man schafft Bedingungen für das Wachstum – ob diese angesichts der Lage in diesen Ländern wahrgenommen werden (können), ist eine ganz andere Sache, das ist das erste
Argument. Im Weiteren dann wird ausgeführt, was sie mit solchen Programmen allenfalls bewirken könnten.
Für die Verliererstaaten ist die Krise das Durchstreichen aller Rechnungen, die sie mit ihrer Ökonomie angestellt haben in Bezug auf das, was ihnen das an finanzökonomischer Handlungsfreiheit (die sich dann in den jeweiligen Haushaltposten niederschlägt) bringen soll. Deswegen ist ihr Standpunkt zur Krise auch: ich muss mich um mich kümmern. Staaten stehen auf dem Standpunkt, dass ihr souveränes Handeln gefragt, geboten und auch nützlich ist und sie (ge)brauchen mehr Kredit – sie brauchen ihn und wollen ihn, sie wissen nämlich ganz viel damit
anzustellen. Für solche Länder ist Krisenbewältigung eine Frage des souveränen Einsatzes von Kredit – damit setzen sie in der Krise den Standpunkt fort, den ein Staat sowieso hat, nämlich, dass er sich um seinen Standort kümmert, und zwar mit der Finanzmacht, über die er gebietet – diesen Standpunkt verlässt er auch in der Krise nicht.
Das ist einerseits sachgerecht, weil der Staat tatsächlich als Hoheit über seine kapitalistische Ökonomie ihr Bedingungen setzt, wofür er Kredit braucht. Der Kredit, den er damit stiftet, ist selber nicht nur Konkurrenzbedingung, sondern -mittel, Stoff und Sphäre von Geschäft, das dann stattfindet. Das hat andererseits den Haken, dass dieser Standpunkt der souveränen Verfügung und Bewältigung gar nicht die ganze ökonomische Wahrheit ist, sondern sich erst in der Konkurrenz herausstellt, was der Staat damit bewirkt hat, und die gibt ihm recht oder auch nicht. Und dieses: Macht und Ohnmacht staatlicher Standortpolitik mittels Kredit spitzt sich in der Krise zu: Und jetzt erst recht mit noch mehr Kredit! Aber so ein Verliererstaat kann sich auch nicht darüber hinwegsetzen, dass er es mit lauter Resultaten seiner relativen Unterlegenheit in Sachen Standortkonkurrenz zu tun und mit denen eben zu kämpfen hat.
— Das zweite Argument ist: und es ist eine Zumutung für die anderen konkurrierenden ‚Partner’, denn was da der Sache nach auf die Beine gebracht werden soll, ist, dass man als Staat instand gesetzt wird, den anderen Staaten Konkurrenzerfolge wegnehmen zu können – ein gewisser Widerspruch in dem Laden, in dem sie sich bewegen. Und die anderen sollen das auch noch anerkennen und mittragen.
Staaten geben also in der Krise den Standpunkt der Standortkonkurrenz mittels Kredit keineswegs auf (sie wären dann auch bald kein Staat mehr …).
Dann geht es um einen kurzem Überblick über die einzelnen Länder, teilweise wurden die in früheren GS (eben ausführlicher als hier) schon besprochen; es ist also sinnvoll, diese Artikel zu lesen und, falls Fragen sind, die vorher zu stellen zwecks Vorbereitung.
Diffamierung und Suggestion – die Spezialdisziplinen des ‘Spiegel’
Die Berichterstattung des Spiegel über Griechenland: Ein kritisches Resümee.
Bei der derzeitigen Berichterstattung über die wirtschaftliche und politische Krise Südeuropas – allen voran Griechenlands – ist auf eine Regelmäßigkeit stets atomuhrenwerkmäßig Verlass: Immer dann, wenn es einemdank Spitzenschlagzeilen wie „Pleitegriechen“ (Bild), „Griechen-Rettung“ (Focus), „Was steht auf der Griechen-Liste?“ (ARD), sowie dem ideologischen Starrsinn und der notorischen Uninformiertheit der hiesigen Leitmedien die Sprache zu verschlagen droht, wissen der Spiegel und seine Ableger in der ihnen eigenen Mischung aus süffisanter Diffamierung und vulgärer Suggestion stets und zuverlässig die bizarren Auswüchse des deutschen Presseneusprechs zu toppen.
Zum Wahlsieg Syrizas im Januar diesen Jahres erreichte das Sturmgeschütz der oberen zehn Prozent Höchstform, als es sich exakt deren Nöte zu eigen machte: „EU-Politiker entsetzt über griechischen Linksschwenk“ – zeigte sich SPON am 29.1. tief besorgt über die Pläne der neuen Regierung, mit Brüssel über einen Schuldenschnitt zu verhandeln, tausende Beamte im öffentlichen Dienst einzustellen und EU-Sanktionen gegen Russland zu blockieren. Denn „Pläne zum Privatisierungsstopp hatten den griechischen Aktienmarkt am Mittwoch stark belastet“ (ebd.).
Bereits eine knappe Woche vorher, am 23.01., hatte der Chef der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, mittels Spiegel-Interview mit einem „Hilfsstopp“ gedroht, falls ein Regierungswechsel im Mutterland der Demokratie tatsächlich – Gott bewahre! – auch einen Politikwechsel bewirke. „Einfach nur Geld zu geben, ohne die Probleme anzugehen, würde bedeuten, dass Griechenland für immer auf Kredite angewiesen ist.“ (ebd.)
Dass die neue griechische Regierung genau dies versuchte – hatte sich doch dank den seit 2007 durch die Troika aus IWF, EZB und Kommission oktroyierten sogenannten Hilfsmaßnahmen laut OECD die Arbeitslosigkeit von sieben auf 28 Prozent vervierfacht, waren die öffentlichen Schulden von 144 auf 175 Prozent gestiegen, das Wirtschaftswachstum von drei auf minus drei Prozent gefallen, sowie Ungleichheits- und Armutsindikatoren in die Höhe geschnellt – nahmen die bornierten Betonköpfe vom Spiegel selbstverständlich nicht zur Kenntnis. „Höhere Renten, neue Jobs für fast zehntausend bereits gekündigte Staatsbedienstete, zahlreiche Leistungen für Bedürftige, Anhebung des Mindestlohns, Verzicht auf Privatisierungen […]“ seien schließlich, was auch sonst, ein „Reformstopp“, analysierte Florian Diekmann wiederum sumpfklug und tellertief auf SPON am 29.01.
Lieber machte man sich daher am gleichen Tag darüber Gedanken „Wie Europa Tsipras zähmen will“: „Verhandlungen kann es geben, aber nicht als Folge von Erpressung“, kommentierten die militant konformistischen Gedankenakrobaten von SPON allen ehrwürdigen Ernstes durchaus unabhängig von der Frage, wer eigentlich wen über Jahre hinweg, entgegen aller Vernunft und schlechter Erfahrung, zur Reduzierung von Renten, Sozial- und Gesundheitsleistungen, Anhebung der Mehrwertsteuer, Absenkung der Mindestlöhne und zur Anhebung des Rentenalters erpresst hatte. Das Zitat „Ich habe keinen Bock, ideologische Debatten zu führen mit einer Regierung, die gerade mal zwei Tage im Amt ist“, ließ man dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz dann auch ohne mit der Wimper zu zucken, durchgehen. Der Mann ist übrigens genau wie Dijsselbloem Sozialdemokrat. Streng unideologisch unterschlug man seit jeher, dass des einen Schulden des anderen Profite sind.
‘Spiegel online’ – Sturmgeschütz der oberen zehn Prozent
„Exportweltmeister“ (SPON, natürlich) Deutschland hatte laut der Friedrich-Ebert-Stiftung seit der Einführung der Einheitswährung bis zum Jahr 2009 bereits 600 Milliarden Euro Außenhandelsüberschüsse im Außenhandel generiert. Die deutschen Auslandsforderungen belaufen sich laut Bundesbank inzwischen auf über 1,5 Billionen (!) Euro netto. 100 Milliarden Euro kamen seither aus den südlichen Peripheriestaaten – mehr als in der gleichen Zeit aus den USA. Deutschland profitierte, angefeuert durch Dumpinglöhne der Sorte Hartz IV, wie kein Zweiter vom griechischen Schuldenmachen und haut dem Land nun seine Agenda 2010 quasi als letzten Exportschlager um die Ohren.
Bereits eine zwischen den Jahren 2008 und 2012 erstellte Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Berichterstattung deutscher Leitmedien zum Thema Armut, Reichtum und Eurokrise kam zum vernichtenden Ergebnis, es handele sich hier „um einen Fall von Pressefeigheit. […] Eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen, die ihre Interessen ohne Worte zur Geltung bringen können, findet nicht statt.“ Insbesondere Zusammenhänge seien kaum erkennbar, wenn das Thema denn überhaupt Erwähnung finde. Am blödesten jedoch hatte sich, wie nicht anders zu erwarten, das pseudokritische Käseblatt aus Hamburg angestellt: „Das Medium beschäftigt sich nach nicht erkennbaren handwerklich-inhaltlichen Kriterien […] punktuell, wenig engagiert und damit unzuverlässig mit dem untersuchten Themenfeld […].“
Geradezu exemplarisch hatte es schwindeln gemacht, als sich Dirk Kurbjuweit im Spiegel 22/2011 auf die Suche nach den Schuldigen der Krise begab: Schuld seien Politiker, die „hilflos“ wirken. „Sie treffen sich in Brüssel, reden, streiten, beschließen, aber nichts wird besser.“ Wie aber ausgerechnet die Politiker beschließen können, dass alles besser wird, erfuhren wir nicht. Schließlich seien „Finanzmärkte“ und „Rating-Agenturen“ „der neue Souverän“, der „gierig und nur an Zahlen interessiert“ sei – und nicht etwa an Nächstenliebe und Armenspeisung. Davon hätte es ohnehin bereits viel zu viel gegeben: Griechisches „Lotterleben“ und „eine Politik, die sich nicht zügeln kann, die ihre Bürger möglichst wenig belasten und möglichst viel beschenken will“, seien „noch nicht die ganze Erklärung.“ Abgesehen davon, dass das Land, genau wie jedes andere in der EU, im Zuge der weltweiten Finanzkrise milliardenschwere Rettungsprogramme für seinen Bankensektor auflegen musste. Gefahr für die Demokratie sei im Verzug: „Junge Menschen entwickeln Utopien, die weit jenseits der bürgerlichen Gesellschaft liegen, weil sie von der nichts mehr erwarten.“ Beim Spiegel begnügte man sich zur Krisenlösung derweil mit „Demut“, „Anstand“ und „Würde“. Dann doch lieber freiwillige Selbstkontrolle im Finanzsektor?
Doofheit oder Propganda? Am Ende ist es das Gleiche
Wie indes Anstand und Würde beim Uni Spiegel aussehen, demonstrierte Sebastian Kempkens, als er im Februar diesen Jahres ergründete, warum der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis unter den Studenten seines Landes derzeit große Beliebtheit genießt. Sind es seine politischen Positionen? Ist es sein akademisches Renommee? Aber nicht doch: „Der Kerl hat alles. Er ist ein genialer Wissenschaftler. Er fährt Motorrad. Er ist lustig und charmant. Er ist einer fürs Bett, man sagt, er sei eine Sexmaschine. Er ist der perfekte Mann“, zitierte die Seite um Seite dämlicher werdende Revolvergazette eine griechische Studentin. Ein linker Finanzminister wie Varoufakis als sexueller Fetisch und Verführer naiver griechischer Mädchen – so lässt sich eine unliebsame Regierung natürlich auch diskreditieren. Denn wo man den zentralen Fragen der ökonomischen und politischen Ordnung Europas intellektuell nicht beikommt bzw. gar nicht beikommen will, hilft nur noch der Skandal, die personalisierte Sexgeschichte der Bildzeitung, abgedruckt im UniSPIEGEL.
Ist das alles nur Doofheit oder schon Propaganda? Ein Blick in in die Kommentarspalten, frei nach dem Motto „Spiegel-Leser pöbeln mehr“, genügt: „Tsipras, halt dein freches Maul. Wie lange noch belügst du den Rest der Eurozone, weil du glaubst, je abgebrühter, desto besser deine Verhandlungsbasis!“ (27.5). Am Ende ist es das Gleiche.
Eine Schnellschätzung von Eurostat [PDF – 63,5 KB], dem statistischen Amt der Europäischen Union, ergab in der vorletzten Woche, dass das saisonbereinigte reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Griechenland im ersten Quartal 2015 im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent gesunken ist. Da die Wirtschaftsleistung des Landes bereits im vierten Quartal 2014 um 0,4 Prozent geschrumpft war, befindet sich Griechenland nach einer gängigen Definition damit wieder in einer Rezession (zwei Minus-Quartale in Folge). Von Günther Grunert[*].
Dabei hatten Politik und Medien hierzulande noch Mitte November letzten Jahres die angebliche wirtschaftliche Wende in Griechenland gefeiert: Damals waren gerade von Eurostat die neuesten Wachstumsraten des BIP für das dritte Quartal 2014 publiziert worden, nach denen Griechenland (zusammen mit Slowenien) mit einem realen BIP-Wachstum von 0,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal die Spitzenposition im Euroraum einnahm.[1] Entsprechend groß war der Jubel: Vom „Wachstumschampion der Eurozone“ (Spiegel online), vom „Überraschungssieger“ Griechenland (Deutschlandfunk) und davon, dass sich die Reformen nun auszahlten, war die Rede. Andreas Scheuerle von der Dekabank glaubte gar einen allgemeinen Trend zu erkennen: „Die Länder, die in Europa Reformen vorangebracht haben, die zeichnen sich jetzt durch hohe Wachstumsraten aus. Und das ist schon einmal eine ganz gute Botschaft“ (Deutschlandfunk).
Seit sich die wirtschaftliche Lage Griechenlands im letzten Quartal 2014 wieder verschlechtert hat, ist auch das Lob für die „vorangebrachten Reformen“ verstummt. Nun wird wieder das genaue Gegenteil behauptet, nämlich, dass wirkliche Reformen in Griechenland bislang noch gar nicht stattgefunden hätten. So kritisiert etwa Jens Weidmann, der Präsident der Deutschen Bundesbank, die Reformbemühungen Griechenlands als unzureichend, und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schreckt laut Spiegel online bei seiner Mahnung an Griechenland, nun endlich aktiv zu werden, selbst vor einer versteckten Drohung nicht zurück: „Ein drittes Hilfspaket für Athen ist nur möglich, wenn die Reformen auch umgesetzt werden“. Sehr beliebt ist in diesem Zusammenhang bei deutschen Politikern aller Parteien (außer vielleicht der Linken) die Aufforderung an die angeblich reformunwilligen Griechen, statt zu lamentieren erst einmal ihre „Hausaufgaben zu machen“ (vgl. z.B. hier, hier, hier oder hier). Offenbar ist noch niemandem aufgefallen, wie sehr gerade dieser herablassende und dumme Spruch, der wie die Zurechtweisung eines uneinsichtigen Schülers klingt, dazu beiträgt, das Bild des deutschen Oberlehrers in der Eurozone zu festigen.
Und selbstverständlich ist an dem erneuten Einbruch der griechischen Wirtschaft die Regierung Tsipras schuld, auch wenn sie sich erst seit Ende Januar 2015 im Amt befindet, das Negativwachstum aber schon im vierten Quartal 2014 begonnen hat. So behauptet etwa Christian Schulz vom Bankhaus Berenberg laut finanzen.net: „Wie erwartet hat der desaströse Start der griechischen Regierung das Land von einer beginnenden Erholung zurück in die Rezession geführt“ (ähnlich die Welt vom 8. 4. 2015: „So würgt Tsipras den griechischen Aufschwung ab“).
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble nimmt demgegenüber zumindest zur Kenntnis, dass der offizielle Rückfall der griechischen Wirtschaft in die Rezession schon Monate vor dem Amtsantritt der von Syriza geführten Regierung begonnen hat. Aber das ändert seiner Meinung nach nichts an der Verantwortung der Regierung Tsipras: Bis zum Herbst des letzten Jahres – so Schäuble – habe sich die Wirtschaft Griechenlands besser entwickelt, als dies von allen Experten vorhergesehen worden sei. „Die neue Regierung hat dann im Wahlkampf und nach der Wahl alle guten Zahlen zerstört“, zitiert die Süddeutsche Zeitung den Finanzminister. So ist sie, diese Syriza: Bevor sie überhaupt an der Regierung ist, hat sie die griechische Wirtschaft bereits in den Ruin getrieben, allein durch ihren Wahlkampf!
Man muss einen solchen Unsinn nicht kommentieren; er kommentiert sich selbst. Aber auch die anderen, oben genannten „Argumente“ erweisen sich bei genauerer Betrachtung als substanzlos. Das gilt zunächst für die Behauptung Schäubles und vieler anderer, die griechische Wirtschaft habe sich vor ihrem Einbruch im vierten Quartal 2014 in einem stabilen Aufschwung befunden. Wir haben an anderer Stelle (Grunert 2015) schon zu Anfang dieses Jahres darauf hingewiesen – und vorher schon der australische Ökonom Bill Mitchell (2014) – , dass das vielumjubelte reale Wachstum Griechenlands im dritten Quartal 2014 vermutlich primär darauf zurückzuführen ist, dass in Griechenland zu dieser Zeit die Preise bereits schneller sanken als die Einkommen[2] (vgl. dazu auch Spiegel online vom 13.1.2015). Die griechische Wirtschaft befand sich also in einer offenen Deflation und nicht etwa am Beginn einer dynamischen und nachhaltigen Aufwärtsbewegung. Die Erfolge der „Reformpolitik“, der „gute Weg“, auf dem sich Griechenland nach Schäubles Ansicht im letzten Jahr bereits befand, sind mithin reine Illusion.
Kaum noch nachvollziehbar ist darüber hinaus die Behauptung, die Probleme Griechenlands resultierten daraus, dass die griechische Regierung „keinen entschlossenen Reformkurs“ (so auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter in der Süddeutschen Zeitung) fahre. So zeigt etwa eine neue Studie von Giannitsis/Zografakis, dass in Griechenland zwischen 2008 und 2012 die gesamten zu versteuernden Einkommen aller Haushalte um 22,6 Prozent, die gesamten Lohneinkommen gar um 27,4 Prozent gesunken sind (Giannitsis/Zografakis 2015, S. 24ff). Letzteres ist zu einem wesentlichen Teil eine Folge der radikalen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in Griechenland, die u.a. mit einer Lockerung des Kündigungsschutzes, einer Senkung des Mindestlohns im Privatsektor um 22 Prozent, einer Schwächung der Tarifvertragsstrukturen und einer Reduzierung der Abfindungen einherging.
Die Zahl der im öffentlichen Sektor beschäftigten Arbeitnehmer ist seit 2009 – je nach Abgrenzung – zwischen 20 Prozent und über 30 Prozent verringert worden[3], zusätzlich kam es seit 2010 zu deutlichen jährlichen Budgetkürzungen im öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen, im Transportwesen und bei den staatlichen Sozialleistungen. Viele Vermögenswerte in Staatsbesitz sind mittlerweile privatisiert worden (Polychroniou 2015). Nach einer erst jüngst erschienenen Analyse der konservativen Industrieländerorganisation OECD, die mit Hilfe eines „Reform Responsiveness“-Indikators (zur Berechnung vgl. OECD 2015, S. 106) die Reformintensität insgesamt in den OECD-Ländern im Zeitraum 2007 bis 2014 vergleicht, weist Griechenland die höchste Reformaktivität aller in die Untersuchung einbezogenen 30 Länder aus und liegt damit weit vor Deutschland, das abgeschlagen auf dem vierundzwanzigsten Platz rangiert (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: Reformintensität insgesamt im Zeitraum 2007 bis 2014
Quelle: OECD 2015, S. 109
Wenn es wirklich stimmte, dass die Reformtätigkeit in einem Land sein Wirtschaftswachstum maßgeblich positiv beeinflusst, hätte Griechenland ein wahres Wachstumswunder erleben müssen. In jedem Fall aber geht die Behauptung, die Reformbereitschaft in Griechenland sei unzureichend und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes seien darauf zurückzuführen, dass es sich weigere, seine „Hausaufgaben zu machen“, komplett an der Realität vorbei.
Dabei sind die Wachstumszahlen Griechenlands eigentlich sehr einfach zu interpretieren, wenn man die ideologischen Scheuklappen ablegt (vgl. zum Folgenden auch Flassbeck 2015a, 2015b). Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, verzeichnete Griechenland von Anfang 1995 bis zum globalen Einbruch im Zuge der „großen Rezession“, die im Jahr 2008 begann, eine durchaus erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung – trotz der Vielzahl vermeintlicher struktureller Hemmnisse (zu denen oft auch Steuerhinterziehung und Korruption gezählt werden), die ja nicht schlagartig erst mit Beginn der Finanzkrise aufgetreten sind.
Abbildung 2: Vierteljährliche Wachstumsrate des realen BIP in Griechenland – Prozentuale Veränderung gegenüber dem Vorquartal
Quelle: Mitchell 2015
Anders als etwa Deutschland reagierte Griechenland, das bereits ein großes staatliches Budgetdefizit, einen hohen öffentlichen Schuldenstand und hohe Leistungsbilanzdefizite aufwies, nicht mit staatlichen Konjunkturprogrammen auf den massiven wirtschaftlichen Einbruch und geriet immer tiefer in die Krise und immer mehr unter den Druck der Finanzmärkte, an denen die Anleger schließlich prohibitiv hohe Zinssätze von Athen verlangten.[4]
Dann kam die „Rettung“ durch die Troika in Form von Hilfsprogrammen (das erste Programm im Mai 2010) – verknüpft mit rigiden Sparauflagen, die wesentlich auf Bestreben der deutschen Bundesregierung zustande kamen. Diese ökonomisch widersinnigen Auflagen für die Hilfsgelder stürzten die bereits durch die globale Finanzkrise angeschlagene griechische Wirtschaft in die Katastrophe. Wie aus Abbildung 2 ersichtlich, sank das reale BIP in Griechenland ab Mitte 2009 18 Quartale hintereinander (wie oben erwähnt, befindet sich ein Land nach einer gängigen Definition bereits in der Rezession, wenn seine Wirtschafsleistung nur zwei Quartale in Folge rückläufig ist). Das reale BIP ist damit heute um rund ein Viertel niedriger als bei seinem Höchststand vor Rezessionsbeginn im Jahre 2008.
Der Umfang des ökonomischen Niedergangs und die Folgen für die Zukunft Griechenlands zeigen sich noch deutlicher am Arbeitsmarkt (dazu ausführlicher Antonopoulos et al. 2015). So sank die Gesamtzahl der Beschäftigten in Griechenland von 2008 bis zum dritten Quartal 2014 um mehr als eine Million. Dies entspricht einem Rückgang von rund 23 Prozent.[5] Das Tempo der Arbeitsplatzverluste erhöhte sich dabei mit Beginn der Austeritätsjahre: Rund 77 Prozent des Beschäftigungsrückgangs entfallen auf den Zeitraum 2010 bis 2014 (vgl. auch Abbildung 3).
Abbildung 3: Gesamtbeschäftigung in Griechenland, 1998 bis 2014
Quelle: Antonopoulos et al. 2015, S.6
Zwar fiel die Zahl der Arbeitslosen in Griechenland zuletzt leicht von 1,32 Millionen im dritten Quartal 2013 auf 1,23 Millionen im gleichen Quartal 2014 (nachdem sie im Jahr 2008 im selben Zeitraum nur knapp 364 000 betragen hatte), aber der Anteil der Langzeitarbeitslosen, d.h. der Anteil derjenigen, die seit vier oder mehr Jahren ohne Job sind, stieg von 18,2 auf 25,1 Prozent (Antonopoulos et al. 2015, S. 10). Das ist eine fatale Entwicklung, da sich bei fortdauernder Langzeitarbeitslosigkeit für die Betroffenen die Chancen auf Wiedereinstellung aufgrund von Qualifikationsverlusten und negativer Signale an potenzielle Arbeitgeber immer mehr verringern.
Bedenkt man darüber hinaus, dass die Jugendarbeitslosenquote in Griechenland immer noch bei über 50 Prozent liegt, also ein Großteil der Jugend vom Erwerb von Qualifikationen, Fertigkeiten, Erfahrungen und Arbeitseinstellungen für eine erfolgreiche spätere Berufstätigkeit ausgeschlossen ist, und dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 – 74 Jahre) – nach einem Höchststand von 8,48 Millionen im vierten Quartal 2007 – seit Beginn der Krise wegen mangelnder Arbeitskräftenachfrage und daraus resultierender Emigration gerade qualifizierter griechischer Arbeitskräfte kontinuierlich um 0,5 bis 1 Prozentpunkte pro Jahr abnimmt (Antonopoulos et al. 2015, S. 5), so offenbart sich das ganze Ausmaß des ökonomischen und menschlichen Desasters, das die verfehlte Austeritätspolitik in Griechenland angerichtet hat und dessen Folgen dort noch jahrzehntelang spürbar sein werden.
[«*] Grunert, Günther, Dr., geb. 1955, ist an den Berufsbildenden Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben vor allem im Bereich Berufs- und Fachoberschule Wirtschaft tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Makroökonomie, internationale Wirtschaftsbeziehungen, Arbeitsmarkt.
[«1] Nach den revidierten Daten von Mai 2015 liegt Griechenland im dritten Quartal 2014 allerdings nur noch auf dem dritten Platz in der Liste der wachstumsstärksten Euroländer.
[«2] Etwas genauer: Für die Wachstumsraten g (= prozentuale Änderung) gilt näherungsweise: g BIPr = g BIPn – g P. Dies heißt, dass die Wachstumsrate des realen BIP (g BIPr) ungefähr (nicht mathematisch exakt, aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle) der Differenz zwischen der Wachstumsrate des nominalen BIP (g BIPn) und der Wachstumsrate des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus (g P), also der Inflationsrate, entspricht. Beträgt also beispielsweise in einer Volkswirtschaft die Wachstumsrate des nominalen BIP -2 Prozent, die Inflationsrate gleichzeitig -3 Prozent (herrscht also Deflation vor), so ist die Wachstumsrate des realen BIP = +1 Prozent: 1 = -2 – (-3).
[«3] Anders als oft behauptet war der öffentliche Sektor in Griechenland nie überdimensioniert; vielmehr unterschied sich seine Größe nicht wesentlich von der in anderen EU-Ländern. So betrug nach Daten der ILO (International Labour Organization) in Griechenland im Jahr 2010 der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Sektor an der Gesamtzahl der Beschäftigten 22,3 Prozent. Die entsprechenden Vergleichswerte für z.B. Frankreich und das Vereinigte Königreich lagen bei 20 resp. 25,1 Prozent (Antonopoulos et al. 2015, S.6).
[«4] Ein souveräner Staat, der seine eigene Währung emittiert (also etwa der Staat der USA), kann stets seinen in dieser Währung denominierten Verbindlichkeiten nachkommen und deshalb nicht pleitegehen. Anders sieht es bei Griechenland aus, das mit dem Eintritt in die Eurozone seine Währungssouveränität aufgegeben hat und stattdessen eine Fremdwährung (den Euro) verwendet. Der griechische Staat ist damit ebenso wie die Staaten aller anderen Euroländer dem Risiko der Zahlungsunfähigkeit ausgesetzt. Zu viele Schulden schrecken die Finanzmärkte auf und führen zu steigenden Risikoaufschlägen für die Anleihen der betroffenen Staaten. Letztendlich hätte die Befreiung Griechenlands und der anderen Euro-Krisenländer aus ihrer wirtschaftlichen Notlage eine radikale Änderung der Fiskal- und vor allem der Lohnpolitik in den übrigen Euroländern (und hier insbesondere in Deutschland) sowie eine stärkere Unterstützung durch die Europäische Zentralbank (sofortige Ankündigung eines notfalls unbegrenzten Ankaufs von Staatsanleihen Griechenlands und der anderen Krisenländer, um damit den desaströsen, gänzlich verselbstständigten Zinsanstieg zu stoppen) erfordert. Dies blieb jedoch aus.
[«5] Berechnet als der Unterschied zwischen der (Jahres-) Beschäftigung 2008 und der durchschnittlichen Beschäftigung von Januar bis September 2014 (nach ELSTAT, der griechischen Statistikbehörde).
„Frau Bundeskanzlerin, diese Rede wollen wir von Ihnen hören“ unter dieser Überschrift veröffentlichte die Bild-Zeitung gestern einen Entwurf einer Regierungserklärung für Angela Merkel. Bild schreibt der Kanzlerin darin vor, was sie sagen müsste. Die klare Botschaft an die griechische Regierung lautet: „Es reicht!“. In diesem Beitrag finden sich geballt die Behauptungen, Halbwahrheiten und Lügen mit der die Bild-Zeitung seit Jahren gegen „die Griechen“ und zuletzt vor allem gegen die neue griechische Regierung hetzte. Wir haben Niels Kadritzke gebeten, diese Behauptungen einmal unter die Lupe zu nehmen.
Behauptung
„Fünf Jahre lang haben wir dafür gearbeitet, dafür gerungen, dass Griechenland Teil der Euro-Familie bleibt.
Fünf Jahre haben wir dafür gekämpft, Griechenland vor der Staatspleite zu retten.
Dafür hat Deutschland allein 87 Milliarden direkte Garantien und Notenbank-Kredite bereitgestellt.
Wir sind bis an die Grenzen des Leistbaren gegangen und manchmal auch darüber hinaus.“
Niels Kadritzke: Das ist schon zum Auftakt eine wunderbare Pointe: Die Redaktion der Zeitung, die unserer Bundeskanzlerin das Bekenntnis in den Mund legt, fünf Jahre lang für den Verbleib Griechenlands in der „Euro-Familie“ gekämpft zu haben, tut seit fünf Jahren nichts anderes, als ihren Lesern einzureden, dass dieses Land in der Eurozone nichts zu suchen hat. Zu Beginn der Krise schickte BILD einen Reporter los, der auf Athens Straßen versuchte, den Passanten alte Drachmen-Scheinen aufzudrängen und damit auf den Grexit einzustimmen (zu seiner Enttäuschung wollten die Leute von der Drachme nichts wissen). Es folgte eine Kaskade von Berichten, angeblichen Reportagen, Aufrufen an Bundestagsabgeordnete, die stets das eine Ziel hatten: den Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone zu propagieren.
Der gestern publizierten Grexit-Rede, mit der sich die Redaktion als Ghostwriter für die Kanzlerin anbietet, ging ein Coup der besonderen Art voraus: Im März interviewte BILD den Chefideologen der Grexit-Fraktion innerhalb der Syriza, Kostas Lapavitsas. Der in England ausgebildete und heute im Athener Parlament sitzende Ökonom wurde zur gezielten Desinformation der Leser als „einer der wichtigsten Berater von Alexis Tsipras“ vorgestellt. In Wirklichkeit ist Lapavitsas, der die „Linke Plattform“ innerhalb der Syriza repräsentiert, der entschiedenste innerparteiliche Widersacher von Tspipras und Varoufakis in der Grexit/Drachmen-Frage. Was man natürlich auch in der BILD-Redaktion weiß.
„Bis an die Grenzen des Leistbaren?“
Wenn heute laut Umfragen eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger für den Grexit ist, muss man diese Umfrage-Zahlen auch als Belohnung für die publizistische-propagandistische Leistung des deutschen Zentralorgans der Grexit-Betreiber sehen. Aber was erzählen die angemaßten Merkel-Ghostwriter ihren Lesern. Sehen wir etwas genauer hin: Es fängt gleich mit einer faustdicken Desinformation an: dass Deutschland in selbstloser Solidarität mit Griechenland „bis an die Grenzen des Leistbaren“ gegangen sei, „und manchmal auch darüber hinaus“.
„Grenze des Leistbaren“? Lassen wir an dieser Stelle mal beiseite, an welche Grenzen des Leistbaren sich heute, im sechsten Jahr der Krise und der „Rettungsprogramme“, die große Mehrheit der Griechen befindet (die Zahlen sprechen für sich: eine um mehr als 25 Prozent geschrumpftes Wirtschaft; eine Arbeitslosenquote, die immer noch bei 26 Prozent liegt und im letzten Quartal wieder leicht angestiegen ist; fast eine Million Langzeitarbeitslose ohne jedes Einkommen; zwei Millionen Menschen ohne jegliche Krankenversicherung).
Hier geht es um den Teil der deutschen „Leistungsbilanz“, die BILD seinen Lesern vorenthält: um die „geldwerten Vorteile“, die Deutschland aus der griechischen Katastrophe erzielen konnte.
Deutschland zahlt seit Beginn der Eurokrise einmalig niedrige Zinsen für seine eigenen Staatspapiere: die 10-Jahres-Bundesanleihen finanzieren einen Teil unserer Staatsausgaben praktisch durch zinslose Kredite. Die Ersparnis der öffentlichen Hand seit 2010 wird auf 60 bis 80 Milliarden Euro geschätzt. Die Null-Verschuldung des deutschen Staates ist also teilweise ein Resultat der großzügigen Rettungsprogramme.
Der Exportweltmeister Deutschland profitiert ganz besonders stark vom Fall des Euro-Preises, der eine unmittelbare Folge der Krise des europäischen Südens ist.
Den vielleicht bedeutendsten Kollateralnutzen hat die deutsche Volkswirtschaft dank des Imports junger, gut qualifizierter Arbeitskräfte aus den Krisenländern, die in ihrer Heimat keine Perspektive haben. Fachkräfte fehlen (z.B. Mediziner); das bedeutet einen Transfer von wertvollem Knowhow, ohne dass unsere Gesellschaft für die entsprechende Ausbildung gezahlt hätte.
Und diese Liste der Krisengewinne ist längst noch nicht vollständig.
Richtig ist, und das hat eine deutsche Regierung ihren Bürgern auch zu erklären, dass ein Schuldenschnitt – auch in Form verminderter Zinsen und längerer Rückzahlungsfristen für die Griechenland-Kredite aus dem bail-out-Progamm – erstmals auch den deutschen Steuerzahler belasten würden (wenn auch weit weniger als die nackten Zahlen besagen). Aber hier wäre eine Rechnung aufzumachen, die BILD seinen Lesern verschweigt: auf jedem Fall würden diese deutschen „Krisenverluste“ deutlich unter den bislang erzielten Krisengewinnen liegen.
Behauptung:
Nach der BILD-Merkel hält die neue griechische Regierung nicht, was sie verspricht: „Weder wurden Betriebe privatisiert, noch wurde ein funktionierendes Steuersystem in Gang gesetzt“.
Niels Kadritzke: Zu dieser Behauptung sind zwei Anmerkungen fällig:
Zum einen wird der neuen Regierung der Wortbruch ihrer Vorgänger-Regierungen in die Schuhe geschoben, die in der Tat das Steuersystem nicht oder nur zögerlich reformiert und nur wenig gegen die Steuerhinterziehung getan haben. Zwar hätte auch die Regierung Tsipras in den ersten Monaten ihrer Amtszeit mehr tun können (und ohne eine Vereinbarung mit den Gläubiger-Institutionen abzuwarten), aber ihr Interesse am Kampf gegen die Steuersünder ist deutlicher ausgeprägter als das der abgewählten Regierung Samaras. Allerdings hat sie einige sehr problematische gesetzliche Regelungen erlassen, die auf eine allzu milde Amnestie von Steuersündern gleichkommen. Dieses falsche Signal an die Steuersünder ist allerdings zum Teil auf den Druck zurückzuführen, den die Gläubiger ausüben: Um den verarmten Schichten weitere soziale Einschnitte zu ersparen, will die Regierung Tsipras möglichst schnell die ausstehende Steuerschulden eintreiben. Damit gewinnt das Ziel der Haushaltssanierung eine fatale Priorität auf Kosten langfristig tragfähiger Lösungen.
Die zweite Anmerkung betrifft die Privatisierungen. Auch hier ist schon die alte Regierung weit hinter den gesteckten bzw. auferlegten Zielen zurückgeblieben, weil diese schlicht illusionär waren. Die wenigen bislang durchgezogenen Privatisierungen (die lediglich etwas über 3 Milliarden Euro in die Staatskasse brachten) liefen eher auf einen billigen Ausverkauf hinaus, weil nur Krisentiefstpreise erzielt werden konnten. Zudem hat der Staat, etwa beim (Aus)Verkauf der staatlichen Lotto-Gesellschaft, auf sehr viel höhere laufende Staatseinnahmen verzichtet. Angesichts dieser negativen Erfahrungen verhält sich die Regierung Tsipras völlig rational. Sie lehnt Privatisierungen nicht grundsätzlich ab, besteht aber auf zwei Bedingungen:
die öffentliche Hand soll einen Mindestanteil an dem privatisierten Unternehmen behalten, um bei der Geschäftspolitik mitreden zu können,
die privaten Käufer sollen verbindlich auf Investitionen verpflichtet werden, die einen Beitrag zur Erholung der Wirtschaft leisten können.
Behauptung
„Griechenlands Schuldenpolitik ist unsolidarisch. Ein Beispiel: Um zu sparen, hat Italien die Frührente für Mütter abgeschafft. Nur in Griechenland gibt es sie noch. Alle müssen dafür zahlen, auch Italien.
Aber es kann doch nicht sein, dass wir in Europa sparen und reformieren – und nur Griechenland macht weiter, als wäre nichts geschehen!
Und dann das Renteneintrittsalter: Wer 56 Jahre alt ist und im öffentlichen Dienst in Griechenland arbeitet, der kann vorzeitig in Rente gehen.
Zahlen für diese Sozialmaßnahmen muss der Rest der EU!“
Niels Kadritzke: Griechenlands Schuldenpolitik war in der Tat unsolidarisch, weil sie die Lasten der Krise fundamental ungerecht verteilt. Beleg dafür ist, dass sich die Ungleichheit in der Krise noch weiter verschärft hat.
Aber das meint die BILD-Kanzlerin nicht. Sie spielt vielmehr „die Griechen“ gegen „die Italiener“ und andere Südländer aus. Was schon deshalb demagogisch ist, weil kein Land der Eurozone eine auch nur annähernde vergleichbare Reduktion der Masseneinkommen (um 35 bis 40 Prozent) aufweist wie Griechenland. Wobei die Einbußen am verfügbaren Einkommen noch höher liegen, weil die steuerliche Belastung selbst der ärmsten Schichten erheblich angestiegen ist. Dies gilt auch für die Rentenbezüge, die im Durchschnitt so niedrig liegen, dass fast 45 Prozent aller Rentner inzwischen als „armutsgefährdet“ einzustufen sind, weil ihr verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent der Medianeinkommen beträgt.
Dennoch will BILD die „unsolidarischen“ Griechen wieder einmal mit Verweis auf das Rentensystem „überführen“. Die Ebene ist allerdings nicht ungeschickt gewählt: Kein Mensch kann bezweifeln, dass das griechische Rentensystem vor der Krise einer der Ursachen für die hohen Defizite war, die in den Sozialkassen und damit im Staatshaushalt aufgelaufen sind. Das weiß heute nicht zuletzt die Regierung Tsipras, die erkannt hat, dass der hohe Anteil von Frühverrentungen im öffentlichen Sektor der entscheidende Faktor ist, die das Rentensystem an den Abgrund gebracht hat.
Aber nach klassischer Bild-Methode sind die pauschalen Behauptungen im Detail falsch und im Ganzen irreführend.[*] Unsinn ist vor allem die Behauptung, dass „der Rest der EU“ für griechische „Sozialmaßnahmen“ zahlen muss. Im Gegenteil: für die noch bestehenden Ungerechtigkeiten – vor allem im Hinblick auf Frührenten – zahlen allein die Ärmsten der armen Griechen, weil das Sozialsystem zum Beispiel keinerlei Vorsorge für Langzeitarbeitslose kennt, deren einzige Überlebenshilfe häufig die Rente des Ehepartners oder gar der Eltern oder Großeltern darstellt.
Nun aber zu den Detail der Merkel-Rede von Bild:
Die pauschale Rede von einer „Frührente für Mütter“ ist grob irreführend. Es gab und gibt sie nur für Mütter, die beim Eintritt ins (vorgezogene) Rentenalter noch schulpflichtige Kinder haben. Für die überwiegende Mehrheit der weiblichen Erwerbstätigen trifft dieses Kriterium nicht zu, weil ihre Kinder beim Erreichen des Rentenalters bereits erwachsen sind.
Vor der Krise konnten öffentliche Bedienstete tatsächlich mit 56 Jahren in Frührente gehen; diese niedrige Grenze wird aber schrittweise erhöht, bis sie (in zehn Jahren) bei 62 Jahren liegen soll, während das reguläre Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wird. Gerade in diesem Punkt hat die neue griechische Regierung eingesehen, dass das alte System nicht mehr finanzierbar ist. Aber sie hat auch kapiert, dass die von der Troika geforderte zügige „Verschlankung“ des öffentlichen Dienstes, die seit 2009 über eine Welle von Anträgen auf Frührenten erfolgte, die Rentenkassen an den Rand des Abgrunds geführt hat.
Genau diese Erfahrung ist der Grund dafür, dass es in einem wichtigen Detail – trotz der Übereinstimmung in der Grundsatzfrage – gewichtige Differenz zwischen Athen und den „Institutionen“ der alten Troika gibt. Letztere, und vor allem der IWF, wollen die Griechen zwingen, die Altersgrenze für Frühverrentung sofort (also spätestens Anfang 2016) und mit einem Schlag auf 62 Jahre anzuheben. Das aber hätte zur Folge, dass in den kommenden Wochen und Monaten Zehntausende Bedienstete des öffentlichen Sektors (öffentlicher Dienst wie öffentliche Unternehmen, aber auch halbstaatliche Banken) noch schnell nach den alten Bedingungen ihre Frührente beantragen würden. Das würde die Kassen schlagartig überlasten und unverzüglich in den Bankrott stürzen, den eine mittel- und langfristige Reform ja gerade abwenden soll.
Dies ist ein klassisches Beispiel für irrationale und kontraproduktive Forderungen der Gläubiger. Und die Regierung Tsipras hat in der Sache völlig Recht, wenn sie ein so wichtiges strukturelles Problem wie die langfristige Sanierung der Kassen auf eine spätere Verhandlungsphase verschieben will.
Behauptung:
„Griechenlands politische Führung ist dabei, dem Ansehen der Europäischen Union viel Schaden zuzufügen. Wir müssen aufpassen, dass die Bürger sich nicht von Europa abwenden.
Sigmar Gabriel hat ausgesprochen, was viele denken: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“
Der nationale Weg, den Griechenland geht, bedeutet in letzter Konsequenz, dass es nicht mehr Teil der Euro-Familie sein will und auch nicht mehr bleiben kann.
Meine Damen und Herren; Griechenland gilt wegen seiner Geschichte zu Recht als Wiege Europas. Und auch mit dem Austritt aus dem Euro-Raum bleibt das Land ein wichtiges Mitglied der Europäischen Union. Geben wir Griechenland die Zeit, sich selbst zu erneuern.
Für seine Menschen und für Europa.“
Damit ist der Gipfel der Demagogie erreicht: Die Bundesregierung, repräsentiert durch desinformierte und desinformierende Bild-Redakteure, kennt die Interessen der griechischen Bevölkerung besser als diese selbst. Wenn sich ein Boulevard-Blatt zum Sprachrohr der deutschen Bevölkerungsmehrheit macht, die die Griechen aus dem Euroraum verstoßen will, darf man sich nicht groß wundern. Aber wenn es sich als Anwalt der armen Griechen aufspielt, macht das nur noch sprachlos.
BILD klärt also nicht nur die deutsche Gesellschaft auf, sondern auch die griechische, die noch gar nicht kapiert hat, dass sie „nicht mehr Teil der Euro-Familie sein will“. Obwohl regelmäßig drei von vier Griechen (nach der neusten Umfrage knapp 70 Prozent) unbedingt in der Eurozone bleiben wollen.
Aber auf ein Detail muss hier noch verwiesen werden: auf die Tatsache, dass sich das Springer-Blatt bei dem zynischen Plädoyer für den Rausschmiss Griechenlands bei Vizekanzler Gabriel bedienen kann. Damit wird offenbar, dass die Führung der Sozialdemokratie, verzweifelt über ihre eigenen Umfragewerte, auf dem Niveau der rechtspopulistischen Propaganda angekommen ist: Die „deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien“ wollen nicht für „überzogene“ Wahlversprechen von Kommunisten zahlen?
Dieser Bezug auf „die Kommunsten“ ist von hochgradiger Ironie. Es ist zwar richtig, dass es innerhalb der Syriza bekennende Kommunisten (aller Schattierungen) gibt, die auch innerhalb der Parteigremien und in der Parlamentsfraktion ziemlich stark repräsentiert sind. Aber das Bemerkenswerte liegt hier darin, dass Gabriel und die BILD-Redaktion dabei sind, die Erwartungen und Hoffnungen des linken Syriza-Flügels zu erfüllen, der ganz offen für den Grexit eintritt. Kostas Lapavitsas durfte also seine Botschaft über die BILD-Zeitung transportieren. Er und die Grexit-Fraktion innerhalb der Syriza argumentieren heute auf derselben Linie wie die Euro-Fighter von der AfD und neoliberale Einzelkämpfern wie Hans-Olaf Henkel. Ob Kommunisten oder nicht – als Mitstreiter in einer deutschen Grexit-Kampagne sind sie durchaus willkommen. (Siehe dazu meine Analyse über den Grexit in der letzten Ausgabe der Le Monde diplomatique).
[«*] Nach einem Bericht des Athener Arbeits- und Sozialministeriums aus dem Februar müssen in Griechenland 20 Prozent der Bürger mit bis zu 500 Euro im Monat auskommen, 38 Prozent erhalten 500 bis 1000 Euro ausgezahlt. 23 Prozent stehen mit 1000 bis 1500 Euro deutlich besser da. Und 17 Prozent beziehen mehr als 1500 Euro.
Ihre Sturheit hat uns die Augen geöffnet, welche Fehlkonstruktion die EU ist. Alles kann man kündigen, jeden Vertrag, jede Ehe. Aber nicht den Maastricht-Vertrag. Soll er bis ans Ende der Tage gelten?
Published by Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf. Berlin (1943)
Die Welt erkennt in der EU keine echte Wertegemeinschaft, höchsten eine Wertegemeinschaft der lupenreinen Hurensöhne (Rackets)
Egal, wie der Kampf um Athen ausgeht, ob die Griechen in der Euro-Zone bleiben oder ihren Austritt erklären, wir sollten den Nachkommen der Hellenen jetzt schon dankbar sein.
Mit ihrem Eigensinn, ihrer Sturheit und Querköpfigkeit haben sie sich selbst möglicherweise keinen Gefallen getan, dafür aber haben sie den Zaungästen am Rande der Arena brutal und radikal klargemacht, was die Europäische Union ihrem Wesen nach ist: keine Wertegemeinschaft, wie von ihren Anhängern immer behauptet wird, sondern ein ideologisches Konstrukt, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, den Selbsterhalt zu sichern, ein Kartenhaus ohne Ausgang, ein Neuschwanstein der Lüfte, dazu geschaffen, den Bauherren zu huldigen und pompöse Feste zu feiern.
Jede Heizdecke, die bei einer Kaffeefahrt gekauft wurde, kann zurückgegeben werden
So haben wir, quasi nebenbei, erfahren, dass ein Land, das den Euro angenommen hat, aus der Euro-Zone gar nicht austreten kann. An diese Möglichkeit haben die Konstrukteure des Euro nicht einmal gedacht, auch nicht daran, dass ein solcher Knebelvertrag schlicht sittenwidrig ist.
Jede Heizdecke, die bei einer Kaffeefahrt gekauft wurde, kann zurückgegeben werden, in Irland werden katholisch geschlossene Ehen von zivilen Gerichten geschieden, der Vatikan annulliert Ehen, die unter Vortäuschung falscher Tatsachen eingegangen wurden.
Nur der Vertrag von Maastricht, mit dem der Übergang von der EG zur EU und die Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen wurden, soll bis ans Ende aller Tage gelten, wie die Zehn Gebote oder das Kleingedruckte bei der Telekom?
Der EU liegt eine absurde Idee zugrunde: dass man über eine begrenzte politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus die Lebensverhältnisse in den Mitgliedsstaaten homogenisieren kann.
Etwas, das schon innerhalb eines Landes wie Deutschland extrem schwierig ist, wo es nicht einmal gelingt, die Ferienzeiten in den einzelnen Bundesländern so abzustimmen, dass ein Verkehrschaos vermieden wird, soll innerhalb eines komplexen und vielfältigen Gebildes funktionieren, von Estland bis Portugal, von Finnland bis Griechenland.
Kein Mensch käme je auf die Idee, ein Autorennen zu veranstalten, an dem alle Typen von Rennautos teilnehmen sollten, vom Gokart bis zur Formel-1-Rakete
Das wichtigste Instrument dieser Homogenisierung ist der Euro, der wirtschaftliche Unterschiede ausgleichen soll – Arbeitslosigkeit in einem Land, Vollbeschäftigung in einem anderen. Positive Handelsbilanz hier, negative gleich nebenan. (…)
Nur der Vertrag von Maastricht, mit dem der Übergang von der EG zur EU und die Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen wurden, soll bis ans Ende aller Tage gelten, wie die Zehn Gebote oder das Kleingedruckte bei der Telekom?
Der EU liegt eine absurde Idee zugrunde: dass man über eine begrenzte politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus die Lebensverhältnisse in den Mitgliedsstaaten homogenisieren kann.
Etwas, das schon innerhalb eines Landes wie Deutschland extrem schwierig ist, wo es nicht einmal gelingt, die Ferienzeiten in den einzelnen Bundesländern so abzustimmen, dass ein Verkehrschaos vermieden wird, soll innerhalb eines komplexen und vielfältigen Gebildes funktionieren, von Estland bis Portugal, von Finnland bis Griechenland.
Kein Mensch käme je auf die Idee, ein Autorennen zu veranstalten, an dem alle Typen von Rennautos teilnehmen sollten, vom Gokart bis zur Formel-1-Rakete
Das wichtigste Instrument dieser Homogenisierung ist der Euro, der wirtschaftliche Unterschiede ausgleichen soll – Arbeitslosigkeit in einem Land, Vollbeschäftigung in einem anderen. Positive Handelsbilanz hier, negative gleich nebenan.
Was würde Woody Allen zu dieser Ehe sagen?
Kein Mensch freilich käme je auf die Idee, ein Autorennen zu veranstalten, an dem alle Typen von Rennautos teilnehmen sollten, vom Gokart bis zur Formel-1-Rakete. Das Ergebnis wäre absehbar, nur die Veranstalter würden so ein Rennen als einen „Sieg der Chancengleichheit“ bejubeln.
Innerhalb der EU hat diese Art der „Chancengleichheit“ dazu geführt, dass es „im Süden Europas eine Situation gibt, die der großen Depression der Weltwirtschaftskrise ähnelt“. Das sagt der Ökonom Max Otte, der im Jahre 2006 die Finanzkrise vorhergesagt hat und dafür ausgelacht wurde.
Das Lachen hielt nicht lange an, 2008 war die Krise da. Und sieben Jahre später ist die EU noch immer damit beschäftigt, die Krise zu managen. Mehr noch, die Krise ist praktisch das Einzige, was die EU und die Euro-Zone zusammenhält.
Wenn die Ehe „der Versuch ist, die Probleme zu zweit zu lösen, die man alleine nicht hätte“, wie Woody Allen sagt, dann ist die EU ein Gruppenexperiment, dessen Teilnehmer mit den Problemen fertigwerden müssen, die ihnen erspart geblieben wären, wenn sie sich der Gruppe nicht angeschlossen hätten.
Nichts anderes als eine verschleppte Insolvenz (wie so manche Beziehung auch)
„Wir werden in eine Rettungsgemeinschaft gepresst“, sagt der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, kein Ökonom, aber ein Mann mit gesundem Menschenverstand.
In dieser Situation, die einer verschleppten Insolvenz gleichkommt, kommt die Kanzlerin daher und sagt: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Einige Zeitgenossen runzeln ob dieser Plattitüde die Stirn, die meisten aber nicken zustimmend. Klingt gut.
Man muss nur etwas richtig wollen, dann geht es auch. „Die Welt als Wille und Vorstellung.“ Schopenhauer grüßt aus der Gruft. Die Kanzlerin habe „die Sache an sich gezogen“, schreiben die Kommentatoren ohne jeden Anflug von Ironie.
Griechenland hatte schon einmal einen deutschen Regenten, Otto Friedrich Ludwig von Wittelsbach, der das Land von 1835 bis 1862 regierte. König Otto I. wurde immerhin von der griechischen Nationalversammlung zum Staatsoberhaupt gewählt, er residierte in Athen. Angela I. reicht die Fernbedienung.
Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Fragt sich nur, wohin
An allen Instanzen und Institutionen vorbei hat sie beschlossen, Griechenland zu retten, so als gäbe es keine Abkommen, die den Umgang der Staaten untereinander regeln.
Wozu haben wir die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank, den Internationalen Währungsfonds, wozu wählen wir ein Europaparlament, wenn am Ende des Tages die Kanzlerin bestimmt, wo es langgeht?
Foto: dpaDer griechische Finanzminister Varoufakis (links) mit Regierungschef Tsipras: Sie haben uns klargemacht, was die Europäische Union ihrem Wesen nach ist: ein ideologisches Konstrukt
In dem Satz „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ steckt ein autoritäres Potenzial, eigentlich schon eine totalitäre Gebrauchsanweisung. Dass der Wille das Einzige ist, worauf es ankommt, davon war auch die deutsche Generalität überzeugt, als sie Ende 1942 allen Verlusten zum Trotz den aussichtslosen Kampf um Stalingrad fortsetzte.
Ebenso die Führung der DDR, die noch im November 1989 nicht wahrhaben wollte, dass sie abgewirtschaftet hatte. Nein, wo ein Wille ist, da ist nicht immer auch ein Weg, es sei denn, er wird mit diktatorischer Härte durchgesetzt.
Viel Pathos, viel Hysterie
Wie mit frei gewählten Abgeordneten umgangen wird, die sich dem Machtwort der Kanzlerin widersetzen, das haben soeben drei Mitglieder der CDU-Fraktion anschaulich beschrieben. Sie hatten es gewagt, gegen die Rettungspakete zu stimmen, und wurden daraufhin kaltgestellt.
Es wurde sogar versucht, „die Geschäftsordnung (zu) ändern, damit im Bundestag keine Abweichler … mehr zum Euro-Thema sprechen können“, erinnert sich der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch, der sich solche Offenheit nur leisten kann, weil er in seinem Wahlkreis mit über 50 Prozent der Stimmen direkt gewählt wurde.
Es geht derzeit nicht darum, Griechenland zu retten. „Es geht“, sagt Claudia Roth, „um das Projekt Europa, unsere europäische Idee“, ein höheres virtuelles Gut. Außerdem wäre ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone „ein unkalkulierbares Risiko für die Weltwirtschaft“. Mit weniger mag sich die grüne Vizepräsidentin des Bundestages nicht zufrieden geben.
Von einem „unkalkulierbaren“ Faktor spricht auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, meint aber etwas anderes. Im griechischen Parlament sitze eine Neonazi-Partei, „echte Nazis, richtige Freunde des Führers“, die könnten Unruhen anzetteln. Er glaube auch, „dass Griechenland, wenn es nicht mehr im europäischen Verbund wäre, zu einem unkalkulierbaren Partner würde“, es könnte sich China oder Russland an den Hals werfen.
Wir sitzen im falschen Zug
Ja, Hysterie gehört zum Handwerk. Wenn der Euro scheitert, scheitert nicht nur Europa, dann wird auch die Akropolis nach Sibirien oder in die Provinz Shandong verlegt. Deswegen muss „das Projekt Europa, unsere europäische Idee“ gerettet werden, wie ein Schiff, das in Seenot geraten ist.
Aber es ist nicht Europa, das kieloben treibt, sondern die EU, eine bürokratische Vision von Europa, die den Praxistest nicht bestanden hat. Dafür lebt in ihr der Geist der DDR weiter: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“
Ein alter Jude sitzt in einem Zug, sagen wir von Limanowa nach Dabrowa in Galizien. Keine lange Strecke, aber es ist ein langsamer Personenzug, der an jeder Station hält. Und jedes Mal bricht der alte Jude in lautes Wehklagen aus. „Allmächtiger, ich bin verloren, was soll ich nur machen …“
Schließlich erbarmt sich einer der Mitreisenden. „Was haben Sie denn, kann ich Ihnen helfen?“ „Mir kann niemand helfen“, sagt der alte Jude mit Tränen in den Augen, „ich sitze im falschen Zug, und mit jedem Halt wird die Rückreise länger.“
Geschrieben von Peter am Sonntag, 21. Juni 2015 dorfling.de
Dieser Artikel ist an diejenigen gerichtet, die ihre Informationen noch immer aus dem ZDF, der ARD, dem „Spiegel“, dem „Focus“, der „Welt“, der „Süddeutschen“ …, der Bildzeitung und sonstigen „Informationsmedien“ beziehen. Die allermeisten Menschen glauben, weil es ihnen Tag für Tag durch diese „Medien“ eingetrichtert wird, dass mit den unzähligen Rettungspaketen Menschen in Ländern wie Portugal, Irland, Spanien oder Griechenland gerettet werden. Immer wieder muss ich den gleichen Unsinn hören, die faulen Portugiesen, die faulen Griechen oder sonstige faule Menschen werden auf Kosten hauptsächlich der deutschen Steuerzahler gerettet und machen sich ein schönes Leben.
Nein, verdammt noch mal nein, mit all diesen „Rettungspaketen“ werden immer nur Banken unter dem Vorwand gerettet, dass man das Geld des „kleinen Mannes“ oder das eines Staates retten müsse. Das begann schon in den USA, als nach dem Platzen der Immobilienblase Lehman Brothers bankrott ging (oder bankrott gegangen wurde) und deshalb der riesige Versicherungskonzern AIG vor der Insolvenz gerettet werden musste. Hauptnutznießer dieser „Rettung“ waren damals die Deutsche Bank. (12,6 Milliarden), Goldman Sachs ( über 10 Milliarden) und andere mehr. Die Deutsche Bank wäre ohne die Rettung der AIG sofort pleite gewesen, was einen Kollaps des Finanzsystems zur Folge gehabt hätte.
In Europa begann das Unheil mit Einführung des Euros. Staaten, denen das Schuldenmachen bisher schwer fiel, weil sie für ihre Staatsanleihen (nichts anderes als Schuldscheine, die ein Staat herausgibt um sich zu finanzieren), hohe Zinsen bezahlen mussten, konnten sich nun leichter verschulden, weil die Zinsen für ihre Staatsanleihen und die Zinsen allgemein – man hatte ja nun eine „starke“ Währungsunion als Rückhalt – sanken. Das führte dazu, dass viele eh schon klamme Staaten, Investoren und auch Banken viel zu hohe Kredite aufnahmen um mit diesen sinnlose (für ein paar Reiche lukrative) Projekte zu finanzieren. Die Banken waren in ihrer unersättlichen Gier natürlich gerne dazu bereit, jeden Schwachsinn zu finanzieren und scherten sich einen Dreck um die offensichtlichen Risiken. Spanische Kreditnehmer machten bis 2008 über 320 Milliarden Euro Schulden bei deutschen und französischen Banken, um vor allem Immobilien – die niemand brauchte – zu finanzieren. Diese Kredite konnten, weil sich die Immobilien als wertlos erwiesen und deshalb sehr oft nicht einmal mehr fertiggestellt wurden, von den Gläubigern nicht zurückbezahlt werden. Nun hatten die Banken ein Problem. Diese Problem wurde gelöst, in dem man die faulen Kredite einfach auf den Rücken der Steuerzahler umschichtete. Das heißt, man rettete Banken mit Steuergeldern, ließ also die faulen Kredite von den Steuerzahlern begleichen. So zum Beispiel auch die Hypo Real Estate in Deutschland, die mit 123 Milliarden Euro Garantien und 7,7 Milliarden Euro Direkthilfen gerettet und 2009 verstaatlicht werden musste.
Diese nur als schwachsinnig und verantwortungslos zu bezeichnende „Bankenretterei“ brachte dann schon sehr bald die ersten Staaten wie Irland, Spanien und Portugal in ernsthafte Bedrängnis, was dazu führte, dass nun nicht nur mehr Banken sondern auch Staaten gerettet werden mussten. Doch auch mit diesen „Staatenrettungen“ wurden wieder nur sich verzockte Banken und private Investoren (ein Großteil davon in Deutschland ansässig) vor drohenden Verlusten gerettet. Die zu rettenden Staaten erhielten so gut wie kein Geld. Schlimmer noch, diese Staaten wurden dazu gezwungen, die Renten und Sozialleistungen ihrer Bürger zu kürzen und das von ihnen erarbeitete Staatseigentum an die Schuldigen der Krise – Investoren und Banken – zu verschleudern. Das geschah und geschieht weiterhin unter dem Deckmantel sogenannter notwendiger Reformen. In ganz Europa werden seit Beginn der Krise Bürger für die fehlgeschlagene Zockerei von Investoren und Banken in Haftung genommen. Die Bürger Europas müssen mit ihrem Hab und Gut deren Spielschulden begleichen.
Dabei stießen die Handlanger der Finanzindustrie – die Brüsseler Junta und die Regierungen der Euro-Staaten – für lange Zeit auf keinen nennenswerten Widerstand. Doch nun begehrt die erst seit ein paar Monaten im Amt befindliche griechische Regierung gegen diese vollkommen absurde, nur die Taschen der sich verzockten Finanzindustrie wieder füllende „Rettungspolitik“ auf. Wie nicht anders zu erwarten, reagierte das der Finanzmacht hörige europäische Regierungsgesindel geradezu geschockt auf den Widerstand und fiel, unterstützt von den gleichgeschalteten Mainstream-Medien über Tsipras, Varoufakis und Co. her. Eine beispiellose Kampagne gegen die griechische Regierung und auch gegen das griechische Volk wurde losgetreten und wird weiterhin geführt, nur um gleichgeartete und gleichdenkende Menschen gegeneinander aufzubringen. Doch genau dieses Regierungsgesindel war es, dass Griechenland aufgrund der von Goldman Sachs geschönten Bilanzen in den Reigen des Euros aufnahm. Man hatte nur nicht damit gerechnet, dass es in Griechenland jemals dazu kommen würde, dass eine ebenfalls korrupte Regierung durch eine dem Volk dienende ersetzt werden könnte.
Nun steht es da, das von Angstschweiß durchnässten, unfähigen und korrumpierten Politikern geführte Europa. Auch wenn es gelungen ist, die zumeist tumben Bürger Europas gegen die griechische Regierung und die griechische Bevölkerung aufzubringen, ob sich beide auch weiter unterjochen lassen werden, das ist noch nicht entschieden. Bleibt Griechenland hart und zeigt sich nicht gewillt, sich einer Finanzdiktatur zu unterwerfen und sollten sich die „Institutionen“ (ehemals Troika, bestehend aus Internationalem Währungsfonds IWF, Europäischer Zentralbank EZB und Europäischer Kommission) nicht zu Kompromissen bereit erklären, dann wird ein nicht mehr zu löschender Brand dem unsäglichen Treiben in Europa den Garaus machen.
Eigentlich hätte ich mir es ersparen können, diesen Beitrag zu schreiben, denn egal welche Entscheidungen bezüglich Griechenland auch in den nächsten Tagen oder Wochen getroffen werden, spielt keine großartige Rolle mehr. Das gesamte System ist am Ende und ob nun doch noch eine Einigung mit Griechenland erzielt wird oder nicht, das beschleunigt oder verzögert den unausweichlichen Systemkollaps nur noch auf absehbare Zeit.
Mir ging es in diesem Beitrag nur darum, zum zigsten Male darauf hinzuweisen, dass die von den Mainstream-Medien und der Politik propagierte und in die Gehirne gebrannte „Wahrheit“ nichts mit der Realität gemein hat, dass immerzu wiederholte Lügen zur „Wahrheit“ werden.
Und nein liebe Leser, das was ich gerade geschrieben habe, werde ich nicht mit Quellen, Daten, Fakten und Beweisen – die bisher auch niemanden interessierten – untermauern. Diese Beweise kann jeder, der noch fähig ist selbständig zu denken und zu recherchieren, selbst finden. Ja, das ist ein wenig anstrengend aber auch nicht anstrengender, als sich zu merken, wer das Siegestor im Spiel X gegen Y am soundsovielten 2013 geschossen hat. Und denjenigen, die den Text bis hierher nicht aufnehmen konnten, also gar nicht bis hier gelesen haben, denen ist leider nicht mehr zu helfen. Gemein von mir? Mag sein. Doch immer nett zu sein, das hat mich jahrzehntelange Erfahrung gelehrt, bringt auch nichts.
Anlässlich des außergewöhnlichen Gipfeltreffens der europäischen Staats- und Regierungschefs wegen der Griechenland-Krise lohnt es sich, noch einmal nachzulesen, was damals beschlossen wurde, als die Idee des Euro in den 90er Jahren feste Formen annahm.
Da ist zum einen die „Nichtbeistands-Klausel“, Artikel 104b im EG-Vertrag von 1992: „Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein“. Tritt nicht ein, heißt: Es wird einem Mitgliedsstaat untersagt, für die Schulden eines anderen Mitgliedsstaates aufzukommen. Hilfspaket? Verboten! Der Satz wurde so wie er da steht im „Lissabon-Vertrag“ 2009 übernommen, dem „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“.
Des Weiteren heißt es dann in Artikel 123: „Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als “nationale Zentralbanken” bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.“
Der Europäischen Zentralbank (EZB) ist es also ausdrücklich untersagt, Staatsschuldpapiere von überschuldeten Ländern aufzukaufen. Sinn der Sache ist es, die einzelnen Mitgliedsstaaten zu Haushaltsdisziplin anzuhalten. Wofür wurden diese Klauseln beschlossen? Ganz klar: für den Krisenfall.
Kaum aber zeigte sich die erste Krise, wurden die dafür geschaffenen Regeln über Bord geworfen. Andere Mitgliedsstaaten treten mit hohen Milliardenbeträgen für Griechenland ein. Und der Chef der Europäischen Zentralbank schießt den Vogel ab, indem er massenhaft Staatsschuldpapiere Griechenlands aufkauft. Statt deshalb umgehend zurückzutreten, kündigt er anschließend an, diesen Ankauf zur Not in „unbegrenzter Höhe“ weiterzutreiben. Um den Staat Griechenland zu finanzieren – ein Sakrileg für jede unabhängige Geldpolitik.
Draghi hat sich seinen Bruch dieser zentralen Regel durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) genehmigen lassen, der argumentierte, dass sich nur so die Geldpolitik der EZB umsetzen ließe, sprich für Stabilität des Euro zu sorgen. Ein bemerkenswerter Persilschein. Die Fiskalpolitik, die Haushaltspolitik also als Instrument oder verlängerter Arm der Geldpolitik. Mit dem Argument ließe sich in beliebigem Ausmaß die Unabhängigkeit jeder Zentralbank ad acta legen, ließe sich die Gewaltenteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik ad absurdum führen. Das Modell wird bei jedem weiteren Krisenfall irgendeines Staates Schule machen, so viel steht fest. Der EuGH hat den Artikel 123 nicht interpretiert, er hat ihn einfach gekippt, mal eben so, im ersten Ernstfall.
Und die Gläubigerstaaten, die nun ein Hilfspaket nach dem anderen für Griechenland schnüren, haben die Haushalts- und Wirtschaftspolitik des Landes in die Nähe einer Naturkatastrophe geführt, denn nur für solche Fälle wäre es erlaubt, einem Staat finanziell unter die Arme zu greifen: nämlich „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist“.
So, eines muss jetzt an dieser Stelle klar gestellt werden: Mit dem Zitieren der damals aufgestellten Regeln will ich nicht den Eindruck erwecken, als wäre bei der Euro-Einführung alles wohlüberlegt und zukunftsfähig aufs Gleis gesetzt worden, beileibe nicht. Ganz offenbar hat man so einen Krisenfall, wie er nun seit Jahren virulent ist, vorhergesehen, sonst hätte man solche Regeln nicht aufgestellt. Ebenso offenbar aber hat man es unterlassen, Vorsorge zu betreiben für den Fall, dass ein Land die Stabilitätskriterien nachhaltig bricht und sich weigert, auf den vorgesehenen Pfad zurück zu kehren. Voller Zuversicht hat man es einfach nicht für nötig gehalten, dafür einen Plan B auch nur anzudenken.
Die Einführung des Euro, so wie sie beschlossen wurde, ist das größte Armutszeugnis der Politik in Europa seit dem Krieg, und so schnell wird man nichts finden, was die Politikverdrossenheit so stark vorangetrieben hat wie die Euro-Krise. Die Euro-Macher, blind vor lauter Zuversicht, haben einfach vergessen, Lösungen für den Krisenfall einzubauen, sie haben lediglich vorgeschrieben, was verboten ist. So als würde das Eheversprechen „bis dass der Tod euch scheidet“ ausreichen, um das Scheidungsrecht einfach abzuschaffen. Trennung wieso? Ist nicht vorgesehen. Noch Fragen?
Schön wenn etwas zusammenwächst, was zusammen gehört, aber auch Trennungen müssen möglich sein, und zwar in möglichst geordneten Bahnen. Vor allem dann, wenn eine gemeinsame Währung eingeführt wird, die Wirtschafts- und Haushaltspolitik aber Sache jedes einzelnen Staates bleibt, egal ob mit konservativer oder kommunistischer Führung. Wenn in letzter Konsequenz jeder Staat mit seinem Geld machen kann, was er will, weil eine Trennung nicht vorgesehen ist, so wie bei einem Ehepaar, das sich nicht trennt, weil es keine zweite Wohnung gibt.
Die Turbulenzen, die bei einem Grexit jetzt befürchtet werden, erscheinen doch nur deshalb so unermesslich, weil kein Mensch, kein Politiker und kein Wirtschaftswissenschaftler, klar sagen kann, wie ein solcher Schritt ablaufen würde und deshalb erst Recht nicht, welche Folgen er haben würde. Es gibt keinen Plan. Rausschmiss? Eigene Kündigung? Kein Ahnung, vorgesehen ist nichts. Das Wunschdenken hat klare Überlegungen ausgeschaltet, und das bei einem Jahrhundertprojekt wie dem Euro, man stelle sich vor. Es unfassbar, eigentlich nicht zu glauben, dass an so etwas niemand gedacht hat, dass jeder Gedanke letztlich zumindest unterdrückt, eingestellt wurde.
Die Väter der Gemeinschaftswährung haben gepennt, einfach gepennt, so muss man es wohl sehen.
Die Folge: Keine größere Zeitung, in der dieser Tage nicht Szenarien für einen Grexit geschildert werden. Diametraler könnten sie nicht auseinander fallen, jede darf sich selbst – abhängig von Griechenlandsolidarität oder Marktbekenntnis – seine eigene Version zurecht legen. Mag sein, dass man dadurch, dass man jeden Gedanken an einen Austritt im Keim erstickte, Turbulenzen auf den Märkten vermeiden wollte. Jetzt sieht man: Das genaue Gegenteil droht, und lähmt die Akteure bis zur Untätigkeit, zwingt sie zu unsäglichen Hängepartien.
Dieses Versäumnis ist nicht nur ein Vergehen an den Gläubigern, mehr noch an den Schuldenstaaten. Ein geordneter Rückzug, für den es feste Regeln gegeben hätte, böte Griechenland sicher größere Überlebenschancen als eine schreckliche Zwangsehe mit überstarken Partnern. Ein Rückzug aus dem Euro muss keinen Rückzug aus der EU bedeuten, die sich anschließend ungleich freier und erlöster um Solidarität, um Entwicklungshilfe für Griechenland kümmern könnte als unter den heutigen chaotischen Umständen. Es hat schließlich einen Grund gegeben, warum Gemeinschaftswährungen wirtschaftspolitisch unabhängiger Staaten die Ausnahme blieben. Die Währung ist der unerlässliche Puffer zwischen allzu unterschiedlichen ökonomischen Strukturen. Eine Abwertung wäre für Griechenland jetzt unerlässlich. Geht nicht.
Es hat auch ein Griechenland vor dem Euro gegeben. Und, das kann man nicht oft genug feststellen: Rot-grün hat den Euro nicht geschaffen. Aber die Bundesregierung hat im entscheidenden Moment dafür gesorgt, dass Griechenland gegen die Warnung von Experten in den Euro aufgenommen wurde. Finanzminister Eichel hat deshalb einen Direktor der Bundesbank zusammenfalten lassen. Der Bundesbank, die eigentlich unabhängig gewesen sein sollte – eigentlich hätte man es damals schon ahnen können.
Fast jede Diskussion über das griechische Fiasko basiert auf einem Moralstück. Nennen wir es Unartiges Griechenland gegen Edles Europa. Diese lästigen Griechen hätten nie in die Eurozone gehört, geht die Geschichte. Nachdem sie dabei waren, haben sie sich in dicke fette Schwierigkeiten gebracht – und jetzt muss Europa es ausbaden.
Das sind die Grundlagen über die sich alle Weisen einig sind. Die auf der Rechten sagen dann weiterhin, dass das nichtsnutzige Griechenland entweder Europas Deal akzeptieren muss oder aus der Einheitswährung austreten soll. Oder, bei den etwas Liberaleren, drucksen sie herum und räuspern sie sich bevor sie an Europa appellieren, etwas mehr Wohlwollen gegenüber seinem südlichen Problemfall zu zeigen. Wie auch immer ihre Lösung aussieht, die Weisen sind sich hinsichtlich des Problems einig: die Schuld liegt nicht bei Brüssel, sondern in Athen. Oh diese turbulenten Griechen! So scheint die Haltung etwa wenn Christine Lagarde vom Internationalen Währungsfond die Syriza-Regierung als nicht “erwachsen” genug zurechtweist. Das ist es, was der deutschen Presse die Erlaubnis erteilt, den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis als jemanden, der “psychiatrische Hilfe” braucht, zu porträtieren.
Es gibt nur ein Problem mit dieser Geschichte: wie die meisten Moralstücke zerbricht es an der harten Realität. Athen ist nur das schlimmste Symptom einer viel größeren Krankheit innerhalb des Europrojekts. Denn die Einheitswährung zahlt sich für die normalen Europäer zwischen Ruhr und Rom nicht aus.
Wenn ich dies sage, schließe ich meine Augen nicht vor der endemischen Korruption und der Steuerhinterziehung in Griechenland (und in der Tat tut dies auch die Outsider-Bewegung Syriza nicht, die genau wegen ihrer Kampagne gegen diese Verfehlungen an die Macht gekommen ist). Auch werde ich nicht in die Nadelstreifen von Nigel Farage schlüpfen. Meine Anklage ist viel einfacher: das Europrojekt scheitert nicht nur daran, die Versprechen seiner Gründer zu erfüllen, es tut das genaue Gegenteil – indem es den Lebensstandard der einfachen Europäer aushöhlt. Und wie wir sehen werden, gilt dies sogar für die, die im Land der Nummer Eins unter den Wirtschaften des Kontinents leben, Deutschland.
Erinnern wir uns erstens an die edlen Versprechen, die dem Europrojekt gemacht wurden. Spielen wir das unscharfe Bildmaterial von Deutschlands Helmut Schmidt und Frankreichs Giscard d’Estaing, wie sie die Grundfesten für Europas großen Einiger legen. Vor allem, erinnern wir uns daran was die wahren Gläubigen gefühlt haben. Nehmen wir folgendes von Deutschlands Finanzminister Oskar Lafontaine am Abend der Euroeinführung. Er sprach von einer “Vision eines vereinigten Europas, die über die graduelle Angleichung von Lebensstandards, einer Vertiefung der Demokratie und dem Erblühen einer wahren europäischen Kultur erreicht werden wird”.
Wir könnten tausende solcher Strophen der Euro-Poesie rezitieren, aber die einzelne Zeile Lafontaines zeigt, wie tief das Einzelwährungsprojekt gefallen ist. Anstelle einer Anhebung der Lebensstandards in Europa, drückt die Währungsunion diese nach unten. Statt die Demokratie zu vertiefen, höhlt sie sie aus. Was die “wahre europäische Kultur” angeht – wenn deutsche Journalisten griechische Minister einer “Psychose” bezichtigen, ist die mythische Agora der Nationen weit entfernt.
Von allen drei Vorwürfen ist der erste am wichtigsten – denn er erklärt wie die gesamte Einheit unterhöhlt wird. Um zu verstehen was mit den Lebensstandards einfacher Europäer passiert ist, wenden wir uns der außergewöhnlichen Studie zu, die dieses Jahr von Heiner Flassbeck, dem ehemaligen Chef-Volkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung, und Costas Lapavitsas, einem Wirtschaftsprofessor an der SOAS Universität in London und Syriza Parlamentsmitglied, veröffentlich wurde.
Der Deutsche und der Grieche veröffentlichten in Against the Troika eine Statistik, die die Idee, dass der Euro die Lebensstandards verbessert hat, platzen lässt. Was sie sich angesehen haben sind die Lohnkosten je Produktionseinheit – wie viel den Angestellten für das Arbeitsergebnis einer Produktionseinheit bezahlt werden muss: sagen wir für ein Widget oder ein Stück Software. Und sie bilden die Lohnkosten der Eurozone von 1999 bis 2013 ab. Das Resultat ist, dass deutsche Arbeiter in den letzten 14 Jahren kaum Lohnerhöhungen bekommen haben. Über die kurze Lebensdauer des Euro haben Deutsche schlechter abgeschnitten als die Franzosen, Österreicher, Italiener und viele andere in Südeuropa.
Ja, wir sprechen über das gleiche Deutschland: die stärkste Wirtschaftskraft des Kontinents, die sogar David Cameron mit Neid betrachtet. Doch die dort arbeitenden Menschen, die dem Land Wohlstand gebracht haben, haben kaum Entlohnung für ihren Einsatz gesehen. Und das ist das Modell für den Kontinent.
Vielleicht haben wir ein Bild von Deutschland als einer Nation gut ausgebildeter, gut entlohnter Arbeiter in glänzenden Fabriken. Diese Arbeitskraft und seine Gewerkschaften existieren noch immer – aber sie schrumpfen schnell. Was sie ersetzt, laut Deutschlands führendem Experten für Ungleichheit, Gerhard Bosch, sind Drecksjobs. Er schätzt, dass die Anzahl der Niedriglöhner in die Höhe geschossen und jetzt fast auf dem Level der USA ist.
Kreiden wir das nicht dem Euro an, sondern dem schleichenden Verfall deutscher Gewerkschaften und dem Unternehmenstrend ins billigere Osteuropa auszulagern. Was die Einheitswährung geschafft hat, ist Deutschlands Niedriglohnprobleme zum Ruin eines gesamten Kontinents zu machen.
Die Arbeiter in Frankreich, Italien, Spanien und dem Rest der Eurozone werden jetzt durch einen epischen Lohnstopp im gigantischen Land in ihrer Mitte ausgebootet. Flassbeck und Lapavitsas beschreiben das als Deutschlands “beggar-thy-neighbour”-Politik (wörtlich: ruiniere deinen Nachbar) – “aber erst nachdem es seine eigene Bevölkerung ruiniert hat”.
Im letzten Jahrhundert hätten die anderen Länder in der Eurozone durch Abwertung ihrer Nationalwährungen wettbewerbsfähiger werden können – ebenso wie Großbritannien es seit der Bankenkrise getan hat. Aber nun sitzen alle im selben Boot, die einzige Lösung nach dem Absturz war den Arbeitern weniger zu bezahlen.
Das ist explizit was die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der IWF Griechenland sagen: entlasst Arbeiter, zahlt denen, die noch einen Job haben, weniger und kürzt die Renten der Pensionäre. Aber nicht nur in Griechenland. Fast jedes Treffen der Weisen in Brüssel und Strasbourg führt zu dem gleichen Kommuniqué zur “Reform” des Arbeitsmarktes und der Sozialgesetzansprüche auf dem Kontinent: ein wenig kodierter Ruf nach einem Angriff auf den Lebensstandard einfacher Leute.
So verwandelt sich das noble europäische Projekt in einen düsteren Marsch auf den Tiefstand. Es geht nicht um die Schaffung einer tiefersitzenden Demokratie, sondern um tiefergreifende Märkte – und die zwei sind zunehmend unvereinbar. Deutschlands Angela Merkel hat keine Gewissensbisse gezeigt, sich in die demokratischen Angelegenheiten anderer europäischer Länder einzumischen – beispielsweise indem sie die Griechen stillschweigend davor warnt Syriza zu wählen oder indem sie den sozialistischen Premierminister Spaniens, José Luis Rodríguez Zapatero, zwingt die Kostenverbindlichkeit aufzugeben, mit der er die Wahl gewonnen hatte.
Die diplomatischen Prügel, die Syriza verabreicht wurden seit sie an die Macht gekommen ist, können nur als Beispiel Europas an die spanischen Wähler gewertet werden, die versucht sein könnten Syrizas Schwesternpartei Podemos zu unterstützen. Wagt euch zu weit nach links, heißt die Nachricht, und euch widerfährt die gleiche Behandlung.
Was auch immer die Gründungsideale der Eurozone sein mögen, sie halten nicht mit der düsteren Realität des Jahres 2015 mit. Das ist Thatchers Revolution, oder Reagans – aber nun in einer kontinentalen Größenordnung. Und dabei wird sie von der Idee begleitet, dass es keine Alternative gibt, entweder dazu eine Wirtschaft am Laufen zu halten oder sogar dazu welche Regierung die Bürger wählen können.
Die Tatsache, dass diese ganze Show von umgänglich erscheinenden Weisen, die oft behaupten sozialdemokratisch zu sein, veranstaltet wird, macht das Projekt nicht netter oder freundlicher. Es gibt der ganzen Sache nur den unangenehmen Beigeschmack von Scheinheiligkeit.
This article was translated by Caroline Fries. To comment, click here for the English version
Die griechischen Banken und indirekt auch der Staat hängen am Tropf der Europäischen Zentralbank. Schon fast 90 Milliarden Euro beträgt die Liquiditäts-Nothilfe der griechischen Notenbank, welche die EZB gebilligt hat. Innerhalb einer Woche hat sie diese „Emergency Liquidity Assistance“ (Ela) viermal erhöht. Viele Notenbankchefs im EZB-Rat haben nur noch mit Bauchschmerzen zugestimmt, einige opponierten offen, weil sie nicht bei einer Konkursverschleppung und monetären Staatsfinanzierung (über die Banken) mitmachen wollen.
Den hellenischen Banken steht das Wasser bis zum Halse. Angesichts des eskalierten Schuldendramas haben viele Kunden ihre Konten leergeräumt. Es ist ein Bank-Run auf Raten. Rund 40 Milliarden Euro Einlagen hat das griechische Bankensystem in den vergangenen sechs Monaten verloren. Deshalb werden in mancher Bank die Barmittel knapp. Da die Banken keinen Zugang zu Marktfinanzierungen mehr haben, ist Ela ihre letzte Rettung. Zur Wochenmitte hat sich die Lage etwas beruhigt. Aber die Krise kann neu aufflammen, denn von einer endgültigen Lösung der Schuldentragödie ist man noch weit entfernt.
Die Ela-Notkredite sollen eigentlich nur über eine temporäre Finanzklemme hinweghelfen. Banken, die sie in Anspruch nehmen, dürfen nicht insolvent sein. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob die griechischen Banken noch so solide kapitalisiert sind, wie die EZB behauptet. Offenbar drücken die Aufseher der Zentralbank mehr als ein Auge zu, sonst müsste der EZB-Rat die Nothilfen stoppen. Damit würde er nicht nur den Banken den Geldhahn zudrehen, sondern auch den Grexit auslösen, das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euroraum. Das möchte EZB-Präsident Mario Draghi auf jeden Fall vermeiden.
Varoufakis: dubiose Phantomanleihen
„Die Grenze zwischen Ela und Konkursverschleppung ist fließend“, kritisiert die langjährige oberste deutsche Bankenaufseherin, Elke König, mit Blick auf Griechenland. Das Problem der dortigen Banken ist die Masse fauler Kredite. Mehr als 40 Prozent der Kredite (Gesamtsumme 210 Milliarden Euro) sind notleidend, weil Schuldner mit Zins- oder Tilgungsraten im Verzug sind. Dem wachsenden Berg fauler Kredite von mehr als 80 Milliarden Euro stehen Rückstellungen für Verluste von nur 40 Milliarden Euro entgegen.
Hat sich für seinen Weg entschieden: Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi
Die Schwachstelle der griechischen Banken ist ihr Eigenkapital. Zwar hat die EZB bei der Prüfung der Bilanzen im vergangenen Jahr für die hellenischen Institute den Daumen gehoben, ihre Kernkapitalquoten erschienen gut. Doch der Schein trügt. Große Teile des Kapitalpuffers sind selbst faul: Das trifft vor allem auf die Steuergutschriften zu, die Banken nach dem internationalen Regelwerk Basel III für eine Übergangszeit noch zum Eigenkapital zählen dürfen. Mehr als 13 Milliarden Euro, ein Viertel des Eigenkapitals der griechischen Finanzinstitute, sind Steuergutschriften für Verlustvorträge – also Forderungen an den faktisch bankrotten griechischen Staat.
Kurz vor seiner Wahl zum Finanzminister schrieb Giannis Varoufakis in seinem Blog in dankenswerter Klarheit: „Das Ela-System gestattet einfach nur den bankrotten Banken, die ein bankrotter Fiskus nicht zu retten vermag, sich von der Bank of Greece Geld gegen Pfänder zu leihen, die nicht viel wert sind.“ Die Pfänder, die sie bei der Notenbank hinterlegen, sind zum Teil sehr dubios. Dazu zählen vom Staat garantierte Bankanleihen für 50 Milliarden Euro. „Phantomanleihen“ nannte Varoufakis diese Papiere.
Politische Agenda der EZB
Was für ein Irrsinn: Ein bankrotter Staat stützt angeschlagene Banken, die wiederum über den Kauf von kurzlaufenden Staatsanleihen den Staat finanzieren. Hier klammern sich zwei Ertrinkende aneinander. Die Europäische Zentralbank schaut zu. Indem sie die Nothilfen immer weiter erhöht, ermöglicht sie es der Regierung Tsipras, im Streit um Schulden und Reformen hoch zu pokern. Gegenüber Zypern dagegen drohte die EZB vor zwei Jahren unverblümt mit dem Ende der Nothilfen.
Die EZB schüttet über die Bank of Greece gewaltige Summen Ela-Geld in das löchrige hellenische Bankensystem und finanziert damit letztlich die Kapitalflucht. Diese zeigt sich am griechischen Target-Saldo. Seit der Ankündigung der Neuwahlen, die Syriza an die Macht brachten, hat sich der griechische Target-Saldo – also die Schuld der Notenbank bei anderen Zentralbanken des Eurosystems – auf rund 100 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. So hoch steht die Bank of Greece beim Eurosystem in der Kreide. Bei einem Austritt Griechenlands aus dem Euro wäre dieses Geld wohl weg. Das ist ein zusätzliches Verlustrisiko für die Steuerzahler Europas.
Um das Ausbluten der griechischen Banken und das Risiko für die europäischen Steuerzahler zu stoppen, wäre die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen überfällig. Sie würden zwar die Wirtschaft behindern, doch zeigt das Beispiel Zypern, dass sie eher stabilisierend als strangulierend wirken können. Es ist unverständlich, warum die EZB den Ela-Hebel nicht eingesetzt hat, um Athen zu Kapitalverkehrskontrollen zu bewegen. Offenbar ist die EZB nun eine hochgradig politisierte Institution. Griechenland soll gerettet werden – koste es, was es wolle.
(Eine Warnung vorab: heute wird es sehr anstrengend).
Die ganze österreichische Schule um Hayek und Mises ist mir im Prinzip ein Gräuel. Ein großer Apologet dieser „Denkrichtung“ ist der Vertreter des Anarchokapitalismus, Hans-Hermann Hoppe, der in meinem Alter ist, was bedeutet, dass es auch alte Männer gibt, denen man besser nicht so lauscht. Wer es tun möchte, dem empfehle ich das Guugeln. Ich selbst habe viele seiner Youtube-Vorträge gehört, denn interessant sind sie immer, weil ich offen bin für alle Ideen und Gedanken, die so gedacht werden. Aber meine Empfehlungen wären manipulativ, denn ich würde nur die vorschlagen, die besonders „strange“ sind.
Von meinem Vater habe ich die Weisheit geerbt, dass man auch von einem Esel etwas lernen kann. Deshalb bin ich strikter Gegner von Gedankenverbote aller Art geworden. Bei mir darf jeder denken was er will. Ob Hohlwelttheorie, ob Aluhütchenträger, Chemtrailjünger (bitte keine diesbezüglichen Kommentare!), Holocaustleugner, Katholen oder Salafisten. Jeder hat das Recht auf den eigenen Glauben (= möglicher Irrglaube für andere?), so lange – und das ist meine Einschränkung – er/sie/es mir nicht damit auf die Testikel geht, oder diese Meinung (mit oder ohne Terror) für alle verbindlich erklärt wird. Freiheit ist das Recht, manches nicht tun oder glauben zu müssen.
Mit der Gedankenwelt von Hoppe habe ich mich schon in früheren Jahren hier auseinandergesetzt, deshalb möchte ich mich nicht wiederholen (wen es interessiert, dem schicke ich gerne das damals Geschriebene zu). Wenn ich jetzt trotzdem diesen Artikel von Hoppe empfehle, dann deshalb, weil er auf einige Dinge hinweist, die in dem Feld-Wald-und-Wiesen-Talgschau-Geschwätz nicht vorkommen: In Griechenland hat sich eigentlich nichts geändert. Ob es dort einen Euro, eine Drachme, oder keine Währung gibt, ist im Prinzip nur für Buchhalter und deren Philosophie (man könnte es auch als „Glaube“ bezeichnen) wichtig. Der Liebeskummer einer jungen Griechin und die Gefühle eines alten Alexis Sorbas bleiben eigentlich gleich. Die Werte, die Häuser, Felder sind nach wie vor da. Griechenland ist nicht geschrumpft und der Wein sollte noch immer gut schmecken. Muss der Hafen von Piräus, die Autobahnen und so weiter an ausländische Gängster (Entschuldigung, ich meine „Investoren“) verscherbelt werden, damit alles besser wird? Besser für wen? Der eigentliche Verbrecher ist unsere Qual_itätsregierung, die das – normalerweise in Sonntagsreden – hochgelobte „Unternehmerische Risiko“ von den Bänkstern auf den Steuerzahler verlagert hat. Griechische Staatsanleihen hatten die französischen und deutschen Banken (besonders der „im Kanzleramt seinen Geburtstag“ feiernden Starbänkster Ackermann) in ihrem Portfolio. Wer hat unsere Regierung beauftragt, denen die faulen Kartoffeln zu Höchstpreisen abzukaufen? Too Big to Fail, Too Big to Jail! Ich lach‘ mich tot. Verbrecher – ob gewählt oder nicht – gehören hinter Schloss und Riegel – und nicht ins Kanzleramt. Diese Art des Kapitalismus ist (für Kapitalisten) ein Erfolgsmodell: Geht’s gut, kassieren die Eigner, geht’s schief, darf der Steuerzahler den Arsch hinhalten. Marktwirtschaft soll das sein?
Der Artikel des Herrn Hoppe verkennt nämlich genau diese Tatsache. Nicht der Staat hat „fehlinvestiert“, sondern er hat den „fehlinvestierenden“ Kapitalisten ihren Reibach gesichert. Hoppes Grimms-Märchen-Schönwetterkapitalismus gibt es nämlich im 21sten Jahrhundert nicht mehr. Das „unternehmerische Risiko“ der Konzerne, die die Welt regieren ist de facto nicht vorhanden. Der liebe Hoppe möchte mir bitte mal sagen, wo die „Erstinbesitznahme“ überhaupt noch möglich ist:
Jede Person ist darüber hinaus privater Eigentümer aller derjenigen natur-gegebenen Güter (Dinge), die sie zuerst als knapp wahrgenommen und mit Hilfe ihres eigenen Körpers zu nutzen und bearbeiten begonnen hat, d.i., bevor dieselben Güter von anderen Personen als knapp wahrgenommen und benutzt wurden. Wer sonst, wenn nicht der erste Nutzer, sollte ihr Eigentümer sein? Der zweite Nutzer, oder der erste und der zweite gemeinsam? Doch dann würde Konflikt wiederum zweckwidrig erzeugt, statt vermieden! (aus diesem Aufsatz).
Unseren Ökonomen fehlt vielleicht die Phantasie oder sie agieren als Mietmäuler, aber eine Ökonomie, die als Grundlage die Ressourcenverteilung eines Robinson Crusoe als Basis hat, kann ich so ganz ernst nicht nehmen. Der arme Neger in Afrika konkurriert nicht mit anderen armen Negern, sondern mit Nestlé. Wenn Prämissen falsch sind, kann Richtiges nur zufällig als Ergebnis entstehen. Da ist mir die kalte Nüchternheit eines Karl Poppers lieber.
Jede Philosophie oder Weltanschauung sollte zuerst die Eigentumsfrage geklärt haben, bevor höhere Stufen erklommen werden. Ich könnte auch schreiben, man sollte die Machtfrage klären, aber die stellt sich erst, wenn die Eigentumsfrage geklärt ist. Man sollte die Griechenlanddebatte darauf hin untersuchen.
Den Christen empfehle ich mal nachdenken, was im Vaterunser steht: „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern„. Damit sind „Schulden“ (debts), im banalen – nicht im metaphysischen (guilty) – Sinne gemeint. Vielleicht erklärt diese Predigt mehr? Weshalb sind es vorwiegend die katholischen Christen in der „christlichen“ Partei, die nicht wissen, was sie so in ihren Gebeten hirnlos runterleiern? Ich finde dies nachdenkenswert; Wie ernst nehmen die eigentlich ihren Glauben? Außerdem, wir haben ganz andere Probleme!
“Was wirtschaftlich verkehrt ist, kann politisch nicht richtig sein“; mit diesem Satz stemmte sich der damalige FAZ-Kommentator Hans D. Barbier in den 90ern gegen die Währungsunion.
Bekanntlich vergeblich. Seither hat sich Europa verändert – was politisch wünschbar ist, wird gemacht, die Wirtschaft hat zu folgen wie der Dackel dem Herrn. Und Wirtschaft – damit werden seither einseitig Konzerne und Unternehmer verstanden. Bekanntlich vergeblich. Seither hat sich Europa verändert – was politisch wünschbar ist, wird gemacht, die Wirtschaft hat zu folgen wie der Dackel dem Herrn. Und Wirtschaft – damit werden seither einseitig Konzerne und Unternehmer verstanden.
Die Ekstase der Politik
Jedenfalls bis zu diesem Wochenende; bis zum Scheitern der Verhandlungen über noch ein griechisches Rettungspaket. Eine wahre Orgie der „nationalpopulistischen Ekstase“ (so der frühere griechische Kurzzeit-Finanzminister Evangelos Venizelos) erschüttert das griechische Parlament; da ist viel von „Demütigung“ und “heldenhaftem Kampf“ die Rede, von Volk und Ehre – und dabei geht es doch bloß darum, ob die EZB per ELA die Geldautomaten auffüllt oder dafür frecherweise Gegenleistungen verlangt. Rhetorisch herrscht der spanische Bürgerkrieg, marschieren die Faschisten, und dazu passt, dass der rechtsradikale griechische Verteidigungsminister davon sprach, den „Kougi zu machen“ – auf diesem Hügel sprengten sich Widerstandskämpfer lieber in die Luft, statt zu kapitulieren. Und all das Getöse wegen 1,6 Mrd. IWF-Schulden? Nirgendwo wird die infantile Haltung deutlicher als in dieser Debatte, in der Phantasien gepflegt wurden und Rationalität strikt vermieden. Politik eben statt Rechnen, wie man mit möglichst wenig Ressourcen ein Maximum an Ergebnis erzeugt – Wirtschaft eben. Aber die braucht ja keiner mehr, wenn die Politik sie außer Kraft setzt.
Alle schimpfen jetzt auf Alexis Tsipras und seinen Finanzminister Yanis Varoufakis; dabei wurde er noch im Januar von der Wirtschaftswoche als „sexy“ und beispielgebend für Europa auf dem Titel gefeiert. Wer jetzt diese Griechen tadelt, tadelt Europa.
Griechenland ist Europa at its Best
Denn Griechenlands neue Regierung ist eigentlich der Höhepunkt dieser Entwicklung, in der die Politik triumphiert und Wirtschaft nicht mehr zählt. Sie argumentiert immer „politisch“, und das ist ein neues Synonym für Wunschdenken. Nicht mit den Zahlenknechten, den Finanzministern, wollte man verhandeln – sondern auf Ebene der Regierungschefs; denn die sind wie Gott, ihr Wort ist Gesetz der Wunscherfüllung.
Die Wirtschaft ist nur noch da, dieses Wunschdenken zu realisieren. Höhere Renten? Das ist nur gerecht. Höhere Löhne? Jede Arbeit muß nicht nur bezahlt, sondern mit einem höheren Lohn auch noch „wertgeschätzt“ werden. Mindestlöhne? Im Zweifelsfall zu niedrig; die Unternehmer verweigern höhere Löhne nur aus Hartherzigkeit. Geld? Kann gedruckt werden, dazu haben wir Mario Draghi in seinem Glaspalast. Schulden? Dehnbar, verschiebbar, verhandelbar.
Europa – und übrigens auch Deutschland – hat sich in einen Rausch der politischen Möglichkeiten gesteigert, in dem Wirtschaft nur noch die Dienstmagd ist, der Knecht, der den Politikern an ihren übervollen Tisch die nächste Flasche aus dem Keller zu bringen hat.
Mit den Wörtern haben sich die Werte verschoben: Alles ist irgendwie Demokratie, alles verhandelbar, alles per Mehrheitsentscheidung herstellbar. Warum sollen die Griechen nicht darüber abstimmen, wieviel Geld ihnen aus Europa zufließen soll oder dass sie die Rückzahlung alter Schulden verweigern? Demokratie ist, wenn für höhere Renten gestimmt wird, ohne zu überlegen, wer sie finanziert. (Dass Griechenland ähnlich überaltert ist wie Deutschland und in den kommenden Jahrzehnten zu einem verarmenden Altersheim wird – ach ja? Fakten werden gerne weggestimmt.) Die Vorherrschaft des Politischen feiert ihre Triumphe.
Übrigens ja nicht nur in Griechenland. „Macht uns der Kapitalismus kaputt“, wollte die süddeutsche Zeitung am Montag danach wissen und lieferte 13 Zahlen von Burn-Out bis Gini-Koeffizienten, mit dem die skandalöse Ungleichverteilung nachgewiesen werden soll, die sich in der Lebenswirklichkeit einfach nicht einstellen will. Irgendeine Alternative? Geschwurbelte Fehlanzeige. Aber irgendwie hängt alles mit allem zusammen, nur nicht mit Logik, was die vorherrschende linke Verschwörungstheorie über Kapitalisten, die noch keiner je gesehen hat, ja ohnehin auszeichnet: dumpfes Ahnen, gieriges Wollen, tumbes Nicht-Verstehen als Welterklärung. Und deshalb führt Deutschland die Rente mit 63 wieder ein – Andrea Nahles würde eine gute Figur machen in der Syriza.
Politikversagen wird verleugnet
Richtiger wird es nicht, wenn man dieselben Fehler macht wie die Griechen, nur weil die politische Logik der Koalitionsverhandlung erzwingt, dass man gegen jede Realitätsnotwendigkeit Mütterrenten und Frühverrentung gleichzeitig verabschiedet. Die Wirtschaft, also das, was die Menschen erschaffen, hat zu erbringen, was Berliner Phantasien sich so herbeifabulieren. Vielleicht sollte man sich wieder auf die Grundgedanken des Nobelpreisträgers James Buchanan zurückfinden. Er hat dem lautstark bejammerten „Marktversagen“ den Begriff des „Politikversagens“ entgegen gestellt.
Politik ist danach kein Wahrheitsbetrieb, hat nichts mit dem Gemeinwohl zu tun, wie Deutsche so gerne glauben wollen, sondern ist ein Interessenkampf; und Politiker, man glaubt es kaum, sind keine Engel, sondern Menschen wie Du und ich, also Egoisten. Ihr Handeln ist eher auf ihre Wiederwahl oder ein möglichst hohes Steueraufkommen ausgerichtet, als auf das Gemeinwohl. (James M. Buchanan, Gordon Tullock: The Calculus of Consent – Logical Foundations of Constitutional Democracy. Ann Arbor, 1962, 1989.)
Und deshalb muss der Einfluß der Politik begrenzt werden – wobei das Primat der Politik im Verhältnis zur Wirtschaft sowohl das Dritte Reich wie die DDR kennzeichnete. Aber diese Begrenzung des politischen wird zunehmend aufgehoben – und das beste Beispiel ist der Euro und der Umgang mit den dazu gefundenen Regeln: Vermutlich gibt es keine Regel im Maastricht-Vertrag, die nicht gebrochen wurde, wenn es der Politik notwendig erschien, um ihr “Projekt” gegen die Realität zu verteidigen. Deutsche “Ordnungspolitik”, die die unterschiedlichen Sphären abgrenzte und damit begrenzte, ist altmodisch in Europa.
Die Folge: Ein grandioseres Politikversagen als die Einführung des Euros kann man sich kaum vorstellen: Er funktioniert halt nicht, so lange Wirtschaft, Soziales, Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht, Wirtschaftskraft und Wirtschaftsverständnis, Finanzpolitik und Finanzverstand nicht wenigstens halbwegs harmonisiert sind in Europa: Was wirtschaftlich falsch ist, kann politisch eben nicht zurechtgebogen werden. Deshalb werden die Deutschen eben zahlen für die Fehler einer wirtschaftsfernen Politik; mit 80 Milliarden für Griechenland und mit 250 Milliarden in Form von Zinsverlusten für Lebens-, Riester- und Bausparverträgen; kurz: mit ihrer Altersversorgung. Da wird ja dann sicherlich die Süddeutsche wieder den „Kapitalismus“ bemühen, wenn der Wohlstand der Gesellschaft in Altersarmut umschlägt – nur nicht mit Fakten wird es erklärt werden, denn die stammen aus dem politischen Raum. Der arbeitet weiter mit seinem Primat. Die Kosten steigen. Ob Europa diese Lehre aus dem Griechenland-Desaster zieht? Wohl kaum. Während die Wähler dem obskuren Projekt eines europäischen Zentralstaats davon laufen, basteln seine Profiteure genau daran. Politik ist eben zu schön für die, die sie betreiben. Nicht nur in Griechenland.
Griechen raus! Aus Protest gegen die Politik der schwarz-gelben Regierung in der Euro-Krise trat kürzlich der FDP-Finanzobmann Frank Schäffler zurück. Er hatte gefordert, Griechenland aus dem Euro-Raum auszuschließen. Auch Reiner Holznagel, Geschäftsführer des Bundes der Steuerzahler, argumentierte, es sei deutschen Bürgern nicht zu vermitteln, dass dem griechischen Staat Milliardenkredite zukämen, ihnen selbst aber steuerliche Entlastungen verweigert würden: »Mehr Zumutung geht kaum!«
Ähnliche Stimmen waren vor mehr als 30 Jahren schon einmal zu hören – als über den Beitritt Griechenlands in die Europäische Union, die damals noch Europäische Gemeinschaft (EG) hieß, diskutiert wurde. Am 12. Juni 1975 hatte das Land offiziell einen Beitrittsantrag gestellt. Der damalige Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis erklärte vor den EG-Botschaftern in Athen: »Griechenland gehört zu Europa, dessen Teil es ist gemäß seiner geopolitischen Lage, durch seine Geschichte und Tradition, die der Ursprung des gemeinsamen kulturellen Erbes Ihrer Länder ist.«
Anders als bei der Nordwesterweiterung 1973, als Großbritannien, Irland und Dänemark beitraten, wollte damit erstmals ein Land in die EG, das den westeuropäischen Staaten nicht nur wirtschaftlich weit hinterherhinkte: Griechenland war auch noch keine stabile Demokratie. Von 1967 bis 1974 hatte eine Militärdiktatur den Staat beherrscht. Ebenfalls 1974 war der griechisch-türkische Streit um Zypern eskaliert, als nach einem griechischen Putsch gegen den Präsidenten der multikulturellen Insel türkische Truppen den Nordteil Zyperns besetzten. Seither ist die Insel geteilt.
In der deutschen Presse war die Skepsis gegen den Beitrittskandidaten groß. Die Erweiterung der EG um Griechenland sei »wirtschaftlich ein Unding« schrieb der Tagesspiegel. »Die Steuerzahler [müssen] mit einem erheblichen Preis für die Erweiterung rechnen«, prophezeite die Welt. Im Spiegel stand zu lesen, die EG-Unterhändler hätten ihren Dossiers entnehmen können, »was sie vorher schon hätten wissen müssen: ›Griechenland ist Italien minus Mailand‹«. Zudem wähnte man die EG ohnehin in der Krise. »Die Mitgliedschaft der Griechen erscheint in Brüssel […] so nützlich wie die Aufnahme eines Lahmen in einen Verein von Fußkranken, der um seinen Aufstieg in die erste Liga kämpft«, polemisierte die ZEIT. Doch die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt und die anderen westeuropäischen Regierungen ließen sich nicht beirren: Am 1. Januar 1981 wurde Griechenland zehntes Mitglied der EG.
Die Gründe, die ausschlaggebend für die Aufnahme waren, kamen in der öffentlichen Debatte kaum zur Sprache. Nachlesen kann man sie im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Bereits Ende 1974 waren die Bundesministerien gebeten worden, zur Beitrittsfrage Stellung zu nehmen. Im September 1975 formulierte die Bundesregierung ihre Haltung dann so: »Eine Teilung Europas in einen Block meist größerer, politisch und wirtschaftlich bedeutender Länder und eine Gruppe kleinerer, politisch und wirtschaftlich schwächerer europäischer Nationen« müsse auf Dauer »zu ernsten Belastungen für die Beziehungen […] zu den betroffenen Staaten führen«. Gegen die EG-Mitgliedschaft Griechenlands spreche im Prinzip nichts. »Die unvermeidlichen Belastungen [sind] durch die Verhandlungsprozedur und durch geeignete Übergangslösungen« in Grenzen zu halten. »Der entscheidende Gesichtspunkt«, der es aber verbiete, »den griechischen Beitrittsantrag abzulehnen«, sei »die Unteilbarkeit des freien Europa«. Europa lasse sich nicht selektiv nach dem Kriterium der wirtschaftlichen oder außenpolitischen Opportunität einigen.
Liebe Leser, ich muss Sie um Nachsicht bitten. Seit fünf Jahren bemühe ich mich, für den Business Spectator und die Achse des Guten ausgewogene, gut recherchierte Kolumnen zu verfassen, ab und zu mit einer provokanten Aussage gewürzt. Heute – am Tag 1 nach dem griechischen Staatsbankrott – ist mir das nicht möglich. Ich bin einfach zu wütend.
Nun also, mit einer Entschuldigung an meine sehr geschätzten Herausgeber, meine Wutrede über Athen.
In der schier endlosen Eurokrise war die vergangene Woche zweifellos die bisher bizarrste. Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas ähnliches je erlebt zu haben. Wir wurden Zeugen einer unfassbaren Mischung aus politischem Dilettantismus, Chuzpe und Aggressivität.
Niemand in diesem Euro-Spiel ist unschuldig. Alle Beteiligten müssen ihren Anteil an dem Desaster eingestehen und ihre Rolle in der eskalierenden Krise reflektieren.
Fangen wir mit der Ursünde der Eurokrise an. Griechenland hätte niemals in die Eurozone aufgenommen werden dürfen. Mehr noch, die Eurozone hätte es überhaupt nicht geben dürfen.
Von vornherein war der Wurm drin
Die Vorstellung, man könne völlig disparate europäische Volkswirtschaften vereinen, indem man ihnen eine Währung, einen Leitzins und einen Wechselkurs überstülpt, war nicht nur töricht, sie war wahnsinnig. Mit Volkswirtschaft hatte sie nichts zu tun, da von einem optimalen Währungsraum keine Rede sein konnte; es ging immer nur um politische Macht.
Hätte Deutschland nicht 1990 für die Wiedervereinigung der Zustimmung der Franzosen bedurft, hätten sich die Deutschen nie freiwillig von der D-Mark getrennt. Diesen Preis mussten sie dafür bezahlen, dass Frankreich einen größeren östlichen Nachbarn akzeptierte. In Frankreich glaubte man, die Einbindung Deutschlands in das Korsett einer Währungsunion würde seine Macht beschränken. Eine Fehlkalkulation kolossalen Ausmaßes.
Der nächste schwere Fehler war die Aufnahme Griechenlands in den Club. Wieder hatte die Entscheidung nichts mit Volkswirtschaft, aber alles mit Symbolik zu tun. Griechenland, die vermeintliche Wiege der Demokratie, war zwar seit Jahrhunderten volkswirtschaftlich ein Pflegefall gewesen, aber ein Europa ohne Griechenland? Nein, auch die Griechen gehörten ins Boot.
Damals mangelte es nicht an kritischen Stimmen. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff stimmte im Bundestag gegen die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone. Er mahnte, dass Griechenland einfach nicht so weit war. Aber weder Lambsdorff noch Hunderte von VWL-Professoren, die offene Briefe gegen den Euro unterzeichneten, wurden gehört.
Von Beginn an wurden die Regeln, nach welchen die Europäische Währungsunion funktionieren sollte, nicht befolgt. Sie waren kaum das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren. Defizit- und Verschuldungsgrenzen, das Verbot einer Staatenrettung, der Auftrag an die Europäische Zentralbank, sich nur auf Preisstabilität zu konzentrieren und dabei die Unabhängigkeit zu wahren: im Zweifelsfall galt keine dieser Regeln etwas, die Europäische Union warf sie alle über Bord. Wie um Himmels willen sollte dann Vertrauen in die Maßnahmen der EU – und erst recht in den Euro – erwachsen?
Auch die Vorgängerregierungen haben versagt
Ein gerüttelt Maß an Schuld an der Krise Griechenlands gebührt den verschiedenen Regierungen. Es waren die großen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien Griechenlands, die Geld mit vollen Händen ausgaben, Statistiken frisierten und immer neue Tricks erfanden, um heimlich noch mehr Schulden aufzunehmen. Dringend notwendige Reformen blieben auf der Strecke. Es stimmt, die gegenwärtige Syriza-Regierung ist ein Desaster. Aber man muss auch anerkennen, dass Tsipras, Varoufakis & Co ein Land übernahmen, das sich in einem Zustand heilloser Unordnung befand.
An diesem Desaster in und um Athen sind aber auch andere europäische Spitzenpolitiker schuld. Nachdem bereits 2010 offensichtlich geworden war, wie verheerend der Euro in Griechenland gewirkt hatte, war Bundeskanzlerin Angela Merkel kurzzeitig bereit, das Richtige zu tun, nämlich Griechenland aus der Eurozone hinauszuwerfen. Der Druck aus anderen europäischen Ländern und von der US-Regierung ließ sie schnell einknicken. Seitdem bekämpft die EU Schulden durch Aufnahme von noch mehr Schulden.
Das Ergebnis ist einfach zu beschreiben: Der private Sektor verabschiedete sich aus Griechenland, alle Risiken wurden an europäische Steuerzahler übertragen. Gewinne wurden privatisiert, Verluste sozialisiert. Tut mir leid, dass ich wie ein Sozialist klinge, aber so ist es nun mal geschehen.
Und was haben wir jetzt davon? Nach fünf Jahren haben die griechischen Staatsschulden nicht abgenommen, sondern zugenommen. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit dem Höchstwert um 25 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 26 Prozent. Wachstum ist nicht in Aussicht, dafür nehmen die Spannungen zwischen Griechenland und dem übrigen Europa zu.
Der IWF: eine große Enttäuschung
Die einzige gute Idee in dem ganzen Rettungsverfahren war die Hinzuziehung des Internationalen Währungsfonds. Denn der IWF weiß, wie man einem gestrauchelten Land wieder auf die Beine hilft. Unter der Führung der beiden französischen Direktoren Dominique Strauss-Kahn und Christine Lagarde spielte der IWF jedoch nicht die Rolle eines unabhängigen Schiedsrichters, sondern vertrat Partikularinteressen. Obwohl Griechenland ein kleines (und verhältnismäßig reiches) Land ist, wurde es zum größten Rettungsprojekt des IWF.
In einer Welt, deren Schwerpunkte sich immer mehr nach Asien verschieben, wurde der IWF europäischer. Er schenkte Griechenland zu viel Aufmerksamkeit und investierte viel zu viel Geld. Hätte er sich so verhalten, wenn es sich nicht um ein europäisches Land gehandelt hätte? Wenn seine Direktoren nicht frühere französische Politiker gewesen wären, hätte er dann genauso gehandelt? Die Antworten liegen auf der Hand.
Und nun zur gegenwärtigen griechischen Regierung. Was Tsipras und Varoufakis in den vergangenen Monaten abgeliefert haben, kann nur als die schlimmste Ausübung internationaler Diplomatie aller Zeiten bezeichnet werden. An einem Tag etwas ankündigen, am nächsten Tag das Gegenteil vorschlagen. Entscheidungen aus dem Weg gehen und zu wichtigen Treffen unvorbereitet erscheinen. Europäischen Nachbarn drohen und sie im gleichen Atemzug um Hilfe angehen. In Athen eine Aussage treffen, in Brüssel etwas ganz anderes sagen. Vladimir Putins Russland umschmeicheln und den IWF eine kriminelle Organisation nennen. Diese griechische Regierung – es tut mir nicht leid, das so zu sagen – ist eine der schlechtesten, die die Welt je gesehen hat.
Sogar die scheinbar demokratische Idee der griechischen Regierung, ein Referendum abzuhalten, ist reiner Zynismus. Der einzige Zweck besteht darin, mehr Zeit zu schinden. Die Frage auf dem Stimmzettel ist unverständlich. Wie auch immer die Wähler sich entscheiden, an der Position Griechenlands in Europa wird sich nichts ändern.
Damit das klar ist, ich liebe direkte Demokratie und würde gern mehr davon sehen. Vielleicht sollten wir aber nicht die Griechen befragen, ob sie ihren Kuchen aufessen und ihn behalten möchten, sondern den Deutschen die Frage stellen, ob sie für weitere griechische Kredite bürgen wollen?
Niemand hat eine weiße Weste
Wie eingangs gesagt, handelt es sich hier um eine Wutrede. An dieser Krise ist niemand schuldlos: nicht die Griechen, nicht die Deutschen, nicht die Europäische Kommission, nicht die Europäische Zentralbank und insbesondere auch nicht der Internationale Währungsfonds.
Lediglich einen Hoffnungsschimmer sehe ich. Jetzt, da der Staatsbankrott Griechenlands endgültig amtlich ist, wird vielleicht eine Lösung der Krise in Umrissen erkennbar. Wie wäre es, wenn Griechenland die Eurozone verlässt, seine neue Währung abwertet, den Staatsbankrott erklärt und sein Wirtschaftssystem reformiert? Seit fünf Jahren argumentiere ich in dieser Kolumne so, und ich bin keineswegs der einzige Volkswirtschaftler, der dies tut.
Werden die Spitzenpolitiker Europas uns endlich zuhören?
An manchen Stellen glaubt man, es wäre der 1. Juli 2015 und Gregor Gysi würde seinen Redebeitrag zur Griechenland-Debatte des Bundestages halten. So zutreffend zumindest sind seine Prognosen, als ob er über jene Krise resümieren würde, die seit 2008 den gesamten Euro-Raum erfasst hat. Doch die Rede stammt vom 23.4.1998 und war Teil eines siebenstündigen Schlagabtausches im Bundestag über die Einführung des Euro als neue europäische Gemeinschaftswährung.
Dort gehörten Gysi und die PDS mit der Ablehnung des Euros ohne ausreichende politische und wirtschaftliche Integration zu einer Minderheit. Nur 35 Abgeordnete stimmten gegen das „Jahrhundertereignis“ (Kohl), davon waren 27 Angehörige der PDS-Gruppe. Damit wurde gegen den Willen der breiten Bevölkerungsmehrheit der Deutschen votiert. Neun Tage später, am 2. Mai 1998, wurde die Einführung des europäischen Bargeldes auch von den Staats- und Regierungschefs der EG beschlossen.
Doch dass die Minderheit mit ihren Warnungen in vielem Recht behalten sollte, zeigt sich nun im Kontext der nicht enden wollenden Euro-Krise. Im Rückblick wird die Währungsunion weitgehend konsensual als Geburtsfehler ausgemacht. So bleibt die Rede Gysis als ein hochaktuelles Dokument außerordentlichen politischen Weitblicks. Im folgenden der Text im Wortlaut.
Dr. Gregor Gysi, Gruppe PDS, am 23.4.1998 im Deutschen Bundestag, zur Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst noch ein Wort an den Abgeordneten Hans-Dietrich Genscher: Sicherlich sind die politischen Unterschiede zwischen uns beiden, aber vor allem auch zwischen der Gruppe der PDS und der Fraktion der F.D.P. und den dahinterstehenden Parteien gewaltig, insbesondere wenn ich an die Wirtschafts- und Finanzpolitik denke. Das ändert aber nichts daran, daß wir diese Gelegenheit Ihrer Abschiedsrede im Bundestag nutzen möchten, um Ihnen unseren Respekt für Ihre Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten sowohl im Bundestag als auch in der Bundesregierung zum Ausdruck zu bringen.
Es war hier viel die Rede von europäischer Integration. Zweifellos ist die Einigung Europas ein großes politisches Ziel. Ich erinnere mich an die Tage, als die Mauer fiel, als die Diskussion um die Herstellung der deutschen Einheit begann und als die bange Frage gestellt wurde: Was wird das nun? Wird das ein deutsches Europa, oder wird es ein europäisches Deutschland? Diese Frage hat damals nicht nur die Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker in diesem Land und in anderen Ländern bewegt, sondern viele Menschen.
Die Frage, die sich bei der heutigen Debatte ergibt, ist meines Erachtens eine andere: Wie kommt man zu einer europäischen Integration? Kommt man tatsächlich zu einer europäischen Integration, indem man ein Europa der Banken schafft? Oder käme man nicht viel eher zu einer europäischen Integration, wenn man über den Weg der Kultur, wenn man über den Weg der Chancengleichheit in den Gesellschaften, wenn man über den Weg der Angleichungsprozesse und das Ziel der sozialen Gerechtigkeit ein solches Europa integriert?
Das ist unsere grundsätzliche Kritik an dem Vorhaben, über das es heute zu beschließen gilt. Man kann einen Kontinent nicht über Geld einen. Das hat in der Geschichte noch niemals funktioniert, und das wird auch hier nicht funktionieren. Sie, Herr Genscher, haben vor allem davor gewarnt, daß es schlimme Folgen hätte, wenn die Europäische Währungsunion scheiterte. Ich behaupte, sie kann auch scheitern, wenn man sie einführt, nämlich dann, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen.
Darüber müßte nachgedacht und, wie ich finde, auch länger diskutiert werden. Ich sage: Im Augenblick wird das ein Europa für erfolgreiche Rüstungs- und Exportkonzerne, für Banken, vielleicht noch für große Versicherungen. Es wird kein Europa für kleine und mittelständische Unternehmen, kein Europa für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, kein Europa für Gewerkschaftsbewegungen und auch kein Europa für die sozial Schwächsten in den Gesellschaften der Teilnehmerländer.
Wie verhält sich denn Deutschland zu diesem wirklichen europäischen Integrationsprozeß? Ist es nicht so, daß es die Union — auch unter Kritik der F.D.P. — vor kurzem abgelehnt hat, auch nur den Kindern von Eltern, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und die noch eine andere Staatsangehörigkeit haben, die deutsche Staatsangehörigkeit zu gewähren?
Wer dazu nein sagt, will doch gar keine Integration, zumindest nicht auf dieser kulturellen, auf dieser menschlichen Ebene, auf die es in diesem Zusammenhang ankäme.
Ich weise darauf hin, daß die Bundesregierung den Euro vehement gefordert und gefördert hat, es aber gleichzeitig abgelehnt hat, die Arbeitslosigkeit europapolitisch anzugehen. Von dem, der die Arbeitslosigkeit nicht europäisch bekämpfen will, behaupte ich, daß dessen Integrationswille nur auf einer Strecke ausgebildet ist, und zwar im Hinblick auf das Geld, aber nicht bezüglich der sozialen Frage, bei der dies wichtig wäre.
Wir alle wissen, daß wir es mit sehr ernstzunehmenden, auch rechtsextremistischen Erscheinungen in unserer Gesellschaft zu tun haben, daß Rassismus zunimmt, daß zum Beispiel in einem Land wie Sachsen-Anhalt das Ansehen rechtsextremistischer Parteien leider zunimmt. Das alles macht uns große Sorgen. Ich sage: Da ist eine richtige, eine die Menschen mitnehmende, an ihre sozialen Interessen anknüpfende europäische Integrationspolitik entscheidend. Wenn man sie unter falschen Voraussetzungen betreibt, dann wird sie der Keim zu einem neuen Nationalismus und damit auch zu steigendem Rassismus sein. Das ist unsere große Sorge, die wir hier formulieren wollen.
Hier ist gesagt worden, daß es in Europa ohne Euro keinen Abbau von Arbeitslosigkeit geben werde. Das verstehe ich überhaupt nicht. Täglich wird uns erzählt, daß in bestimmten europäischen Ländern Arbeitslosigkeit durch verschiedenste Maßnahmen erfolgreich abgebaut wurde, ohne daß es den Euro gab. Ich halte es immer für gefährlich, wenn scheinbar zwingende Zusammenhänge hergestellt werden, die in Wirklichkeit nicht existieren, nur um ein anderes Ziel damit begründen und erreichen zu können.
Im Gegenteil, der Euro birgt auch sehr viele Gefahren für Arbeitsplätze, und es bringt uns gar nichts, auf diese nicht einzugehen. Der Bundeskanzler ist heute mehrmals historisch gewürdigt worden. Ich werde mich an dieser Würdigung zu Ihrem Wohle nicht beteiligen, Herr Bundeskanzler.
Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so sehr in der Vergangenheit definieren lassen. Das birgt ja auch Probleme. Man kann natürlich leicht den Euro einführen, wenn man sagt: Es wird eine andere Regierung sein, die ihn auszubaden hat. Das ist natürlich auch ein Problem, vor dem wir hier stehen.
Ja, unterhalten wir uns über die Voraussetzungen. Fangen wir mit den Demokratiedefiziten an, die es in Europa gibt. So haben zum Beispiel sehr viele Juristen erklärt, ob wir heute im Bundestag ja oder nein zum Euro sagten, ob der Bundesrat morgen ja oder nein zum Euro sagen werde, sei unerheblich. Er werde in jedem Falle kommen, weil dies nämlich längst mit dem Vertrag von Maastricht ratifiziert sei und im Grunde genommen kein Weg daran vorbeiführe.
Am 2. Mai tagt das Europäische Parlament. Hat es in der Frage der Einführung des Euro, in der Frage der Herstellung der Währungsunion etwas zu entscheiden? Es hat nichts zu entscheiden. Es hat nur mitzuberaten. Selbst wenn dort eine große Mehrheit nein sagen würde, würde das an der Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 nichts mehr ändern. Da wird das gesamte Defizit deutlich, das dieser Vertrag in Fragen der Demokratie mit sich bringt.
Wir schaffen eine europäische Währung, haben aber keinen europäischen Gesetzgeber, keine europäische Verfassung, keine garantierten europäischen Rechte und verlagern die Funktionen vom Parlament auf die Exekutive in Brüssel. Das heißt, wir heben die Gewaltenteilung in der Gesellschaft schrittweise auf, damit sich dann die jeweilige Bundesregierung und auch die Regierungen der anderen Länder und deren Parlamente auf Brüssel herausreden und sagen können: Wir können in diesen Fragen gar keine nationale Politik mehr machen, weil uns die Möglichkeiten genommen sind. Aber wir haben eben kein demokratisches europäisches Äquivalent. Das ist ein Hauptmangel der Verträge von Maastricht und Amsterdam.
Ich behaupte, der Euro kann auch spalten; denn er macht die Kluft zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union und jenen, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, nicht kleiner, sondern größer. Der Weg gerade für die osteuropäischen Länder, für die sich Herr Genscher so eingesetzt hat, in die Europäische Union wird dadurch nicht leichter, sondern schwieriger werden. Er unterscheidet innerhalb der Mitgliedsländer der EU zwischen jenen, die an der Währungsunion teilnehmen, und jenen, die daran nicht teilnehmen. Das ist das erste Mal eine ökonomische und finanzpolitische Spaltung zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union.
Er unterscheidet aber auch und stärker die Euro-Länder. Ob Frau Matthäus-Maier, ob die Sprecherin der Grünen, ob CDU/CSU oder F.D.P., alle würdigen am Euro, daß sich die Exportchancen Deutschlands erhöhen würden. Wenn das dann so ist, dann müssen doch andere Produktionsunternehmen in anderen Ländern darunter leiden. Anders ginge es doch gar nicht.
Das heißt, wir wollen den Export Deutschlands erhöhen und damit die Industrie in Portugal, Spanien und anderen Ländern schwächen. Die werden verostdeutscht, weil sie diesem Export nicht standhalten können. Das ist eines der Probleme, das zu einer weiteren Spaltung innerhalb Europas führt. Das zweite ist: Es geht selbst innerhalb der verschiedenen Länder um unterschiedliche Regionen. Es haben doch nur die Regionen etwas davon, die in erster Linie vom Export leben. Was ist denn mit jenen Regionen auch in Deutschland, die kaum exportieren? Sie wissen, daß der Exportanteil der ostdeutschen Wirtschaft fast null ist. Sie hat überhaupt nichts davon. Im Gegenteil, die Binnenmarktstrukturen werden durch Billigprodukte und Billiglöhne systematisch zerstört werden.
Deshalb sage ich: Es ist ein Euro der Banken und der Exportkonzerne, nicht der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind, nicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir haben es mit einem weiteren Problem zu tun, nämlich dem, daß der Reichtum in diesem Europa wachsen wird, aber in immer weniger Händen liegen wird. Dafür ist Deutschland ein lebendiges Beispiel. Lassen Sie mich nur eine Zahl nennen. 1990, nach der Herstellung der deutschen Einheit, hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparvermögen von etwas über 3 Billionen DM. Das sind 3000 Milliarden DM. Ende 1996 hatten wir ein privates Sparvermögen von 5 Billionen DM, das heißt, von 5000 Milliarden DM.
Im Durchschnitt hat jeder Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland ein Sparguthaben von 135 000 DM. Nun können sich die Bürgerinnen und Bürger einmal ausrechnen, wie weit sie unter diesem Durchschnitt liegen. Dieser Durchschnitt kommt dadurch zustande, daß in 10 Prozent der Haushalte der Reichtum so gewachsen ist.
Da sagt doch der Herr Merz von der CDU/CSU, daß es die größte Katastrophe wäre, wenn nach einem Regierungswechsel die Reformen rückgängig gemacht würden. Was heißt denn das? Wollen Sie ein Europa, einen Euro mit immer mehr Kürzungen des Rentenniveaus? Wollen Sie ein Europa mit immer mehr Zuzahlungen für Kranke bei Medikamenten und bei ärztlichen Behandlungen? Das waren doch Ihre Reformen. Wollen Sie ein Europa, in dem 10 Prozent der Bevölkerung sinnlos immer reicher werden und andere immer mehr draufzahlen müssen? Das ist das Ziel Ihrer Politik. Ich finde, diese Reformen müssen unbedingt rückgängig gemacht werden.
Was hat denn die Vermehrung des privaten Vermögens bei 10 Prozent der Bevölkerung um 2000 Milliarden DM in sechs Jahren — das muß man sich einmal überlegen — der Wirtschaft gebracht? Welche Investitionen sind denn davon getätigt worden? Welche Arbeitsplätze wurden denn geschaffen? Weder im Osten noch im Westen hat es etwas gebracht. Der wachsende Reichtum hat nur zu noch mehr Arbeitslosen geführt. Deshalb ist das der falsche Weg nach Europa.
Mit der Demokratiefrage hängt übrigens auch zusammen, daß Finanz- und Geldpolitik kaum noch möglich sein werden. Die Zuständigkeit hierfür wird an die Europäische Zentralbank abgegeben. Sie wird dadurch anonymisiert. Damit wird erreicht, daß sich die Regierungen herausreden können, indem sie es auf die Bank schieben und erklären können, daß sie keine politischen Spielräume haben, weil die Europäische Zentralbank bestimmte Vorgaben gemacht hat. Wer so eine Politik einleitet, zerstört Demokratie, denn Auswahl haben die Menschen nur in der Politik und nicht bei der Bank. Da haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft und auch in anderen europäischen Gesellschaften.
Unsere größte Kritik richtet sich aber auf einen anderen Punkt; das ist das Wichtigste: Wer europäische Integration will, muß europäische Angleichungsprozesse einleiten. Dazu würde gehören, die Steuern zu harmonisieren, die Löhne und Preise anzugleichen und auch soziale, ökologische und juristische Standards anzugleichen. Es macht ökonomisch einen großen Unterschied, ob es gegen irgend etwas ein Einspruchsrecht gibt oder nicht. In dem einen Fall ist es nämlich teurer als in dem anderen Fall.
Wenn Sie das alles politisch nicht leisten und statt dessen sagen, wir führen eine Einheitswährung ein, um die Angleichungsprozesse zu erzwingen, dann sagen Sie damit doch nichts anderes, als daß Sie ganz bewußt Lohnwettbewerb, also in Wirklichkeit Lohndumping und Kostendumping, organisieren wollen.
Den größten Vorteil hat immer derjenige mit den niedrigsten Steuern, den niedrigsten Löhnen, den niedrigsten Preisen und den niedrigsten ökologischen, juristischen und sozialen Standards; dieser wird sich durchsetzen. Das führt zu einem Europa des Dumpings, des Abbaus nach unten. Wer so etwas organisiert, der – das behaupte ich -organisiert nicht nur Sozial- und Lohnabbau, sondern er organisiert auch zunehmenden Rassismus. Das mag nicht bewußt geschehen, aber es wird die Folge sein. Heute erleben wir das schon auf den Baustellen in Deutschland und in anderen Ländern.
Deshalb sagen wir: Das ist der falsche Weg. Wir hätten hier einen anderen einschlagen müssen. Erst wenn wir die Angleichungsprozesse politisch gemeistert hätten, hätte man am Schluß der Entwicklung als Krönung eine Einheitswährung einführen können. Wer aber die Angleichung über die Währung erzwingt, der erzwingt eine Angleichung nach unten mit all ihren katastrophalen sozialen Folgen. Alle Fraktionen, die heute zustimmen, haften dann auch für die Folgen, die dadurch eintreten, unabhängig davon, welche Motive sie dabei haben.
Es ist davon gesprochen worden, daß eine Währung Frieden herstellen kann. Ich glaube das nicht. Das gilt nur, wenn die Voraussetzungen dafür stimmen. Nämlich nur dann, wenn es gelingt, Spannungen abzubauen, ist eine Währung friedenssichernd. Wenn aber dadurch neue Spannungen entstehen, kann auch eine gegenteilige Wirkung erzielt werden. Das wissen Sie. Sie wissen, daß die einheitliche Währung in Jugoslawien keinen Krieg verhindert hat. Er war einer der schlimmsten der letzten Jahre.
Lassen Sie mich als letztes sagen: Der Hauptmakel dieser Währungsunion wird bleiben, daß Sie die deutsche Bevölkerung nicht gefragt haben. Sie hätten in dieser entscheidenden Frage einen Volksentscheid durchführen müssen. Dann hätten Sie auch Ihrer Aufklärungspflicht nachkommen müssen. Das widerspricht, Herr Kollege Merz, nicht parlamentarischer Demokratie. Auch Frankreich, Dänemark und Irland sind parlamentarische Demokratien und haben dennoch einen Volksentscheid durchgeführt. Nein, man kann das Volk nicht nur wählen lassen. In wichtigen Sachfragen muß man es auch zu Entscheidungen und zum Mitmachen aufrufen. Anders wird man Integration in Europa nicht erreichen.
Immerhin die Einsicht, dass die Ursachen der Fehlentwicklungen in der EU bereits in der Gründung der Währungsunion liegen, wird mittlerweile verlautbart. Diesem Befund ist nicht nur zuzustimmen, er ist mittlerweile auch breiter Konsens. Ohne die Harmonisierung der Steuer- und Wirtschaftspolitik mit ausgeglichen Außenhandelsbilanzen in der EU war die fundamentale Krise, die weit mehr als nur eine Krise der Währungsunion ist, absehbar.
Nun steht die Frage im Raum, welche Handlungsoptionen jetzt überhaupt noch realistisch sind. Der Weg zurück in den Zustand der Währungsunion vor der Krise ist versperrt, egal wie das Drama um den drohenden Grexit letztendlich auch ausgehen sollte. Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zieht man offenbar nicht – oder aber die Falschen.
Mit unzähligen ökonomischen Drangsalierungen für das Auszahlen von Krediten, irreführenderweise „Rettungspakete“ oder „Hilfskredite“ genannt, soll die südliche Peripherie der EU wieder fit für den Wettbewerb gemacht werden. Geholfen hat das wenig. Im Falle von Griechenland waren die Kredite ohnehin nicht mehr als ein Durchlauferhitzer, die Gelder wurden umgehend an Finanzinstitute weitergeleitet. Der griechische Staat selbst erhielt von dieser „Hilfe“ nur 10 Prozent. Gleichzeitig stehen monatlich Zinstilgungen an, bis heute Mitternacht alleine 1,6 Milliarden Euro an den IWF, für die Gläubiger ein Riesengeschäft.
Von „Rettung“ also keine Spur. Deswegen wird nun eine beispiellose Geschichtskitterung betrieben: Die Eskalation der Krise soll, nachdem Griechenland unter Samaras vermeintlich die Talsohle durchschritten hatte, der vermeintlich „linksradikalen“ Syriza-Regierung verantwortet werden. Als ob angesichts der Memoranden irgendeine griechische Regierung überhaupt noch maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes hätte.
Der staatlich-informationsindustrielle Komplex erschafft dabei eine Mär. Die Tatsache, dass Schäuble und die Troika an dem Linksbündnis ein Exempel statuieren wollen und sich bis zuletzt in den „Verhandlungen“ unerbittlich zeigten, wird ins Gegenteil verkehrt, Regierungschef Alexis Tsipras und Finanzminister Yanis Varoufakis als verantwortungslose Spieler dargestellt. Die durchgesickerte Information, dass die Gläubiger untereinander gespalten sind, vernünftige Vorschläge der Griechen von einzelnen Parteien immer wieder abgeschmettert werden, um einen „regime-change“ zu provozieren, bleibt eine Randnotiz. Insbesondere der IWF und Schäuble lassen Tsipras am ausgestreckten Arm verhungern. Dass die Euro-Gruppe zudem nun sämtliche Zahlungen aussetzte, als Tsipras ein Referendum ankündigte, unterstreicht spätestens jetzt, dass eine ernsthafte Lösung nie gewollt war.
„Griechenland hat 1,5 Millionen. Arbeitslose, drei Millionen Arme, Tausende von Familien haben kein Einkommen und leben nur mit der Rente der Großeltern. Dies ist kein Spiel“ -Alexis Tsipras
Die beschränkte und geschichtsvergessene Debatte rund um die „Staatschuldenkrisen“ hat nichts Substanzielles anzubieten. Die Frage kreist einzig und allein um Höhe sowie Umfang der nächsten Einschnitte. Die gänzlich unhinterfragte Phrase von „Strukturreformen“ erschöpft sich seit Jahren in weiteren unsinnigen weil krisenverschärfenden Auflagen wie Mehrwertsteuererhöhung, Lohn- und Rentenkürzung sowie Privatisierungsvorgaben. Gleichzeitig hat das Ausbleiben nachhaltiger Verwaltungsreformen, welches Syriza unablässig vorgeworfen wird, tatsächlich mit dem Desinteresse der Gläubiger zu tun. Nicht zufällig soll ein umfassendes Reformprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung in einem deutschen Ministerium versandet sein.
Dass die SPD und ihr nahestehende Autoren zudem dieses perfide Spiel mitspielen, ist ein Offenbarungseid der Sozialdemokratie als Ganzes. Die Unfähigkeit oder der fehlender Wille, eine wirtschaftspolitische Alternative zu Merkels Europapolitik zu entwerfen, ist seit der Agenda 2010 eine weitere Etappe auf dem Weg der SPD in die politische Bedeutungslosigkeit. Soweit wie sich die SPD von einer sozialdemokratischen Partei, hat sich auch Europa entfernt von der “Vision eines vereinigten Europas, die über die graduelle Angleichung von Lebensstandards, einer Vertiefung der Demokratie und dem Erblühen einer wahren europäischen Kultur erreicht werden wird”. So schwebte es zumindest Oskar Lafontaine noch am Abend der Euroeinführung vor.
Den Eindruck, dass die katastrophalen Auswirkungen der Austeritätspolitik nicht nur hingenommen, sondern auch gewollt werden, versucht man von politischer Seite nicht einmal zu entkräften. Dazu passt ins Bild, dass Syriza für die Ablehnung der marktradikalen Schocktherapie als „radikal“ diskreditiert wird. Es ist politische Schizophrenie oder die Manipulation des Jahrzehnts, wenn nicht eine Politik der Verelendung, die zu einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent, zu steigenden Suiziden und einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems geführt haben, sondern deren Ablehnung als Radikalismus gilt.
Doch selbst mit ökonomischer und politischer Erpressung wird sich die in desolater Lage befindliche europäische Peripherie nicht zurück in die fragwürdigen, weil neoliberal determinierten Maastricht-Verträge zwängen lassen. Die allseits gehegte Befürchtung, dass die Union in Zukunft zu einer Transfer-Union werden könnte, wird spätestens dann zum Faktum, wenn sich die EU in Zukunft als föderales System mit maßgeblich eingeschränkten Souveränitäts-, sprich Haushalts- und fiskalpolitischen Rechten der Mitgliedsstaaten mit unterschiedlicher Wirtschaftsleistung entwickeln sollte. Dann nämlich wird ein funktionales Äquivalent zum bundesdeutschen Länderfinanzausgleich in der Eurozone unverzichtbar.
Doch vorerst versucht vor allem die deutsche Bundesregierung, allen voran ihr Finanzminister, diese Wahrheit zu umschiffen. Tatsächlich ist unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen der Preis für diese Integration hoch. So hoch, dass die aufgeworfene Frage, ob denn die Bürgerinnen und Bürger reif und bereit für einen europäischen Bundesstaat mit zumindest gemeinsamer Wirtschafts-, Fiskal-, Haushalts- und Sozialpolitik seien, genauso berechtigt ist, wie auch eine diesbezüglich pessimistische Einschätzung.
Der besagte Preis bemisst sich aber nicht in der Höhe von Transferleistungen, sondern in den Konsequenzen für Demokratie und Rechtsstaat. Warum die Bürger einen europäischen Bundesstaat mit Skepsis betrachten, ist so offensichtlich, wie die postdemokratische Entwicklung, die den bisherigen europäischen Integrationsprozess auszeichnet. Denn mit der ihr innewohnenden Übertragung nationaler Hoheitsrechte nach Brüssel werden den Bürgern sukzessive die Einflussmöglichkeiten genommen. Solange nicht auch die nationalen Demokratien ihre Entsprechung in den EU-Intitutionen finden, wird die öffentliche Zustimmung zu dem bürokratisierten und zum Teil gewaltsam daher kommenden Assimilationsprozess zu Recht nicht größer werden. Der feindselige Umgang gegenüber einer Syriza-Regierung, die zumindest um ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit im Land kämpft, folgt da einem Muster.
Der angesichts der Krise unter Hochdruck betriebene Einigungsprozess folgt also einem dystopischen Drehbuch. Defizite wie das Fehlen einer demokratischen Kontrolle der Wirtschaftspolitik haben kaum einen Platz in einer öffentlichkeitswirksamen Debatte. Stattdessen findet die Entscheidungsfindung über die Zukunft Europas in den Hinterzimmern der Brüsseler Bürokratie statt. Der Vertrag von Lissabon ist das offenkundigste Beispiel dafür, dass die europäische Integration fast ausschließlich unter Determinanten der Marktgläubigkeit vonstatten geht. Dass die Austeritätspolitik vom EU-Parlament oder den „Instutionen“, wie man die Troika neuerdings nennt, kaum hinterfragt wird, lässt erahnen, welchen Interessen dort gedient wird. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Merkels Reformverträge zur Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“, sprich eine „Troika für alle„, bald Realität werden wird.
Griechenland ist nur eine Blaupause für das, was auf die Unter- und Mittelschichten in Europa zukommen wird, wenn der Widerstand der Hellenen zusammenbricht. Der Bumerang des Sozialdumpings wird unter dem Narrativ der Wettbewerbsfähigkeit auch wieder auf Deutschland zurückschlagen. Der Euro ist zum Selbstzweck, einer Illusion geworden, die die Versprechen seiner Gründer nicht mehr erfüllt. Im Gegenteil sinkt zum ersten Mal wieder der Lebensstandard der einfachen Europäer, wie Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas nachgewiesen haben. Und das gilt angesichts jahrelanger Lohnstagnation und einer “beggar-thy-neighbour”-Politik auch für die Deutschen.
Angesichts des mit dem „race to the bottom“ einhergehenden Generalangriffs auf die europäischen Sozialstaaten dürfen die Tendenzen einer Re-Nationalisierung kaum verwundern. Freilich ist der Weg zurück zu einem Europa souveräner Nationalstaaten wohl verbaut; doch als Alternative wird nichts angeboten als die Kritik an den Kritikern der Brüsseler Diktate. Ein Unbehagen an dem viel zu weit gehenden Einfluss der europäischen Institutionen und einem IWF, der in Europa eigentlich nichts verloren hat, wird zwar bisweilen geäußert, so die „ausschließlichen Entscheidungen im Detail“, die intransparente Kommunikation mit ihrer „irreführenden Begrifflichkeit“, die „selbst Experten“ herausfordert, ohne aber dabei zu benennen, um was es sich da handelt: Ein technokratisches Regime, das im Interesse der Finanzmärkte operiert.
Denn was sagt es in all seiner Tragweite aus, wenn man einerseits von Entscheidungen spricht, die von den Finanzmärkten „erzwungen“ wurden und im Gegenzug dann das Nicht-Einhalten dieser Zwangsverträge moniert? Es entlarvt, dass eine Politik nach demokratischem Mandat und im nationalen Interesse schlicht verwerflicher gilt, als die Abwicklung der Demokratie und ihrer instrumentellen und sozialen Grundlagen durch eben jene Technokraten.
Die Blindheit oder Verschleierung der Tatsache, dass sich hier in Wahrheit griechisches Interesse mit dem der europäischen Bürger insgesamt deckt, ist eine Bankrotterklärung unserer politischen Geisteshaltung. So ist auch das Mantra der Kürzungspolitik, die Verhöhnung der Opfer und die Delegitimierung ihrer Interessen, ja die ganze propagandistische Irreführung der wirkliche Skandal in der ganzen Grexit-Debatte. Es ist auch die wahre Ursache für den „Riss, der die Europäische Union spaltet“ und „quer durch die europäische Gemeinschaft, (…) quer durch die sozialen Schichten, ja (…) quer durch die politische Klasse selbst“ geht. Dass die Symptome zwar bisweilen erkannt, nicht aber deren Ursache benannt werden, ist die eigentliche Tragik unserer Epoche.
Update, 1.7.15:Heute Mitternacht konnte Griechenland die oben erwähnte Kreditrate von 1,55 Milliarden Euro nicht an den IWF zurückzahlen, das Land ist faktisch Zahlungsunfähig. Wann jedoch das sogenannte Kreditereignis ausgelöst wird, hängt von der IWF-Direktorin Christine Lagarde ab. Sie kann innerhalb eines Ermessensspielraums von 30 Tagen entscheiden, wann sie dem IWF-Gouverneursrat meldet, dass keine Zahlung aus Athen eingegangen ist. Theoretisch also könnte Lagarde ohne Probleme das Referendum und die politischen Reaktionen darauf abwarten.
Selten schien man in Europa so solidarisch miteinander. Milliarden an Steuergeldern wurden aufgewandt, um die in Not geratenen Länder aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Hilfskredite, Eurorettung, Friedensnobelpreis. Die EU-Regierungen, allen voran die Kanzlerin und ihr Finanzminister, feiern die Euro-Rettung als gelungenen Erfolg. Alle seien unter den notwendigen Entbehrungen durch das tiefe Tal geschritten und endlich ginge es aufwärts. Alle außer Griechenland.
Vom Rettungsschirm zur Kapitalkontrolle
Unverständnis herrscht bei den Deutschen. Unverständnis und Wut. Hat man sich doch jahrelang solidarisch-großzügig gezeigt. Die Kanzlerin selbst hatte es immer betont: alternativlos waren die Rettungsmaßnahmen. Schnell durchgewunken im Parlament. Hilfe. Völlig unbürokratisch und – vor allem – uneigennützig. Dieser Eindruck zumindest entsteht, wenn man das (gescheiterte) Krisenmanagement Revue passieren lässt. Und nun auf einmal bocken die Griechen. Man will das Volk befragen. Das solidarische Herz zerbricht in tausend Stücke.
In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist das vermeintliche Hilfsprogramm ausgelaufen. Ein Programm, das vorsah, „Hilfs“-Kredite (ein Kredit ist per Definition keine Hilfsleistung) an ein völlig bankrottes Land zu zahlen, nur, um sich das Geld dann direkt wieder auszahlen zu lassen. Das muss man erst einmal verstehen. Und jetzt wird die Lage brenzlig in Hellas. Schon wieder.
Die Luft auf den Straßen ist zum schneiden. Schlangen vor jedem noch funktionierenden Geldautomat. Nur 50 Euro dürfen täglich pro griechischem Konto abgehoben werden (für Ausländer gilt das nicht). Viele Menschen haben keine Bankkarte und sind von der Geldversorgung abgeschlossen. Kapitalkontrolle. Ausnahmezustand. Und in Deutschland spalten sich – abgesehen von den vielen Indifferenten – die Lager: Die einen sprechen von „Solidarität jetzt erst recht.“ Die anderen, darunter auch die deutsche Bundesregierung, meinen, die Grenzen der Solidarität seien erreicht.
Besser verhandeln als solidarisieren
Dabei wird es Zeit, den heiligen Solidarschein auszuknipsen und endlich am Tisch der Fakten einzukehren. Ein Fakt beispielsweise ist, dass die „Angebote“ der EU an Griechenland nach den kräftezehrenden Monaten ewig dauernder Verhandlungen einfach nicht annehmbar sind.
Mehrwertsteuererhöhung? In einem Land, in dem diese bereits über dem europäischen Durchschnitt liegt und in dem der Binnenmarkt quasi kollabiert ist? In einem Land, in dem der Mindestlohn 3,35 Euro beträgt und mehr als ein Viertel der Bevölkerung keine Arbeit hat? Und: Unternehmenssteuer erhöhen? In einem Land, in dem ein Unternehmen nach dem anderen Konkurs anmeldet und das dringend auf Investoren aus dem Ausland hofft?
Man muss kein Experte sein, um zu verstehen, dass solcherlei Forderungen genau das verhindern, was – laut Aussage der selbsternannten Euro-Retter – das Kernziel der Hilfsprogramme war: Wachstum. Ganz sicher kann man sagen: In Griechenland hat das Programm nicht „geholfen.“ Und – gegensätzlich zu offiziellen Aussagen: Auch in den anderen Ländern bleibt die große helfende Wirkung aus.
Griechenland hat Probleme, ist aber keins
Weder in Spanien, noch in Portugal hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt wesentlich gebessert. Die konservativen Regierungen dort sprechen von Erfolgen, doch sie warten nur darauf, abgewählt zu werden. Polen (noch kein Euro-Land) ist eine der am stärksten wachsenden Wirtschaftsmächte Europas – und erlebt gerade die größte Auswanderungswelle seit dem 2. Weltkrieg. In Deutschland siedelt der paritätische Wohlfahrtsverband die Armutsquote auf 15,5 % an. Überall in Europa brodelt es, doch scheint dies durch die mediale Einkesselung Griechenlands niemandem so richtig aufzufallen.
Lieber zeigt man sich solidarisch mit dem isolierten schwarzen Schaf, als sich darüber bewusst zu werden, dass die Krise kein Problem á la Hellas ist und sich auch über dessen Grenzen hinaus nicht in Luft aufgelöst hat. Doch mit der medialen Lupe über einem Land, das bereits lange bankrott ist, wirkt die Situation vor der Haustür schon viel besser. Solange man sich auf die Griechen konzentriert und so tut, als hätten die Probleme dort nichts zu tun mit den zahllosen Problemen der EU, wiegt man sich in Sicherheit.
Solidarisch ja – aber nicht mit Tsipras
Auffällig ist, wie solidarisch die EU mit dem Vorgänger von Ministerpräsident Alexis Tsipras war. In der Zusammenarbeit mit der Samaras-Regierung gab es keine Beanstandungen. Man sprach von den Reformbemühungen Griechenlands und den guten Fortschritten. Da schüttelte man sich solidarisch die Hand, während das Wachstum ausblieb. Fakt hier ist: Die Vorgänger-Regierung unter Samaras hat nicht eine einzige sinnvolle Reform durchgeführt. Nicht eine einzige.
Es sind Steuern auf Kinder erhoben worden, weil diese als Luxus gelten und Luxus erfordert nun mal Geld. Als Freiberufler zahlt man ab dem nullten Euro Steuern, denn bereits wenn man sich bei einer Innung oder Berufsvereinigung registriert, kassiert der Staat monatlich Steuern für nicht verdientes Geld. Die Samaras-Regierung hat gegen geltendes Recht verstoßen, Strandgrundstücke zum Verkauf angeboten und den Staatssender vom Netz genommen. Weder das Steuersystem ist reformiert, noch sind Steuerflucht und Korruption bekämpft worden.
Da aber war Europa solidarisch genug, alle Augen zuzudrücken. Erst als Tsipras kam, samt seinem Finanzminister, wurde man kritisch. Beide sind jetzt die auserkorenen Unsolidarischen im vereinten Europa. Dass die Forderungen der EU ihrem Land den Todesstoß versetzt hätten, spielt dabei keine Rolle. Von den einen als unverschämte Lausbuben oder auch gefährlichste Männer Europas verschrien, werden sie von anderen als Helden zelebriert.
Fakt ist ebenfalls: Auch die Syriza-Regierung ist die notwendigen Reformen bis dato nicht angegangen. Und anstelle von blinder Solidarität wären die europaweit vielen Anhänger besser beraten, der neuen Regierung kritisch über die Schulter zu schauen. Den Staatssender haben sie wieder aufgemacht und bieten den Austeritäts-Institutionen Paroli. Doch leider haben sich die Hoffnungen, Varoufakis würde einen genialen Plan zur Steuerreform aus der Schublade ziehen und beginnen, mit dem elenden Korruptionschaos in Griechenland endlich aufzuräumen, nicht erfüllt. Egal ob „Nai“ oder „Oxi“ – das Land muss endlich seine Probleme angehen.
Ja und Nein zu was denn nun?
In dieser Stimmung nun lässt Tsipras die Griechen abstimmen. Ein notwendiges Referendum, das unter einem schlechten Stern steht. Technisch gesehen geht es nur darum, das „Angebot“ der EU (das sie ja mittlerweile wieder zurückgezogen hat) anzuerkennen (Ja) oder abzulehnen (Nein). Durch die verhärteten Fronten aber zwischen der griechischen Regierung und der EU wird die Abstimmung gewertet als ein Bekenntnis für oder gegen Europa (so etwa, wie das Referendum, das derzeit in Österreich vorbereitet wird).
Für die Griechen bedeutet dies zu wählen zwischen: „Ja, ich entscheide mich für ein „Hilfs“-Programm, das dem Land bisher jede Möglichkeit zur wirtschaftlichen Erholung verwehrt hat und einen Staatenbund, der das eigene Scheitern nicht anerkennt.“ und „Nein, wir riskieren den Austritt aus der Währungsunion und somit wirtschaftliche Isolation, mit einer Regierung, die als großer Hoffnungsträger bisher untätig geblieben ist.“ Die Menschen, die zu einem „Ja“ tendieren fürchten sich davor, den Euro zu verlieren. Sie fühlen sich sicherer mit der gemeinsamen Währung und als Mitglied der EU. Die anderen, die zum „Nein“ tendieren, sind erschöpft vom Spardiktat. Die letzten Jahre unsäglicher Stagnation lasten stärker, als die Angst vor der Isolation.
Nun warten alle auf Sonntag. Die Börsen reagieren positiv auf jede kleine Annäherung und negativ auf jeden Streitpunkt. Und ein Volk, dem eine Woche lang kein oder nur geringer Zugang zum Restkapital gegeben wurde, soll an den Urnen über sein Schicksal entscheiden. Keine Idealvoraussetzungen für eine demokratische Abstimmung – vor allem deswegen nicht, weil sich die letzten Wochen alles andere als demokratiefreundlich gezeigt haben.
Griechenland und die EU
Nein, sehr demokratieaffin haben sich die „Institutionen“ bzw. hat sich Europa gegenüber den Griechen wirklich nicht gegeben. Schon bei Tsipras‘ Wahlsieg hatte Frau Merkel keine guten Worte für ihren frischgebackenen Amtskollegen. Die angeblichen Verhandlungen hatten dann mit einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe ebenfalls wenig zu tun. Vielmehr haben sich die vorher so solidarischen „Geber“-Länder nach dem Regierungswechsel in Athen schlichtweg geweigert, eine umfassende Manöverkritik hinsichtlich der Sparpolitik anzugehen – vor allem auf Druck der Bundesrepublik.
Mit anderen Worten: Griechenland hatte zu keinem Zeitpunkt eine Chance, die Verhandlungspartner von ihrem Standpunkt abzubringen. Denn dann hätte Europa Fehler zugeben müssen. Da aber hört die Solidarität auf. Das Ergebnis ist jenes Angebot, über das am Sonntag abgestimmt werden soll. Ein Angebot, das in fast jedem Detail dem gleicht, was vor den Verhandlungen galt.
Staatenbund vs. Nationalstaat
In all dieser Panik um Griechenland und mit all dem verletzten Solidaritäts-Stolz vergisst man wie immer das Wesentliche: Es wird Zeit, sich auf ganz Europa zu konzentrieren. Der Staatenbund befindet sich auf einem schlechten Kurs und die Re-Nationalisierung der Mitgliedsländer ist die Folge. Anti-Europa Bewegungen jenseits der rechten Mitte sind gesellschaftsfähig geworden – sind ein Teil unseres Alltags. Flüchtlinge verelenden dies- und jenseits der EU-Grenzen. Ganze Länder werden geopfert. Das ist das Gegenteil von Solidarität. Das ist eine Verkennung der prekären Lage in ganz Europa.
Das größte Versagen de EU in diesem Kontext liegt genau dort, wo auch der griechische Staat bisher untätig geblieben ist. Die Aufgabe einer regierenden Verwaltung ist es, Strukturen zu schaffen, innerhalb derer ein soziales Konstrukt am Leben erhalten werden und sich entwickeln kann. Brüssel muss funktionierende Kanäle zwischen den einzelnen Nationalstaaten schaffen, die es den Bürgern ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen und die vielen Ressourcen Europas sinnvoll zu nutzen. Gerade der Wissenstransfer sollte hier im Vordergrund stehen.
Mehr EU, aber mit Betonung auf Union
Alles jedoch, womit die EU bisher in Verbindung gebracht wird, ist das Scheitern eines Hilfsprogramms, das über Jahre den tatsächlichen Status quo Griechenlands einfach überdeckt hat. Würde die EU aber Strukturen schaffen, die den Bürgern ein freies Handeln ermöglicht, und Hilfsmittel, mit denen dieses unterstützt würde, wäre das kommende Referendum ein für alle tragfähiges Instrument der Demokratie.
Unter diesen Umständen aber laufen wir Gefahr, die Idee Europa aufzugeben aufgrund der fehlenden Flexibilität innerhalb einer gescheiterten Rettungsmission.
In einer Demokratie ist es legitim, Fehler zu machen. Das System sieht dafür Entscheidungsmechanismen vor. Ausführende Personen müssen für falsches Handeln die Verantwortung übernehmen – als Staatsbedienstete. In jedem Falle sind sie per Eid und Grundgesetz dazu verpflichtet, zum Wohle des Volkes zu entscheiden. Beharren sie auf fehlerhaftem Handeln, nur um die eigene Position zu sichern, ist das mehr als nur unsolidarisch. Es ist gegen ihren Eid.
Florian Schmitz lebt und arbeitet in Griechenland als freier Korrespondent und Autor. Als überzeugter Europäer widmet er sich auf seinem Blog EUdyssee.net Aspekten des europäischen Lebens, die in Zeiten der Krise oft nicht genug Beachtung finden.
Die Konfliktparteien in der griechischen Schuldenkrise scheinen buchstäblich „die Sache gegen die Wand gefahren zu haben“ – und mit „der Sache“ ist hier nicht nur der Staatsbankrot Griechenlands gemeint, sondern mittelfristig auch die Europäische Union gleich selbst. Denn was sich hier als die Eurogruppe plus (ehemalig) Troika etabliert, ist ein supranationales Monstrum aus Technokratie und Exekutivföderalismus, das nicht nur alle zaghaften institutionellen und vertraglich festgehaltenen (!!!) Bemühungen um Demokratisierung der EU seit Monaten vollständig ad absurdum führt, sondern auch vielen anderen Gesellschaften innerhalb der EU vor Augen führt, was ihnen droht, wenn sie sich gegen die mit „neu-deutscher Robustheit“ (Habermas) diktierte, gegenwärtig Staats- und Regierungschefs übergreifende Version vom richtigen Wirtschaften stellen.
Sowohl als spanischer oder portugiesischer Bürger als auch als Anhänger einer demokratischen EU kann einem hier nur Angst und Bange werden. Ein solches Regieren in Europa ist extrem gefährlich. Sollte die griechische Regierung wirklich die vorgesehenen Reformauflagen (siehe ‘list of prior actions‘) akzeptieren, könnten sie das griechische Parlament für die nächsten Jahre schließen. Der Gestaltungsspielraum in zentralen Politikfelder wäre dann nämlich gleich null – von der Mehrwertsteuer über die finanz- und strukturpolitischen Maßnahmen, die Rentenreform, die Neustrukturierung der öffentlichen Verwaltung ist sprichwörtlich bis auf den Prozentpunkt alles vorgegeben. Und, das sei hier angemerkt, lediglich um dieses Hilfspaket zu verlängern. Weitere werden folgen müssen, die sicher nicht weniger detailliert den politischen Gestaltungsspielraum von Parlament und Regierung einschränken würden.
Die paternalistischen Analogien vom „Hausaufgaben-Machen“, vom „Einsehen, dass man über die eigenen Verhältnisse gelebt habe“ sind ebenfalls Teil einer Entmündigungsstrategie. Neben der Tatsache, dass solche Analogien den politischen Gegner infantilisieren, verweisen sie auf einen Mangel an politischer Urteilskraft. Die griechische Regierung vertritt eine Position, für die sie von den griechischen Wählern legitimiert worden ist – und für die sie, wenn am Samstag Referendum ist, eine gnadenlose Mehrheit bekommen wird. Diese Position mag den deutschen und restlichen Verhandlungsführern nicht passen – und das teils sogar mit guten Gründen. Auch ist das Auftreten der Regierung um Tsipras grenzwertig bis naiv – das von manchem Verhandlungsführer auf der Gegenseite ist jedoch nicht weniger fragwürdig. Aber darum darf es im Kern in einer so brisanten Lage nicht gehen − und es geht auch nicht darum.
Was hier auf der europäischen Bühne exerziert werden soll, ist ein ökonomischer Weltanschauungsstreit. Statt die Frage im Blick zu halten, wie die Schuldenkrise Griechenlands so gelöst werden könne, dass sie dort nicht zu weiteren sozialen Verwüstungen (50% Jugendarbeitslosigkeit etc.) führt, dass sie Griechenland ein Zukunftsperspektive bietet und dass sie die politisch-institutionelle Krise der EU nicht noch weiter verschärft, wird hier ein Exempel statuiert: Marktkonformität im Konsolidierungsstaat oder raus! Wer so agiert, wird in der Tat „in der Mülltonne der Geschichte enden“ (Piketty), denn er opfert nicht nur alle Bemühungen einer nachhaltigen Demokratisierung der supranationalen Ebene dem Dogma der Marktkonformität, sondern in eklatanter Weise auch die parlamentarische Demokratie Griechenlands.
Dabei ist es doch völlig offensichtlich, dass man den griechischen Staat weder zur Rückzahlung der Schulden verdonnern noch ihm weitere Sparmaßnahmen abverlangen kann. Beides ist nicht möglich und wird auch nicht passieren. Rentenkürzungen vor dem Hintergrund des griechischen „Sozialsystems“ (ein System ohne Arbeitslosenversicherung) ist ein staatlich verordnetes Pauperismus-Programm. Keine griechische Regierung – heute oder in Zukunft – kann ein solches Programm umsetzen, ohne dass sie aus dem Land gejagt wird. Politik hat immer auch etwas mit dem Anerkennen von Realitäten zu tun – und in gleicher Weise wie etliche Forderungen und Bestrebungen von Syriza unrealistisch sind und waren, so sind auch diese Forderungen schlicht unrealistisch – mögliches Investitionsprogramm hin oder her.
Was als Beobachter des ganzen Schauspiels schließlich in besonderer Weise frustriert, ist die geringe Anteilnahme, die Gleichgültigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gegenüber den Konsequenzen einer von Deutschland maßgeblich dominierten Politik in Griechenland – gepaart mit dem Mangel an Verständnis für die Folgen, die diese Geschichte für die Zukunft Europas haben wird. Wie bestimmte Zeitungen und Medien die „Jetzt reicht es“-Rhetorik zelebrieren und die Tatsache abfeiern, dass jetzt sogar Sigmar Gabriel „entsetzt“ sei, hat mit ernsthaften und kritischem Journalismus überhaupt nichts mehr tun. Getoppt wird das Ganze nur noch vom geschichtsvergessenen Chauvinismus des deutschsprachigen Boulevard in dieser Angelegenheit. Er suggeriert, dass sich hierzulande jeder und jede den „faulen Griechen“ überlegen fühlen darf – als ob die Tatsache, dass er, sie oder ich einen Arbeitsplatz haben, in erster Linie von unseren individuellen Qualitäten abhinge. Wir könnten unser Glück ja mal in Griechenland versuchen!
Christian Volk ist Juniorprofessur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier. Sein Kommentar über die Zukunft Griechenlands ist Teil einer Debatte mit Bernd Ladwig, dessen Replik Sie hier lesen können.
Hier erkläre ich zum letzten Mal die Ursachen und Zusammenhänge der sogenannten „Euro-Krise“und die maßgebende Rolle der korrupten und gierigen Deutschen bei der Ruinierung Griechenlands und anderer Staaten zum Zwecke der Bereicherung der deutschen Bankster.
Und wenn ich dann immer noch von jemanden „die korrupten (und/oder faulen) Griechen“ als Ursache der sog. Euro-Krise, fälschlicherweise „Griechenlands-Krise“ gennant bekomme, dann werde ich rabiat, whatever it means.
Und da die meisten von Ihnen nur noch Bildchen verstehen, habe ich als Erklärung ein Bildchen gemacht. Hier ist es:
Die Deutschen
Relevanter Faktor
Merkel zitiert sich selber, und niemand riskiert einen Zwischenruf.
Von Henryk M. Broder Die Weltwoche, Ausgabe 27/2015weltwoche.ch
Es kommt nicht oft vor, dass die Kanzlerin zu einer Aussage Stellung nimmt, die sie früher gemacht hat, sich also selbst interpretiert. Nun ist es passiert. Auf einem Festakt zum 70. Jahrestag der Gründung der CDU sagte sie, es komme heute darauf an, sich die «Fähigkeit zum Finden von Kompromissen» zu bewahren, denn: «Wenn diese Fähigkeit [. . .] verlorengeht, dann ist Europa verloren. Und in diesem Sinne ist auch der Satz zu verstehen, den ich schon des Öfteren gesagt habe: ‹Scheitert der Euro, scheitert Europa.› Und deshalb muss um diese Grundsätze gekämpft werden, wir könnten sie kurzfristig vielleicht aufgeben, wir könnten vielleicht sagen: Geben wir einfach mal nach. Aber ich sage, mittel- und langfristig werden wir damit Schaden nehmen, wir werden Schaden nehmen dahingehend, dass wir kein relevanter Faktor mehr in der Welt sind, dass wir keine Gemeinsamkeit mehr haben, und deshalb müssen wir für Kompromissfähigkeit und Grundsätze in Europa wieder und immer wieder werben, meine Damen und Herren.»
Die Damen und Herren nahmen das Statement mit höflichem Beifall auf. Niemand riskierte einen Zwischenruf, keiner stand auf und sagte: «Mit Verlaub, Frau Kanzlerin, Sie reden Unsinn.» Die Klarstellung war, wie man in Wien sagen würde, eine «Verschlimmbesserung». Zum einen muss jeder, der einen Kompromiss eingehen will, Grundsätze aufgeben, man kann nicht die Stellung halten und sich zugleich bewegen. Zum anderen wurden, um Europa beziehungsweise die EU zu retten, alle Grundsätze, auf die man sich anfangs verständigt hatte, über Bord geworfen: dass es keine Transferunion geben, dass kein Staat für die Schulden eines anderen haften, dass die Europäische Zentralbank keine Staatsfinanzierung durch den Ankauf wertloser Anleihen betreiben würde. All das ist passiert, im Widerspruch zu allen Verträgen und Versprechungen. Und nun kommt die Kanzlerin daher und sagt, um Grundsätze müsse gekämpft werden, damit die Fähigkeit zum Finden von Kompromissen nicht verlorengeht. Damit wir ein relevanter Faktor in der Welt bleiben. So etwa hat es einer ihrer Vorgänger gemeint, als er im Jahre 1897 im Reichstag sagte: «Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.»
Dass die Mehrheit der deutschen Medien in Sachen Griechenland total von der ideologischen Rolle sind, muss man fast nicht mehr erwähnen. Unsere Leser überschütten uns Tag für Tag mit Hinweisen auf tendenziöse, ideologische und sogar hetzerische Beiträge.
Besonders dreist fälschen naturgemäß kurz vor dem Referendum die Zeitungen, die sich seit Beginn des Jahres dem Kampf gegen SYRIZA verschrieben haben. Ich will heute nur auf ein besonders krasses Beispiel hinweisen, obwohl wir schon einige Male in diesem Fall die Fakten richtig präsentiert hatten (zum Beispiel hier und hier).
In der FAZ schreibt Rainer Hermann, Redakteur in der Politikredaktion, über die „griechische Krise in Zahlen“: „Griechenland war im zweiten Halbjahr 2014 auf gutem Weg. Zuvor war in den sechs Jahren seit dem Ausbruch der Krise das Bruttoinlandsprodukt um ein Viertel geschrumpft, im dritten Quartal 2014 wuchs es aber erstmals wieder um 1,7 Prozent.“ Das vierte Quartal, in dem die griechische Wirtschaft wieder geschrumpft ist, hat er natürlich ebenso „übersehen“ wie die Tatsache, dass auch vorher nichts auf gutem Weg war.
Und weiter: „Die damalige griechische Regierung und die Gläubiger waren zuversichtlich, dass die Talsohle durchschritten sei. Für 2015 prognostizierten sie ein Wachstum von 2,9 Prozent. Die politische Unsicherheit, die im Dezember 2014 einsetzte und im Januar zu Neuwahlen führte, zeigten indes, wie fragil die Erholung war. Dabei war das Geschäftsklima bis Anfang 2015 so gut wie viele Jahre nicht.“ Zum einen verwendet er eine Prognose der Gläubiger als Beweis (von denen wir wissen, wie falsch sie in der Regel sind, siehe hier), zum andern haben wir (hier) gezeigt, dass das Geschäftsklima nichts mit der tatsächlichen Entwicklung in Griechenland zu tun hat.
Weiter: „Vor allem kleine und mittelständische Betriebe setzten auf Wachstum; sie stellten Arbeitnehmer ihre ein, so dass im Winter die Arbeitslosenquote von 27 auf 25 Prozent zurückging. Die Industrieproduktion stieg bis zum Februar…“. Das ist besonders dreist, weil die Industrieproduktion nur im Februar kurz stieg (das war allerdings schon unter der Regierung Tsipras, siehe unten) und der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist in Zeiten, wo sich sonst wirtschaftlich nichts verbessert, einfach Ausdruck nachlassender Hoffnung der Menschen, dass sie einen Arbeitsplatz finden, folglich melden sie sich nicht mehr arbeitslos.
Die Industrieproduktion will ich noch einmal gesondert und größer als sonst bei uns üblich zeigen. Die Abbildung zeigt sonnenklar, dass bis Januar 2015 von einer Aufwärtsbewegung in keiner Weise die Rede sein kann. Im Dezember 2014 und im Januar 2015 war mit 87 (bei diesem Index 2010=100) der gleiche Wert erreicht, um den herum auch schon Anfang 2014 die Industrieproduktion schwankte und der auch im Juli schon einmal genau erreicht war. Eine Aufwärtsbewegung gab es im Februar und im März (bis auf 90), aber im April fiel die Produktion schon wieder auf den Wert 88 zurück.
Angesichts dieser Entwicklung zu sagen, bis Februar sei die Industrieproduktion gestiegen, ist eine glatte und gravierende Verdrehung der Tatsachen. Nur im Februar und im März stieg die Industrieproduktion. Das könnte man glatt, in der Art der Faktenverdrehung der FAZ, als SYRIZA-Aufschwung darstellen, denn offenbar herrschte Aufbruchsstimmung in dem Land. Aber das ist natürlich auch Unsinn. Die ganze Entwicklung, so wie sie sich über diesen Zeitraum darstellt, ist insgesamt nur als Stagnation zu interpretieren. Jedes hineindeuteln von konjunkturellen Entwicklungen ist Kaffeesatzleserei. Fest steht nur, dass es keine Anzeichen dafür gibt, weder vor noch nach SYRIZA, dass Griechenland aus der Talsohle entkommen könnte.
Die deutschen „Qualitätsmedien“ beklagen mehr und mehr, dass ihnen das Internet das Wasser abgräbt. Außerdem wehren sie sich mit Händen und Füßen gegen die Kritik an ihrem ideologischen und demagogischen Vorgehen und bestreiten vehement, was einfach nicht zu bestreiten ist. Auf wunderbare Weise hat die Satiresendung extra 3 vom NDR das gerade am Beispiel von Sigmund Gottlieb vom Bayrischen Rundfunk gezeigt (hier zu finden).
In einem Verteidigungsstück der üblichen Art schrieb Götz Hamann in der ZEIT, es würden in den traditionellen Medien „… mehr investigative Reporter beschäftigt denn je, und viele Reportagen verbinden mittlerweile faktenreichen Journalismus mit einer wunderbaren Sprache.“ Na wunderbar, dann ist ja alles gut. Erstaunlich ist nur, dass in dem Stück der ZEIT einerseits nur die traditionellen Medien erwähnt werden und dagegen wird schlicht die große Masse der überwiegend anonymen Kommentare im Internet gestellt. Dass es im Internet inzwischen Qualitätsinformation und Analyse gibt, die in ihrer Objektivität und ihrer Klarheit von den traditionellen Medien niemals erreicht wird, davon ist natürlich überhaupt nicht die Rede. Es ist das alte Spiel: Man sucht sich einen Strohmann und drischt tüchtig auf ihn ein, weil man genau weiß, dass man dem Leser nicht erklären kann, wieso analytische Schwäche und Manipulation von Fakten inzwischen zu einem Charakteristikum der deutschen „Qualitätsmedien“ geworden sind.
Ein Kollege weist mich gerade darauf hin, dass in dem FAZ-Artikel auch die Wachstumszahl für das dritte Quartal falsch ist. Im dritten Quartal 2014 stieg das saisonbereinigte reale BIP in Griechenland gegenüber dem Vorquartal um 0,7 Prozent und nicht – wie im FAZ-Artikel behauptet – um 1,7 Prozent (siehe hier:http://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/6870827/2-09062015-AP-DE.pdf/aaf2b898-0ee5-4986-93f7-150c9732036a ). Aber so genau kommt es ja offensichtlich nicht – Hauptsache ist doch, dass wieder das gewünschte Ziel der Manipulation der Leser erreicht wurde.
Einer der hartnäckigsten politischen (und ökonomischen) Mythen in Deutschland ist zweifellos der vom »Wirtschaftswunder« nach dem Zweiten Weltkrieg. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wird der unerwartete ökonomische Aufschwung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gerne damit (v)erklärt, dass die Bevölkerung sich nach dem erzwungenen Ende des »Dritten Reiches«, durch das ihr Land zu großen Teilen in Trümmer gelegt worden sei, brav und fleißig an die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten gemacht und so im Schweiße ihres Angesichts »die Wirtschaft« wieder in Schwung gebracht habe, was verdientermaßen in erklecklichen Wohlstand gemündet sei.
Vergessen wird dabei vor allem eines: dass dieser Wohlstand nicht zuletzt »auf der kontinuierlichen Verwertung von Profiten aus dem Nationalsozialismus« beruhte, wie Jörg Rensmann im 2003 erschienenen Buch »The Final Insult« schrieb.* »Man halluzinierte sich«, so der Politikwissenschaftler weiter, »ein ›Wirtschaftswunder‹, dessen materielle Grundlage gleichzeitig verdrängt wurde, nämlich die Profite aus ›Arisierung‹ und Zwangsarbeit«. Hinzu kommt, dass 80 bis 85 Prozent der Produktionsanlagen intakt geblieben waren und die Gesamtkapazität jene der Vorkriegszeit weiterhin übertraf. Man kann also nicht sagen, dass Vernichtungskrieg und Holocaust sich gerächt hätten, schon gar nicht in puncto Prosperität.
Zumal da noch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 war, mit dem 65 Staaten – darunter Griechenland – der Bundesrepublik einen Großteil ihrer Verbindlichkeiten erließen und so erheblich zum ökonomischen Aufstieg Westdeutschlands beitrugen. Es ging dabei um die Vorkriegslast – größtenteils nicht geleistete Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg – und um die Nachkriegsschulden, bei denen es sich vor allem um Zahlungen aus dem Marshall-Plan und um alliierte Kredite für Wirtschaftshilfe unmittelbar nach dem Krieg handelte.
Trotz des Verzichts der Gläubigerstaaten auf entgangene Zinszahlungen ab 1934 ergab sich eine Gesamtschuld von rund 30 Milliarden Mark, bei einer westdeutschen Wirtschaftsleistung von 70 Milliarden Mark. »Unmöglich zu erfüllen«, befand der deutsche Verhandlungsleiter Hermann Josef Abs, der während des Nationalsozialismus im Vorstand der Deutschen Bank mit der »Arisierung« von Unternehmen und Geldinstituten, die Juden gehörten, beauftragt war. Die Gläubiger reduzierten die deutschen Auslandsverbindlichkeiten schließlich um über 50 Prozent, senkten die Zinsen massiv und streckten die Schulden bis zum Jahr 1988.
Der Erlass wurde nicht von der Umsetzung von Austeritätsprogrammen abhängig gemacht, sondern sah wachstumsfördernde Maßnahmen vor. Deutschland sollte die Rückzahlungen aus seinen Exporteinnahmen decken können und nicht durch die Aufnahme neuer Schulden.
Kein Bestandteil des Londoner Abkommens waren die Reparationen für die von Deutschland besetzten Länder. Diese Zahlungen sollten nach einer deutschen Wiedervereinigung in einem Friedensvertrag geregelt werden, sie wurden also gestundet. Auch die millionenschweren Zwangskredite, die das Deutsche Reich dem besetzten Griechenland abgepresst hatte, um damit vor allem den Krieg im östlichen Mittelmeer zu finanzieren, standen nicht zur Debatte.
Hagen Fleischer, Historiker an der Universität Athen, bezeichnet die deutsche Besatzung in Griechenland als »eindeutig die blutigste von allen nicht-slawischen Ländern«. In einem Beitrag des ARD-Magazins Kontraste bilanzierte er: »Weit über 30.000 exekutierte Zivilisten, darunter auch viele Frauen und Kinder. Systematisch zerstörte Infrastruktur und Wirtschaft. Plünderorgien, vom Raubbau in den Bergwerken, die für die deutsche Seite interessant war, bis hin zum Abtransport von Olivenöl und von Lebensmitteln. Und daraus resultierten die mindestens 100.000 Hungertoten vom ersten Besatzungswinter.«
Als die Mauer fiel, standen die deutschen Kriegsschulden wieder auf der Agenda. Doch die Bundesregierung wollte sich vor Reparationszahlungen unbedingt drücken. Außenminister Hans-Dietrich Genscher habe deshalb »sämtlichen Botschaften ein geheimes Rundschreiben zugeschickt, wie man die jetzt vermutlich aufkommenden Entschädigungsansprüche abwimmeln sollte«, sagt Historiker Fleischer. In diesem Schreiben hieß es unter anderem: »Kommt es nicht zu Verhandlungen über einen formellen Friedensvertrag, so könnten wir darlegen, dass sich […] keine Notwendigkeit ergibt, die Frage der Reparationen aufzugreifen.«
Also gab es offiziell keinen Friedens-, sondern einen »Zwei-plus-Vier-Vertrag« zwischen der Bundesrepublik, der DDR und den großen Siegermächten, in dem kein Wort über Entschädigungen und Zwangskredite verloren wurde. Griechenland durfte nicht mitreden und war darüber begreiflicherweise alles andere als begeistert. In einer diplomatischen Note forderte die griechische Regierung deshalb im Jahr 1995 Verhandlungen über die Rückzahlung der Zwangsanleihe, wurde aber mit den Worten abgekanzelt, »nach Ablauf von 50 Jahren nach Kriegsende« habe »die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren«. Heute sagt Vizekanzler Sigmar Gabriel: »Wir haben eine klare rechtliche Antwort auf solche Forderungen, nämlich, dass die spätestens mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und den Ergebnissen alle diese Themen rechtlich beendet worden sind.«
Jetzt, wo die »Wiedergutwerdung der Deutschen« (Eike Geisel) abgeschlossen und die Geschichte zur Strecke gebracht worden ist, tönt es wieder laut und gnadenlos in Richtung der Griechen. Faul, frech und fordernd seien sie, hört und liest man allenthalben, auf »unser« sauer verdientes Geld hätten diese Pleitiers es abgesehen, und die hierzulande qua Selbstläuterung vorbildlich bewältigte Vergangenheit wollten sie auch nicht ruhen lassen. Der Boulevard fordert die »Eiserne Kanzlerin«, während ARD und ZDF die Frage stellen, ob der Grieche überhaupt wusste, worüber er da beim Referendum am Sonntag abgestimmt hat.
Die Großkotzigkeit und Überheblichkeit, der völlige Mangel an Empathie und das absichtsvolle Beschweigen derjenigen politischen und ökonomischen Krisengründe, die von Deutschland und der EU zu verantworten sind und nicht von Griechenland, stehen dabei hinsichtlich ihrer Widerwärtigkeit in harter Konkurrenz zu einer Geschichtsvergessenheit, die Ihresgleichen sucht. Nur allzu berechtigt ist es deshalb, dass sich die Griechen in aller Form gegen die nassforschen Töne aus einem Land verwahren, dessen Wiederaufstieg auch auf ungesühnten Verbrechen an der griechischen Bevölkerung, eiskalten Zahlungsverweigerungen gegenüber Griechenland und großzügigen Schuldenerlassen basiert. Und wer sich über Tsipras und Varoufakis ereifert, aber über Abs nicht (mehr) reden will, möge ohnehin am besten ganz schweigen.
* Jörg Rensmann: Anmerkungen zur Geschichte der deutschen Nichtentschädigung, in: gruppe offene rechnungen (Hg.): The Final Insult. Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, Münster 2003, S. 45-70 (S. 55).
Im Tonfall einpeitschender Kriegsberichterstattung überwunden geglaubter Zeiten „berichtet“ das angebliche Nachrichtenmagazin Focus von der Rede des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras im EU-Parlament und der Gegenrede des deutschen Abgeordneten Manfred Weber. Fakten! Fakten? Fehlanzeige!
„Dann kommt EU-Parlamentarier Manfred Weber. Der Deutsche geht den griechischen Staatsmann mit harten Worten an. Es folgt ein Tumult im Parlament: Minutenlanger Applaus brandet auf, andere Abgeordnete halten Plakate mit der Aufschrift „No“ hoch, es kommt zu scharfen Zwischen- und Buhrufen.“
Doch Weber ist ein Deutscher und als solcher sicherlich zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl:
„Unbeeindruckt holt Weber zum finalen Schlag gegen Tsipras aus. Doch Tsipras sitzt nur da und lächelt.“
Ende des Videos.
Was dem deutschen Focus-Publikum auf diese Weise verborgen bleibt: Tsipras saß keinesfalls nur da und lächelte. Er hielt eine weitere Rede, in der er auf Webers Vorwürfe antwortete. Aber das konnte Focus nicht berichten, denn sonst hätte das schöne, kriegerische Bild von dem finalen Schlag, mit dem der aufrechte Teutone den dümmlich lächelnden Südländer niederstreckt, nicht mehr gestimmt.
Tsipras erwiderte:
„Und Ihnen, Herr Weber, möchte ich in Erinnerung rufen, dass der stärkste Moment der Solidarität der modernen europäischen Geschichte 1953 war, als unser Land nach zwei Weltkriegen völlig überschuldet und geplündert war und Europa und die europäischen Völker bei der Londoner Konferenz 1953 die maximale Solidarität zeigten, als sie die Streichung von 60% der Verschuldung Deutschlands sowie auch eine Wachstumsklausel beschlossen. Dies war der signifikanteste Augenblick der Solidarität in der modernen europäischen Geschichte.“
Die erste Presseerklärung der EU-Kommission nach dem griechischen Referendum fiel aus zwei Gründen aus dem Rahmen: Zum Ersten, weil sie ausser im üblichen Englisch und Französisch auch auf Griechisch abgefasst war. Zum Zweiten, weil sie diesen bemerkenswerten Satz enthielt: «EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker berät sich mit den demokratisch gewählten Führern der anderen achtzehn Mitglieder der Euro-Zone.»
Mit anderen Worten: Die höchste Behörde des historischen Friedens-Wohlstands-Freiheits-Demokratie-Projektes Europäische Union fühlte sich bemüssigt, daran zu erinnern, dass die Präsidenten, Premiers und Kanzler westeuropäischer Staaten – Tusch und Trommelwirbel! – demokratisch gewählt worden seien. Chapeau, wer hätte das gedacht.
Sehr selbstbewusst tönte das nicht, eher nach ziemlich vielen Selbstzweifeln. Diese hatten die Griechen gesät. Ihre Volksabstimmung, so prahlten sie in einer Nachhilfestunde in Altgriechisch, sei die einzig wahre, echte Demokratie, weil hier der demos – das Volk – wirklich einmal herrschen (kratein) durfte. Kurz gesagt: «Unsere Demokratie ist besser als eure.»
Nun war das griechische Referendum weniger eine Übung in Basisdemokratie als in Zynismus. Mit der gnädig gewährten und kurzfristig anberaumten Abstimmung wollte sich die Regierung Tsipras vor ihrer Verantwortung drücken und hinter ihren Wählern verstecken. Doch solche Überlegungen entwerten nicht grundsätzlich das demokratische Instrument des Referendums.
Tatsächlich haben die Griechen in eine wunde Stelle gestochen, was Europas Eliten schmerzte und zusammenzucken liess. Denn immer mehr EU-Bürger fragen nach der demokratischen Legitimität ihrer Politiker und Institutionen: Die Euro-Zone? In keinem EU-Vertrag vorgesehen, geschweige denn kodifiziert oder kontrolliert. Die Europäische Zentralbank? Niemandem rechenschaftspflichtig. Der EU-Rat der 28 Mitgliedsstaaten? Reduziert sich auf Angela Merkel und François Hollande, wobei das französische Feigenblatt kaum mehr den nackten deutschen Machtanspruch zu verhüllen mag. EU-Chef Juncker? Von keinem einzigen EU-Bürger gewählt, noch nicht einmal daheim in Luxemburg.
Das ist die Realität. Die dünne Tünche demokratischer Lippenbekenntnisse kann sie immer weniger verdecken.
Oops! She did it again!» Letzten Montag, nach ihrem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Hollande, trat Angela Merkel vor die wartende Presse, um eine Erklärung zur Lage abzugeben. Dabei sagte sie unter anderem: «Wir haben eine geteilte Souveränität, weil wir eine gemeinsame Währung haben.» Eine Woche zuvor, bei einem Festakt zum 70. Geburtstag der CDU, rief sie ihren Freunden zu: «Der Euro ist mehr als eine Währung, er gründet sich auf gemeinschaftliches Vertrauen.»
Dazwischen lag das Referendum in Griechenland und eine Hitzewelle, wie sie Deutschland lange nicht mehr erlebt hatte. Je klarer wird, dass der Euro als gemeinsame Währung für 19 verschiedene Ökonomien so viel taugt wie eine Medizin für 19 Patienten, die über alle Abteilungen einer Klinik verteilt liegen, umso intensiver werden die Versuche, ihn zu einer Art Zaubertrank zu erklären, der alle Leiden heilt. Wie kann eine Währung «mehr als eine Währung» sein? Der Franc, die DM, der Gulden, die Drachme hatten eine Geschichte, der Euro ist eine fixe Idee, dazu erdacht, eine «europäische Identität» herzustellen. «One size fits all», ebenso gut könnte man alle Europäer dazu verpflichten, nur noch Genever zu trinken oder Polenta zu essen.
Wenn die Kanzlerin nun sagt, wir hätten eine geteilte Souveränität, «weil wir eine gemeinsame Währung haben», dann ist auch das mehr als gewagt. Die EU – bzw. die Euro-Zone – ist kein Bundesstaat, nicht einmal ein Staatenbund, die «Vereinigten Staaten von Europa» existieren nur in der Fantasie einiger Überflieger.
Die Kommission ist keine Regierung, die Kommissare sind keine Minister, das Parlament ist ein Plenum, in dem nur einer etwas zu sagen hat, nämlich der umtriebige Präsident des Hauses. Das einzige demokratisch legitimierte Organ ist der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU. Die Staaten haben einige Kompetenzen an die EU übertragen, ihre Souveränität aber behalten. Von einer «Teilung der Souveränität» ist in keinem Abkommen die Rede. Das wäre schon deswegen absurd, weil dann die Euro-Staaten innerhalb der EU einen Sonderstatus hätten. Aber was redet man nicht so alles, wenn es heiss ist und einem das Wasser bis zum Hals steht.
Was uns die Politiker und Medien kaum erzählen, 90 Prozent der Zahlungen, die Griechenland vom IWF, der EU und der EZB als Kredit bekommen hat, also 242,48 Milliarden Euro, gingen direkt zu den Banken, um sie zu retten. Am meisten an französische und deutsche Banken. Nur 10 Prozent des Geldes kam direkt bei der griechischen Bevölkerung und Volkswirtschaft an. Deshalb, es ist völlig richtig, das Griechenland sich weigert diese Schulden zurückzuzahlen. Der IWF, die EU und die EZB hätten von Anfang an das Geld gar nicht geben dürfen, denn diese kriminelle Organisationen wussten, 90 Prozent wird für die Rettung von europäischen Finanzinstitute verwendet und ist nicht für den Aufbau Griechenlands gedacht.
Ist doch logisch, wieso soll der griechische Steuerzahler für Geld haften, das nie in Griechenland angekommen ist? Damals 2010 waren Privatbanken die Hauptgläubiger der griechischen Schulden. Sie hatten Kredite vergeben und sind damit das Risiko eingegangen. Mit den ganzen sogenannten Rettungsaktionen liegen heute 78 Prozent der Schulden aber bei den Ländern der Eurozone. Hier wurde die Haftung und das Risiko von Privat auf die Öffentlichkeit, bzw. auf die Steuerzahler umgeschichtet. Was hier ablief war eine höchst kriminelle Aktion der Finanzmafia.
In den meisten westlichen Staaten steht im Strafgesetzbuch, Kredite zu überhöhten Bedingungen (Wucher) oder an Leute zu vergeben, die dadurch überschuldet werden, ist illegal. Ausserdem, Verträge die unter Ausnützung einer Notlage entstehen, also durch Erpressung oder Nötigung, sind ungültig und die Handlungen strafbar. Auch Übervorteilung ist verboten. Aber genau darum handelt es sich im Verhältnis zwischen Griechenland und den Geldgebern, sei es Privatbanken, IWF, EU und EZB. Diese kriminelle Vereinigung hat Griechenland auf das schlimmste betrogen und über den Tisch gezogen. Es handelt sich also um „Odious Debt“.
Wem schuldet Griechenland die insgesamt 323 Milliarden Euro?
– 60% der Eurozone, also 141,8 Mia dem Europäischen Stabilitätsfonds und 52,9 Mia der Greek Loan Facility
– 10% dem Internationalen Währungsfonds (IWF)
– 6% der Europäischen Zentralbank (EZB)
– 3% griechischen Banken
– 1% ausländischen Banken
– 1% griechischen Zentralbank
– 15% sonstigen Inhabern von Staatsanleihen
– 3% sonstige Kredite
Quelle: Open Europe
Deshalb gibt es nur einen Weg, die griechische Regierung muss die Schulden als „illegal“ bezeichnen und jede Rückzahlung verweigern. Nur eine Streichung der Schulden wird das Land aus dieser dramatischen Krise führen. Wenn der Westen dann kein neues Geld mehr gibt, Griechenland aus der EU und Eurozone rausschmeisst, muss Athen die Drachme einführen und für neue Kredite sich nach Osten wenden, nach Russland und China. Speziell Peking ist bereit Griechenland zu helfen. Die Chinesen sind auch die einzigen, die es von der Finanzstärke her wirklich tun können.
Deshalb, am Sonntag sollten die Griechen Nein sagen. Ein Nein bedeutet, eine schwerzhafte Durchquerung einer Talsohle, mit folgenden Aufstieg in eine positive Zukunft. Ein Ja bedeutet, weniger Schmerzen aber dafür keine Aussicht jemals auf eine Erholung und Befreiung aus der Versklavung.
In den Schlagzeilen deutscher Medienerzeugnisse zu Griechenland ist seit Monaten ein neues deutsches Selbstverständnis abzulesen. Das Ausmass der allgemeinen Niedertracht im Griechen-Bashing hätte aber vor der Krise niemand für möglich gehalten. Nachdem am Sonntag die Gespräche, die man in einer eigentlichen Katastropheneuphorie mit Countdown und Liveticker zum Showdown hochstilisiert hatte, abgebrochen und das Referendum angekündigt wurde, gab es für die Deutschen Blätter kein Halten mehr. Die Frankfurter Sonntagszeitung druckte eine halbe Titelseite gross das Wort: „Exodos“ in griechischen Buchstaben und eröffnete den Wirtschaftsteil mit „Das Ende“. Die Welt am Sonntag kombinierte die Häme mit Zynismus: „Game over?“ stand auf der Titelseite und darunter: „Eine Pleite Griechenlands ist kaum noch aufzuhalten. Die Bundesregierung denkt über humanitäre Hilfe nach.“ Zwei in diesem Zusammenhang schier unglaubliche Sätze, die – das muss man anerkennen – in kürzester Form den Irrwitz neoliberaler Krisenbewältigung zusammenfassen. Anstatt Schulden, an denen man jahrelang verdient hat, substantiell zu streichen und die Griechen davon zu befreien, die nächsten Jahrzehnte für das Wohl der ausländischen Banken zu arbeiten, bleibt man hart, wartet bis die staatliche Destabilisierung auf diese oder jene Weise manifest wird und wirft dann die Hilfsindustrie an, mit der, wie man heute weiss, sich ebenfalls nochmals gut verdienen lässt.
Im Feuilleton der Frankfurter Sonntagszeitung fragte Mark Siemons ganz naiv, wieso eigentlich der „Machtfaktor Deutschland“ in der ganzen Griechenland-Krise bisher so unauffällig und zurückhaltend geblieben sei. Fragte, um zu antworten, dass es gefährlich sei, das weiterhin zu tun, und rief Herfried Münkler, einen der Vordenker des neuen deutschen hegemonialen Bewusstseins zum Zeugen. Münkler glaubt nämlich in seinem jüngsten Buch, dass die blutige Geschichte, die er euphemistisch „historische Verwundbarkeit“ nennt, Deutschlands Führungsrolle in Europa besonders akzeptabel mache, da es zu besonderer Verantwortung und Sorgfalt verpflichtet sei.
Auf der Meinungsseite gab Michael Martens dann gleich noch ein Beispiel, wie man sich die deutsche Sorgfalt aufgrund der eigenen Geschichte in etwa vorstellen muss. Unter dem Titel: „Syrizas Legende vom Dolchstoss“ kommentierte er Tsipras Ankündigung, auf die Erpressung der Gläubiger mit „Demokratie“ zu antworten: „Die klassische Demokratie war, soweit wir heute wissen, eine Erfindung des antiken Griechenlands. Doch den modernen Parlamentarismus musste Griechenland aus dem Westen importieren – wie so vieles andere.“
Was soll man sagen zu solchen Kommentaren aus einem Land, dessen Bevölkerung sich erst nach zwei verlorenen Weltkriegen den „modernen Parlamentarismus“ – wider Willen – hat aufzwingen lassen?
Brüssel, Tag zwei nach der Rettung Griechenlands, und alles ist so wie immer. Überall in Europa scheint die Sonne, aber über der belgischen Hauptstadt lastet eine dunkle Wolkendecke. Penetranter feiner Sprühregen rieselt herab. Er legt sich wie klebriger, feuchter Staub auf die Menschen, die im Europaviertel zwischen der Rue de la Loi und der Place du Luxembourg unter Schirmen und im Trenchcoat ihren Büros zustreben.
Ein Werktag wie jeder andere. Nichts erinnert an die dramatischen Tage und vor allem Nächte der letzten Wochen mit ihren Dauerkrisen-Treffen und Not-Gipfeln. Die Staats- und Regierungschefs haben die EU-Metropole wieder verlassen, zweifellos mit kaum unterdrückten erleichterten Seufzern, dass sie diese Stadt fürs Erste nicht mehr so schnell wiedersehen werden. Höchste Zeit auch für Frau Merkel, Herrn Renzi und Monsieur Hollande, langsam die Ferien zu planen, die ihnen die lästigen Hellenen um ein Haar vermasselt hätten.
Nur die Finanzminister der Euro-Zone sind im tristen Brüssel geblieben, um letzte Einzelheiten jener Rettungsaktion festzuklopfen, die für den Geretteten wohl eher wirkt, als ob man seinen Kopf erst recht unter Wasser drücken würde. Vier Tage am Stück hat der deutsche Minister Wolfgang Schäuble nun schon in Brüssel zugebracht. Das gab’s noch nie, und das hat ihn, wenn schon nicht für Athen, so doch für die belgische Kapitale milde gestimmt: Recht schön sei es hier, liess sich der ansonsten beinharte Zyniker entlocken.
Jeder rügt jeden
Über die Schönheiten der europäischen Idee äusserte sich Schäuble wohlweislich nicht. Da hätte er auch nicht viel zu sagen, denn dieses Projekt liegt am Boden. Es ist ein Scherbenhaufen, eine Ruine, ein dissonanter Chor, in dem jeder jeden rügt, beschimpft und demütigt. Alle reden von Griechenland als dem kranken Mann Europas, dabei ist Europa selbst der Notfallpatient. Die Union liegt auf der Intensivstation, aber Politiker und Bürokraten tun unverdrossen weiter so, als ob der Patient genesen könnte, wenn man seine Krankheit nur hartnäckig genug negierte.
«Wir sind dazu verdammt, uns weiter durchzuwursteln, es gibt keine Alternative», meint ein hoher Eurokrat, dessen Schreibtisch sehr nahe am Zentrum einer mächtigen EU-Institution steht. Er kommt aus einem der sechs Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und er hat sich sein Leben lang mit Europa und seinen Institutionen beschäftigt, Papiere verfasst, Vorschläge eingereicht, Rückschläge erlitten. Seinen Namen möchte er, wie viele Gesprächspartner in diesen Tagen in Brüssel, nicht in der Zeitung lesen. Das kann, im derzeit so aufgeheizten Klima, schnell die Karriere entgleisen lassen. Im Schutze der Anonymität sprechen sie dafür offener und ehrlicher als sonst.
Zerstritten, erschöpft, rat- und mutlos präsentieren sich Europas Führer. Nord giftelt gegen Süd, der Osten versteht den Westen nicht, jeder denkt zuerst an sich – sei es beim Geld, bei der Abwehr von Migranten oder beim Graben von neuen Steuerschlupflöchern. Einig sind sich die meisten lediglich im Misstrauen gegen die Deutschen. An ihrem Wesen, so die Ängste, soll diesmal vielleicht nicht die Welt, aber doch wenigstens Europa genesen. Nach «Grexit» und «Brexit» macht eine neue Wortschöpfung die Runde: «Deuropa», der germanisierte Kontinent.
Aber nicht nur die Mitgliedstaaten liegen sich in den Haaren. Der Zwist hat auch die Brüsseler Institutionen und ihre Chefs erfasst. Normalerweise sollte zwischen Kommission, Rat und Parlament ein fruchtbares Spannungsverhältnis herrschen. Nicht checks and balances wie in der amerikanischen Verfassung zwischen Weissem Haus, Kongress und Oberstem Gericht. Das wäre denn doch ein allzu vermessener Wunsch. Aber ein gegenseitiges Kontroll- und Konkurrenzverhältnis wäre doch auch schon was.
Die Realität freilich sieht so trübe aus wie der Himmel über Brüssel. Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz haben sich gegen den Sprecher der Mitgliedstaaten, den Polen Donald Tusk, verbündet. Der Deutsche und der Luxemburger kungeln bei gemeinsamen lauschigen Abendessen den künftigen Kurs der EU aus und sticheln gegen Tusk. «Einer der Präsidenten macht seine Arbeit nicht ordentlich», giftelte Schulz kürzlich. «Tusk schwimmt, der hat sein Amt überhaupt nicht im Griff», tuschelt man in der Kommission. Im Ratsgebäude hat man jegliche vornehme Zurückhaltung ebenfalls längst aufgegeben. Über Junckers Alkoholproblem wird dort ebenso offen geredet wie über das «sehr unkooperative Verhalten» des Luxemburger «Sonnenkönigs».
Schulz wiederum verspottet man wegen seiner Eitelkeit: «Der will doch nur zu jedem Gipfel eingeladen werden», ätzte ein Vertrauensmann im Ratsgebäude. Sogar bei seinen eigenen Parlamentariern gerät Schulz wegen seiner Selbstgefälligkeit immer stärker in die Kritik. Selbstherrlich manipuliert er die Tagesordnung, setzt Abstimmungen eigenmächtig ab – zuweilen, um seinem Freund Juncker Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ein Vorwurf anderer Abgeordneter muss den Parlamentschef noch schmerzhafter treffen: jener der nationalen Engstirnigkeit. Schliesslich geriert gerade er sich als Gralshüter des erhabenen europäischen Gedankens. Aber es ist nun einmal so, dass Schulz immer mehr redet wie ein deutscher Politiker. Während der Griechenland-Krise tönte er mitunter wie ein besonders hässlicher Deutscher.
Selbst in der Ökonomie, einst die grosse Erfolgsgeschichte der Union, läuft es nicht mehr rund: Die globale Konkurrenz ist jünger, innovativer, fleissiger, und vor allem bürdet sie sich nicht derart astronomische Sozialausgaben wie die EU-Länder auf. So kommt es, wie es kommen muss: Vor acht Jahren trug die EU noch 31 Prozent zur Weltwirtschaft bei, heute sind es 22 Prozent. Vor acht Jahren übertraf Europas Wirtschaft jene der USA um 20 Prozent, heute ist sie kleiner als die amerikanische. Die Folgen dieses Abstiegs lassen sich konkret besichtigen: Europa ist ein Magnet für ungelernte Arbeitskräfte aus Schwarzafrika und dem Nahen Osten. Gutausgebildete Fachkräfte und Jungakademiker aus Asien ziehen die USA vor.
So also präsentiert sich das grösste Friedens-, Wohlstands- und Einigungsprojekt der Nachkriegsgeschichte. Wie sich die Zeiten geändert haben. Es ist noch nicht lange her, da hegte Europa hochfliegende Träume von sich selbst als globaler Macht. In einer austarierten, multipolaren Welt wäre es ein zivilisiertes, demokratisches Gegengewicht zum autoritären China und zu Wladimir Putins Russland. Es wäre eine mässigende, mahnende, erwachsene Stimme im Ohr der ungestümen, ungebildeten und unreifen Vereinigten Staaten.
Zu feige für die Flucht nach vorne
Dieser Traum ist vorerst ausgeträumt: In Peking, Moskau, Washington und anderen Hauptstädten verfolgt man das europäische Trauerspiel mit einer Mischung aus Verwunderung, Häme, Sorge und schadenfroher Vorfreude, wie man die Brüsseler Dilettantentruppe bei der nächsten Krise wird vorführen können. Immerhin ein paar Europäer mitsamt ihrer Aussenbeauftragten Federica Mogherini konnten sich dieser Tage parallel zu den griechischen Verrenkungen noch einmal als «Weltmächte» aufspielen. Doch in Wirklichkeit waren Briten, Franzosen und Deutsche beim Wiener Atom-Deal mit dem Iran nicht viel mehr als schmückendes Beiwerk. Signora Mogherini durfte mit dem Glöckchen die Redezeiten zuteilen.
Vielsagend illustrierte denn auch die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Brussels Times mit einer Karikatur den Machtverlust der Europäer. Sie zeigt einen Boxring, in dem der Europäer groggy in den Seilen hängt. Um seinen Kopf tanzen die zwölf Euro-Sterne. Uncle Sam und ein russischer Bär stehen mit Boxhandschuhen vor ihm und betrachten ihn verwundert. Fragt der Amerikaner den Russen: «Wer soll ihm sagen, dass der Kampf noch gar nicht begonnen hat?»
Zum Kämpfen freilich fehlt den Europäern alles: der Mut, die Einigkeit, aber auch alleine schon die Mittel und Möglichkeiten. «Was jetzt notwendig wäre, ist politisch nie und nimmer durchzusetzen», bringt ein osteuropäischer Diplomat das Dilemma auf den Punkt. «Und was machbar ist, lässt sich nur ohne demokratische Mitwirkung durchpauken und untergräbt die Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Führer noch mehr.»
Was notwendig wäre, weiss jeder, aber die meisten sind zu feige, um es laut auszusprechen: Eine Flucht nach vorne müsste es sein, mehr Integration, mehr Europa, mehr Souveränitätsverlust der Nationalstaaten. «Wir müssen den Bürgern wieder den Glauben an Europa zurückgeben», fordert der Diplomat, «sie müssen wieder sehen, dass Europa für sie da ist und nicht für Banken und Konzerne.» Geschieht das nicht, so meint er, «werden uns die Bürger noch schneller davonlaufen als jetzt schon». Dann beginnt er mit einer Aufzählung jener Staaten, in denen eurokritische politische Kräfte von links bis rechts im Wachsen sind. Nach einem halben Dutzend gibt er resigniert auf. «Es ginge schneller, jene aufzuzählen, in denen es solche Parteien noch nicht gibt. Da fällt mir auf Anhieb eigentlich nur Luxemburg ein, aber ich könnte nicht die Hand dafür ins Feuer legen.»
Doch die EU tut, was sie schon immer tat: Sie nimmt Veränderungen klammheimlich vor, ohne die Parlamente oder gar die Völker zu belästigen. Die «normative Kraft des Faktischen» nennt das der Brüsseler Bürokrat, «Fakten schaffen, der Rest ergibt sich hoffentlich von alleine». Auf diese Weise hat man eine ganze Reihe von Einrichtungen geschaffen, die in einem rechtsfreien Raum schweben. Die bedeutendste dieser Institutionen ist die Euro-Gruppe, die auf keinerlei legalen Grundlage beruht. Aufschlussreich, was Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis dazu berichtete. Als man ihn von einem Treffen der Euro-Gruppe ausschliessen wollte, habe er protestiert: Die Euro-Gruppe müsse einstimmig entscheiden. Daraufhin wurden Juristen befragt. Ihre Antwort: Die Euro-Gruppe existiert rechtlich nicht, also gebe es keine entsprechenden Regeln. Nun wird ein Vorschlag diskutiert, ob der Gruppe ein permanenter Präsident und womöglich eine eigene parlamentarische Versammlung beigesellt werden soll – ebenfalls rechtsfrei. Europas Architektur – ein Sammelsurium aus Schwarzbauten.
Fragt man den EU-Beamten, ob es nicht gerade dieses verstohlene Vorgehen sei, das jegliches Vertrauen der europäischen Bürger in ihre europäischen Institutionen zerstört habe, antwortet er mit einem Achselzucken. «Schon richtig», soll das heissen, «aber haben Sie eine andere Idee?»
Die hat in der Tat niemand, am wenigsten die fünf Präsidenten, die dieser Union vorstehen. Juncker, Schulz, Tusk, Dijsselbloem und Zentralbankchef Mario Draghi haben kürzlich – mit verdächtig wenig Pomp und im Windschatten der Euro-Krise – einen gemeinsamen Be- richt über die Grundzüge einer vertieften Wirtschafts- und Währungsunion vorgestellt. Dringt man durch das luftige Wörter-Popcorn zum Kern durch, erkennt man die ehrgeizige Vision einer Staatengemeinschaft, die fast alles gemeinsam beschliesst: Steuern, Haushalte, Wirtschaftspolitik.
Bolide mit angezogener Handbremse
So kühn, ja tollkühn klingt das, dass man sich an einen feurigen Lamborghini erinnert fühlt, dessen Gaspedal bis zum Boden durchgedrückt wird, damit der Motor animalisch aufheult. Nur dass der Bolide leider nicht vom Fleck kommt, weil der Fahrer die Handbremse angezogen hat. Das sei Absicht, sagt der Eurokrat aus dem Zentrum der Macht. Man sollte ihm besser Glauben schenken, denn schliesslich hat er an dem Report mitgewirkt. «Man darf die Bremse nicht lösen», mahnt er. «Das wäre viel zu gefährlich, in der EU können wir uns nicht schnell vorwärtsbewegen.» Daher schlagen auch die Präsidenten die bewährte Methode vor: Absprachen unter dem Tisch und unter dem Radar der Öffentlichkeit zu treffen. In einer «ersten Phase», versteht sich. Über Phase zwei zerbricht man sich erst später den Kopf.
Wenn es überhaupt so weit kommt. Denn bis dahin droht nach dem «Grexit» der «Brexit», ein Ausscheiden Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Die Chancen, dass eine Mehrheit der Briten dem Kontinent den Rücken kehrt, sind angesichts des griechisch-europäischen Trauerspiels in den vergangenen Wochen und Monaten eindeutig gestiegen. Und auch der «Grexit» ist noch lange nicht vom Tisch. Gerade eben erst hat Schäuble diese Variante erneut ins Spiel gebracht: verharmlosend als Auszeit von einigen Jahren getarnt.
Damit düpierte er François Hollande, der sich damit gebrüstet hatte, während des brutalen nächtlichen Verhandlungsmarathons am vergangenen Sonntag diesen Atomsprengsatz des Griechenland-Deals entschärft zu haben. Die Aufregung des Franzosen war verständlich, denn mit seiner Bemerkung legte Schäuble – mit dem Einverständnis der Kanzlerin und des sozialdemokratischen Vizekanzlers – die Axt an eine der heiligsten Grundlagen des europäischen Projekts: den unverbrüchlichen Schwur, für immer und ewig zusammenzustehen und kein Mitglied zu diskriminieren oder gar vor die Türe zu setzen. So sakrosankt ist diese ungeschriebene Regel, dass sich ein Prinzip wie die Personenfreizügigkeit daneben ausnimmt wie eine unverbindliche Verabredung auf eine Zigarette.
Wenn ausgerechnet die Deutschen lässig die Möglichkeit eines – wenn auch nur vorübergehenden – Ausscheidens in den Raum stellen, dann haben sie damit, so die Befürchtung in Brüssel und in anderen europäischen Hauptstädten, eine Pandora-Büchse geöffnet. «Demütigend und falsch» seien solche Äusserungen, schimpfte Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann. «Das würde bedeuten, dass man jedem Land befehlen könnte, für ein halbes Jahr oder ein Jahr hinauszugehen.» Was er nicht sagte, aber sicher dachte: Die Marschorder käme immer aus Berlin.
Rolf Bossart, geb. 1970, Dr. theol., ist Publizist, Lehrer für Religionswissenschaft, Psychologie und Pädagogik. Er ist Mitarbeiter beim International Institute of Political Murder und Redaktor bei theoriekritik.ch.
«Wir wurden reingelegt» | Die Weltwoche, Ausgabe 30/2015
«Es ist genau so, wie man es befürchtet hat»: griechischer Ex-Finanzminister Varoufakis.Illustration: Birgit Schössow
Er hat die europäische Diplomatie vor sich hergetrieben, Minister und EU-Granden bis zur Weissglut genervt. Yanis Varoufakis, 54, griechischer Kommunist, Wirtschaftsminister im Knitterhemd und stets ohne Krawatte gab Rätsel auf. Was war sein Plan? Welches seine Taktik? Was würde der Meister der Spieltheorie als nächstes aushecken? «James Dean der europäischen Linken» nannten ihn die Medien. Die New York Times verglich sein Verhalten mit dem des Rebellen in «…denn sie wissen nicht, was sie tun.», der sich mit Rivalen im tollkühnen Rennen (chicken run) duelliert, wobei es gilt, in gestohlenen Autos auf eine Klippe zuzurasen: Wer zuerst aus dem Wagen springt, hat verloren.
Entsprechend atmete Brüssel durch, als der Plagegeist nach dem griechischen Referendum zum Sparprogramm das Handtuch warf, den Helm aufsetzte und auf seinem Motorrad davonbrauste. Davor gab er der britischen Wochenzeitung New Statesman ein Interview, das sofort Schlagzeilen machte. Mit freundlicher Genehmigung druckt die Weltwoche das Dokument nach — Varoufakis unplugged und in voller Länge.
Herr Varoufakis, wie geht es Ihnen?
Mir geht es fantastisch – ich muss nicht mehr von Termin zu Termin hetzen, das war unmenschlich, einfach unvorstellbar. Über fünf Monate habe ich täglich höchstens zwei Stunden schlafen können . . . Ich bin auch erleichtert, dass ich nicht mehr diesen unglaublichen Druck aushalten muss, in den Verhandlungen eine Position zu vertreten, die zu verteidigen mir schwerfällt, selbst wenn es mir gelungen ist, die andere Seite zum Einlenken zu bringen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Wie haben Sie diese Verhandlungen erlebt? Waren Sie gern dabei?
Ja, meistens schon. Aber die Insiderinformationen, die man bekommt . . ., da bestätigen sich die schlimmsten Befürchtungen . . . Man sitzt direkt den «Mächtigen» gegenüber, die mit einem sprechen, und es ist genau so, wie man es befürchtet hat . . . Es war noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Na ja, es war schon lustig, das alles hautnah mitzuerleben.
Was meinen Sie damit?
Ich meine die absolute Skrupellosigkeit dieser Leute, die angeblich die europäische Demokratie verteidigen. Die andere Seite hat keinen Zweifel daran gelassen, dass wir uns in der Analyse einig sind – was zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich niemand publik machen wird. [Und trotzdem] sitzen einem dann sehr mächtige Figuren gegenüber, die einem ins Gesicht sagen: «Es stimmt alles, was Sie sagen, aber wir werden Sie sowieso fertigmachen.»
Sie haben gesagt, die Gläubiger hätten Sie abgelehnt, weil «ich in der Euro-Gruppe über Ökonomie reden will, was dort niemand tut». Was passierte denn, wenn Sie über Ökonomie redeten?
Es war nicht einfach so, dass es nicht gut angekommen wäre. Sie haben es rundheraus abgelehnt, sich mit ökonomischen Argumenten auseinanderzusetzen. Ganz eindeutig . . . Man trägt ein Argument vor, an dem man wirklich gearbeitet hat, damit es logisch und kohärent ist – und erntet ausdruckslose Blicke. So, als hätte man gar nichts gesagt. Was die anderen äussern, hat überhaupt keinen Bezug zu dem, was man selbst gerade gesagt hat. Genauso gut hätte man die schwedische Nationalhymne singen können — man hätte dieselbe Reaktion ausgelöst. Und für jemanden, der akademische Debatten gewohnt ist, ist das schon verrückt . . . Die andere Seite ist immer dialogbereit. Nun ja, von Dialog keine Spur. Sie waren nicht mal verärgert; es war, als hätte man kein Wort gesagt.
Als Sie Anfang Februar auftauchten, kann das keine einheitliche Position gewesen sein.
Es gab Leute, die auf der persönlichen Ebene verständnisvoll waren, also hinter verschlossenen Türen, im informellen Gespräch, vor allem Vertreter des Internationalen Währungsfonds.
Auf höchster Ebene?
Auf höchster Ebene, ja. Aber in der Euro-Gruppe, ein paar freundliche Worte hinter dem Paravent der offiziellen Version; das war’s dann schon. Schäuble dagegen ist konsequent bei seiner Linie geblieben. Seine Position war: «Ich diskutiere nicht über das Programm – die Vorgängerregierung hat das akzeptiert, und wir können nicht zulassen, dass durch Wahlen etwas verändert wird. Wir haben ja ständig Wahlen, wir sind neunzehn, und wenn sich jedesmal etwas verändert, wenn irgendwo Wahlen stattfinden, wären Verträge zwischen uns sinnlos.» In der Situation bin ich aufgestanden und habe gesagt: «Also, vielleicht sollten in verschuldeten Ländern einfach keine Wahlen mehr abgehalten werden.» Keine Reaktion. Die einzige Interpretation, die mir dazu einfällt, ist die: «Ja, das wäre eine gute Idee, aber es ist nicht durchführbar. Also entweder Sie unterschreiben, oder Sie sind draussen.»
Und Merkel?
Sie müssen wissen, dass ich mit Merkel nie etwas zu tun hatte. Finanzminister sprechen mit Finanzministern, Regierungschefs sprechen mit Regierungschefs. Nach meinem Verständnis ist sie ein völlig anderer Typus. Sie hat versucht, den Ministerpräsidenten [Tsipras] zu beruhigen. Sie hat gesagt: «Keine Sorge, wir werden schon eine Lösung finden. Ich werde nicht zulassen, dass etwas Schlimmes passiert, machen Sie einfach Ihre Hausaufgaben und arbeiten Sie mit den Institutionen zusammen, mit der Troika, es wird keine ausweglose Situation geben.» Von meinen Kollegen habe ich so etwas nicht gehört, weder vom Chef der Euro-Gruppe noch von Dr. Schäuble, die waren ganz eindeutig. Einmal wurde mir unmissverständlich erklärt: «Dies ist ein Pferd, entweder Sie steigen auf, oder es ist tot.»
Wann war das?
Von Anfang an, von Anfang an [Varoufakis nahm ab Anfang Februar an den Verhandlungen teil].
Warum also bis zum Sommer warten?
Nun ja, wir hatten keine Alternative. Unsere Regierung wurde mit dem Auftrag gewählt, Verhandlungen zu führen. Unser erster Auftrag lautete also, den Raum und die Zeit zu schaffen, durch Verhandlungen ein anderes Abkommen zu erreichen. Das war unser Auftrag – wir sollten verhandeln und nicht unsere Gläubiger vor den Kopf stossen . . . Die Verhandlungen zogen sich ewig hin, weil die andere Seite nicht verhandeln wollte. Sie bestanden auf einem «umfassenden Abkommen», das heisst, sie wollten über alles reden. Ich interpretiere das so: Wenn man über alles reden will, will man über nichts reden. Aber wir haben das akzeptiert. Schauen Sie, die andere Seite hat überhaupt keine Vorschläge gemacht. Sie haben . . . ich werde Ihnen ein Beispiel nennen. Sie haben gesagt: «Wir brauchen alle eure Daten über den fiskalischen Weg, auf dem Griechenland sich befindet, wir brauchen sämtliche Daten über die Staatsunternehmen.» Also haben wir uns bemüht, diese Daten bereitzustellen und Fragebögen zu beantworten und diese Daten in zahllosen Sitzungen vorzulegen. Das war die erste Phase. Die zweite Phase war, dass sie uns fragten, wie es mit der Mehrwertsteuer weitergehen solle. Sie haben unseren Vorschlag dann zurückgewiesen, ohne ihrerseits einen Vorschlag zu unterbreiten. Und bevor wir überhaupt eine Chance hatten, zu einer Einigung in Sachen Mehrwertsteuer zu kommen, wandten sie sich einem anderen Thema zu, etwa der Privatisierung. Sie wollten wissen, wie wir die Privatisierung angehen wollten; wir machten Vorschläge, die sie dann zurückwiesen. Dann das nächste Thema, beispielsweise die Renten, dann ging es zu den Produktmärkten und von dort zum Arbeitsmarkt und zu allen möglichen anderen Themen. Wie eine Katze, die hinter ihrem eigenen Schwanz her ist. Wir fanden, also die Regierung fand, dass wir aus dem Prozess nicht aussteigen konnten. Schauen Sie, mein Vorschlag war von Anfang an der: Griechenland ist ein Land, das auf Grund gelaufen ist, schon vor langer Zeit . . . Zweifellos brauchen wir Reformen, da gibt es überhaupt keinen Dissens. Und weil die Zeit drängte und die Europäische Zentralbank während der laufenden Verhandlungen Liquiditätshilfen für die griechischen Banken einschränkte, um uns unter Druck zu setzen, damit wir kapitulieren, war mein Vorschlag an die Troika ganz simpel: «Wir verständigen uns auf drei, vier wichtige Reformen, Steuergesetze, Mehrwertsteuer, und die werden unverzüglich umgesetzt. Und ihr lockert die eingeschränkten Liquiditätshilfen der EZB. Ihr wollt ein umfassendes Abkommen, dann lasst uns weiterverhandeln, und gleichzeitig bringen wir die Reformen, auf die wir uns verständigt haben, auf den parlamentarischen Weg.» Aber sie haben gesagt: «Nein, nein, nein. Es muss umfassende Reformen geben. Nichts wird umgesetzt, wenn Sie es wagen, irgendwelche Gesetze zu verabschieden. Das wäre aus unserer Sicht ein einseitiges Vorgehen, das die Chance, zu einer Einigung zu kommen, gefährden würde.» Und natürlich haben sie später dann den Medien erklärt, dass wir das Land nicht reformiert hätten und dass die ganze Sache Zeitverschwendung sei! Also, in gewisser Weise (Lacht) wurden wir einfach reingelegt. Als die griechischen Banken kaum noch liquide waren und das Land gegenüber dem IWF zahlungsunfähig war beziehungsweise kurz davor stand, kamen sie mit ihren Vorschlägen, die vollkommen unmöglich waren . . . Absolut unrealistisch und kontraproduktiv. Und so zogen sich die Dinge weiter hin, und schliesslich machten sie die Sorte Vorschlag, die man der anderen Seite unterbreitet, wenn man an einer Einigung gar nicht interessiert ist.
Haben Sie versucht, mit den Regierungen anderer verschuldeter Länder zusammenzuarbeiten?
Die Antwort ist: nein, und der Grund ist simpel: Von Anfang an haben diese bestimmten Länder keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die grössten Feinde unserer Regierung sind. Und der Grund war natürlich, dass unser Erfolg ihr schlimmster Albtraum war. Hätten wir bessere Bedingungen für Griechenland herausgeholt, wäre das ein politisches Problem für sie gewesen, denn dann hätten sie ihrer eigenen Bevölkerung erklären müssen, warum sie nicht genauso hart verhandelt hatten wie wir.
Und konnten Sie auf Sympathisanten zählen, wie etwa Podemos?
Nein. Ich meine, wir hatten immer gute Beziehungen zu Podemos, aber sie konnten nichts tun – ihre Stimme wurde in der Euro-Gruppe nicht gehört. Und in der Tat, je mehr sie für uns eintraten, desto feindseliger verhielt sich der spanische Finanzminister uns gegenüber.
Und George Osborne [der britische Finanzminister]? Wie sind Sie mit ihm zurechtgekommen?
Oh, es war sehr angenehm mit ihm, wir hatten ein ausgezeichnetes Verhältnis. Aber er gehört nicht zur Euro-Gruppe. Ich habe bei mehreren Gelegenheiten mit ihm gesprochen und ihn als sehr aufgeschlossen erlebt. Und wenn man den Telegraph liest, sieht man, dass unsere grössten Anhänger die Torys sind! Weil sie Euro-Skeptiker sind, na ja, es ist nicht nur ihre Euro-Skepsis, sondern das [britische] Verständnis von Parlamentssouveränität – in unserem Fall war ganz klar, dass unser Parlament überhaupt nicht ernst genommen wurde.
Was ist aus Ihrer Sicht besonders problematisch an der Praxis der Euro-Gruppe?
Nur ein Beispiel: Es gab einen Moment, als der Euro-Gruppen-Chef beschloss, uns faktisch auszuschliessen und bekanntgab, dass Griechenland kurz vor dem Austritt aus der Euro-Zone stehe . . . Nun ist es üblich, dass Verlautbarungen von allen Beteiligten getragen werden müssen, der Euro-Gruppen-Chef kann also nicht einfach eine Sitzung einberufen und ein Mitgliedsland ausschliessen. Er sagte: «Ich bin sicher, dass das geht.» Daraufhin habe ich ein juristisches Gutachten angefordert. Es entstand grosse Aufregung. Die Sitzung wurde für fünf oder zehn Minuten unterbrochen, Beamte und Sekretäre telefonierten herum, und am Ende erklärte mir ein Experte: «Also, juristisch existiert die Euro-Gruppe nicht, es gibt keinen Vertrag, auf dessen Grundlage diese Gruppe geschaffen wurde.» Wir haben also eine nichtexistierende Gruppe, welche die allergrösste Macht über das Leben der Europäer hat. Sie ist niemandem rechenschaftspflichtig, da sie ja juristisch gesehen nicht existiert. Die Sitzungen werden nicht protokolliert, es ist alles vertraulich. Kein Bürger erfährt, was hinter verschlossenen Türen besprochen wird . . . Bei diesen Entscheidungen geht es quasi um Leben und Tod, aber niemand ist irgendjemandem rechenschaftspflichtig.
Und wird diese Gruppe von deutschen Sichtweisen dominiert?
Oh ja, absolut, ganz und gar. Nicht von Sichtweisen, sondern vom deutschen Finanzminister. Das Ganze ist wie ein sauber gestimmtes Orchester, und er ist der Dirigent. Es gibt keine Misstöne. Manchmal ist das Orchester aber nicht sauber gestimmt, dann kommt er und sorgt dafür, dass alles wieder seine Ordnung hat.
Gibt es denn in der Euro-Gruppe keine Gegenspieler, können sich die Franzosen nicht gegen diese Macht stellen?
Nur der französische Finanzminister hat sich in einer Weise geäussert, die sich von der deutschen Position unterschied, aber das war alles sehr subtil. Man merkte, dass er in seiner Wortwahl sehr vorsichtig sein musste, um nicht als Kritiker der Deutschen wahrgenommen zu werden. Und wenn Doc Schäuble antwortete und die offizielle Linie praktisch festlegte, hat sein französischer Kollege letzten Endes immer eingelenkt und mitgemacht.
Sprechen wir über Ihren theoretischen Hintergrund und über Ihren Vortrag, den Sie 2013 [in Zagreb] gehalten haben, wo Sie sagten: «Ein Austritt Griechenlands oder Portugals oder Spaniens aus der Euro-Zone würde zu einer raschen Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen. Östlich des Rheins und nördlich der Alpen würde eine Überschussregion mit einer ernsthaften Rezession entstehen, während das übrige Europa im Griff einer massiven Stagflation wäre. Wer würde Ihrer Ansicht nach von dieser Entwicklung profitieren? Eine fortschrittliche Linke, die sich wie ein Phönix aus der Asche der öffentlichen Institutionen Europas erhebt? Oder die Nazis von der Goldenen Morgenröte, die diversen Neofaschisten, Ausländerfeinde und Kleinkriminellen? Für mich steht ausser Frage, wem ein Zerfall der Euro-Zone am meisten nützen würde.» Würde ein Grexit also zwangsläufig der Goldenen Morgenröte helfen, würden Sie das weiterhin sagen?
Schauen Sie, ich halte nichts von einer deterministischen Geschichtsauffassung. Syriza ist heute eine sehr starke Kraft. Wenn wir es schaffen, einig aus diesem Schlamassel herauszukommen und einen Grexit vernünftig anzugehen . . . eine Alternative wäre möglich. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir das schaffen, denn die Fragen, die sich beim Kollaps einer Währungsunion stellen, verlangen sehr viel Fachwissen, und ich bin mir nicht sicher, ob wir das in Griechenland ohne fremde Hilfe schaffen.
Sie müssen von Anfang an über einen Grexit nachgedacht haben.
Ja, das stimmt.
Wurden bereits Vorbereitungen getroffen?
Ja und nein. Wir hatten eine kleine Gruppe im Ministerium, eine Art Kriegskabinett, ungefähr fünf Leute, die sich damit beschäftigt haben. Wir haben theoretisch, auf dem Papier, sämtliche [für den Fall eines Austritts aus der Euro-Zone] notwendigen Schritte ausgearbeitet. Aber so etwas mit vier, fünf Leuten zu machen, ist das eine; das Land tatsächlich darauf vorzubereiten, ist etwas ganz anderes. Dafür hätte es eine Entscheidung auf der höchsten Ebene gebraucht, und diese Entscheidung hat es nie gegeben.
Und in der vergangenen Woche, war das eine Entscheidung, zu der Sie neigten [Vorbereitung für einen Grexit]?
Mein Standpunkt war, dass wir sehr vorsichtig sein sollten. Ich wollte nicht, dass das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird. Es sollte nicht so enden wie bei dem berühmten Ausspruch von Nietzsche, dass, wenn man nur lange genug in den Abgrund blicke, der Abgrund zurückschaue. In dem Moment aber, wo die Euro-Gruppe unsere Banken schliesst, sollten wir diesen Prozess in Gang setzen, das war meine Überzeugung.
Verstehe. Wenn ich das richtig sehe, gab es also zwei Optionen – einen sofortigen Grexit oder aber das Drucken von Schuldscheinen und die Übernahme der Kontrolle über die griechische Zentralbank [was potenziell, aber nicht zwangsläufig einen Grexit herbeigeführt hätte]?
Ganz genau. Ich war nie der Ansicht, dass wir sofort eine neue Währung einführen sollten. Meine Ansicht war, und ich habe das der Regierung gesagt, dass wir, wenn sie tatsächlich unsere Banken schliessen würden — ein für mich aggressiver Akt von enormer Tragweite — dass wir dann aggressiv reagieren sollten, aber nicht über den Punkt hinaus, wo es kein Zurück mehr gibt. Wir sollten unsere eigenen Schuldscheine ausgeben oder zumindest bekanntgeben, dass wir unsere eigene auf Euro lautende Liquidität ausgeben werden. Wir sollten die griechischen Staatsanleihen von 2012, welche die EZB hält, einem Schuldenschnitt unterwerfen oder einen solchen Schritt ankündigen. Und wir sollten die Kontrolle über die Bank von Griechenland übernehmen. Das waren aus meiner Sicht die drei Massnahmen, die wir ergreifen sollten, wenn die EZB unsere Banken schliessen würde . . . Ich habe das Kabinett warnend darauf hingewiesen, dass dies einen Monat lang passieren werde [die EZB schliesst unsere Banken], um uns ein demütigendes Abkommen aufzuzwingen. Als das passierte – und viele meiner Kollegen konnten nicht glauben, dass es passieren würde – wurde meine Empfehlung, «energisch» zu reagieren, sagen wir mal, überstimmt.
Und wie viel fehlte, dass es dazu gekommen wäre?
Also, wir waren in der Minderheit, zwei von sechs Leuten . . . Da es dann nicht so weit kam, erhielt ich die Anweisung, die Banken im Konsens mit der EZB und der Bank von Griechenland zu schliessen. Ich war dagegen, habe es aber getan, weil ich ein Teamplayer bin, ich glaube an kollektive Verantwortung. Und dann fand das Referendum statt, durch das wir enormen Auftrieb erhielten, genau die Bestätigung, welche die [von Varoufakis geplante] energische Antwort auf die EZB gerechtfertigt hätte, aber in derselben Nacht beschloss die Regierung, dass der Wille des Volkes, dieses entschiedene Nein, nicht zu dieser energischen Reaktion führen sollte. Es sollte vielmehr zu bedeutenden Konzessionen an die andere Seite führen, an den EU-Gipfel in Brüssel, wobei unser Ministerpräsident akzeptierte, dass wir – was immer passiert, was immer die andere Seite tut – keinesfalls in einer Weise reagieren, dass sie sich angegriffen fühlen. Und letzten Endes heisst das, dass man kapituliert . . . Man verhandelt nicht mehr.
Sie haben vermutlich keine Hoffnung, dass diese Vereinbarung besser ist als die von letzter Woche – wenn überhaupt, dann wird sie schlechter sein?
Wenn überhaupt, dann wird sie schlechter sein. Ich hoffe wirklich, dass unsere Regierung auf einer Umschuldung besteht, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der deutsche Finanzminister dies in der nächsten Sitzung der Euro-Gruppe akzeptieren wird. Wenn doch, wäre das ein Wunder.
Genau, weil Sie, wie Sie erklärt haben, keinerlei Druckmittel mehr haben.
Ja, so sehe ich das. Es sei denn, er [Schäuble] erhält von der Kanzlerin seinen Marschbefehl. Es bleibt abzuwarten, ob sie das tun wird.
Könnten Sie in möglichst einfachen Worten erklären, was Sie an Thomas Pikettys Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» kritisieren?
Ich möchte vorweg sagen, dass mir das unangenehm ist, weil Piketty mich und die Regierung sehr unterstützt hat, obwohl ich in meiner Rezension seines Buches so hart mit ihm umgesprungen bin! Ich weiss seine Haltung, die er in den letzten Monaten vertreten hat, sehr zu schätzen, und ich werde ihm das auch persönlich sagen, wenn wir uns im September treffen. Von meiner Kritik an seinem Buch nehme ich jedoch nichts zurück. Sein Ansatz ist richtig, seine Empörung über Ungleichheit . . . Aus meiner Sicht schwächt seine Analyse aber die Argumentation. Denn das neoklassische Kapitalismusmodell lässt wenig Raum für die These, die er in seinem Buch aufstellt. Sein Modell gründet auf ganz speziellen Parametern, so dass seine Argumentation auf schwachen Füssen steht. Mit anderen Worten, wenn ich ein Kritiker seiner These wäre, dass die Ungleichheit der Einkommensverhältnisse ein Wesenszug des Kapitalismus ist, könnte ich seine Argumentation auseinandernehmen, indem ich einfach seine Analyse angreife.
Ich möchte nicht allzu sehr in die Einzelheiten gehen, denn hier soll kein endgültiges Urteil gefällt werden . . .
Ja.
. . . aber es geht um seinen Vermögensbegriff?
Ja, er verwendet eine Definition von Kapital, mit der man das Kapital unmöglich verstehen kann – das ist also ein Widerspruch in sich.*
Kommen wir wieder auf die Krise zurück. Ich würde gern wissen, welche Beziehung Sie zu Tsipras haben.
Wir kennen uns seit Ende 2010, ich war ein prominenter Kritiker der damaligen Regierung, auch wenn ich ihr nahestand, aber das ist lange her. Ich war mit den Papandreous befreundet, bin ich heute noch in gewissem Sinne, aber ich wurde prominent . . . Damals war es eine grosse Sache, dass ein ehemaliger Berater sagte: «Wir tun so, als habe es eine Zahlungsunfähigkeit nie gegeben, wir kaschieren das mit immer neuen unhaltbaren Krediten», solche Sachen. Das hat damals für einiges Aufsehen gesorgt, und Tsipras war ein blutjunger Politiker, der verstehen wollte, was Sache war, worum es bei der Krise ging und wie er sich positionieren sollte.
Erinnern Sie sich an die erste Begegnung?
Oh ja. Das war Ende 2010, wir waren zu dritt, wir sassen in einer Cafeteria, ich weiss noch, dass er in seinen Ansichten nicht ganz klar war, zur Frage «Drachme versus Euro», zu den Ursachen der Krise, und ich hatte, sagen wir mal, sehr feste Ansichten über das, was da geschah. Und dann begann ein Dialog, der sich über die Jahre weiterentwickelt hat . . . Ich glaube, dass ich ein wenig dazu beigetragen habe, dass seine Auffassungen über das, was getan werden muss, klarer geworden sind.
Und jetzt, nach viereinhalb Jahren, wie ist das für Sie, nicht mehr an seiner Seite zu arbeiten?
So sehe ich das überhaupt nicht. Wir sind uns sehr nahe. Unser Abschied war sehr herzlich. Wir hatten nie Probleme miteinander, nie, bis heute nicht. Und ich verstehe mich sehr gut mit Euklid Tsakalotos [neuer griechischer Finanzminister].
Und vermutlich sprechen Sie mit den beiden diese Woche?
Mit dem Ministerpräsidenten habe ich in dieser Woche noch nicht gesprochen, in den letzten Tagen, aber ich spreche mit Euclid, ja, ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihm und umgekehrt, und ich beneide ihn überhaupt nicht. (Lacht)
Wären Sie schockiert, wenn Tsipras zurückträte?
Mich kann inzwischen nichts mehr schockieren – die Euro-Zone ist ein sehr ungemütlicher Ort für anständige Leute. Es würde mich auch nicht schockieren, wenn er weitermachte und einen wirklich schlechten Deal akzeptierte. Weil ich weiss, dass er sich den Menschen, die ihn unterstützen, die uns unterstützen, verpflichtet fühlt und alles dafür tun muss, dass Griechenland am Ende nicht als gescheiterter Staat dasteht. Aber ich werde weiterhin die Auffassung vertreten, die ich schon 2010 vertreten habe, dass Griechenland mit diesem «Immer so weiter» aufhören muss, damit, immer neue Kredite aufzunehmen und so zu tun, als wäre das Problem damit gelöst. Unter den Bedingungen verschärfter Austerität, die zu einem weiteren Schrumpfen der Wirtschaft führt, ist die Staatsverschuldung noch unhaltbarer geworden, die Last wird in noch grösserem Umfang auf die Armen abgewälzt, und auf diese Weise landen wir am Ende in einer humanitären Krise. Das akzeptiere ich nicht, und das werde ich nicht mittragen.
Abschliessende Frage: Werden Sie dem einen oder anderen Politiker, mit dem Sie verhandeln mussten, freundschaftlich verbunden bleiben?
Oh, da bin ich mir nicht sicher. Ich werde jedenfalls keine Namen nennen, um ihnen nicht die Karriere zu vermasseln! (Lacht)
Was als europäische Gesamtanstrengung zur Rettung Griechenlands firmiert, ist in Wahrheit der größte politische Souveränitätstransfer, den die Welt in Friedenszeiten je gesehen hat.
Als ich kürzlich mit Freunden aus Großbritannien über die anstehenden Ferienpläne sprach und ihnen erzählte, dass dieses Jahr Griechenland mein Urlaubsziel sei, kommentierten sie dies leicht ironisch mit der gespielt ungläubigen Frage „So basically, you are staying in your country?“ („Du bleibst also im eigenen Land?“). Der britische Humor vermag es auf großartige Weise, Aussagen bis fast zur Unkenntnis zu verklausulieren und sie dabei gleichzeitig in ihrer Schärfe noch zu betonen. Beim Thema Griechenland drängt es sich geradezu auf, sich dieser Ausdrucksform zu bedienen. Ohnehin ist es hilfreich, hierzu auch einmal eine andere Sichtweise als die erschreckend einstimmige deutsche anzuhören.
Von welchem internationalen Standpunkt man es auch betrachtet, das politische Agieren der griechischen Syriza-Regierung erntet ein nahezu globales Kopfschütteln – selbst bei vielen bisherigen Anhängern und Sympathisanten. Seit ihrem Amtsantritt zu Beginn dieses Jahres hat die griechische Regierung nichts unternommen, um den drohenden Kollaps der griechischen Unabhängigkeit zu verhindern. Seit gefühlten Ewigkeiten schielen die europäischen Schuldner auf das Tafelsilber des griechischen Staats, kooperieren mit den immer abhängiger werdenden griechischen Banken und versenken diese schleichend immer tiefer in ihrem eigenhändig angelegten Schuldensumpf.
Eine sich selbst ernstnehmende Regierung eines in seiner Souveränität existenziell bedrohten Landes würde – unabhängig von der eigenen politischen Ausrichtung – zumindest darüber diskutieren, ob es nicht von entscheidender Bedeutung für die eigene Zukunft wäre, wichtige Wirtschaftszweige oder Banken stärker unter die eigene staatliche Kontrolle zu nehmen und sie so zumindest vorläufig vor dem internationalen Zugriff zu schützen. Auch die nun in verschiedenen Medien kolportierten „Putschgerüchte“ sowie Geheimpläne, der inzwischen ehemalige griechische Finanzminister Giannis Varoufakis sei bereits Ende letzten Jahres vom heutigen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras beauftragt worden, mithilfe eines Hackers ein „Parallel-Bankensystem“ entwickelt zu haben, wirken fast wie eine posthume Dämonisierung einer längst zahnlosen Regierung. Über die europäische Aufregung angesichts der so geheimen „Geheimpläne“ von Varoufakis kann man eigentlich nur lachen. Wer, wenn nicht die Griechen, hätte denn sonst Überlegungen über einen Grexit anstellen sollen?
Griechische Selbstveräußerung
In einer Mischung aus grandioser Selbstüberschätzung, stolzer Blindheit, atemberaubender Naivität und bewusster Falschheit verbrachte die Syriza-Regierung Monate damit, unvorbereitet und ohne eigene Alternativvorschläge bei Brüsseler Treffen aufzukreuzen und außer dem offiziellen Wunsch, auch das kommende Weihnachtsfest in der Eurozone feiern zu dürfen, nichts beizusteuern. Dass sie dies der griechischen Bevölkerung obendrein als stolze Rettungsstrategie zu verkaufen versuchte, ist geradezu kriminell, offenbart auch aber auch eine unglaubliche Portion an Feigheit: Anstatt offensiv den Austritt aus dem Euro zu betreiben und in der griechischen Bevölkerung für die eigenen Pläne um Unterstützung zu werben, zog man es vor, lieber gar keine ernstzunehmende Position in den Brüsseler Verhandlungen einzunehmen und zu Hause vorzugaukeln, man könne gleichzeitig Sparprogramme ablehnen und den Euro behalten.
Nichts hat die Regierung in Athen in den letzten Monaten unternommen, um die Menschen in Griechenland vor dieser nun anlaufenden historisch einzigartigen Demütigung durch die EU-Bürokraten zu bewahren. Stattdessen trommelte Tsipras das Volk sogar noch einmal an die Urnen und spielte ihm vor, mit dessen Votum im Rücken sich mutig den Spardiktaten entgegenzustellen. Ausgestattet mit einer satten Mehrheit gegen die Vereinbarung weiterer Sparmaßnahmen ließ sich Tsipras in den Tagen nach dem Referendum genau auf solche und auf noch viel Schlimmeres ein: Griechenland hat große Teile seines staatlichen Tafelsilbers in einen von den internationalen Geldgebern kontrollierten Privatisierungsfond abzutreten, dessen Ziel es ist, für diese noch übrig gebliebenen Sahnestückchen griechischen Wirtschaftens internationale Käufer zu finden. Dies, wohlgemerkt, nur als Voraussetzung dafür, künftig überhaupt wieder um weitere Hilfen bett- äh verhandeln zu dürfen.
Was hier als europäische Gesamtanstrengung zur Rettung Griechenlands firmiert, ist in Wahrheit der größte politische Souveränitätstransfer, den die Welt in Friedenszeiten jemals gesehen hat. Und es ist davon auszugehen, dass nach der Veräußerung des bisher zum Verkauf gestellten Staatsvermögens weitere Privatisierungswellen folgen werden. Wie diese aussehen können, lässt sich derzeit am Beispiel des Privatisierungsdeals mit der Frankfurter Fraport AG besichtigen, der im letzten Jahr von der damals regierenden konservativen griechischen Regierung eingefädelt worden war: Neben etlichen anderen Staatsbetrieben sollte Griechenland seine 14 gewinnbringenden und weiter wachsenden Flughäfen an Fraport verkaufen, während die anderen 30 Flughäfen, die keine Gewinne verbuchen und auf Subventionen angewiesen sind, griechisches Staatseigentum bleiben sollen.
Mit den von der damaligen Regierung in Athen erhofften Einnahmen aus diesem Deal von ca. 1,23 Milliarden Euro – für die Konzession für den Betrieb von 14 griechischen Flughäfen für 40 Jahre ein geradezu teuflisches Schnäppchen – sollten weitere Schulden beglichen werden. Man muss kein fanatischer Antikapitalist, Euroskeptiker oder Syriza-Sympathisant sein, um der vom griechischen Infrastrukturminister Christos Spirtzis geäußerten Einschätzung zuzustimmen, dass dies „eher zu einer Kolonie als zu einem EU-Mitgliedsland“ passe.
Der Euro ist ein rein politisches Projekt
Was mittlerweile selbst von Experten des Instituts für Wirtschaftsforschung als Gefahr einer möglicherweise „übereilte Privatisierung“ beschrieben wird, ist in Wirklichkeit zentraler Bestandteil der Griechenlandpolitik der Europäischen Union. Diese hat nicht die Rettung Hellas, sondern die des Euro zum Ziel – und zwar nicht seine wirtschaftliche Rettung, sondern die politische. Je stärker das auf Basis des Euro als Einheitswährung errichtete politische System der EU ins Wanken gerät, desto skrupelloser wird der Umgang mit Athen oder auch mit anderen sich künftig anbietenden Problemregierungen werden. In Brüssel zählen nicht die Griechen – vielmehr hat der offene Kampf um die Aufrechterhaltung des Euro-Systems begonnen. In diesem System ging und geht es nicht um die Wirtschaft, das europäische Projekt war von jeher ein politisch motiviertes. Daher wird an ihm auch so verzweifelt und ängstlich-borniert festgehalten, selbst angesichts eines wirtschaftlichen Desasters.
Seit den Maastrichter Verträgen von 1992 wurde der Mythos der Unumkehrbarkeit der europäischen Einigung mit Zähnen und Klauen verteidigt. Dies war gerade Anfang der 1990er-Jahre für die Staaten Europas von zentraler Bedeutung, ging es doch vor allen Dingen auch darum, das frisch wiedervereinigte Deutschland in das gemeinsame System fest einzubauen. Deutschen Interessen lief das nicht unbedingt zuwider, der Euro schien nicht nur ein zahlbarer Preis für die Wiedervereinigung zu sein, sondern bot sich zugleich als attraktive politische Perspektive für das neu entstandene mächtigste Land Europas an. Darüber hinaus konnte man so das große Misstrauen der europäischen Nachbarn wie auch der liberalen und linken Teile der innerdeutschen Öffentlichkeit besänftigen. Die Auflösung in ein vereinigtes Europa erschien gerade für Liberale und Linke die einzige Möglichkeit zu sein, die „deutsche Frage“ in einer eher unproblematischen Art und Weise zu lösen. Der Euro war also in gewisser Weise das Symbol für die politische wie auch wirtschaftliche Einbindung des misstrauisch beäugten zentraleuropäischen Riesens in den europäischen Einigungsprozess mit dem Ziel, dessen erneutes unerfreuliches Ausscheren möglichst zu verhindern.
Unumkehrbarkeit als einzige EU-Zukunftsvision
Die Vereinigung Europas in Form der Europäischen Union wurde gerade deswegen zur einzig denkbaren Zukunftsvision und musste verteidigt werden. Da konnten Menschen in Europa in zahlreichen Referenden sich noch so deutlich gegen europapolitische Grundsätze aussprechen – deren Votum wurde selbstbewusst ausgeblendet, um diesen Weg der unumkehrbaren Integration nicht zu gefährden. Die ständig offener zutage tretende Abgehobenheit Europas von seinen Bürgern ist somit kein unerwünschter Nebeneffekt, den man „wegreformieren“ kann – sie ist das Fundament des EU-Projektes, das nur als dem direkten demokratischen Zugriff der Bürger entzogenes und über den Menschen und Staaten stehendes, gewissermaßen „entpolitisiertes“ Gebilde überleben kann.
Den hohen Grad der „Entpolitisierung“ des europäischen Prozesses kann man in der Griechenland-Tragödie nahezu mit Händen greifen. Nach der vorauseilenden und präventiven Kapitulation von Tsipras in den Tagen nach dem griechischen Referendum wird das Land nun langsam Stück für Stück durch den europäischen Fleischwolf gedreht, um europäisch bleiben zu dürfen. Und es scheint niemanden zu geben, der sich diesem blutrünstigen Automatismus, von dem niemand ein positives Endresultat erwartet, ernsthaft entgegenstellt. Niemand? Vielleicht nicht ganz. Denn aus einer überraschenden Richtung wird nicht nur Skepsis geäußert, sondern hörbar über ein Umsteuern nachgedacht. Bei aller bisher zur Schau getragenen Härte ist es durchaus vorstellbar, dass ausgerechnet Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dereinst als der erste aus dem EU-Machtkartell in die Geschichte eingehen wird, der offen die Irreversibilität der Euro-Politik infrage und einen zumindest begrenzten Austritt Griechenlands aus dem Euro als womöglich bessere Lösung in den Raum stellte.
Dass Schäubles zentrales Motiv der Lockerung des starren Eurosystems nicht unbedingt das Mitleid mit den Griechen ist, erscheint plausibel. Und dennoch könnte diese Äußerung der Beginn eines sich langsam entwickelnden Ausweg Griechenlands aus der aussichtslosen Lage sein. Die wütenden Reaktionen in Brüssel wie auch in Berlin auf den Vorstoß Schäubles deuten jedenfalls darauf hin, dass er den Finger in die zentrale Wunde gelegt hat: Die Möglichkeit der Unumkehrbarkeit europäischer Einigungspolitik überhaupt in Betracht zu ziehen, bedeutet auch, ihre Unfehlbarkeit für prinzipiell möglich zu halten. Dieser geradezu infame Gedanke lässt das Brüsseler Machtzentrum bereits ins Wanken geraten – noch dazu, da er vom mächtigsten Finanzminister der Eurozone geäußert wurde.
Chancen wachsen in der Krise
Den Kritikern des EU-Spardiktats und der faktischen Entmündigung des griechischen Staates stünde es gut zu Gesicht, sich im Ringen um weniger Brüsseler Bürokratie nicht in traditioneller Manier auf blinde und arg vereinfachende anti-deutsche Ressentiments zu beschränken. Denn es ist ja gerade das Misstrauen Europas gegenüber Deutschland, aus dem sich der EU-Apparat erhob und bis heute speist. Mit dem Ausspielen der anti-deutschen Karte kittet man unbewusst die Risse im Brüsseler Beton und verhindert so, dass hieraus eventuell ganz neue Perspektiven und Möglichkeiten entstehen. Und auch, wenn sich der Enthusiasmus der spanischen Syriza-Anhänger („Podemos“) nach der griechischen Selbstveräußerung durch Tsipras nun erst einmal ein wenig gelegt haben dürfte – aktuelle Umfragen scheinen dies auf beeindruckende Weise zu belegen: Die griechische Tragödie könnte bei all ihren katastrophalen sozialen Begleiterscheinungen dennoch möglicherweise den Bremsvorgang für den auf Autopilot geschalteten Euro-Geisterzug einleiten. Vorausgesetzt, man verschließt nicht aus lauter Angst die Augen vor der Tatsache, dass die Europäische Union kein Naturgesetz, sondern menschgemacht und daher auch reversibel ist.
Matthias Heitmann ist freier Autor. Soeben ist im TvR Medienverlag Jena sein Buch „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ erschienen. Mehr Informationen finden sich auf seiner Website http://www.zeitgeisterjagd.de. Dieser Artikel ist zuerst in der BFT Bürgerzeitung erschienen.
Der Euro war eine große wirtschaftspolitische Fehlentscheidung – jetzt gilt es, zu retten, was noch zu retten ist. Wir brauchen eine Währungsunion, in der Staaten pleitegehen können. von Mark Schieritz
Als in den neunziger Jahren in Europa die Einführung des Euro vorbereitet wurde, verfasste der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman einen kurzen Aufsatz über die neue Währung. Sie werde den Kontinent nicht, wie erhofft, vereinen, sondern spalten – denn durch das gemeinsame Geld würden wirtschaftliche Anpassungsprozesse, „die durch Änderung der Wechselkurse leicht in Griff zu bekommen worden wären“, mit einem Mal zu „umstrittenen politischen Themen“.
Es gab damals viele Mahner wie Friedman. Sie wurden allesamt ignoriert. Der Euro war längst zum Symbol für den europäischen Einigungsprozess geworden – und er versprach einen Ausweg aus den Zwängen der Globalisierung. Man glaubte, dass durch das gemeinsame Geld auf der europäischen Ebene wirtschaftspolitische Handlungsspielräume zurückerobert werden können, die der Nationalstaat längst verloren hat.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt: Friedman hatte recht. Der Euro ist vielleicht eine der größten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen des vergangenen Jahrhunderts – und wenn nicht schnell etwas passiert, wird er Europa zerstören.
Gewiss: Der Grexit ist vorerst abgewendet, und der Bruch der Währungsunion konnte gerade noch einmal abgewendet werden. Doch um welchen Preis? Die Einigung kostet viel Geld, doch dass sie Griechenland Wachstum und Wohlstand bringt, ist eher unwahrscheinlich. Griechenland ist dabei nur das krasseste Beispiel für das Scheitern der europäischen Rettungsbemühungen. In den anderen Krisenstaaten mag die Wirtschaft nicht mehr akut von dem Zusammenbruch bedroht sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass dort alles in Ordnung wäre. Die Arbeitslosigkeit liegt zum Beispiel in Spanien immer noch bei über 20 Prozent. Wenn das schon als Erfolg gilt, was wäre dann eigentlich ein Misserfolg?
Der Euro hat sich eben nicht als Wohlstandsmaschine, sondern als Wohlstandsvernichtungsmaschine erwiesen. In mehr als der Hälfte aller Mitgliedsländer der Währungsunion liegt die Wirtschaftsleistung heute unter dem Niveau des Jahres 2007. Die europäischen Staaten mit einer eigenen Währung dagegen stehen heute alle besser da als damals. Die traurige Wahrheit dieser Tage ist, dass das ebenfalls hoch verschuldete und ebenfalls nicht gerade vorbildlich regierte Ungarn gut durch die Krise gekommen ist, während Griechenland in der Depression versank.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 31 vom 30.07.2015. http://www.zeit.de
Die Krise des Euro – sie ist eben genau das: eine Krise des Euro. Die gemeinsame Währung sollte dem Kontinent ökonomische Stabilität bringen, sie brachte das Gegenteil. In den ersten zehn Jahren nach seiner Einführung bescherte der Euro dem Süden einen ungesunden Boom und dem Norden eine lang anhaltende Flaute. Jetzt drehen sich die Verhältnisse gerade um, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die deutsche Wirtschaft heiß läuft. Seit die Menschen von Helsinki bis Lissabon mit dem Euro bezahlen, schwanken in Europa zwar keine Währungen mehr, dafür schwanken jetzt ganze Länder.
Das liegt auch daran, dass die Währungsunion für die meisten ihrer Mitgliedsstaaten eine ökonomische Zwangsjacke ist. Sie schränkt – die Griechen erfahren es gerade – die nationalen wirtschaftspolitischen Reaktionsmöglichkeiten ein, weil die eigene Währung nicht mehr abgewertet werden kann, um die Wirtschaft wieder auszubalancieren. Auf der supranationalen Ebene wiederum fehlen die Instrumente, um dieses Defizit auszugleichen. Es gibt eben kein gemeinsames Budget, aus dem sich Krisenstaaten bedienen könnten, um einen Konjunkturabschwung durch Mehrausgaben abzufedern. Die europäischen Haushaltsregeln mit ihren Schuldengrenzen legen der Finanzpolitik in den Mitgliedsländern stattdessen sogar noch zusätzliche Fesseln an. Die Währungsunion, so formuliert es der dänische Wirtschaftswissenschaftler Lars Christensen, sei ein „monetärer Strangulationsmechanismus“.
Auf jeden Rausch folgt der Kater – das ist auch in Ländern mit einer eigenen Währung so. Aber innerhalb einer Währungsunion müssen die nach dem Platzen einer Blase notwendigen Anpassungsleistungen mühsam durch Lohnkürzungen erbracht werden. Die damit einhergehende Politisierung der Wirtschaft überfordert die europäische Politik.
Sicher: Auf den ersten Blick hat die europäische Methode der Konfliktbewältigung funktioniert: Es gab einen Kompromiss, und niemand hat sein Gesicht verloren. Aber was ist ein Kompromiss wert, der keine Probleme löst, sondern neue Probleme schafft, weil keine Seite bereit ist, ihre roten Linien zu überschreiten? Der Euro ist eine Währung, kein sakraler Endzweck. Er mag aus politischen Gründen eingeführt worden sein, gemessen werden wird er am Ende an ökonomischen Kriterien. Wenn er die Menschen in Europa nicht reicher, sondern ärmer macht, verliert er seine Legitimation.
Nun steigt der IWF voraussichtlich aus dem neuesten Hilfspaket für Griechenland aus. Das ist eine Bankrotterklärung; diesmal nicht für das bankrotte Griechenland, sondern gleich auch noch für die Bundesregierung. Und dabei geht es nicht um die Milliarden, die der IWF nicht einsetzt, und die jetzt den Anteil Deutschlands erhöhen.
Der IWF stellt das Grundprinzip der Hilfen seit 2010 in Frage.
Und er zwingt die Bundesregierung zur Ehrlichkeit: Sie muß jetzt die deutschen Verpflichtungen offenlegen.
1. Das ist der Konflikt
Der IWF fordert eine weitgehende Entschuldung Griechenlands und echte Reformen. Das verbirgt sich hinter der Erklärung: “Der IWF kann nur ein umfassendes Programm unterstützen“, die ein Vertreter der Organisation in einer Telefonkonferenz mit Journalisten abgab.
Weiter heißt es da: Es müssten auf beiden Seiten schwierige Entscheidungen getroffen werden. Nötig sei eine Kombination von Reformen von griechische Seite und einem Schuldennachlass der Gläubiger. Bis sich beide Seiten darauf einigten, werde noch einige Zeit vergehen. Der IWF könne sich erst beteiligen, wenn entsprechende Beschlüsse gefallen seien. Diese Erklärung liegt auf der Linie, die der IWF seit einigen Wochen verfolgt – auch auf Grund des Drucks vieler nicht-europäischer Länder. Sie sehen einfach nicht ein, warum eine korrupte Winzwirtschaft wie die griechische mit immer neuen Mitteln aufgepäppelt wird, wobei diese Mittel praktisch unmittelbar in Beamtengehälter und Renten fließen. Die sind aber im Weltmaßstab maßlos überhöht. Mit anderen Worten: Warum sollte ein armes asiatisches Land sich reformieren, während Griechenland aus deren Perspektive Mittel verprasst?
Die Forderung von IWF-Chefin Christine Lagarde nach einer Schuldenerleichterung lehnen die Bundesregierung und andere EU-Ländern bislang ab. “Die Unterschiede zwischen der Meinung des IWF zur Schuldenfrage und der derzeitigen Diskussion der Europäer sind sehr groß”, zitiert die “Financial Times” aus einem vertraulichen IWF-Papier.
2. Was bedeutet ein erneuter Schuldenschnitt?
Nicht nur die Bundesregierung, vor allem die Linke und die Grünen suggerieren, bislang wäre kein deutsches Geld nach Griechenland geflossen. Das ist so schon deshalb falsch, weil beim ersten Schuldenschnitt 2010 immerhin 120 Milliarden Schulden erlassen wurden. Dieser „Haircut“ trifft nicht irgendwelche anonymen und bösen Banken, denen man endlich das Geld weg nimmt, wie die linksblinde deutsche Politik so gern suggeriert. Es sind im wesentlichen Mittel von Lebensversicherungen, Sparkassen und ganz normale Einlagen, die da verloren gegangen sind. Die Bundesregierung hat ihre Beteiligung an der misslungenen Griechenlandhilfe versteckt; und zwar in Form von „Garantien“. Garantien heißt: Es fließt heute kein Geld, aber wenn Griechenland seine Kredite nicht zurückzahlen kann, wird es fällig. Die Hoffnung war, diesen Tag hinauszuschieben, Zeit zu schinden, wie es eben in der Logik der auf Wahltermine orientierten Politik so üblich ist. Jetzt zwingt der IWF zur Aufdeckung dieser Garantien, indem der IWF einen Schuldenschnitt fordert. Das bedeutet: Je nach Rechnung zwischen 90 bis 130 Milliarden werden teilweise abgeschrieben; die Staatsverschuldung dementsprechend erhöht. Denn Deutschland haftet über verschiedenste Kanäle: Die Europäische Zentralbank beispielsweise hat Griechenland über 90 Mrd. für erkennbar faule Papiere geliehen – auch da ist Deutschland mit seinem 27-Prozent-Anteil dabei. Verschiedene Europäische Kostenverschleierungssysteme wie der Europäische Stabilitätsfonds wurden errichtet; auch da trägt Deutschland den Hauptanteil. Insofern sind wir dem IWF zum Dank verpflichtet: Er deckt die verdeckten Karten der Politik auf. Die „kostet-ja-nichts-sondern-bringt-uns-Zinsen-Schwindelei“ fliegt auf: Die Garantien sind bares Steuergeld, das dann in Deutschland vorne und hinten fehlt. Übrigens: Seine eigenen Milliarden will der IWF natürlich zurück. Nur die europäischen Staaten sollen bluten für Griechenland.
3. Was sind die Auswirkungen auf Europa?
Deutschland mit seiner vergleichsweise niedrigen Schuldenlast und praktisch keinerlei Neuverschuldung kann das Thema wegstecken; es schmerzt. Aber Frankreich und Italien geraten voll in die Bredouille. Ihre Kreditwürdigkeit sinkt weiter, wenn ihre Garantien offengelegt werden. Jetzt zeigt sich, dass das europäische Haus auf schwankendem Grund errichtet wurde: Der Hoffnung, dass schon keiner so genau hinschaut. Die Folgen sind schwer abzuschätzen. Jetzt geht es nicht mehr um die Rettung Griechenlands – jetzt geht es um die wankenden Giganten Frankreich, Italien, Spanien usw.usf. Vermutlich wird jetzt wieder eine „europäische Lösung“ gesucht mit dem Ziel, die Hauptlast der Schulden auf Deutschland abzuwälzen. Das Mittel der Wahl sind dann immer „Euro-Bonds“. Dann bürgt Deutschland für europäische Schulden. Die SPD hat dies lange gefordert; Grüne/Linke sowieso. Mit anderen Worten: Das halbwegs solide Deutschland soll für die Schulden der anderen garantieren. Dann erleben wir das Griechenland-Desaster erneut – nur in einer viel größeren Dimension.
4. Kommt Griechenland davon?
Der IWF kritisiert aber auch die griechische Regierung. Sie habe eben Reformen bislang unterlaufen. Die neue Regierung unter Alexis Tsipras hat diesen Boykott der Erneuerung zum Prinzip erhoben und sich sogar per Volksabstimmung bestätigen lassen. So lange Griechenland so auf Kosten der Kreditgeber weiterwurstelt, ist der IWF nicht mehr dabei. Auch das ist eine Bankrott-Erklärung für Politik und übrigens auch für viele Medien, die ständig die Reformen und großen Opfer der Griechen anführen und beklagen. Griechenland ist ein Sumpf, sagt der IWF. Nach nur 6 Monaten Syriza-Regierung steht Griechenland wirtschaftlich so schlecht da wie noch nie – und das Geld auch des neuen Hilfspakets wird wieder nicht reichen, kann jetzt gar nicht mehr reichen. Denn griechische Unternehmen gingen wegen der Bankschließung pleite, Unternehmen wanderten ab, der Tourismus brach ein. Die Folgen der sozialistischen Politik sind nach Schätzungen griechischer Statistiker ein Einbruch von voraussichtlich weiteren 10 Prozent in nur 6 Monaten. Innenpolitisch ist Griechenland instabil, denn die extreme Linke spielt nicht mehr mit. Auch Tsipras schließt Neuwahlen nicht aus.
5. Fazit: Scheitern auf der ganzen Linie
Damit ist die Griechenland-Hilfe-Politik auf der ganzen Linie gescheitert. Das Verdecken heimlicher Hilfen vor den Wählern fliegt auf. Der Euro wird zur gigantischen Umverteilungsmaschine. Denn jetzt wird wieder Panik als Argument angeführt werden, um alle möglichen Hilfen loszueisen. Jetzt wird wieder mal die Kriegs-Drohung herausgeholt; und klar ist: Der Unsinn geht weiter. Dagegen gibt es nur eine Möglichkeit: Einen sofortigen Grexit, um das kranke Griechenland von Europa zu isolieren – und vermutlich muß der Euro jetzt wirklich auf den Prüfstand. Es ist wie in Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Der IWF ruft: “Griechenland ist nackt!”. Und jetzt sehen es alle.
Beschirmt, besetzt, in Fängen? Nationalsozialistische Europaideologie auf einem Plakat von 1943
(Bundesarchiv, Plak 003-002-044, Grafiker: Werner von Axster-Heudtlaß)
1. Antiliberal, antieuropäisch?
In der gegenwärtigen Krise europäischer Integration richtet sich der kritische Blick der Historiker auch auf problematische Ursprünge „Europas“ im 20. Jahrhundert, und hier besonders auf die NS-Zeit. Die zeitweilige deutsche Hegemonie über den Kontinent während des Zweiten Weltkriegs, die mit millionenfachen Massenmorden verbunden war, wurde in Teilen der Literatur als Ausdruck antieuropäischer Ideologie und Praxis bezeichnet,1 die Anwendung des Integrationsbegriffs auf die nationalsozialistische Herrschaftsausübung dagegen scharf kritisiert, ja sogar als „Pseudowissenschaft“ abgetan.2 Im Kontext des vorliegenden Themenhefts und im Licht neuerer Forschungen soll hier noch einmal gefragt werden, ob und wie sich die Zeit des Nationalsozialismus und besonders des Zweiten Weltkriegs als Teil europäischer Integrationsgeschichte interpretieren lässt.
Gleich vorab ist zu betonen, dass Liberalismus und Antiliberalismus dabei nicht antithetisch gegenüberzustellen sind. Nur zögerlich wandten sich Liberale wie Ludwig Erhard, der bekanntlich an wirtschaftlichen Nachkriegsplanungen des NS-Regimes beteiligt war, der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft zu.3 Mit Blick auf die Ursprünge und Vorläufer der Integration Westeuropas ist in der Historiographie daher von einem „mehr oder weniger liberalen“ Europa die Rede gewesen, in Abgrenzung von klassischen liberalen Europamodellen.4 Die geläufige These, das NS-Regime sei antieuropäisch und antiliberal gewesen, ist auf Hitler und die Regimeführung konzentriert. Sie vernachlässigt die Politik deutscher Wirtschaftseliten und verkennt solche Integrationsleistungen, die das Regime auch ohne emphatische Berufung auf „Europa“ für sich erzielte. Sie betont Brüche, wo stärker von Kontinuitäten die Rede sein müsste.
Eine spezifisch „westliche“ Vorstellung von Europa hatte in Deutschland vor 1945 freilich einen schweren Stand. Der Verband für Europäische Verständigung des DDP-Mitglieds Wilhelm Heile und andere Vorläufer der nach dem Ersten Weltkrieg zeitweise sehr einflussreichen Europa-Union erhielten wesentliche Impulse von der Locarno-Politik Gustav Stresemanns und Aristide Briands. Die SPD nannte 1926 die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Ziel in ihrem Heidelberger Parteiprogramm.5 Dies war keine sozialistische, sondern eine liberale Aussage, die bezeichnenderweise bei den Sozialdemokraten mehr Zustimmung fand als in der DDP und in Stresemanns eigener Partei, der DVP. Die Konzeption westeuropäischer Verständigung geriet seit der Ära Brüning außenpolitisch ins Abseits. Erst viel später trugen die Erfahrungen von politischer Verfolgung und KZ-Haft in der NS-Zeit, namentlich aber der enge Kontakt wichtiger Protagonisten mit dem angelsächsischen Liberalismus im Exil, wesentlich dazu bei, die westeuropäische Integration im politischen Denken der Bundesrepublik zu verankern.6 Die viel zitierte Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi hatte nach 1945 hingegen vergleichsweise geringen Einfluss.7 Kurzum: Der „Westen“ kam aus dem Westen nach Deutschland, nicht aus der nationalen Ideengeschichte – so eine weitere geläufige These.
2
Ungleich größere Wirkung entfalteten in der Zwischenkriegszeit Mitteleuropa-Konzepte liberalimperialistischer Provenienz, die ihren handelspolitischen Akzent auf Ostmittel- und Südosteuropa legten.8 Historisch legitimierten sie sich mit der Reichstradition.9 Seit der Ära Brüning schwenkte auch die um die Zeitschrift „Abendland“ gruppierte Bewegung auf die Linie von Mitteleuropa und Reichsnationalismus ein.10 Die Nationalsozialisten nahmen solche europapolitischen Diskurse auf. Vor 1939 propagierten führende Parteifunktionäre wie Alfred Rosenberg ein „germanisches Großreich“, in dem das Deutsche Reich eine „rassische“ Föderation mit seinen Nachbarn bilden sollte. In den faschistischen Kreisen Italiens und Frankreichs wurden solche Visionen aufmerksam registriert.11 Hitler selbst, Himmler und Goebbels wussten aber mit „Europa“ jenseits der Propaganda gar nichts anzufangen und nutzten daher auch nicht die machtpolitischen Möglichkeiten, die sich aus der nationalsozialistischen „Neuen Ordnung“ ab 1940 hätten ergeben können.12
Die Wehrmacht als Drachentöter. Plakat von 1942/44
(Bundesarchiv, Plak 003-028-104)
Der harte Kern ihrer Europaideologie waren Antibolschewismus und Antisemitismus. Bereits das deutsche Propagandamärchen vom Präventivkrieg gegen die Sowjetunion operierte wirksam mit dem angeblichen Abwehrkampf Europas gegen den „jüdischen Bolschewismus“, und dies blieb die Konstante der nationalsozialistischen Berufung auf „Europa“. Sie nahm 1942/43 sprunghaft zu, als Deutschland militärisch in die Defensive geriet. In seiner Sportpalast-Rede vom 18. Februar 1943 malte Goebbels das Schreckgespenst des „jüdischen Bolschewismus“ an die Wand, der den europäischen Kontinent vom Osten her mit Versklavung und Vernichtung bedrohe. Nach der alliierten Invasion vom Juni 1944 betonte die NS-Propaganda erneut den Mythos jüdisch-kapitalistischer Weltverschwörung gegen den Kontinent, der bereits in Hitlers öffentlicher Vernichtungsdrohung vom Januar 1939 eine wesentliche Rolle gespielt hatte.13
„Europa“ schultert Deutschlands Last. Titelbild eines Propagandabuches über die erzwungene Arbeit so genannter Fremdvölkischer im Reich
(Friedrich Didier, Europa arbeitet in Deutschland. Sauckel mobilisiert die Leistungsreserven, Berlin 1943)
Das Bild wird jedoch komplexer, wenn man nach praktisch wirksamer Integration unterhalb und teils gegenläufig zur Ideengeschichte fragt. So ist darauf hingewiesen worden, dass sich das radikalnationalistische Regime zunehmend solcher Begriffe bediente, die den nationalen Bezugsrahmen überschritten: „Reich“, „Rasse“, „Volksgemeinschaft“ und zuletzt „Europa“.14 Die SS, ideologisch zweifellos antieuropäisch, hatte an diesen Vorgängen erheblichen Anteil. Nicht weniger als 24 europäische, zunehmend aber auch nichteuropäische Nationalitäten kämpften als mehr oder weniger Freiwillige in der Waffen-SS, die sich 1945 zu über der Hälfte (etwa eine halbe Million Männer) aus Ausländern und Volksdeutschen zusammensetzte. Die ursprüngliche „nordisch-germanische“ Idee Himmlers führte sich seit 1941 selbst ad absurdum.
3
Die zeitgeschichtliche Forschung des vergangenen Jahrzehnts hat solche Zusammenhänge deutlich herausgearbeitet.15 Ergänzend zur Erforschung der Europapläne und -propaganda rückt nun die Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Europa verstärkt in den Blick. Auf diese Weise tritt die gesamteuropäische Dimension auch der deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg klarer hervor. Sie wirft unter anderem Fragen nach der Mitwirkung ausländischer Akteure und nach transnationalen Dimensionen von Massengewalt auf.16 Neuerdings wurde auf den Versuch der deutschen Kriegsfinanzierung durch Plünderung, Raub und Mord hingewiesen, bei denen die besetzten Gebiete als Geldwaschanlagen fungierten.17 Und auch für den Edelmetallhandel des NS-Staats, der neutrale Länder wie die Schweiz einbezog, ist treffend von einer „Großraubwirtschaft“ die Rede.18 Alles dies waren Formen der Integration Kontinentaleuropas, die mit extremer Gewaltanwendung einhergingen, vielfach aber auf die Mitwirkung einheimischer Eliten aus ideologischen und wirtschaftlichen Interessen heraus zählen konnten.19 Daher ist ein funktionaler Integrationsbegriff unentbehrlich. Auf einige Aspekte dieser Integration soll hier nun näher eingegangen werden; zugespitzt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
2. Handels- und Währungspolitik im „Neuen Europa“
In der wirtschaftshistorischen Forschung hat die These viel Anklang gefunden, dass der Schuman-Plan von 1950 und die auf ihn gründende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1952 an Traditionen der Produzenten-Kooperation anknüpften, die in die Zwischenkriegszeit zurückreichen.20 Die größte praktische Wirksamkeit entfaltete in diesem Zusammenhang das Internationale Stahlkartell (ISK) von 1926, ein auf luxemburgische Initiative gegründetes Produktionskartell der Stahlindustrien Deutschlands, des Saarlands, Frankreichs, Luxemburgs und Belgiens, dem auch die Stahlproduzenten Ungarns, Österreichs und der Tschechoslowakei beitraten. Das ISK funktionierte als „Vorläufer umfassender Vereinbarungen zwischen Produzenten und Regierungen, als Instrument der Diplomatie und als Vehikel faktischer wirtschaftlicher Integration“.21 Deutschland trat 1929 aus dem ISK aus; das Stahlkartell – jetzt unter der Bezeichnung Internationale Roheisenexportgemeinschaft – war bis Kriegsbeginn von Großbritannien und (wenn auch inoffiziell) den USA dominiert. 1939 kontrollierte es nicht weniger als 85 Prozent des Weltstahlhandels.22 Die von den Stahlindustriellen angebahnte deutsch-französische Arbeitsteilung lebte im Zweiten Weltkrieg fort.23
Kristallisationskern dieser bei näherem Hinsehen nicht sehr „Neuen Ordnung“ war der so genannte Schlotterer-Ausschuss von 1940, benannt nach dem Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium. Gustav Schlotterer brachte im Anschluss an programmatische Reden seines Vorgesetzten Walther Funk24 Spitzenvertreter der exportorientierten deutschen Großindustrie mit Industriellen und Bankenvertretern aus den Benelux-Staaten ins Gespräch. Man war sich darüber einig, dass der innereuropäische Handel von Zoll- und Währungsgefällen befreit und das Ruhrgebiet mit Nordfrankreich und den Benelux-Ländern zu einem „natürlichen Wirtschaftsraum“ zusammengeschlossen werden solle. Grundlage dessen sei ein privatwirtschaftlich zu organisierendes Produktionskartell unter staatlicher Aufsicht, das Schlotterer als „wirtschaftliches Paneuropa“ bezeichnete.25 Von „Antieuropa“ kann jedenfalls bei diesen Protagonisten kaum die Rede sein. Die EGKS konnte hieran anknüpfen. Die Montanunion hatte eine korporative Vorgeschichte, die das „Dritte Reich“ einschloss.26
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Aus welcher Zeit mag dieses Foto stammen? Wofür konnte und wofür sollte es stehen? Dies lässt sich nicht aus dem Bildinhalt beantworten, sondern erschließt sich erst durch den Publikationskontext.
(aus: Friedrich Didier, Europa arbeitet in Deutschland. Sauckel mobilisiert die Leistungsreserven, Berlin 1943, S. 10, dort mit der Bildlegende „Stahl für Europas Freiheit“)
Während das ISK einen westeuropäischen Schwerpunkt hatte, war der Mitteleuropäische Wirtschaftstag (MWT) stärker ein Ausdruck deutscher Mitteleuropa-Konzepte. Seit 1931 propagierte der MWT die wirtschaftliche Durchdringung Südosteuropas als Ziel künftiger deutscher Außenpolitik. Mittel-europa von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer müsse langfristig Einflusssphäre des Reiches werden.27 Ab 1936 geriet der MWT zunehmend ins Fahrwasser von Görings Vierjahresplanbehörde, welche die wirtschaftliche Kriegsvorbereitung durch Autarkiepolitik betrieb. Seit 1938 war Deutschland in der Lage, die alte Forderung des MWT umzusetzen, von „Handelsverträge[n] bis zum Wirtschaftsbündnis“ mit Südosteuropa zu schreiten, das auf agrar- und rohstoffwirtschaftlichem Gebiet vollständig vom Reich dominiert wurde.28 Nach der kurzfristigen Wiederbelebung der MWT-Aktivitäten im Umfeld des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts verlor dieses Gremium seit dem Krieg gegen die UdSSR weitgehend an Einfluss. Staatssekretär Schlotterer zeichnete ab Herbst 1940 für die Planungen des Reichswirtschaftsministeriums zur Ausplünderung der Sowjetunion verantwortlich.
Die deutsche Währungspolitik bildete im Zweiten Weltkrieg die Klammer zwischen der Ausbeutung West- und Südosteuropas. Die Abkehr vom Goldstandard durch Großbritannien und die Vereinigten Staaten 1931/33 hatte den multilateralen Kapitalverkehr beendet und die weltweite Bildung von Wirtschaftsblöcken mit jeweils dominierender Leitwährung vorangetrieben. Deutsch-lands Außenhandel wurde im Zeichen der Devisenzwangsbewirtschaftung auf das Clearing von Im- und Exporten auf zweiseitigen Konten bei der Deutschen Verrechnungskasse (DVK) umgestellt, einer Tochtergesellschaft der Reichsbank.29 Bilaterale Handelsverträge waren ein wesentliches Instrument des deutschen Informal empire vor Kriegsbeginn. Sie sollten aus der Not der Weltwirtschaftskrise die Tugend eines deutschen Großwirtschaftsraums machen.
Man frohlockte auf deutscher Seite kurz vor Kriegsbeginn über die „großraumwirtschaftliche Integration“ Südosteuropas durch echte Arbeitsteilung.30 Vor diesem Hintergrund entstanden nach dem deutschen Sieg über Frankreich währungs- und handelspolitische Neuordnungspläne für die Nachkriegszeit, die im schon erwähnten Schlotterer-Ausschuss des Reichswirtschaftsministeriums kontrovers diskutiert wurden. Dem Ausschuss lag unter anderem eine Denkschrift aus der Bankenabteilung des Ministeriums vor, in welcher der Vorschlag gemacht wurde, nach Kriegsende eine Europabank mit Sitz in Wien zu gründen. In mancher Hinsicht weisen diese Überlegungen Parallelen zur heutigen Europäischen Zentralbank auf. Die Mitgliedsländer des Großraums sollten unverkäufliche Aktien der Europabank erwerben, die zur Notendeckung verwendet werden sollten. Die Bank sollte die DVK als zentrale Verrechnungskasse ablösen. Die Verrechnungskurse der Währungen sollte ein Verwaltungsrat festlegen, der auch ermächtigt sein würde, überschuldeten Mitgliedsländern Kredite zu gewähren.31
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Das Reichswirtschaftsministerium konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Vor allem die Reichsbank hielt eine Europabank für unvereinbar mit den deutschen Interessen. Stattdessen sollte die Deutsche Verrechnungskasse zum Zentrum eines multilateralen europäischen Clearing auf Reichsmarkbasis ausgebaut werden. Angestrebt wurde letztlich eine europäische Währungsunion unter deutscher Hegemonie.32 Am 25. Juli 1940 stellte Reichswirtschaftsminister Funk die Neuordnungspläne der deutschen und ausländischen Presse vor. „Es wird auf Grund der bisherigen schon angewandten Methoden des bilateralen Wirtschaftsverkehrs eine weitere Entwicklung zum multilateralen Wirtschaftsverkehr und zu einem Ausgleich der Zahlungssalden der einzelnen Länder kommen, so daß also auch die verschiedenen Länder über eine solche Clearing-stelle untereinander in geregelte Wirtschaftsbeziehungen treten können“, hieß es dort. Funk warb für eine „bessere Vertretung der europäischen Wirtschaftsinteressen gegenüber anderen wirtschaftlichen Gruppen in der Weltwirtschaft“, selbstverständlich unter deutscher Führung. Allerdings gab der Minister zu verstehen, dass seine Pläne „mit zahlreichen Unsicherheitsfaktoren“ belastet seien; vorerst befinde man sich ja im Krieg.33 Reichsbankvizepräsident Emil Puhl warb noch 1942 für eine „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, in der das bisherige Zentralclearing durch eine gemeinsame Währung und einen durch Bankkredite finanzierten Außenhandel ersetzt werden könne.34
Der führende britische Nationalökonom John M. Keynes hielt Funks Idee eines multilateralen Zentralclearing für höchst innovativ und riet seiner Regierung davon ab, hierauf mit einem bloßen Bekenntnis zu Freihandel und Goldstandard zu reagieren.35 Der Funk-Plan hinterließ deutliche Spuren in der 1943 publizierten Konzeption Keynes’ für eine Internationale Clearing-Union (ICU) als Grundlage des Welthandels, die bei der Bretton-Woods-Konferenz vom Juli 1944 am Widerstand der Vereinigten Staaten scheiterte.36 Die ICU sollte auf der wechselseitigen Verrechnung mithilfe eines weltweiten Buchgeldes beruhen, des so genannten Bancor, im Übrigen aber auf Geldverkehr verzichten. Andererseits hatte Keynes sofort die Schwachstelle des Funk-Plans gesehen: Die deutsche Kriegsfinanzierung war mit dem angeblich angestrebten Ausgleich von Handelsbilanzen im Großraum unvereinbar. Denn dieser hätte die Reichsmark der innenpolitisch höchst unerwünschten Inflation ausgesetzt und am Ende die deutschen „Partner“ im Großraum gestärkt. Keynes zweifelte daher aus guten Gründen an der Aufrichtigkeit des deutschen Wirtschaftsministers.37
Tatsächlich entwickelte sich das Clearing zu einem Instrument der Kriegsfinanzierung neben anderen. Paradoxerweise beruhte dieser Mechanismus auf einer Politik der bewussten Verschuldung Deutschlands. Denn die Exporteure erhielten ihre Leistungen de facto aus dem Besatzungskostenetat ausgezahlt, wohingegen der Ausgleich der bei der DVK gebuchten Schuldsalden auf die Nachkriegszeit verschoben wurde.38 Man war sich in Berlin einig, dass die europäischen Staaten „mit List, Tücke und vielleicht Gewalt“ dahin gebracht werden müssten, „ihre Waren nach Deutschland zu verkaufen und ihre Salden, wenn sie entstehen, in Berlin stehen zu lassen“.39 Schätzungen über die tatsächliche Höhe der deutschen Clearingverschuldung bei Kriegsende schwanken zwischen rund 30 und 42 Milliarden Reichsmark. Etwa 75 Prozent dieser erzwungenen Kredite stammten aus den besetzten Gebieten, 22 Prozent von verbündeten Staaten, der Rest aus neutralen Staaten wie der Schweiz.40
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Der Löwenanteil des bei der DVK verbuchten Realtransfers von Leistungen und Gütern kam aus den Staaten der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).41 Die Forschung hat eine „Intensivierung des intra-industriellen Handels“ im Zweiten Weltkrieg konstatiert, „die in der westdeutschen Handelsbilanz erst in der Mitte der fünfziger Jahre zu beobachten ist. Um 1960 ist auf der Importseite der Fertigwarenanteil ungefähr wieder so hoch wie 1943. […] Die Idee eines Handelsblocks im westlichen Kontinentaleuropa war also Mitte der vierziger Jahre offensichtlich kein Novum mehr.“42 Die Integration der Nachkriegszeit baute auf dieser durchaus westeuropäischen Struktur des integrierten Außenhandels auf, die im NS-Großwirtschaftsraum der Kriegszeit entstanden war.
Ähnliches lässt sich für die Währungspolitik feststellen. Während Hitler und Goebbels Antibolschewismus und Antisemitismus als vermeintliche Bindeglieder Europas propagierten, wandten sich die im so genannten Europa-Kränzchen des Rüstungsministeriums ab 1943 versammelten Industriellen und Bankiers erneut den Währungsplänen Funks zu und modifizierten diese mit Blick auf die alliierten Nachkriegspläne. Über sie war man bestens informiert – durch wiederholte Gespräche zwischen dem schwedischen Chefvolkswirt der in Basel ansässigen Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Per Jacobsson, und Reichsbankvizepräsident Puhl 1942/43 in Basel und Zürich.43
Im Beirat des Außenhandelsausschusses der Reichsbank wurden die alliierten Währungspläne bereits im Juni 1943 eingehend diskutiert, einschließlich möglicher Lösungen für das Problem der deutschen Clearingverschuldung.44 Im Ergebnis suchten Volkswirtschaftler wie Ludwig Erhard nach Auswegen aus der ruinösen Kriegsfinanzierung auf Kredit. Erhards Denkschrift über Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung nahm 1944 Grundgedanken der Währungsreform vorweg.45 Etwa gleichzeitig schlug der I.G. Farben-Konzern vor, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zur Europabank auszubauen. Diese sollte einen „Europagulden“ als Verrechnungseinheit der beteiligten Währungen aus der Taufe heben, vorerst nur als Buchgeld. Die Denkschrift reagierte auf britisch-amerikanische Kontroversen bei der Konferenz von Bretton Woods. Sie nahm Grundgedanken von Keynes’ Internationaler Clearing-Union auf, um einen Keil zwischen Großbritannien und die USA zu treiben.46
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Solche Hoffnungen waren natürlich illusorisch. Von erheblicher Bedeutung für den lang anhaltenden Boom der westdeutschen Nachkriegswirtschaft war indes die 1950 auf amerikanischen Druck gegründete Europäische Zahlungsunion (EZU), ein Zusammenschluss mehrerer europäischer Länder unter Einschluss der Bundesrepublik, die durch ein multilaterales Clearingsystem das Problem der so genannten Dollar-Lücke in ihren Volkswirtschaften lösen sollte. Die EZU war ein Instrument des 1948 einsetzenden Marshallplans, der sie finanzierte. Im Unterschied zu den bilateralen Handelsverträgen der NS-Zeit galten hier tatsächlich Prinzipien des multilateralen Clearing, d.h. die Partner waren nicht zum zweiseitigen Ausgleich ihrer Bilanzen gezwungen. Die Clearingzahlungen wurden von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich abgewickelt.47
Technische Anknüpfungen an die Kriegszeit sind nicht zu übersehen. Der Marshallplan zwang die westeuropäischen Empfängerländer zur Rekonstruktion der im Zweiten Weltkrieg aufgebauten Arbeitsteilung, zur Reintegration des besiegten Deutschlands (genauer: der Bundesrepublik) als Wachstumslokomotive in den westeuropäischen Wirtschaftsraum, die Europa auf eigene Füße stellen und von amerikanischer Wirtschaftshilfe mittelfristig unabhängig machen sollte. Wesentliches Mittel dieser Rekonstruktion war die Europäische Zahlungsunion. Sie führte der jungen Bundesrepublik jenes Ausmaß an Vertrauen und Kredit zu, das vom „Dritten Reich“ verspielt worden war.48
3. Massenmord und Währungsstabilisierung
Die Geldströme der deutschen Kriegsfinanzierung liefen beim Reichsfinanzministerium zusammen, das ein weiterer, lange unterschätzter Akteur europäischer Integration war. Diese beschränkte sich nicht auf Westeuropa, sondern schloss territorial Ost- und Südosteuropa, finanziell die Erträge deutscher Massenmorde ein.49 Der Zusammenhang zwischen Besatzungspolitik, Finanzwirtschaft und Vernichtungspolitik ist eindrucksvoll am griechischen Beispiel belegt, obwohl auch in anderen deutschen Besatzungsgebieten das jüdische Vermögen im deutschen Interesse „vor Ort“ nationalisiert und zu Geld gemacht wurde.50
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Das neutrale Griechenland wurde im Oktober 1940 von Italien angegriffen, das sein mediterranes Imperium erweitern wollte. Griechische Truppen trieben den Aggressor bis Albanien zurück. Ab April 1941 besetzte die Wehrmacht das Land, das in eine deutsche, eine italienische und eine bulgarische Besatzungszone aufgeteilt wurde. Bis zum Abzug der Besatzer 1944 kamen etwa 300.000 Griechen ums Leben, davon etwa je 100.000 durch eine Hungersnot, die im Winter 1941/42 ihren Höhepunkt fand, und bei deutschen Aktionen gegen linksgerichtete Partisanen; weitere mindestens 65.000 Personen waren Opfer der Judenvernichtung.51 Hinzu kamen Flüchtlingsbewegungen und Zwangsumsiedlungen größten Ausmaßes, von denen etwa eine Million Menschen betroffen waren.52 Christian Gerlach hat vorgeschlagen, die Ermordung der griechischen Juden in die gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen der Gewalt-geschichte Griechenlands zwischen 1912 und 1974 einzuordnen, namentlich in den säkularen Prozess der Verdrängung und Ermordung religiöser Minderheiten (Muslime und Juden) sowie des Aufstiegs einer griechisch sprechenden kommerziellen Elite. Vor diesem Hintergrund stellt sich die militärische Besetzung des Landes im Zweiten Weltkrieg auch als ökonomischer Umschichtungsprozess dar.53
Deutschland und Italien erlegten dem Land hohe Besatzungskosten und Kontributionen auf. Zudem werteten sie die griechische Drachme ab. Das führte zwangsläufig zur Inflation. Diese trug maßgeblich zum Ausbruch der Hungersnot von 1941 bei, die ihrerseits den kommunistischen Widerstand zur Massenbewegung machte. Andererseits erschwerten Inflation und Hunger die Mobilisierung des griechischen Arbeitskräftepotenzials für den Berg- und Straßenbau. Hitlers anfängliche Würdigung der Griechen als tapfere Soldaten und „rassisch wertvolle“ Nachfahren der Hellenen wich aus diesem Grund einer ebenso ostentativen Ablehnung der Griechen als angebliche „Nichtstuer, Schieber und Korrupteure“. Das war eine deutsche Erfindung des Jahres 1943.54
Auch der Antisemitismus wurde geschürt, beginnend mit einer Kampagne der im April 1942 von der deutschen Besatzungsmacht erstmals aufgelegten Zeitung „Neues Europa“.55 Wie in allen osteuropäischen Besatzungsgebieten wurden Juden als Schwarzmarkthändler und Partisanenhelfer stigmatisiert. Obgleich griechische Kollaborateure 1942/43 in den deutschen Hymnus von der „Neuordnung“ des Kontinents einstimmten, war die Brutalität der NS-Besatzungspolitik nicht dazu angetan, für diese Politik zu werben. Sie verstärkte vielmehr den griechischen Widerstand.56
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Seit Oktober 1942 bemühte sich die deutsche Militärverwaltung, das griechische Inflations- und Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekommen – letzteres durch den Übergang zur allgemeinen Arbeitspflicht. Dieser Versuch scheiterte im März 1943. Ausgerechnet jetzt begann die Deportation der Juden aus Saloniki und der bulgarischen Zone, die in enger Zusammenarbeit zwischen Militärverwaltung und Reichssicherheitshauptamt durchgeführt wurde. Das bewegliche Eigentum der nach Auschwitz verschleppten Juden von Saloniki, insgesamt etwa 45.000 Personen, wurde auf deutsche Weisung von einer griechischen „Dienststelle zur Verwaltung des Judenvermögens“ beschlagnahmt, an der Athener Börse in Gestalt von 12 Tonnen Gold an griechische Staatsangehörige verkauft und der Erlös dem deutschen Besatzungskostenetat gutgeschrieben. So stabilisierte sich der Kurs der griechischen Drachme bis August 1943.57
4. Weiterführende Überlegungen
Die nationalsozialistische Hegemonial- und Besatzungspolitik in Europa bezog wesentliche Impulse aus der Aufnahme und Fortschreibung von Diskursen über den Kontinent, die auf den Ersten Weltkrieg zurückführen. Insbesondere das vage „Mitteleuropa“-Konzept war anschlussfähig, sowohl für den Reichsmythos als auch für die spezifisch nationalsozialistische Variante einer deutsch geführten Föderation. Letztere wurde niemals verwirklicht. Stattdessen installierte Deutschland eine rassistisch abgestufte Herrschaftsordnung über den Kontinent, die partiell transnationalen Prinzipien folgte, in wesentlichen Hinsichten aber nationalstaatliche Hierarchien befestigte oder verschob.
Daher gab es deutliche Unterschiede zwischen den hoch industrialisierten Besatzungsgebieten Frankreichs und der Beneluxländer einerseits, den von Nationalsozialisten oft als „Ergänzungsräume“ titulierten Staaten Ost- und Südosteuropas andererseits. In Westeuropa fielen Ideologie und Praxis der deutschen Großraumwirtschaft in Teilen auf fruchtbaren Boden, weil es Anknüpfungspunkte aus der Zwischenkriegszeit gab. In Osteuropa war die deutsche Besatzungspolitik wirtschaftlich destruktiv. Dort konnte der NS-Staat kaum auf industriewirtschaftliche Arbeitsteilung setzen. Die exportierte Inflation der Reichsmark gefährdete vielmehr die eigene Besatzungspolitik. In Griechenland musste das Vermögen der ermordeten Juden dazu herhalten, die selbst herbeigeführte Hyperinflation kurzfristig einzudämmen. Gleichzeitig verschärfte die Politik der nationalen „Verwertung“ die gesellschaftlichen Konflikte im Land und trug zur Gewalteskalation bei.
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Der Verrechnungsverkehr reagierte auf die Krise des liberalen Welthandels ab 1931. Trotz wirtschaftspropagandistischer Bekenntnisse zum Multilateralismus hielt Deutschland bis Kriegsende eisern am zweiseitigen Verrechnungsverkehr fest und unternahm keine ernsthaften Anstrengungen, die propagierte Gemeinschaftswährung auch tatsächlich zu schaffen. Hellsichtigen deutschen Ökonomen war ab 1943 klar, dass die deutsche Clearingverschuldung über kurz oder lang auf die Reichsmark zurückschlagen würde. Sie waren aber weder willens noch in der Lage, das Steuer der Kriegsfinanzierung herumzuwerfen oder die währungspolitischen Zügel in der „Festung Europa“ zu lockern.
Gleichwohl weisen die ambitionierten Pläne Funks und seiner Epigonen über das Kriegsende hinaus. Sie nahmen in Teilen die heutige Gemeinschaftswährung gedanklich vorweg. Finanztechnisch beruhten sie auf dem